Anwar Shaikh - Eine Einführung in die Geschichte der Krisentheorien (Prokla 30)

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    Anwar ShaikhEine Einfiihrung in die Geschichte der Krisentheorien *)

    EinleitungDieser Aufsatz beschliftigt sich mit der Geschichte der Krisentheorien. Ganz allge-mein meint der Begriff "Krise", wie wir ihn verwenden, ein Versagen der okonomischen und politischen Reproduktionsbeziehungen im Kapitalismus. 1m einzelnensind die Krisen, die wir untersuchen wollen, solche, die aus dem System selbst, ausseinen Funktionsprinzipien entstehen. Wie wir sehen werden, liegt es in der Naturder kapitalistischen Produktion, stlindig einer Vielzahl von immanenten und externerzeugten Storungen und Fehlallokationen ausgesetzt zu sein. Aber nur zu gewissenZeitpunkten losen diese "Erschiitterungen" allgemeine Krisen aus. Wenn das System,gesund' ist, erholt es sich schnell von allen mog1ichen Riickschlligen; wenn es ,krank'ist, kann fast alles zum Zusammenbruch ftihren. Wir wollen hier die verschiedenenErkllirungen untersuchen, wie und warum das System periodisch erkrankt.

    I. Reproduktion und KriseBetrachten wir die Eigentiirnlichkeiten der kapitalistischen Gesellschaft. Sie ist einkomplexes, ineinandergreifendes soziales Netzwerk, dessen Reproduktion exakteKomplementaritlitsbeziehungen der verschiedenen produktiven Tlitigkeiten erfordert, und ,dabei werden diese von Hunderttausenden von Einzelkapitalisten getragen,weIche mir ihre eigene Profitsucht kennen. Sie hat eine Klassenstruktur, in der derErhalt der Kapitalistenklasse den Erhalt der Arbeiterklasse erfordert. Doch keineErbfolge, keine Tradition, keine religiose Idee bestimmt, wer regiert und wer regiertwird. Sie ist eine kooperative Gesellschaft, und doch klimpft unaufhor1ich einer ge-gen den andern: die Kapitalisten gegen die Arbeiter, die Kapitalisten gegeneineanderund die Arbeiter gegeneinander.*) Der Verfasser ist Assistenzprofessor an der "New York School for Social Research"; dasManuskript wurde fUr einen ,Reader' iiber die Krise in den USA geschrieben, der von der"Union for Radical Political Economy" (URPE) herausgegeben werden wird. Die URPEist eine Vereinigung von ca. 2000 kritischen und marxistischen Politischen Okonomen inden USA, die iiber aile Fraktionen hinweg in Arbeitskreisen, Jahreskonferenzen und ge-meinsamen VerOffentlichungen politisch-okonomische Probleme diskutieren.

    Die deutsche Ubersetzung stammt von Hans-H.Harbort und Rita Pokorny; inhaltliche Be-arbeitung und zusatzliche Anmerkungen fUr die deutsche Diskussion von Jiirgen Hoffmannund Willi Semmler.

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    Die schwierige Frage beieiner solchen Gesellschaft ist nicht, warum sie zusammenbricht, sondern warum sie uberhaupt funktioniert. In diesem ZusammenhangmuB man sich vergegenwiirtigen, daB jede Erkliirung der kontinuierlichen ReprodukHondes Kapitalistmus gleichzeitig (implizit oder explizit) eine Antwort auf die Fragegibt, wie und warum er sich nicht kontinuierlich reproduziert. Mit anderen Worten:Die Analyse derReproduktion und die Krisenanalyse sind nicht voneinander zu tren-nen. Dies trifft fur jede Theorie zu, gleich, ob sie diese Beziehung verdeutlicht odernicht. Man kann in der Geschichte der okonomischen Theorie drei Hauptstriinge einerAnalyse der kapitalistischen Reproduktion unterscheiden. Der erste - und am mei-sten verbreitete - geht von der Vorstellung aus, der Kapitalismus seifahig,sichquasi"automatisch" zu reproduzieren. Dieser ProzeB mag bruchlos und efflZient (neoklassische Theorie) oder erratisch und kostspielig (Keynes) sein, er findet aber zu einemimmanenten Gleichgewicht. Vor allem aber gibt es keine notwendigen Grenzen furdas kapitalistische System oder seine historische Existenz: Wenn man es sich selbstiiberliiBt (neoklassische Theorie) oder richtig lenkt (Keynes), kann es ewigen Bestandhaben. Diese Auffassung hat natiirlich immer die biirgerliche Theorie bestimmt.Die zweite Position nimmt einen entgegengesetzen Standpunkt ein: Hier wirdbehauptet, daB das kapitalistische System aus sich heraus zur Expansion unfahig ist.Urn zu iiberleben, muB es wachsen, aber urn dieses Wachstum aufrechtzuerhalten,braucht es auBere Nachfragequellen (z. B. den nicht-kapitalisierten Tell der Welt).Das bedeutet, daB die Reproduktion letztlich von Faktoren auBerhalb des Systemsreguliert wird: Die Grenzen des Systems sind auBere. Auf dieser Ubedegung basierendie verschiedenen Unterkonsumtionstheorien, einschlieBlich der marxistischen.Die dritte Position nimmt an, daB der Kapitalismus zwar zur Expansion (selfexpansion) fahig ist, daB aber der AkkumulationsprozeB die zugrundeliegenden in-neren Widerspriiche so verscharft, bis sie in einer Krise aufbrechen: Die Grenzen deskapitalistischen Systems sind immanent. Diese Richtung ist fast ausschlieBlich marxistisch und umfaBt die Krisenerklarungen der "fallenden Profitrate" wie auch defProfitklemme (1).Jede def genannten Positionen impliziert eine bestimmte Vorstellung von Kri-sen, ihrer Ursachen und Implikationen. Daher werden wir sie nacheinander untersuchen.

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    Gemeint ist hier die Theorie des "profit-squeeze", die von Glyn/Sutcliffe entwickelt wurde (deutsch bei Rotbuch: "Die Profitklemme", Berlin 1974; vgl. dazu auch die Kritik vonDavid Yaffe in Prokla 14/15 -jh/ws)

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    l l . Der sich ,automatisch' reproduzierende Kapitalismus1m Folgenden diskutieren wir der Reihe nach die Laissez-Faire- und keynesianischeTradition der orthodoxen Theorie.

    A. Die Tradition des Laissez-FaireUns ist die Vorstellung vom Kapitalismus als einem sich selbst regulierenden, reibungslosen, leistungsfahigen und harmonischen System leider nur zu vertraut. Angefangen mit Adam Smiths "Invisible Hand" bis hin zur unergiebigen Eleganz der modernen allgemeinen Gleichgewichtsanalyse hat diese Vorstellung die biirgerliche Theoriebeherrscht. Sich selbst liberlassen, wird der Kapitalismus riach dieser Theorie (2) sichreibungslose, effizient und voraussichtlich ewig reproduzieren. So die Theorie.Obwohl man das System fUr selbstregulativ halt, bleibt der Prozefl der Regulierung weitgehend unberiicksichtigt. Sofern dieses Problem analysiert wird, konzentriert man sich zumeist entweder auf statistische oder auf dynamische Gleichgewichteo Dadurch entsteht der Eindruck, als ob der A n p a s s u n g s p r o z ~ vernachlassigt werden konne. Diese Auffassung ist sogar notwendig, da die Vorstellung eines llingerenAnpassungsprozesses ihren GIeichgewichtsbegriff und damit die liebgewordene "Optirnalitat" des Systems bedrohen wiirde.Es treten aber Krisen auf. Das ist natiirlich fur diese Okonomen hochst argerlich! Die ideologische Bedeutung der Krisen verlangt daher wenigstens periodisch eineBeschaftigung mit dem Problem der Krisen. Wenn Okonomen die Geschichte empirischer Erscheinungen untersuchen, beschaftigt sie ausnahmslos nicht nur die Haungkeit von Krisen, sondern auch deren offensichtliche RegelmafJigkeit. Flir die USAzlihlt z. B. Wesley Clair Mitchell 15 "Krisen" in den 11 0 J ahren von 1810 bis 1920,und Paul Samuelson registriert 7 "Rezessionen" in den 30 Jahren von 1945 und 1975(3). Dazwischen liegt die "Great Depression", die fast 10 Jahre arihielt! Es gibt eigentIich nur zwei Moglichkeiten, diesen Befund in!das theoretische System einzubauen, ohne es dabei zu sprengen. Zu allererst kann man argumentieren, prinzipiell keine Krisen auftrefen mUssen; wenn sie dann doch auftreten, konnen sie aufFaktoren zuriickgeftihrt werden, die auflJerhalb der kapitalistischen Reproduktion liegen. Das System wird ohne eigenes Verschulden periodisch von Krisen erschiittert.Diese Tradition sucht die Krisenursachen eritweder in der Natur (Sonnenflecken, MiflJ-ernten usw.) und/oder irn Menschen (psychologische Zyklen von Hoffnung und Ver-zweiflung, Kriege, Revolutionen und politische Fehler (4).Die RegelmafJigkeit der Krisen ist allerdings nur schwerlich Sonnenflecken odermenschlichen Biorhythmen anzulasten, wlihrend solche Erklaningen wie Kriege oderpolitische Fehler nicht hinreichen, so eindeutig zyklische Erscheinungen zu erklaren.2 Als Beispiel einer ausflihrlichen Darstellung neoklassischer Konzeption vgl. Alchian undAllen (1969), Kap. 1 - 43 Mitchell (1923), S. 43, und Samuelson (1976), S. 250 - 2514 Samuelson (1976), S. 257

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    Wir kommen daher zur Theorie der Konjunkturzyklen; sie stellt die zweite grundlegende Moglichkeit dar, das Phanomen der Krisen in die orthodoxe Theorie zu integrieren. Al,1ch hier wird das System als sich selbst-regulierend aufgefat; allerdingsverHiuft der RegulierungsprozeB nicht reibungslos, sondern zyklisch. VerschiedeneFaktoren innerhalb des Systems fOOren zur Ausbildung von selbst-erzeugten Zyklen,so da die Selbstreproduktion (des Systems) eine rhythmische Abfolge bekommt.Es muB hier betont werden, daB fUr die orthodoxe Theorie ein Zyklus nichtgleichbedeutend mit einer Krise ist. Um im Rahmen des allgemeinen theoretischenSystems zu bleiben, muB man die Zyklen als im wesentlichen "kleine Schwankungen" betrachten, die in einer ersten Ndherung zurecht vernachlassigt werden diirfen.So stellt def zyklische Charakter des Regulierungsprozesses keine Einschrankung derReproduktionsfahigkeit des Systems dar. Der als Konjunkturtheorie bekannte Zweigder Okonomie stellt eine. Kombination dieser beiden gurndlegenden Ansatze dar.RegelmaBige harrnlose Schwankungen sind Tell des Systems: Kontraktionen und Expansionen gehoren zum normalen Konjunturzyklus. Gewaltsame oder langer andauernde Expansionen und Kontraktionen sind jedoch auBeren Faktoren geschuldet, diein def Natur oder im Menschen liegen und die entweder einen Zyklus in eine Kriseumschlagen lassen oder selbstandig eine Krise erzeugen. Krisen bleiben also dem normalen ProzeB des kapitalistischen Reproduktion auBerlich.Trotz dieser Funktion, mogliche Kritik abzuschirmen,hat die Konjunkturtheorie in def Okonomie des Laissez-Faire immer nur eine Nebenrolle gespielt. Ihr Gegenstand war zu gefahrlich, ihre Geschichte zu sehr von antikapitalistischen Einstellungen gefarbt, als da sie problemlos in das groBe Theoriegebaude integriert werdenkonnte. Dies anderte sich jedoch mit dem Autkommen der Keynesianischen Okonomie. Wir werden gleich sehen, warum.

    B. Die (rechte) Keynesianische TraditionBisher haben wir nur von def Tradition des "Laissez-Faire" in der btirgerlichen Theofie gesprochen, da sie fast i m m ~ r die dominierende war. Aber der massive weltweiteZusammenbruch des Kapitalismus in der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre hat dieser Tradition einen entscheidenden Schlag versetzt. Der Zusammenbruch selbst konnte vielleicht noch von den "GHiubigen" umstandslos auf die eine oder andere geschilderte Art und Weise erklart werden; unerklarlich blieb aber, daB das System keineAnstalten machte, zu einem "normalen" Vollbeschaftigungsgleichgewicht zuruckzuschwingen. Selbst offizielle (konservative) Schatzungen nann ten fUr die USA 1939eine Arbeitslosenzahl von 10 Millionen - volle zehn Jahre nach dem "GroBen Krach".Mit zunehmender Dauer der Depression und dem Anwachsen sozialer Unruhe gerietdie Laissez-Faire-Theorie immer mehr in Verruf und wurde bald von der Keynesianischen Theorie abgelost.Keynes attackierte die orthodoxe Vorstellung, d a ~ "das Angebot seine eigeneNachfrage bestimmt", denn diese Auffassung ftihrte zu def SchluBfolgerung,.-daB defKapitalismus automatisch dazu neige, die vorhandene Arbeitskraft und die Produk-

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    tionsmittel mehr oder weniger vollstandig anzuwenden. In seiner Analyse ist stattdessen das von den Kapitalisten geplante Niveau def Investitionen def entscheidendeFaktor fUr die Bestimmung des Niveaus von Produktion und Beschaftigung. Aber dieInvestitionsplane hangen in betrachtlichem MaEe von der Profiterwartung ab, vonden "Erwartungen" und "Instinkten" der Kapitalisten. Daraus resultieren zwei wichtige SchluMolgerungen. Erstens, daE die "Erwartungen" bekanntlich hOchst schwankend sind, ist die kapitalistische Reproduktion eher erratisch. Zweitens, und das istnoch wichtiger, besitzt def Kapitalismus keinen automatischen Mechanismus, aufgrund dessen die Kapitalisten genau den zur Erhaltung der Vollbeschaftigung erforderlichen Investitionsumfang planen konnen. Es mu:& aber betont werden, daE mandennoch glaubte, das System wiirde aus sich heraus (automatisch) zu einem Gleichgewicht finden: allerdings schlie:&t dieses Gleichgewicht keineswegs eine andauernde Arbeitslosigkeit oder Inflation aus.Die sogenannte Keynesianische Revolution war jedoch sehr ambivalent. EinGroJ:.teil der grundlegenden Struktur der Keynesschen Analyse war identisch mit derorthodoxen Theorie, die er attackierte (5): Die Einteilung der Gesellschaft in Produzenten und Konsumenten (nicht Klassen), die gleiche Grundeinschatzung def menschlichen Natur, die zentrale Bedeutung von psychologischen "Neigungen" und Praferenzen, die Rolle von Angebot und Nachfrage, und vor aHem das allgemeine Vertrauenin die Gleichgewichtsanalyse. Es nimmt also nicht wunder, daE ein Teil def Orthodoxie Keynes in eine neue Version biirgerlicher Theorie integrieren konnte. lndem sieeinraumten, daE in der Tat kein automatischer Mechanismus die kapitalistische Reproduktion reibungslos, effizient und krisenfrei machte, sahen die neoklasischenKeynesianer ("Bastard Keynesians", wie Joan Robinson sie nennt) den Staat als denMe chanismus , welcher die in den Parabeln des "Laissez-Faire" geschilderte Gesellschaft verwirklichen sollte. Wenn der Staat seine Aufgaben erftille, wiirde er die Ge-samtnachfrage so steuern, da:& eine annahernde Vollbeschliftigung erreicht wiirdeund so gut wie keine Inflation entstiinde; mit dieser Modifizierung "konnten die iibrigen Lehren def (Orthodoxie) wiederbelebt werden" (6).Da okonomische Schwankungen zulassiger Bestand teil def keynesianischenTheorie sind, ist die Konkunkturzyklustheorie nun viel ungefahrlicher. Da der Staatiiberdies die Schwankungen prinzipiell eliminieren kann, wird es sogar notwendig,Zyklen und Krisen genau zu analysieren, urn ihnen entgegenwirken zu konnen. Inder Foige hat es seit der sog. Keynesianischen Revolution eine wahre Flut von Er-kenntnissen iiber Krisen gegeben. Es iiberrascht nicht, da:& die Keynesianer dazu neigen, die erratische und gewalttatige Geschichte def kapitalistischen Akkumulationals eine Foige von "politischen" Fehlern anzusehen (7). Ihre Einschatzung der gegenwartigen Krise macht da keine Ausnahme. Keynes hatte noch eine andere Gruppevon Anhangern, die sogenannten linken Keynesianer, unter denen Joan Robinsoneine ftihrende Stellung einnimmt. Ihre Ansichten wie auch die von Michael Kalecki5 Lekachman (1976), S. 3436 Joan Robinson (1971), S. xxx7 Lekachman (1976), S. 347 - 48. Dies war ziemlich genau Keynes' eigene Sichtweise undfindet sich auch bei seinen Anhangern.

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    und Joseph Steindl werden wir im nachsten Abschnitt diskutieren.

    III. Der zur Selhst-Expansion unfiihlge KapitalismusVon Anfang an wurde die Laissez-Faire-Vision eines harmonischen, krisenfreien Ka-pitalismus von der ebenso alten wie beharrlichen Vorstellung bedrangt, der Kapitalismus sei seinemWesen nach unfiihig zur Akkumulation. Die inneren Krafte des Sy-stems, so wird behauptet, konnten es hOchstens auf einem gleichbleibenden Niveaureproduzieren: Aber ein stagnierender Kapitalismus zerfallt sehr schnell. Einer konkurriert mit dem anderen, abeT da es kein Wachstum gibt, kann keiner gewinnen, essei denn, auf Kosten anderer. Kapital steht gegen Kapital, Arbeiter gegen Arbeiter,und Klasse gegen Klasse; Entweder die Widerspruche verscharfen sich so, da sie dasSystem sprengen, oder es degeneriert zu einer Gesellschaft, in der eine kleine herrschende Elite von Massenarrnut und menschlicher Not getragen wird. Injedem Fallist ein nicht akkumulierender Kapitalismus auf Dauer nicht existenzfiihig.Es ist bemerkenswert, dafl> dieses Gegenargument von der selben Voraussetzungausgeht wie die Theorie, gegen die es sich richtet. Die orthodoxe Theorie hat immerbetont, daf?l das letzte Ziel jeder kapitalistischen Produktion die Konsumtion sei:Was jetzt nicht konsumiert wird, flief?lt in die Produktion zuruck, urn die zukiinftigeKonsumtion zu versorgen. Auf jeden Fall ist die Konsumtion der bestimmende Faktor. 1m Spiegel der Unterkonsumtionstheorie wird dieselbe Vorstellung zu einer Waf-fe gegen den Kapitalismus. Das folgende Argument taucht in der langen und komplexen Geschichte dieser Variante der Krisentheorie immer wieder auf: Zwar ist derletzte Regulator alier Produktionjetzt und fUr alle Zukunft wirklich die Konsumtion;aber die kapitalistische Produktion orientiert sich nicht am Bedarf, sondern an derKauikraft, nicht an Nachfrage, sondern an "effektiver" N achfrage (d. h. zahlungsfahige Nachfrage). Und ibre Widerspruchlichkeit besteht darin, da sie aus sich heraus nicht in der Lage ist, eine fUr eine Akkumulation ausreichende effektive Nachfrage zu erzeugen. Mit anderen Worten, die inneren Mechanismen des Systems zwingenes in einen stationaren Zustand: Urn weiter wachsen zu konnen, benotigt es irgendeine auf?lere QueUe effektiver Nachfrage - d. h. auf?lerhalb seiner ibm zugrundeliegenden Mechanismen.A. Der Begnffder NachfragelilckeIn den vergangenen 150 Jahren hat es viele Versuche gegeben, das Unterkonsumtionsproblem auf den Begriff zu bringen. Trotz der Vielzahl von Formulierungen falit jedoch auf, wie durchgangig die Vorstellung von der letztlichen Regulierung der gesamten Produktion durch die Konsumgiiternachfrage ist.Teilen wir einmal die gesamte gesellschaftliche Produktion in zwei grof?le Gruppen oder "Abteilungen" auf. Die Abteilung I produziert Produktionsgtiter (Grundstoffe, Energie, Fabriken und Ausriistung), wiihrend die Abteilung II Konsumgtiter

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    und Dienstleistungen (Lebensmittei, Bekleidung, Unterhaltung usw.) produziert.Dann ist die Grundannahme der Unterkonsumtionstheorie, daE die Nachfrage nachKonsumglitern und Dienstleistungen nicht nur das Niveau der ProdukHon der Abteilung II (Konsumgliter) bestimmt. Die Produktion der ProdukHonsgliterindustrie wirdletztlich reguliert von def Nachrage nach Produktionsmitteln in der Konsumgtiterindustrie: Die Nachfrage nach Produktionsgtitern ist also "abgeleitet" von der Nachfrage nach Konsumglitern. Beachten wir, daS dies nicht nur heiSt, daE die ProdukHon def Abteilung II die Produktion in der Abteilung I beeinfluSt und umgekehrt.Vielmehr wird etwas sehr viel wichtigeres behauptet, narnlich daE die Beziehungletztlich einseitig ist: Die Abteilung I folgi'der Abteilung H.Parallel daw lauft die Auffassung von Zirkulation als einem ProzeS, durch dendas gesellschaftliche Produkt zwischen Arbeitern und Kapitalisten aufgeteilt wird.Ein Teil des gesamten Sozialprodukts wird so als Ersatz fiir die in def Produktionverbrauchten Produktionsmittel betrachtet, und def verbleibende Teil, das Netto-Produkt, steht fUr die Verteilung an Arbeiter und Kapitalisten zur VerfUgung. Eineahnliche Aufteilung findet auch auf der Einkommensseite statt. Eine bestimmteSumme aus den Verkaufen aller Firmen weIde dafiir verwandt, das in der ProduktionfUr Produktionsmittel vorgeschossene Geld zu ersetzen. Der Rest sei das effektiveNettoeinkommen der Firmen, welches in Lahne und Profite aufgeteilt wird. DiesesNettoeinkommen, von den orthodoxen Okonomen Volkseinkommen genannt, istdie QueUe def effektiven Nachfrage fUr das Nettoprodukt.Die Nettoproduktion hat demnach zwei Aspekte. Auf der einen Seite habenwir Waren und Dienstleistungen und auf der anderen Seite das Nettogeldeinkommen,welches der Summe von Lahnen und Profiten entspricht: hier Angebot, dort effektive Nachfrage.Jetzt kannen wir das Grundproblem der Unterkonsumtionstheorie bestimmen.1m allgemeinen geben die Arbeiter ihren gesamten Lohn aus. Damit kaufen sie einenTeil des Nettoprodukts zu normalen Preisen "wrUck". Da die Arbeiter abef nie dasgesamte Nettoeinkommen erhalten, kannen sie auch nie das gesamte NettoproduktzurUckkaufen. Die Konsumtion der Arbeiter hinterlliftt immer eine ,,NachfragelUcke";ferner, je geringer thr Lohnanteil ist, umso grafter ist diese "NachfragelUcke". An diesem Punkt der Analyse zeigt sich, daE immer noch das Mehrprodukt verkauft werden muB, und auch das Einkommen der Kapitalisten - der Profit - muS noch ver-ausgabt werden. Wenn diese beiden GraSen sich ausgleichen wiirden, kannte das ge-samte Produkt verkauft und die "Nachfragellicke" geschlossen werden. Aber unterwelchen Bedingungen wird das eintreten?Die ersten Unterkonsumtionstheoretiker neigten daw, das Nettoprodukt alsnur aus Konsumglitern bestehend zu sehen. Ausgehend von ihrer Grundannahme, daSdie Produktion def Abteilung I von der Nachfrage nach Produktionsmitteln in derAbteilung II reguliert wird, kamen sie leicht zu def Vorstellung, daE die Produktiondef Abteilung I in jeder Peri ode gerade ausreichend ist, die vom Gesamtsystem verbrauchten Produktionsmittel zu ersetzen. Das bedeutet, daE - obwohl das gesamteSozialprodukt sich aus Produktionsglitern (Abteilung I) und Konsumglitem (Abteilung II) wsammensetzt - das Nettoprodukt (Gesamtprodukt minus Ersatz der Pro-

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    duktionsmittel) nur aus Konsumgiitern besteht.Von diesem Standpunkt aus gesehen bleibt, nachdem die Arbeiter ihre Lohnefur den "Riickkauf des Anteils" am Nettoprodukt ausgegeben haben, einerseits einMehrprodukt in Form von Konsumgiitern iibrig und andererseits die nicht ausgege-benen Profite, die das "Einkommen" der Kapitalisten darstellen. Daraus folgt, da/l,die "Nachfrageliicke" nur geschlossen werden kann, wenn die Kapitalisten ihre ge-samten Profite fUr individuellen Konsum ausgeben. Dann aber kann es keine Investi-tionen geben und damit kein Wachstum, keine aus sich heraus erzeugte Akkumula-tion. Das hei/l,t nicht, da/l, die Kapitalisten nicht versuchen werden, zu akkumulieren.Die eigentliche Bedeutung liegt darin, da/l, die Akkumulationsbemiihungen der (Kapitalisten-) Klasse insgesamt zum Scheitern verurteilt sind. In def morderischen Konkurrenz der Kapitalisten untereinander ist schlie/l,lich der Umfang des Vermogens einwichtiger Machtindex. Und eine Methode, zu mehr Gro/l,e und Macht zu kommen,ist, zu spar en, zu investieren und dadurch zu expandieren. Also werden die Kapitalisten immer versuchen zu akkumulieren. Nehmen wir also an, wir wiirden vop. deroben geschilderten Situation ausgehen, da/l, die Abteilung I gerade so viele Produkti9nsgiiter produziert, da/l, die Produktionskapazitat des Systems erhalten wird, unddie Abteilung Ii so viele Konsumgiiter pro duziert, wie von den Arbeitern und Kapitalisten mit ihrem gesamten Einkommen "zuriickgekauft" werden kann. Neh.men wirweiter an, da/l, die Kapitalisten beim nachsten Mal nur einen Teil ihrer Gewinne fUrKonsumgiiter ausgeben, den Rest aber investieren in den Kauf von Produktionsmitteln, die Einstellung von Arbeitern und die Errichtung von Betrieben in def Abteilung I und/oder n.In dieser Situation geschieht etwas Seltsames. Nehmen wir an, der Gesamtprofit belauft sich auf 200 000 Dollar, welche die Kapitalistenklasse zunachst vollstandig fUr den personlichen Konsum ausgibt. Nehmen wir dann an, daB sie ihren Konsumauf 150 000 Dollar reduzieren und die restlichen 50 000 Dollar investieren, indemsie fUr 30000 Dollar Produktionsgiiter kaufen (aus dem Vorrat def Abtellung I) undfUr 20000 Dollar Arbeiter einstellen (aus der unbeschaftigten Reservearmee). Dannbetragt def Nettoriickgang der Konsumnachfrage nur 30 000 Dollar, da def Riickgangder Konsumnachfrage der Kapitalisten teilweise durch den zusatzlichen Konsum derneu eingestellten Arbeiter ausgeglichen wird. Dennoch aber geht die Nachfrage nachKonsumgiitern zuriick, so da/l, die Verkaufe def Abteilung II sinken, was wiederumzur Foige hat, da/l, ihr eigener Bedarf an Produktionsmitteln sinkt und dadurch dieVerkaufe in def Abteilung I zuriickgehen. Und dabei hat gerade die Ma/l,nahme, diedas rules verursacht hat, zu einer Erweiterung der allgemeinen ProduktionskapazitatgefUhrt. Der Versuch, die Kapazitat zu erhOhen, hat daher nicht nur die zusatzlichgeschaffene Kapazitat iiberfliissig gemacht, sondern dariiberhinaus auch einen Tellder Ausgangskapazitat. Das fUhrt unvermeidlich zu einem Riickgang. Die immanentsich entwickelnde Akkumulation negiert sich selbst. Da eine Expansion nur allmahlich entsteht und Zeit braucht, kann man sich leicht vorstellen, da/l, es eine ganzeWeile dauert, bis der Riickgang der "effektiven Nachfrage" sich auswirkt, und nochlanger, bis die darauffolgende Kontraktion sich durchsetzt. Das Ergebnis der Akkumulationsversuche ware demnach ein Aufschwung, gefolgt von einem Abschwung,

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    wobei die Nettoakkumulation wahrend des Zyldus Nun betragt. In def Logik defUnterkonsumtionstheorie ware dies das Verhalten einer ungelenkten kapitalistischenWirtschaft.Zyldische Auf- und Abschwiinge sind in def Geschichte des Kapitalismus nichtsNeues. AlIerdings macht die Analyse dieser Geschichte auch sehr deutlich, daJl. diese Zylden mit einem enormen sakularen Wachstum in den kapitalistischen Wirtschaftssystemen einhergehen - eine Tatsache, die in scharfem Widerspruch steht zu einemstagnierenden Kapitalismus, wie ihn die Unterkonsumtionstheoretiker sehen. Ausdiesem Grunde sahen sich alle Unterkonsumtionstheorien gezwungen, auf "exogene",d. h. auBere Fakotren zuruckzugreifen, urn diese Diskrepanz von Geschichte undTheorie erklaren zu konnen. In den beiden folgenden Abschnitten, in denen wir nacheinander die Geschichte def Unterkonsumtionstheorien vor und nach Marx diskutiefen, werden wir sehen, welch wichtige Rolle dieseauBeren Faktoren spiden.

    B. Konservative und radikale Unterkonsumtionstheorien1m vorhergehenden Abschnitt habe ich versucht, die grundlegende Logik def Unterkonsumtionstheorie und die daraus sich ergebenden Implikationen darzustellen. Dabei habe ich einen modernen Begriffsapparat verwendet, z. B. Marx' Begriff def zweiAbteilungen und KaIeckis Analyse der aggregierten Angebots- und Nachfragegroi:len.Diese Begriffe sind relativ neu, und selbstverstandlich erscheint der Streit in der Geschichte der Unterkonsumtionstheorie selbst nicht in dieser Form. Es moo in der Tatauffallen, daJl. zwar def Begriff der "Nachfrageliicke" in dieser Geschichte immerwieder auftaucht, die damit zusammenhangende Unmoglichkeit einer kapitalistischenAkkumulation aus sich selbst heraus aber selten erfaJl.t wird. Besonders in den nichtmarxistischen Theorien wird diese Implikation geflissentlich iibergangen. Es ist wirklich eine schwierige Situation, im 19. Jahrhundert in einer Periode fast explosivenkapitalistischen Wachstums zu leben und zu schreiben und def eigenen Theorie entnehmen zu mUssen, daJl. Wachstum nicht der kapitalistischen Produktion eigen ist.Dberzeugt von der Richtigkeit dieser Grundposition, aber unfahig oder unwillig, ihre voUen Implikationen zu akzeptieren, stellten sich die friihen Unterkonsumtionstheoretiker fast durchweg auf den Standpunkt, daJl. zuviel Akkumulation eineKrise zur Foige haben wtirde. Sie gingen von def Annahme aus, daJl. die Wirtschaftmit efner gerade angemessenen Rate wachst. Nach der im vorhergehenden Abschnittbeschriebenen Logik nahmen sie an, daJl. die KapitaIisten die Konsumtion einschranken und den so gesparten Betrag in zusatzliche Produktionsgiiter und Arbeitskrafteinvestieren. Wahrend also die Investitionen die Produktionskapazitat erweitert haben,resuitierten def Nettoriickgang def Nachfrage nach Konsumgiitern und die nachfolgende Wirkung auf die Produktionsgiiternachfrage in einer Unterauslastung sogardef Ausgangskapazitat. "Zuviel Sparen" wtirde zu einem Abschwung fwen (8).8 -Die Unterkonsumtionisten konnten sich einen keynesianischen Widerspruch zwischen ge

    plantem Sparen und geplanten Investitionen nicht vorstellen. Die Kapitalisten planen beides, und was sie sparen, wird investiert, nicht gehortet. Das Horten spielt in den Unterkonsumtionstheorien keine wesentliche Rolle, wie Bleaney (op. cit. pp. 50 - 51) bemerkt.

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    Was diese Logik aber tatsachlich beinhaltet, ist, daB jedes Sparen zu einem Ab-schwung ftihren muB; eine Tatsache, auf die ihre Gegner sehr bald hinweisen. MichaelBleaney faBt in seiner ausgezeichneten Studie "Underconsumtion Theories" das Di-lemma der friihen Unterkonsumtionstheoretiker zusammen:"Kurz umrissen, ist es der Standpunkt dieser Autoren, daf> es einen Punkt gibt, uber den hinausdie Akkumulationsrate zu hoch sein wird und einen Abschwung auszulosen droht. In ihrer Argumentation is! dies aber offenbar die Akkumulationsrate Null, wie Chalmers treffend aufzeigt. Siebefinden sich also in einem Dilemma, aus dem heraus sie entweder den Ruckzug antreten undeinen Teil ihrer Ergebnisse verwerfen oder die Absurditat ihrer Schluf>folgerungen erklaren mus-sen." (Bleaney (1976), S. 59)Der erste bedeutende Okonom, der sich diesem Dilemmagegenlibersah, War ThomasMalthus (1820 ff.). GemaB der Tradition der Unterkonsumtionstheoretiker behauptete Malthus, daB es die Nachfrage nach Konsumglitern sei, welche die Produktionreguliert, so daB nur eine bestimmte Wachstumsrate "gerechtfertigt" werden kann.Natlirlich war Malthus aufgrund der Logik seiner Argumentation und der implizitenFolgerung nie in der Lage, die GroBe dieser "gerechtfertigten" Wachstumsrate zu bestimmen. lmmerhin betonte er, daB zuviel Sparen zur Folge hatte, daB die Konsumtion der Kapitalisten die Nachfragelticke auf Seiten der Arbeiter nicht ausfilllen konne, so daB also Dberproduktions- (bzw. Unterkonsumtions-) Krisen im Kapitalismusdurchaus moglich seien. Bei Malthus wurde diese Tendenz zur Unterkonsumtion zueiner reaktionaren Apologetik ftir die feudal en Landb e sitzer ,deren hoher Lebensstandard und zur Schau gestellter Konsum als willkommener Ausgleich zu der Tendenzder Kapitalisten gesehen wurde, zuviel zu sparen. (Mal thus ist auch beriihmt fUr seinen Angriff auf die Arbeiterklasse in Form seiner sogenannten Populationsgesetze.Damals wie heute sollten diese brutalen "Naturgesetze" nie fUr das Verhalten der"zivilisierten" herrschenden Klassen gelten).Simon de Sismondi war ein Zeitgenosse von Malthus, der im Kapitalismus ebenfalls eine Tendenz zur Unterkonsumtion erkannte. Auch bei ihrn finden wir die Be-hauptung, daB das Niveau der Konsumtion die gesamte Produktion reguliert, so daBsie nur so schnell wie die Konsumtion wachsen kann. Aber der Kapitalismus schranktdie Konsumtion der Massen ein, indem er sie in Armut halt; die Arbeiter sind zu arm,urn ihr eigenes Produkt zurlickzukaufen (auch hier wieder die allgegenwartige Nachfragellicke). Ferner wird mit dem sich entwickelnden Kapitalismus die Einkommensverteilung immer ungleicher, so daB die Konsumtion der Massen langsamer anwachstals der Gesamtreichtum (die LUcke wird groBer). Bei Sismondi firiden wi! also nichtnur eine Tendenz zur Unterkonsumtion, diese nimmt sagar zu mit dem Rei!ungspro-zej3 des Kapitalismus. 1m Laufe der Zeit werden die Krisen immer tiefer und die internationale Konkurrenz urn die auBeren Markte immer scharfer.

    1m Gegensatz zum reaktionaren Malthus war Sismondi ein Radikaler, den dieLeiden der Bauern und Arbeiter unter dem Kapitalismus bedrlickten. Zu seiner Zeitstand er an der Spitze des von Marx so genannten kleinblirgerlichen Sozialismus, dergegen die yom Kapitalismus verursachten Grausamkeiten und Zerstorungen kiimpfteund diesen reformieren wollte, urn diese Zustande zu beseitigen. Sismondi selbst beftirwortete radikale Veranderungen der Einkommensverteilung zugunsten der Bau-12

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    ern und Arbeiter und betrachtete die Durchftihrung dieser und anderer 6konomischenReformen als Aufgabe des Staates (9).Sowohl die Malthussche als auch die Sismondische Variante der Unterkonsumtionstheorie berufen sich auf die a u ~ e r e n Markte als Quellen der Nachfrage nachKonsumgiitern. Bei Malthus ist es nur eine beilaufige Anmerkung, aber ftir Sismondisind die auslandischen Markte ein wichtiges Absatzgebiet ftir die inHindische Uberproduktion, und er sieht eine wachsende internationale Konkurrenz als Foige dessich verscharfenden Problems der Unterkonsumtion entstehen. Wenn der internationale Handel dieses Problem 16sen soIl, m u ~ ein bestimmtes Land natiirlich mehr inandere Under exportieren als es von ihnen importiert. Fiir die Welt insgesamt ist dasoffensichtlich unm6glich. Wenn der gesamte Handel auf die kapitalistische Spharebeschrankt ist, dann ist der A u ~ e n h a n d e l ftir das kapitalistische Weltsystem ein interner Handel und bietet keine M6glichkeit, dem Unterkonsumtionsproblem zu entkommen. Folglich sieht Sismondi den Auflenhandel auch nicht als allgemeine L6sungdes Problems an.In der Periode zwischen Sismondi (1837) und J. A. Hobson (1902) liegt derg r o ~ e Wendepunkt in der Geschichte des Kapitalismus, welcher den,Beginn des Zeitalters des Imperialismus darstellt. In den Jahren 1870 bis 1914 stlegen die europaischen Auslandsinvestitionen urn mehr als 700 %, wobei ein G r o ~ t e i l auf die soge-nannte Dritte Welt entfant (10). Es ist daher keineswegs iiberraschend, d a ~ seit etwa1900 der A u ~ e n h a n d e l mit dem Imperialismus eine L6sung flir das Problem der Un-terkonsumtion darzustellen schien. Wenn man die Welt in imperialistische kapitalistische Lander und unterentwickelte Dritte Welt einteilt, dann ist es s c h l i e ~ l i c h leichtm6glich, anzunehmen, d a ~ diese Dritte Welt die iiberschiissigen Ersparnisse der entwickelten kapitalistischen Under absorbieren kann - entweder direkt in Form vonAuslandsinvestitionen oder indirekt in Form von Warenexporten. Sowohl bei Hobsonals auch bei Rosa Luxemburg (die ich im nachsten Abschnitt diskutieren werde) istdie Beziehung zwischen Unterkonsumtion und Imperialismus von g r o ~ e r Bedeutung.Hobson geht von der uns bekannten Uberlegung der Unterkonsumtionstheoretiker aus. Er macht als das letztendliche Ziel aller Produktion, auch der im Kapitalismus, ausdriicklich die Produktion von Konsumgiitern aus. Ferner ist er der erste,der die Abteilung I (Produktionsgiiterindustrie) eindeutig der Abteilung II (Konsumgiiter) untergeordnet sieht, so dafl der gesamte P r o d u k t i o n s p r o z e ~ als vertikal integriertes System a u f g e f ~ t werden kann, ausgehend von den Rohstoffen und stufenweise fortschreitend bis zum Endprodukt, welches nur aus Konsumgiitern besteht.S c h l i e ~ l i c h geht auch er von dem Postulat einer "angemessenen" Wachstumsrateaus (die er natiirlich auch nicht definieren kann) und zeigt dann weiter, zuvielSparen zu einem Abschwung ftihrt. Krisen entstehen also aus Ubersparen (11).Hobson fUhrt auch den Begriff des "Surplus" ein, der in seiner weiteren Ana-lyse eine wichtige RoUe spielt. Ganz allgemein definiert Hobson das "Surplus" als9 Bleaney (1976), S. 6310 Michael Barrat-Brown (1974), S. 17011 Bleaney (1976), S. 153 - 168

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    den Uberschu11> des Gesamtgeldwerts der Produktion, der tiber die notwendigen Ko-sten dieser Produktion hlnausgeht (12). Dieser Begriff beinhaltet die Trennung vonnotwendigen und nicht notwendigen Produktionskosten sowie von Produktionskosten und anderen Kosten (wie Verkaufskosten, Umsatzsteuer usw.). Dies ist ein weiterer Begriff als der von mir oben als "Profit" (Verkaufe abztiglich alIer Kosten) definierte, aber wir brauchen auf den Unterschled nicht naher einzugehen. Jedenfallsschlie11>t Hobsons Begriff des "Surplus" die nicht notwendigen "Kosten" wie Monopolprofite und Grundrente ein (da diese nicht aus irgendeiner Produktion herriihren).Mit der Weiterentwtcklung des Kapitalismus nehmen diese "parasitaren Einkommen"an Umfang zu, und da we Empfanger in der Regel wenig konsumieren, besteht eineTendenz zum Obersparen. DasProblem der Unterkonsumtion verscharft sich also (13).Nach Hobson stellt der AuBenhandel ein Ventll fUr iiberschiissige Ersparnisseund einen Markt fUr iiberschiissige Produktion auch im Konkurrenzkapitalismus dar.Mit zunehmender Konzentration der Industrie und Ausweitung der Monopole erMltdas Unterkonsumtionsproblem einen qualitativ hoheren Stellenwert. Einerseits vergroBern die Monopolprofite den Surplus und fiihren zu vermehrtem Sparen; da andererseits die Monopole diese tiberhohten Profite durch Preiserhohungen erreichen, ver-kleinem sie darnit in der Regel den Markt. Dieselben Faktoren, die die Ersparnissevergroi),ern, verUleinern gleichzeitig die Moglichkeit ihrer Wiederausgabe und damitdie Nachfrage. Der Imperialismus erscheint als mogliche Losung: Imperialismus istdie hochste Stufe der Unterkonsumtion.Nach Hobson mui), das aber nicht unbedingt so sein. Der wahre Ursprung vonKrisen und Imperialismus liegt in der Ungleichheit der Eirtkommen und den iibergroBen Einkommen der Monopolisten und Rentiers, und die Losung liegt in angemessenen Reformen:"Jede Verlinderung im politisch-6konomischen Krafteverhiiltnis wird diesen Besitzern ihr iiberschiissiges Einkommen entziehen und es entweder den Arbeitern als hohere L6hne oder der Ge-meinschaft als h6heres Steueraufkommen zufliell>en lassen, so dall> es ausgegeben und nicht ge-spart wird - beides wird die Konsumwelle vergroll>ern - ; es wird daher keinerlei Notwendigkeitbestehen, Auslandsmarkte oder auslandische Anlagespharen fiir Investitionen zu erobern." (Hobson, zit. nach Bleaney, op. cit., S. 166)Eine erstaunliche Anzahl der Thesen von Hobson aus den Jahren nach 1900 tauchenin spateren marxistischen Analysen wieder auf. So betont Lenin in einer Schrift von1916 den Zusammenhang von Monopol und Imperialismus, wenn er auch HobsonsAnalyse der Unterkonsumtion verwirft. Andererseits argumentiert die deutsche Re-volutionaren Rosa Luxemburg (1921 - gemeint ist die "An ikritik - jh/ws), daB dieWurzeln des Imperialismus in der Tat im Unterkonsumtionsproblem liegen, obwohlsie natlirlich Hobsons Schluf>folgerungen daraus zuriickweist. In neuerer Zeit habendie Marxisten Paul Sweezy und Paul Baran in wichtigen Arbeiten einige HobsonscheThesen aufgegriffen, so z. B. die Beurteilung der GesamtprodukHon als vertikal integriertem Sektor, den Begriff des "Surplus", die Auffassung, daB Monopole em groi),eres Surplus zur Foige haben, und vor allem, daB die Abschopfung des Surplus ein12 Bleaney (1976), S. 18013 Ebd., S; 171

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    immanentes Problem der kapitalistischen Produktion darstellt, welches sich mit defAusweitung def Monopole verscharft. Diese Theorien werden wir im folgenden dis-kutieren.

    C Marxistische Unterkonsumtions- und DisproportionalitiitstheorienIn den friihen Unterkonsumtionstheorien wird das Problem immer an einer zu hohenAkkumulationsrate festgemacht. Wir haben aber gesehen, da nach dieser Logik jedeAkkumulation dazu tendiert, sich selbst aufzuheben. Das ftihrte die Unterkonsumtionstheoretiker unweigerlich zu der SchluBfolgerung, da def Kapitalismus zur Stagnation neigt, da ein eigenstandig expandierender Kapitalismus unmoglich ist.Marx zerstorte diese Argumentation restlos. Um das verstehen zu konnen, mus-sen WIT den Fortschritt def Begrifflichkeit bei mm naher betrachten.

    Wir kennen bereits den ersten groen Fortschritt, der darin bestand, sich dieGesamtproduktion in Begriffen zweier groer Abteilungen vorzustellen, mit Produktionsgutern (Abt. I) und Konsumgtitern (Abt. II). Das bedeutet, da das Gesamtprodukt zu jedem Zeitraum aus Produkten beider Abtellungen zusammengesetzt ist.Marx' zweJte Errungenschaft. bestand darin, das Wesen der effektiven Nachfrage klarzustellen. Wie man sich erinnern wird, kannten die Unterkonsumtionstheoretikergrundsatzlich drei Arten der effektiven Nachfrage: Ersatznachfrage, welche Produktionsguter zurUckkauft, urn verbrauchte zu ersetzen, Konsumnachfrage def Arbeiter,welche mren "Antell" am Produkt zuruckkaufen, und Konsum- und Investitionsnachfrage def Kapitalisten, welche die "Nachfragelucke" in def Nettoproduktion ftillenmuB. Marx ging zuerst aus von einem Zeitproblem. Angenommen, der Produktionsproze in jeder Abtellung benotigt eine bestimmte Zeitspanne, sagen wir ein Jahr.Dann konnen also die im Gesamtproze verbrauchten Produktionsmittel nicht ausder Produktion dieses Jahres ersetzt werden, da die ersten fertigen Produktionsguteraus der in diesem Jahr begonnenen Produktion erst am Jahresende yom Band rollenwerden. Entsprechend konnen die in diesem Jahr beschaftigten Arbeiter nicht dieKonsumgtiter, die sie gerade herstellen, "zuruckkaufen", da diese nicht vor dem Jahresende fertiggestellt sind; genausowenig konnen die Kapitalisten das konsumieren,was noch nicht verfugbar ist.

    Gehen wir zuruck zum J ahresanfang. Urn das Beispiel moglichst einfach zu halten, nehmen wir an, da alle im Laufe des Jahres benotigten Produktionsmittel amJahresanfang gekauft werden (dies dient nur der einfacheren Darstellung). Die Kapitalisten beschlieen das gewUnschte Niveau der Produktion fUr das laufende Jahr.Daher kaufen sie eine bestimmte Menge Produktionsguter und stellen eine bestimmteAnzahl Arbeiter ein; die Arbeiter wiederum beutzen ihren Lohn, urn Konsumgtiterzu kaufen. Gleichzeitig mtissen die Kapitalisten eine bestimmte Menge KonsumgtiterfUr mre eigene personliche Konsumtion im Laufe des Jahres kaufen. Beachten wir,daft die effektive Nachfrage ausschlieftlich von der Kapitalistenklasse getragen wird:Die Lohne der Arbeiter sind fUr die Kapitalisten Tell der Bruttogesamtinvestltionsausgaben dieses Jahres. Es ist nicht gerechtfertigt, Konsumtion und Investition als

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    funktionell unabhangig zu betrachten, da die Masse der Konsumtion von den Lohnenkommt, welche selbst notwendiger Tell der Investitionsausgaben sind.Am Anfang des Jahres ist es also die Kapitalistenklasse, die durch ihre Konsumtions- und Investitionsausgaben die effektive Nachfrage bestimmt. Aber wer verkauftdie Waren? Nattirlich die Kapitalistenklasse! DeI Jahresanfang ist zugleich das Endedes Vorjahres; daher wird zu diesem Zeitpunkt auch das fertige Produktdes vorjahrigen Produktionsprozesses verftigbar. Die Produktion des Vorjahres versorgt die Kapitalistenklasse mit dem Warenangebot, das in diesem Jahr verkauft werden kann;die diesjahrigen Ausgaben der Kapitalistenklasse fill Bruttoinvestitionen und personlichen Konsum bestimmen die effektive Nachfrage fill dieses Warenangebot. Wenndas phantastisch anmutet, muB man sich vor Augen halten, die kapitalistischeReproduktion uberhaupt phantastisch ist. Produktions- und Konsumtionsentscheidungen werden von Hunderttausenden von Einzelkapitalisten getroffen ohne Rucksicht auf die Reproduktion des Ganzen. Obwohl die Kapitalisten beide Seiten derAngebot-Nachfrage-Beziehung bestimmen, tun sie das nicht als Klasse, sondern alsIndividuen. Die Schwierigkeit liegt darin, zu erkliiren, wie die Rechnung uberhaupt"aufgeht". Wir werden in Ktirze darauf zuruckkommen.

    Es ist nicht schwierig, hier anzuknupfen und zu zeigen, em kontinuierlichesWachstum durchaus moglich ist, wenn die effektive Nachfrage injedem Jahre geradeausreicht, das vorhandene Angebot zu "normalen" Preisen zu kaufen (14). Wenn dieInvestitionen urn 10 %steigen, wiichst auch die Produktion urn 10 %. Wenn also auchdie Konsumtion der Kapitalisten urn 10% wiichst, dann steht jeder Jahresproduktiondie notwendige effektive Nachfrage gegenuber (lS). Seit Marx ist die Moglichkeit eines ausgeglichenen Wachstums allgemein akzeptiert. Ausgeglichenes Wachstum bedeutet, Produktionskapazitiit und effektive Nachfrage etwa gleichschnell wachsen konnen. Ftir sich gesehen folgt daraus aber nicht unbedingt, der Kapitalismus das auch nur anniihernd verwirklichen kann. Ebensowenig erkliirt es uns, wiedie Kausalkette verliefe, wenn solchesWachs tum im Durchschnitt tatsiichlich erreichtwerden konnte. Dennoch aber stellt die Tatsache einer moglichen gleichgewichtigenReproduktion auf erweiterter Stufenleiter eine unubersehbare Bedrohung fUr dieUnterkonsumtionstheorien dar. Und im Lichte dieser Bedrohung stoBen wir auf diemarxistischen Varianten der Unterkonsumtionstheorie.

    1m ersten Band edes Kapital zeigt Marx, daB ein Mehrprodukt nur entstehenkann, wenn der gesellschaftliche Gesamtarbeiter mehr Stunden pro Tag arbeitet, alsnotwendig sind ftir die Produktion der Gliter, die sie selbst zu ihrer Reproduktionbrauchen bzw. die als Ersatz ftir die im ProduktionsprozeJ), verbrauchten benotigt14 Der Leser wird bemerkt haben, da:fl, ich eine Erorterung der "normalen" Preise und ihrer Bestimmung bei Marx vermieden habe. lch diskutiere dieses Thema ausflihrlich in"Marx' Theory of Value and the ,Transformation Problem"', in: The Subtle Anatomyof Capitalism, ed. Jesse Schwartz, Goodyear Pb!. Co., California 1977, pp. 106 - 137.15 (Der Autor geht von den zuvor gemachten Annahmen aus, daJl. die effektive Nachfrageausschlie:fl,lich von den Kapitalisten getragen wird, da ja die Lohne der Arbeiter Tell der

    Bruttoanlageinvestitionen der Kapitalisten seien. Unter dieser Voraussetzung kann alsodie Darstellung mit den Marxschen Gleichgewichtsbedingungen einer erweiterten Reproduktion verglichen werden. -- jh/ws)

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    werden. Es ist eben diese, tiber die zur Aufrechterhaltung mres eigenen Unterhaltsund des Produktionssystemshinausgehende Mehrarbeitszeit, die das von den Kapitalisten angeeignete Mehrprodukt schafft.Diese Erkenntnisse fand im weit entfernten zaristischen Rumand Resonanz.Hier hatte der Kapitalismus begonnen, die gesellschaftlichen Strukturen zu zerstoren,insbesondere den Mir, die uralte Bauerngemeinschaft. Etwa urn 1850 stellten einigePopulisten die These auf, daf. der Mit die Grundlage eines direkten Obergangs zumKapitalismus bilden konne, ohne daB man die Schrecken der kapitalistischen Industrialisierung durchmachen miisse. Urn 1880 hatte der 1. Band des "Kapitals" denmarxistischen Populisten nicht nur eine vernichtende Kritik des Kapitalismus im all-gemeinen geliefert, sondern auch - mithllfe einer geringen Extrapolation - einewichtige theoretische Waffe gegen den Kapitalismus in Rumand (16). Die marxistischen Populisten nahmen Marx Hinweis auf die Bedeutung der Mehrarbeitszeit alsBeweis flir die Unmoglichkeit der Entwicklung des Kapitalismus in R u ~ l a n d . In derklassischen Manier der Unterkonsumtionstheorie schlossen sie aus der Tatsache, d a ~ die Arbeiter mehr produzieren, als sie konsumieren, daf. der Binnenmarkt nie einWachstum ermoglichen wiirde. Die entwickelten westlichenkapitalistischen Uindernhatten mit den Auslandsmarkten einen Ausweg gefunden; aber Rufl,land - so argumentierten sie - sei zu unentwickelt, urn auf dem Weltmarkt effektiv konkurrierenzu konnen. Daher sei der Kapitalismus in Rufl,land nicht lebensfiihig. Die Organisierung der Bauern sei der Schliissel zum Sozialismus.DeI zweite Band des "Kapital" wurde 1885 verOffentlicht, zwei Jahre nachMarx' Tod. Dennoch hielten die marxistischen Populisten noch weitere 15 Jahre langdaran fest, daf. "es fUr ein kapitalistischen Land unmoglich ist, ohne Auslandsmarkte zu existieren" (17). Zu der Zeit aber hatten die russischen Marxisten ein Gegenargument entwickelt, und mit mm verbanden sich bedeutende Namen: Bulgakow, Tugan-Baranowsky, Struve und Lenin.Diese letztere Gruppe von Marxisten kritisierte die populistische Unterkonsumtions-These in zweierlei Hinsicht. Erstens stellten sie fest, es sei eine Tatsache, ,daft sich in ganz Ruftland die Kapitalisten und die Waren beziehungen rapide ausbrei-teten. Lenins erstes Buch, "Die Entwicklung des Kapitalismus in Rumand" (1899)versuchte genau das zu beweisen. Zweitens attackierten Lenin und die anderen dielogische Grundlage des populistischen Arguments. Ihr Grundirrtum liege - so sagtensie - in der Annahme, d a ~ im Kapitalismus die Konsumtion der Zweck der Produkkton seL Der Kapitalismus produziere nur flir den Profit, nicht fiir den Konsum,und Marx' Analyse der erweiterten Reproduktion beweise ohne jeden Zweifel, d a ~ diese profitorientierte Produktion durchaus in der Lage sei, ihre eigenen Binnenmark-te zu erzeugen. Unterkonsumtion sei kein immanentes Problem. Der Kapitalismussei bereits existent, lebensfiihig und im Wachstum begriffen, und die Organisierungdes stadtischen Proletariats sei die vordringlichste Aufgabe.In diesem Streit waren Struve, Bulgakow, Tugan-Baranowsky und Lenin eindeutig die Sieger. Aber ihr Sieg warfnur eine Reihe neuer, viel wichtigerer Fragen auf:16 Jacoby (1975), S. 5 ; 1117 Ebd., S. 10 (Zitat v. Danielson)

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    Wenn der Kapitalismus tatsiichlich zu einem Wachstum aus sich selbst heraus fahigist, was hindert ihn daran, ewig weiter zu wachsen? Mit anderen Worten: Wo liegenseine Grenzen? Und wie kann man femer die verheerenden Krisen verstehen, denener periodisch unterworfen ist?Ais Antwort darauf vertrat Tugan-Baranowsky die extreme Auffassung, derKapitalismus sei vollig unabhiingig von der Konumtion, jedenfalls so lange die Abteilungen I und II im richtigen Verhiiltnis zueinander wachsen. Aber - so meint er weiter - bei der gegebenen Anarchie der kapitalistischen Produktion sei dieses ausgeglichene Verhiiltnis eine Sache des Zufalls. Der "Trial-and-Error"-Charakter der kapitalistischen Produktion verursache demnach periodisch g r o ~ e Ungleichgewichte, diedie Reproduktion storen und Krisen verursachen wtirden. Lenin wandte sich gegenTugan-Baranowskys Annahme, die Konsumtion sei irrelevant; aber obwohl er dieAnarchie der kapitalistischen Produktion als Ursache der Krisen erwiihnte. lieferteer keine ausgearbeitete Krisentheorie. Er sollte auf dieses Thema auch nicht wiedereingehen. Etwa zehn Jahre spiiter tauchte die Disproportionalitiitstheorie der Krisenin Deutschland wieder auf, diesmal in Rudolf Hilferdings umfassenden Werk tiber denMonopolkapitalismus. Sowohl Tugan-Baranowsky als auch Hilferdihg vertraten inder Folge die These: Da die Anarchie des Kapitalismus zu Krisen ftillre, k6nnte einePlanung die Krisen eliminieren. "Organisierter Kapitalismus" sei, so Hilferding, dieL6sung und der parlamentarische Weg zur staatlichen Kontrolle die Methode (18).Rosa Luxemburg wolltedieses Ergebnis der Debatte nicht akzeptieren. Als aktive Revolutioniirin war sie entschieden gegen den Reformismus, den die Disporportionalitiitstheorie zu beinhalten schien. Wenn man erst einmal zugibt, -"daE die kapit31istische Entwicklung nicht auf ihren Untergang hin verliiuft", so erkliirte sie,"dann sei der Sozialismus nicht mehr objektiv notwendig". Die Theorie des kapitalitischen Zusammenbruchs aufgeben h e ~ e den wissenschaftlichen Sozialismus aufgeben. Sie versuchte daher, die marxistische Unterkonsumtionsdebatte wiederzubeleben (19).Da die Marxschen Beispiele fUr eine Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter(ausgeglichenes Wachtsum) sich als der entscheidende Faktor in der friiheren Debatte der russischen Marxisten erwiesen hatte, griff Luxemburg diese Beispiele direktan. Sie riiumt ein, daE' Marx die theoretische M6glichkeit einer erweiterten Reproduktion zwar eindeutig aufgezeigt habe, jedoch scheine er nicht erkannt zu haben,daE das in der Realitiit unm6glich sei,da das erforderliche kapitalistische Verhaltenyom gesellschaftlichen Standpunkt aus widersinnig sei (20). Stellen wir uns vor, d a ~ 18 Ebd., S; 14 -1619 Ebd., S. 22 (Jacoby bezieht sich hier offensichtlich auf "Die Akkumulation des Kapitals":

    "Es ist klar, dall., wenn man die schrankenlose Akkumulation des Kapitals annimmt (wieStruve, Bulgakow, Tugan Baranowsky - jh/ws), man auch die schrankenlose Lebensfahigkeit des Kapitals bewiesen hat (. . . 1st die kapitalistische Produktionsweise imstande,schrankenlos die Steigerung der Produktivkriifte, den okonomischen Fortschrit t zu sichern,dann ist sie uniiberwindlich, der Sozialismus hort auf, eine historische Notwendigkeit zusein." (Luxemburg 1966 (1913), s. 296) Da uns i.d.R. die Sekundiirliteratur nicht voriag,haben wir die Zitate 1m Text riickiibersetzen lassen. jh/ws)20 Bleaney (1976), S. 89

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    am Ende eines Produktionszyklus das gesamte Sozialprodukt in einem Lagerhaus ge-sammelt ist. Dann kommen die Kapitalisten und entnehmen einen Tei! des Gesamtprodukts, urn die im Zyklus verbrauchten Produktonsmittel zu ersetzen, und die Ar-beiter kommen und entnehmen ihre Konsumtionsmittel. Uhrig bleibt das Mehrprodukt, von dem die Kapitalisten wieder einen Tell fUr ihren perstinlichen Konsum entnehmen. Jetzt fragt Luxemburg: woher kommen die Kaufer fUr das restliche Produkt? Dies 1st nattirlich wieder das bekannte traditionelle Unterkonsumtionsproblemder "Nachfragehicke".) Wenn Marx recht hat, sagt sie, dann ist es die Kapitalistenklasse, die den Rest der Produktion aufkauft, urn ihn zu investieren und so die ProdUktionskapazitat zu erweitern. Aber das leuchtet nicht ein, denn "wer sind die neuen Konsumenten, ftir die Produktion immer wieder erweitert werden soll?" Selbstwenn die Kapitalisten sich so verhalten, wie Marx behauptet, dann sind im nachstenZyklus die Produktionskapazitat und die auftretende Lticke noch grtiBer und dasProblem noch schwerer in den Griff zu bekommen. Marx' "Akkumulationsschemagibt keine Antwort auf die Frage, wer von der erweiterten Reproduktion letztlich. profitiert ... . Eine erweiterte Reproduktion ist zwar theoretisch mtiglich, aber ge-sellschaftlich nicht durchftihrbar (21).Daraus folgt, daB die tatsachliche kapitalistische Akkumulation nur mit irgendwelchen Kraften auBerhalb der "rein" kapitalistischen Beziehungen erklart werdenkann. Luxemburg bemerkt, daB Malthus' Ltisung in Form einerdritten Klasse vonnicht produzierenden Konsumenten nicht schlussig ist, da ihre Revenuen nUI aus Profiten oder Ltihnen kommen ktinnen. Genausowenig bietet der AuBenhandel der kapitalistischen Lander untereinander eine L6sung fUr den Kapitalismus insgesamt, daer innerhalb des Welt systems stattfindet. Sie kommt daher zu der Auffassung, daBdie kapitalistische Akkumulation eine Kauferschicht auBerhalb def kapitalistischenGesellschaft erforderlich macht, welche standig mehr von ihr kauft, als sie ihr ver-kauft. Also ist der Handel zwischen der kapitalistischen und der nicht-kapitalistischenSphare eine Grundvoraussetzung der historischen Existenz des Kapitalismus, und dieFoige davon ist notwendigerweise der Imperialismus, in dem die kapitalistischen Lander urn die Kontrolle tiber diese so wichtigen Quellen der effektiven Nachfrage kiimpfen. Uherdies wird mit def Ausbreitung des Kapitalismus tiber die Erde die nicht-kapitalistische Welt zunehmend kleiner, und damit schwindet die Hauptquelle der Akkumulation. Die Tendenz zu Krisen wird starker, und die Konkurrenz unter den kapitalistischen Landern urn die verbleibenden nicht-kapitalistischen Gebiete verscharftsich. Krisen im WeltmaBstab, Kriege und Revolutionen sind das unausweichliche Er-gebnis dieser Entwicklung.Selbst wenn Luxemburg Recht hlitte mit der Unmtiglichkeit einer Akkumulation, wtirde ihre Ltisung nicht funktionieren, da die "Dritte Welt" standig mehr kaufen als verkaufen mtiBte. Woher aber sollten die zusatzlichen Revenuen kommen?Tatsachlich aber sieht sie auch die Mtiglichkeit einer Akkumulation falsch.Urn das zu verstehen, mussen wir kurz zu def am Anfang dieses Abschnitts dargestellten Analyse zurUckkehren. Erinnern wir uns, daB am Ende des Produktionszyklus21 Ebd., S. 193 (Bleaney bezieht sich hier auf das 26. Kapitel def "Akkumulation . . . " (Lu-xemburg 1966, S. 318 ff.) - jh/ws)

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    die Kapitalisten im Besitz des gesamten Sozialprodukts sind. Gleichzeitig sind ihreBruttoinvestitionen und personlichen Konsumausgaben die ursprtinglichen Quellendef effektiven Nachfrage nach diesem Produkt (da die Lohne der Arbeiter Teil defGesamtinvestitionen sind). Abgesehen von ihrer eigenen personlichen Konsumtionsind ihre iibrigen Ausgaben (Bruttoinvestitionen) keineswegs an def Konsumtion alssolcher orientiert. Sie sind ausschlieBlich an Profiterwartungen orientiert. Nun zeigen die Beispiele von Marx, daB die Kapitalisten bei einer angemessenen Investitionshohe in def Lage waren, ihr Produkt zu verkaufen und die erwarteten Profite zumachen. Wenn dieser Erfolg sie wiederum zu neuen Investitionen in Erwartung nochhoherer Profite veranlaBt, wiirden sie wiederum belohnt werden, usw. Wahrend dieser Zeit wiirde sich die Konsumtion ausweiten aufgrund steigender Beschaftigungvon Arbeitern und wachsenden Reichtums der Kapitalisten. Aber diese Ausweitungdef Konsumtion ware das Resultat, nicht die Ursache (22).Wenn das auch Luxemburgs Kritik der Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter widerlegt, so beantwortet es noch nicht die beiden zentralen Fragen, von denensie ausging. Erstens, welche Krafte - wenn iiberhaupt - ermoglichen tatsachlich eine erweiterte Reproduktion? Und zweitens, stimmt es, daB, wenn eine erweiterteReproduktion tatsachlich moglich ist, "sich die kapitalistische Entwicklung nichtauf ihren Untergang hin bewegt?"Was die Theorie diskutiert, entscheidet die Wirklichkeit. 1m Jahre 1929 bracheine alles verwiistende weltweite Krise des Kapitalismus aus, gefolgt von mehr alszehn J ahren tiefer Depression und Arbeitslosigkeit. Auf diesem Hintergrund riicktendie Probleme def kapitalistischen Reproduktion schnell wieder in den Mittelpunkt.

    Den ersten groBeren Versuch, die Unterkonsumtionstheorie wieder ftiT die Erklarung heranzuziehen, unternahm Paul Sweezy in seinem einfluBreichen Buch "DieTheorie der kapitalistischen Entwicklung" (1942). Sweezy ging es explizit darum,eine Unterkonsumtionstheorie zu formulieren "frei von den Einwanden, die gegenfriihere Versionen vorgebracht wurden" (23). In diesem friihen Stadium ist Sweezynoch sehr unter dem EinfluB der traditionellen unterkonsumtionstheoretischen VorsteHung, daB die Nachfrage nach Konsumgiitern die gesamte Produktion reguliert.Aus dieser Sicht erscheint die Abteilung I als Teil des vertikal integrierten Produktionsapparats der AbteilungII, so daB Veriinderungen des Produktiosniveaus der Abteilung I (Produktionsgiiter) im wesentlichen Veranderungen in def Kapazitiit derKonsumgiiterproduktion bedeuten. Dartiberhinaus argumentiert Sweezy, daB eine1%ige Veranderung in der Produktion def Abteilung I die Produktionskapazitat defKonsumgiiterproduktion um 1 % anhebt. Dies ist im Grunde eine Wiederholung der22 Wenn man den Band I des "Kapitals" kennt, wird man sich erinnern, da Marx zwei verschiedene Kreislliufe von Kauf und Verkauf unterscheidet: W-G-W und G-W-G'. 1m erstengeht es um die Konsumtion, im zweiten um die Erweiterung des Kapitals. In der kapitalistischen Produktion ist letzterer der ausschlaggebende Kreislauf.23 Sweezy (1942), S. 179 (deutsch 1959; vgl. dort S. 140): "Wenn die Unterkonsumtionstheorie wieder Prestige gewinnen und einen Platz unter den bedeutenden und akzeptier

    ten Prinzipien der Marxschen Theorie einnehmen soli, scheint es klar, da eine sorgfiiltigeFormulierung notwendig ist, gegen die man die gegen die friiheren Versionen geitend gemachten Einwande nicht erheben kann." - jh/ws)

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    bereits diskutierten Theorie von Hobson.Betrachten wir jetzt die effektive Nachfrage, die sich - wie wir gesehen haben- zusammensetzt aus der Konsumtion der Kapitalisten und den Gesamtinvestitionsausgaben (wobei die letzteren wiederum zusammengesetzt sind aus Ausgaben fUr dieProduktionsmittel und die Beschiiftigung von Arbeitem). Sweezy stellt fest, daE imVerlauf der Entwicklung des Kapitalismus die Mechanisierung zunimmt und immermehr Maschinen benotigt werden, urn einen Arbeiter zu beschaftigen; das bedeutet,daE die Investitionsausgaben der Kapitalisten fUr Produktionsgliter schneller wachsen als fUr LOhne. In seiner Analyse der Produktion bedeuten die Investitionsausgaben fUr Produktionsgliter ein entsprechendes Anwachsen der KapazWit der Konsumgliterproduktion, wohingegen die langsamer wachsenden Ausgaben fUr Lohne sichnatlirlich auf die Konsumtion der Arbeiter auswirken. Danach scheint also die Kapazitiit der Produktion. von Konsumglitem schneller anzuwachsen als die Konsurnnachfrage der Arbeiter. Es eroffnet sich eine "Nachfrageliicke". Natlirlich konnte dieKonsumtion der Kapitalisten diese Liicke s c h l i e ~ e n . Aber mit fortschreitender Entwicklung des Kapitalismus tendieren die Kapitalisten dazu, einen immer g r o ~ e r e n Teil ihrer Profite zu investieren und entsprechend weniger zu konsumieren, so daEalso ihre Konsumtionhinter der Produktionskapazitiit der Abteilung II zuriickbleibt.Sweezy folgert daraus:". da:fl. das Wachstum der Konsumtion die ibm innewohnende Tendenz hat, hinter dem Wachstum im Aussto1l> der Konsumgiiter zuriickzubleiben. Wie wir schon gezeigt haben, kann sich diese Tendenz entweder in Krisen oder in Stagnation oder in beiden ausdriicken." (Sweezy (1942),p. 183, hier deutsch: (1959), S. 143)Der Grundfehler von Sweezys Analyse ist der traditionelle Fehler der Unterkonsumtionstheoretiker, die Abteilung I nur als "Input" fUr die Abteilung II anzusehen. Ausdieser Annahme folgt notwendig, daE ein Ansteigen der Produktion von Produktionsglitem die Kapazitiit der Konsumgiiterproduktion vergor&m m ~ . Aber das ist nichtrichtig: Produktionsgliter konnen auch fUr die Produktion von Produktionsgiitemverwandt werden, und wie wir in der Kritik an Luxemburg feststellten, erfordertdie erweiterte Reproduktion eine solche Verwendung. 1m Gegensatz zu Seezys Auffassung ist es durchaus mog1ich, bei einer angestiegenen technischen Zusammensetzung des Kapitals (Verhiiltnis von Rohstoffen und Maschinen zur angewandten Arbeit) und einem proportionalen Anwachsen der Produktion in beiden Abteilungentrotzdem eine erweiterte Reprodu'ktion zu erhalten.Sweezys zweiter Versuch, diesmal zusammen mit Paul Baran, findet sich zwanzig Jahre spiiter im "Monopolkapital". Wir haben gesehen, daE Sweezy "ei seinemersten Versuch behatiptet hatte, daE der Kapitalismus eine immanente Tendenz habe, die Produktionskapazitiit der Abteilung II schneller zu v e r g r o ~ e m als die Konsurnnachfrage. In "Monopolkapital", geschrieben im Licht von Marx, Keynes undKalecki, beschrankt er sich nicht mehr nur auf die Abteilung II oder die Konsurnnachfrage. vielmehr wird hier behauptet, daE der mode me Kapitalismus eine Tendenzhabe, die gesamte Produktionskapazitiit schneller als die aus sich heraus erzeugte effektive Nachfrage zu erweitem - so daE ohne die Einwirkung iiuflerer Faktoren "derMonopol-Kapitalismus immer- tiefer in den Sumpf chronischer Depression sinken

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    wiirde" (24).Aus dieserDiagnose ergibt sich, daB "die ziemlich lange Periode, in der derkapitalistische AkkumulationsprozeB kriiftig expandierte . . . und in der die Nachfrage nach Arbeitskriiften schnell anstieg und die Produktionskapazitiiten voll oder dochnahezu voll ausgelastet waren", mit iiuBeren Faktoren erkliirt werden mtissen (25).So verweisen Baran und Sweezy auf groBere Innovationen (Dampfmaschinen, Eisenbahnen, Automobile), imperialistische Expansionen und Kriege sowie allgemeine Stimulierung der Nachfrage durch Werbung, Regierungspolitik usw. als zentrale Faktoren der Uberwindung des in:1manenten stagnierenden Charakters des Monopolkapitalismus.

    Die behauptete Gleichsetzung von Monopolen mit langsamem Wachstum undOberkapazitiit ist nicht neu. Wir werden sehen, daB viele Theorien diesen Zusammenhang zu erkliiren versuchen. Barans und Sweezys , ~ e s o n d e r e Leistung ist dieTheorie, daB diese Phiinomene aus der andauernden Tendenz des Monopolkapitalismus zur Uberausweitung der Produktionskapazitiit entstehen, welche zu Krisen und/oder Stagnation fUhren. Wir wollen versichen, die logische Grundlage dieser Argu-mentation herauszuarbeiten. ,

    Wir erinnern uns, daB in Marx' Analyse die Gesamtinvestitionen und Konsumausgaben der Kapitalisten die effektive Nachfrage bestimmen (wobei die Gesamtinvestitionen die Lohnkosten einschlieBen; welche ihrerseits die Konsumtion der Ar-beiter bestimmen). Ferner ist, insofern die personliche Konsumtion der Kapitalistenklasse mehr oder weniger passiv von frUheren und gegenwiirtigen Profiten abhiingt,die Gesamtinvestition in der Tat die zentrale Variable. Nehmen wir jetzt an, daB zuBeginn eines Jahres die gesamten Investitionsausgaben fUr die Produktion des kommenden Jahres ausreichen, um die Produktionskapazitiit zu erweitern, nicht aber,um das gesamte vorhandene Sozialprodukt zu k'

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    Wenn man aber davon ausgehen konnte, daJl. injeder Periode die Investitionentendenziell im oben beschriebenen Rahmen bleiben - groJl. genug fUr die Ausweitungder Kapazitiit, nicht aber, um die Produktion der vorhergehenden Peri ode zu kaufen- , dann wiirde die ProduktionskapazWit nattirlich der effektiven Nachfrage davonlaufen und das System siihe sich einer Nachfrageliicke gegentiber bzw. einem "Realisierungsproblem". Genau dieses Argument liegt Barans und Sweezys Annahme zugrunde, daJl. der(potentielle) Surplus schneller wachst als die Aufnahmefahigkeit desSystems. Doch obwohl sie im Monopol eine Hauptursache fUr dieses Problem sehen,erHiutern sie nicht, warum die Monopolisten angesichts einer unzureichenden Nachfrage weiterhin ihre Kapazitaten tiberausweiten wtirden. Das zentrale Moment ihrergesamten Theorie bleibt also unerkliirt. Erik Olin Wright weist in seinem klirzlich verOffentlichten Uberblick tiber marxistische Krisentheorien auf diese entscheidendeSchwache hin:"Es ist die groi1te Sehwaehe dieser Position zur Unterkonsumtion, dai1 ihr eine Theorie der De-terminanten der tatsaehliehen Akkumulationsrate fehlt . . . Ein Groi1teil der Unterkonsumtionstheoretiker optiert (zumindest implizit) fUr Keynes' Losung dieses Problems, indem sie sich aufdie personliehen Profiterwartungen der Kapitalisten als Hauptfaktor fiir die Akkumlationsratekonzentrieren. Aus marxistischer Sicht ist das keine ausreichende Erklarung. leh habe bis jetztnoch bei keinem marxistischen Unterkbnsumtionstheoretiker eine entwickelte Theorie der lnvestitionen und der Akkumulationsrate gefunden, deshalb bleibt die Theorie derzeit unvollstandig."(Wright (1977), S. 215 - 216)Baran und Sweezy gehen in ihrem Buch auf Beitriige von Joan Robinson, MichaelKalecki und Joseph Steindl ein. Da diese Autoren ebenfalls wichtige Vertreter derlinks-keynesianischen Tradition sind, wollen wir die Implikationen ihrer jeweiligenAnalysen fUr unser Problem der Krisen herausarbeiten.

    Sowohl in der Keynesschen als auch in der Marxschen Analyse sind die Investitionen entscheidend. In der Keynesianischen Theorie liegt die Betonung vor aHemauf den kUfzfristigen Determinanten der Investitionsentscheidungen. Soweit die obengenannten Autoren deshalb die Investitionsentscheidungen diskutieren, setzen siesich in erster Linie mit den kurzfristigen und nur sekundar mit den langfristigen strukturellen Veranderungen auseinander. Joan Robinson geht in ihren frlihen Arbeitennur nebenbei auf strukturelle Veranderungen ein, wahrend ihre spateren Arbeitenvor aHem auf Kalecki basieren (27). Wenn Kalecki seinerseits kurz auf die langfristigen Veranderungen eingeht, nimmt er einfach an, daJl. der Kapitalismus ohne die

    in Geld verwandeln, urn die Friichte seiner Ausbeutung realisieren zu konnen. Wenn nichtdas gesamte Mehrprodukt verkauft wird, dann wird ein Teil des von den Kapitalisten an-geeigneten Mehrwerts nicht als Profit realisiert. Die realisierte Profitrate ist dann kleinerals c 3 v, die produzierte oder potentielle Profitrate. In diesem Sinne existiert ein "Realisierungsproblem" nur insoweit, wie die Kapitalisten tatsachlich produzierte Waren nichtzu normalen Preisen verkaufen konnen. In den Schriften der Unterkonsumtionstheoretiker jedoch bezeichnet der Begriff "Realisierungsproblem" meistens eine Diskrepanz vonpotentieller und tatsachlicher Produktion. Nach Marx hangt dieses letztere Problem damitzusammen, daf> mit der Entwicklung des Kapitalismus die Erfordernisse der Produktionvon Profit immer mehr mit den Moglichkeiten einer gesellschaftlichen Produktion in Konflikt gera ten.27 Bleaney (1976), S. 225

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    Einwirkung iiu&rer Faktoren zur Stagnation tendiert. Demnach sind Innovationender wichtigste Faktor fUr die Ausweitung der Investitionen tiber das zur Reproduktion des Systems notwendige Niveau hinaus, und er ist der Meinung, die abnehmende Intensitiit der Innovationen im Monopolkapitalismus sei verantwortlich fUr dasderzeitige langsame Wachstum (28). Das alles ist aber ziemlich unvollstiindig, und inseiner letzten grofleren Arbeit (1968) betont Kalecki, dafl eine ausreichende ErkHi-rung der langfristigen Determinanten der Investition noch ausstehe (29).Steindl schlieBlich konstatiert zuerst einmal die Unvollstiindigkeit von Kaleckislangfristiger Analyse und versucht diese Schwiiche zu beheben. In letzter Instant istjedoch auch er gezwungen, eine abnehmende Intensitiit der Innovationen als wichtigsten Faktor fUr das verlangsamte Wachstum des modernen Kapitalismus anzunehmen,obwohl er betont, dafl die Monopole diesen Effekt verschiirfen. Wie zuvor Kalecki,kommt auch er zudem SchluB, dafl eine ausreichende Erkliirung bis jetzt nicht ge-funden ist (30). Es ist also kein Wunder, dafl Baran und Sweezy ihre eigene Beurteilung des Problems vorziehen.IV. Kapitalismus als sich selbst beschrankende Akkumulation von KapitalDie radikalen und marxistischen Unterkonsumtionstheoretiker konzentrieren sichzumeist aufdie effektive Nachfrage als begrenzenden Faktor der kapitalistischen Akkumulation. In Marx' eigener Analyse ist die effektive Nachfrage jedoch kein immanentes Problem. 1m Gegenteil, nach seiner Auffassung sind die Kapitalisten bestrebt,so schnell wie moglich zu akkumulieren, so dafl erweiterte Reproduktion und nichtStagnation das System charakterisiert. Das bedeutet nicht, daflder AkkumulationsprozeB reibungslos verliiuft oder dafl nicht partielle Krisen auftreten konnen aufgrundvon Miliernten etc. Aufjeden Fall bedeutet es aber, dafl die Grenzen des Akkumulationsprozesses nicht aus ungeniigender Nachfrage resultieren. HeiBt das aber, wieRosa Luxemburg so iiberzeugend behauptet, dafl man bei Ablehnung der Unterkonsumtionstheorie auf dem Standpunkt stehen mue., die Akkumulation (und damitder Kapitalismus selbst) sei durchaus zu unbegrenzter Ausweitung f

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    Abnehmende Profitabilitat bedeutet abnehmende Akkumulationsraten undVerschlirfung der Konkurrenz der Kapitalisten untereinander (national und international) urn die Mlirkte, Rohstoffe und billige Arbeitskraft. Mit der Eliminierung derschwacheren Kapitale steigt die okonomische Konzentration und Zentralisation desKapitals (d. h. "Monopole"). Ferner sind die Kapitalisten immer starker gezwungen,die Lohne zu verringern, entweder direkt durch Mechanisierung oder den Import billiger Arbeitskraft und/oder durch den Kapitalexport in lirmere Under. Gleichzeitignimmt die Arbeiterklasse z a h l e n m ~ i g immer mehr zu und die kollektive Erfahrungdes Kampfes gegen den Kapitalismus wachst. Den Angriffen des Kapitals auf die Ar-beiter wird immer mehr Widerstand und (auf lange Sicht) ein ,Gegenangriff entge-gengesetzt. Der Klassenkampf verschlirft sich. .Dabei unbedingt beachtet werden, die Tendenz zur sinkenden Profitabilitat (wie von Marx analysiert) nicht durch die hohen Lohne verursacht wird, obwohl steigende Lohne sie durchaus verstlirken konnen. Das heill.t, die periodischen Krisen, die aus der abnehmenden Profitabilitat entstehen, nicht den Forderungen oder dem Widerstand der Arbeiter angelastet werden konnen, obwohl die ver-schiedenen historischen Stufen und politischen Situationen nattirlich die Art undWeise beeinfiussen, wie das System insgesamt auf die einzelnen Krisen reagiert. Solange jedoch die kapitalistischen Beziehungen dominieren, werden diese allgemeinenTendenzen sich weiter durchsetzen. Dementsprechend betont Marx, die Aufgabedes Proletariats nicht ist, dem Kapital Widerstand zu leisten, sondern es zu sttirzen.Diese kurze Darstellung sollte gezeigt haben, zunehmende "Monopole",sinkende Akkumulationsraten und verschlirfte Klassenkampfe eher als Auswirkungender grundlegenden G e s e t z m ~ i g k e i t e n der kapitalistischen Entwicklung verstandenwerden konnen denn als Faktoren, die neue G e s e t z m ~ i g k e i t e n entstehen lassen -wie z. B. bei Baran und Sweezy (32). Da das Gesetz der sinkenden ProfitabilitatfUrdiese Erklarung zentrale Bedeutung hat, miissen wir es im einzelnen nliher diskutieren.

    A. Marx' Theorie der fallenden ProfitrateIn den meisten Gesellschaften werden Aufteilung der gesellschaftlichen Arbeitszeitund Abzug von Mehrarbeit gesellschaftlich reguliert, durch Tradition, Gesetz undGewalt. In der kapitalistischen Gesellschaft werden die produktiven Tatigkeiten voneinzelnen K a p ~ t a l i s t e n privat und zum Zwecke der Profitmacherei unternommen. DiegesellschaftIiche Reproduktion ist kein explizites Anliegen und trotzdem siestattfinden und findet auch statt. Oberflachlich gesehen sind es die G ~ l d p r e i s e undPropte, welche den (all-) taglichen "Feedback" liefern, derdie Entscheidungen der32 Es ist Ubrigens interessant, daJl" \l{enn die Kapitalisten als Resultat der abnehmenden Profitabilitiit ihre Investitionsausgaben einschriinken, ein Teil des zur Verftigung stehenden Pro-dukts nicht verkauft wird, und es den Anschein haben wird, als sei die Krise durch fehlende effektive Nachfrage, durch "Unterkonsumtion", verursacht. Aber in Wirklicbkeit istdie "Unterkonsumtion" nur eine Reaktion auf die Krise der Profitabilitiit. Sie ist Symptom, nicht Ursache.

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    Kapitalisten bestimmt. Aber nach Marx ist es in Wirklichkeit die gesamte in die Produktion von Waren eingebrachte Arbeitszeit (Arbeitswerte),welche auch die Preisp h i i n o m e n ~ reguliert. Diese Bestimmung von Preisen und Profiten durch Arbeitswerte und Mehrwert stellt in der Tat die Art und Weise dar, in der sich die gesellschaftlichen Erfordernisse der Reproduktion in der kapitalistischen Gesellschaft darstellenmiissen. Wir werden uns von nun an direkt mit Arbeitswerten und Mehrwert beschaftigen, da sie die wirklich regulierenden Elemente sind.1m Arbeitsprozefl. benutzen die Arbeiter Arbeitsinstrumente (Fabrik und Ausrlistung), urn die Rohstoffe in Fertigprodukte zu verwandeln. Daher besteht die gesamte fUr das Fertigprodukt erforderliche Arbeitszeit aus zwei Teilen: erstensderverbrauchten, in den Produktionsmitteln (Rohstoffe, Fabrik und Ausrlistung) enthal-tenen Arbeitszeit; zweitens der von den Arbeitern im Arbeitsprozefl. selbst verausgabten lebehdigen Arbeitszeit. Marx nennt das erste Element "konstantes Kapital"(C), da es im Endprodukt wieder erscheint, und das zweite "durch lebendige Arbeithinzugeftigten Wert"(L) (33). Der Gesamtwert der Arbeit ist daher beijedem Fertigprodukt =C+L. Ein Teil des Fertigprodukts ist nur das-Aquivalent fUr die verbrauchtenProduktionsmittel. Sein Arbeitswert ist daher C, da dies der Arbeitswert der tatsachlich verbrauchten Produktionsmittel ist. Uhrig bleiben einmal das Nettoprodukt(Wertprodukt), das zum anderen nichts anderes als den durch die lebendige Arbeithinzugefligten Wert reprasentiert. Das Nettoprodukt ist das stoffliche Aquivalent derverausgabten Arbeitszeit (L).Wenn es ein M ~ h r p r o d u k t geben solI, dann darf nur ein Teil des Nettoproduktsdie von den Arbeitern verbrauchten Konsumgiiter ersetzen. Der durch lebendige Arbeit hinzugeftigte Wert (L) setzt sich daher aus zwei Teilen zusammen, von denensich der eine auf den Arbeitswert des Konsumtionsprodukts der Arbeiter bezieht (V)und der andere auf den Arbeitswert des Mehrprodukts (M). Mit anderen Worten: Esist die Differenz zwischen der von den Arbeitem tatsachlich verausgabten Arbeitszeit (L) und der fUr ihre Reproduktion notwendigen Arbeitszeit (V) - also die Mehrarbeitszeit (M) - , welche dasMehrprodukt und damit dieProfite erm6glicht: M=L -V.Die Aufteilung der lebendigen Arbeitszeit in notwendige (V) und Mehrarbeitszeit (M)ist daher die verborgene Grundlage der kapitalistischen Gesellschaft. Marx nennt dasVerhaltnis "die Rate des M e h r w e r t ~ " oder "die Rate der Exploitation", Ceterisparibus gilt also: je hOher die Exploitationsrate, desto gr6fl.er der Mehrwert und somit der Profit.Die von den Arbeitern tatsachlich geleistete Arbeit (L) wird von der Dauer desArbeitstages bestimmt. Andererseits ist die zu ihrer Reproduktion notwendige Zeit(V) sowohl von der Menge der von ihnen konsumierten Waren bestimmt als auch vonder Arbeitszeit, die zur Produktion dieser Waren erforderlich ist. Die Masse des Mehr-werts (M) und die Exploitationsrate k6nnen daher auf zwei Wegen gesteigert _33 (Das Symbol "L" steht fUr "v + m"; da es in der deutschen Diskussion keine entsprechende Abkiirzung fUr die verausgabte lebendige Arbeitszeit gibt - sieht man von dem inder biirgerlichen Diskussion gebriiuchlichen Symbol "Y" (Volkseinkommen, das ungefahrdem Wertprodukt entspricht) ab - wird inder Darstellung "L" weiterhin benutzt =-ih/ws)

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    werden: entweder direkt, indem man den Arbeitstag verliingert, so daB die Mehrar-beitszeit direkt anwachst, oder indirekt, indem man die notwendige Arbeitszeit Vverringert, so daB ein groBerer Teil des gegebenen Arbeitstages als Mehrarbeitszeitverausgabt wird. Die letztere Methode def Steigerung von M und erfordert entwe-der eine Herabsetzung def Reallohne def Arbeiter oder Steigerung def Produktivitatihrer Arbeit, wodurch sie weniger Zeit ftir die Produktion ihrer Konsumtionsmittelaufwenden mtissen, oder beides.Die Kapitalisten erproben standig alle moglichen Methoden zur Steigerung derExploitationsrate. Aber im Laufe def Zeit hat die wachsende Starke der Arbeiterklas-se die Versuche, den Arbeitstag zu verliingern und/oder den Reallohn zu senken,stark beschnitten. So ist die Steigerung def Produktivkraft def Arbeit zum haupt-sachlichen Mittel der Steigerung def Exploitationsrate geworden. Aber nach Marx istes das Paradoxe am Kapitalismus, daB die Mittel, die die Exploitationsrate steigern,auch die Profitrate senken. Die steigende Produktivitat der Arbeit manifestiert sichim Fall der Profitabilitat des Kapitais.

    Die Mehrwertrate driickt die Teilung des Arbeitstages in notwenige undMehrarbeitszeit aus. Sie millt den Exploitationsgrad der produktiven Arbeiter. Aberftir die Kapitalisten ist def Grad def Profitabilitat des Kapitals das entscheidende Moment. Von illIem Standpunkt aus investieren sie Geld in die Produktionsmittel (C)und Arbeiter (V) mit dem Ztel, Profit zu machen (M). Die Gesamtsumme des Profits(M) bezogen auf ihre Investition (C +V) ist def kapitalistische ErfolgsmaBstab. Mitanderen Worten es ist die Profitrate -CM welche die Akkumulation von Kapital

    , +Vreguliert.Das Paradoxe liegt in folgendem: In ihren dauernden Kampfen gegeneinander(34) werden einzelne Kapitalisten standig dazu gezwungen, die Durchschnittskostenzu senken, urn gegentiber ihren Konkurrenten einen Vorteil zu gewinnen. Wenn esurn den Erfolg im Absatzkampf geht, ist jedes Mittel recht, das die Durchschnittsko-sten verringert. Aber die Kapitalisten sind auch fortwahrend in einen weiteren Kampfurn die Produktionsbedingungen auf def Ebene des Arbeitsprozesses. Und hier gilt,daB die Mechanisierung als Hauptmittel zur Steigerung der ArbeitsproduktiviHit ein-gesetzt wird und somit zur Senkung der Durchschnittskosten fiihrt. Kapitalisten stel-len Arbeiter flir eine bestimmte Periode ein, und ihr Ziel ist, das Maximum an moglicher Produktivitat wahrend des Arbeitsprozesses mit moglichst niedrigem Kosten-aufwand aus ihnen herauszupressen. Das schliel1t nicht nur Kampfe urn den Reallohnund die Dauer und Intensitat des Arbeitstages, sondern auch tiber Art und Charak-ter des Arbeitsprozesses selbst ein. Von Anfang an haben die Kapitalisten danach getrachtet, den ArbeitsprozeB zu "perfektionieren", indem sie ihn in zunehmend spe-34 Diese Kampfe nennt Marx die "Konkurrenz der Kapitale". Aber dieser Gebrauch des Be-griffes Konkurrenz bedeutet nicht "vollstandige Konkurrenz" im Gegensatz zum "Mono-pol". Bei Marx s c h l i e ~ e n die zunehmende Konzentration und Zentralisation von Kapitaleneine heftigere "Konkurrenz zwischen den Kapitalen" urn immer weitere Teile der Erdeein. Die sogenannte "monopolistische" Phase des Kapitalismus hebt die Konkurrenz da-her nicht auf, sondern intensiviert sie noch.

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    zialisierte und routinisierte Funktionen unterteilen. Mit der kapitalistischen Kontrolletiber den A r b e i t s p r o z e ~ wmde die menschliche produktive Tatigkeit immer starkermechanisiert und automatisiert. Daher ist es nicht tiberraschend, die mechanisierten menschlichen Funktionen zunehmend durch Maschinen selbst ersetzt werden. Wahrend Maschinen einige menschliche Funktionen tibernehmen, werden andere Funktionen noch mehr der Tyrannei der Mechanisierung unterworfen, bis aucheinige von linen dmch Maschinen ersetzt werden, usw. (35).

    Die Tendenz zm Mechanisierung ist daher die vorherrschende kapitalistischeMethode zur Steigerung der gesellschaftlichen Arbeitsproduktivitat. Sie ergibt sichaus der kapitalistischen Kontrolle tiber den ArbeitsprozeB, tiber die menschliche produktive Tatigkeit. Daher sind weder der wachsende Widerstand der Arbeiter nochder Anstieg def Reallohne die eigentlichen Beweggrtinde flir die Mechanisierung, obwohl siediese Tendenz sehr wohl beschleunigen k6nnen.Zunehmende Mechanisierung bewirkt - so Marx - eine steigende technischeZusammensetzung des Kapitals. Immer groBere Mengen von Produktionsmit teln undRohstoffen werden von einer gegebenen Anzahl von Arbeitern in Bewegung gesetzt.Nach Marx schlieBt dies wiederum ein, daB der gesamte Arbeitswert des Endprodukts (C +L) immer mehr dmch die verbrauchten Produktionsmittel und immer weniger durch lebendige Arbeit bestimmt wird. Mit anderen Worten reflektiert die steigende technische Zusammensetzung in Wertausdrticken ein steigendes Verhhltnisvon ..toter zu lebendiger Arbeit", von C zu L.

    Wie wir gesehen haben, ist die Profitrate Aber M = L - V, da die Mehrar-C+Vbeitszeit M gleich der Zeit ist, die die Arbeiter tatsachlich verausgaben (L) minus derZeit, die fUr ihre Reproduktion notwendig ist (V). Selbst wenn die Arbeiter also"nm von Luft Ieben" (V =0), kann der maximale Wert von M nur gleich dem Neu-wert Mmax = und die m a x i ~ a 1 e Profitrate hOchstens =!:. sein. Daraus folgt,L C

    - , die obere Grenze der Profitrate ist, wahrend die untere nattirlich Null ist.--- C . .' . . -Wenn nun eine steigende technische Zusammensetzung sich tatsachlich als ein zu-nehmendes Verhhltnis"'reflektiert - also ein abnehmendes V e r h a l t n i s ~ - , dannwird die tatsachliche P r ~ I 1 t r a t e zunehmend zwischen einer fallenden obefen Grenzeund einer festen unteren Grenze eingeklemmt, so daB sie sich in einer fallenden Ten-denz ausdrticken mUl1. Das ist die fallende Tendenz der Profitrate beiMarx (360.Die oben beschriebene fallende Tendenz ist unabhangig davon, auf welcheWeise der Neuwert zwischen V und M aufteilt wird und daher unabhangig von der35 Eine hervorragende Analyse des modernen Arbeitsprozesses findet sich in Harry Bravermanns "Labor and Monopoly Capital", Monthly Review Press, New York 1974 (Frankfurt a.M./New York 1977)36 (Die hier und im folgenden geflihrte Argumentation ist in der westdeutschen Diskussionausflihrlich dargestellt bei H. Hollander (Das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitra

    teo M:uxens Begriindung und ihre Implikationen, in: Mehrwert Nr. 6, 1974) und bei G.Stamatis (Zum Beweis der Koexistenz des Marxschen Gesetzes vom tendenzieUen Fall derProfitrate, in: Prokla Nr. 25, 1976) Dort finden sich auch weitere Literaturhinweise -jh/ws)

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    Exploitationsrate . In der Tat, wenn der Reallohn der Arbeiter konstant bleibt,wtirde die aufgrund von Mechanisierung steigende ArbeitsproduktivWit fortwahrend

    steigern; je gro8er die Arbeitsproduktivitat, desto weniger Zeit benotigen die Arbeiter, urn eine gegebene Menge von Konsumglitern zu produzieren, so da8 ein gro-8erer Antell eines gegebenen Arbeitstages zur Mehrarbeitszeit wird. Selbst wenn dieReallohne wirklich ansteigen, wird - solange sie weniger schnell wachsen als die Produktivitat - die Exploitationsrate trotzdem immer noch steigen. So 1st es durchausmoglich, gleichzeitig einen steigenden Reallohn und eine steigende Exploitationsrate zu haben. Das ist sogar nach Marx der Normalfall, namlich mit der Begriindung,da8 die Arbeiter niemals alle Produktivitatszuwachse der Mechanisierung erhaltenkonnten, ohne die Akkumulation zu stoppen und somit die goldene Gans zu schlachten (37). Flir Marx bewegt sich daher der Kampf urn die Reallohne innerhalb bestimm-ter objektiver Grenzen, jenen Grenzen, die durch die Kapitalakkumulation gesetztsind. Diese Grenzen sind dem Kapitalismus selbst immanent und konnen nur durchseine Uberwindung liberschritten werden.Fast alle marxistischen Kommentatoren sehen es als Tatsache an, da8 die Mechanisierung eine liberwhltigende Realitat kapitalistischer Produktionsweise ist. Einewichtige Interpretationsrichtung jedoch ordnet die Mechanisierung nicht der kapitalistischen Kontrolle des Arbeitsprozesses zu, wie Marx es tut, sondern eher der Reaktion des Kapitals auf den wachsenden Arbeiterwiderstand und/oder die (langfristig)steigenden Reallohne. Typischerweise beginnen sie mit der Postulierung eines Ansteigens der Reallohne unter den gegebenen Produktionsbedingungen, was zu einem Fallder Profitrate fUhrt, der wiederum die Kapitalisten veranla8t, mehr Arbeiter durchMaschinen zu ersetzen. Aus dieser Sicht sind nattirlich die Mechanisierung und dersie begleitende Anstieg der Arbeitsproduktivitat die grundlegenden Mittel fur dieSteigerung der Profitabilitat, wahrend steigende Lohne dahin tendieren, sie zu vermindern. Abhangig davon, welcher Faktor vorherrscht, so sagen sie, kann sich dieProfitrate in beide Richtungen bewegen (38). Beispielsweise vertreten Paul Sweezyund Maurice Dobb diesen Standpunkt (39).Diese Analyse ist richtig - bis zu einem bestimmten Punkt. Das Ansteigen derReallohne wird tatsachlich eine Mechanisierung veranlassen, die vielleicht die Wirkung der hoheren Lohne auf die Profitabilitat ausgleichen kann, aber nicht mu8.Aber bei Marx wird der Anstieg der Reallohne selbst durch eine vorausgehende Ursache moglich gemacht, namlich die Mechanisierung, die aus dem Konkurrenzkampfhervorgeht. Daher ist die Wirkung, die Sweezy und Dobb analysieren, nur sekundar.37 Auf eben diesen Standpunkt stellt sich Marx im Band I des "Kapital", wenn er sagt, daB

    "die Erhohung des Arbeitspreises ( ...) also eingebannt (bleibt) in Grenzen, die die Grundlagen des kapitalistischen Systems nicht nur unangetastet lassen, sondern auch seine Reproduktion auf wachscnder Stufenleiter sichern." (Marx, Kapital I, MEW.23, S. 649)38 Fiir eine detailliertere Diskussion diese.I Position sowie einiger mathematischer Methoden (zu den sog. "Wahl-der-Technik"-Theremen), die unterstiitzend gebraucht werden,siehe: "Political Economy and Capitalism: Notes on Dobb's Theory ofCrisis" , von diesemAutor; erscheint demnachst in Cambirdge Journal of Economics.39 Sweezy (1942), S. 88; Dobb (1937), S. 108 - 114

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    Sie ubedagert den primaren Effekt (und wird tatsachlich durch mn erst moglich).Geht man davon aus, d a ~ sie die primare Wirkung ignorieren, iiberrascht es nicht,sie fUr den Fall der Profitrate keinen eigentiichen Grund sehen konnen.Ein anderer wichtiger Einwand gegen das Gesetz ist der, die Mechanisie