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Friedrich-Wilhelm SchlomannDie heutige Spionage Rußlands

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ISBN 3 - 88795 - 191 - 3© 2000, unveränderter Nachdruck

Hanns-Seidel-Stiftung e.V., MünchenAkademie für Politik und Zeitgeschehen

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort................................................................................................................................. 5

1. Einführung................................................................................................................... 6

2. Der Nationale Sicherheitsrat und die Dienste............................................................. 72.1 Der zivile Nachrichtendienst (SWR)............................................................................... 82.2 Militärische "Kundschafter" (GRU).............................................................................. 112.3 Fernmelde- und elektronische Aufklärung (FAPSI)....................................................... 132.4 Gegenspionage (FSB).................................................................................................. 142.5 Grenz-Erkundung (FPS).............................................................................................. 152.6 Der "Präsidialdienst" (FSO).......................................................................................... 162.7 Die Dienste und der heutige russische Staat................................................................. 16

3. Operationsgebiet Deutschland.................................................................................. 193.1 Die Lage in der DDR................................................................................................... 203.2 Zwischen Wiedervereinigung und Abzug der russischen Truppen................................. 203.3 "Intensive Spionageaktivitäten".................................................................................... 22

4. Ziele der russischen Spionage.................................................................................... 244.1 Wirtschaftsspionage..................................................................................................... 244.2 Politische Spionage...................................................................................................... 264.3 Militärische Erkundung................................................................................................ 27

5. Die Lenkung der Agenten.......................................................................................... 285.1 Zentrale Moskau.......................................................................................................... 285.2 Legale Residenturen..................................................................................................... 285.3 Joint-ventures.............................................................................................................. 295.4 Getarnte Journalisten................................................................................................... 305.5 Illegale Residenten....................................................................................................... 31

6. Der Spion................................................................................................................... 32

6.1 Die "Kundschafter" aus den Jahren vor 1989/90........................................................... 326.2 "KGB-Helfer".............................................................................................................. 336.3 Gruppe Ljutsch............................................................................................................ 346.4 Frühere MfS-Hauptamtliche......................................................................................... 346.5 Reaktivierung von Ex-Agenten.................................................................................... 366.6 Anwerbung neuer Spione............................................................................................. 37

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7. Übermittlungswege der Nachrichten........................................................................ 397.1 Der "Treff".................................................................................................................. 397.2 Funkverbindungen....................................................................................................... 407.3 "Tote Briefkästen"....................................................................................................... 407.4 Geheimschreibverfahren............................................................................................... 40

8. Moskau und seine Spionage...................................................................................... 41

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Vorwort

"Spionage" war während des Ost-West-Konfliktes vor 1989/90 ein recht gebräuchliches Wort.Hoffnungen, mit dessen Beendigung würde diese ebenfalls aufhören, wurden sehr bald ent-täuscht.

Erstmals seit dem Zerfall der Sowjetunion hat jetzt in Rußland ein bisheriger Leiter einesGeheimdienstes das Staatsruder übernommen.

Deutschland selber erlebte erst kürzlich einen Spionagefall, bei dem umfangreiches Geheim-material über Lenkflugkörpersysteme und Panzerabwehrraketen nach Moskau geliefert wurden.

Spionage – leider also ein weiterhin recht aktuelles Thema.

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1. Einführung

Die großen Umwälzungen in der UdSSR bzw. der GUS führten zwar auch zu Veränderungen imSicherheitsbereich, die Spionage Moskaus tangierten sie jedoch in keiner Weise und zu keinemZeitpunkt. Die nicht seltene Annahme im Westen, diese sei mit dem Ende des Ost-West-Kon-fliktes überholt, "gehört zu den großen Illusionen"1. Jewgenij Primakow, seinerzeit der Leiter desrussischen Auslandsspionagedienstes, erklärte überaus eindeutig zu einer Beendigung einer sol-chen Aufklärung: "Jedoch können meiner Ansicht nach nur unverbesserliche Schwärmer an einesolche Perspektive glauben."2

Beweise, daß man auch weiterhin der Spionage nachging, gab es sehr bald: Im April 1990 mußteder schweizerische Bundesrat die Abberufung von drei sowjetischen Diplomaten in Genf verlan-gen; sie hatten versucht, geschützte Informationen aus dem wissenschaftlich-technischen Bereichzu beschaffen. Im Juni 1990 flog in Brüssel ein weites "Kundschafter"-Netz auf. Fünf Monatespäter wies die niederländische Regierung 30 KGB-Mitglieder aus, die dort als Angestellte derBotschaft, bei der Fluglinie Aeroflot oder als akkreditierte Journalisten getarnt arbeiteten. Ende1990 wurde in Salzburg ein Angehöriger des militärischen Nachrichtendienstes Moskaus festge-nommen, nachdem er kurz zuvor von einem seiner Agenten Geheimunterlagen über die US-Marine und die NASA erhalten hatte. Im Mai 1991 konnten in Belgien erneut Helfershelfer desSowjetspionagedienstes enttarnt werden. Vier Monate danach mußte aus ähnlichen Gründen einMitglied der Moskauer Botschaft in Stockholm des Landes verwiesen werden. 3

Zumindest für Kenner stellte dies keine Überraschung dar: Denn im sowjetisch-russischen Den-ken - und nur das ist entscheidend und nicht etwa unsere westeuropäischen Wertvorstellungen -stellen politische sowie gerade wirtschaftliche Annäherungen Moskaus an den Westen in bezugauf Zusammenarbeit und wirtschaftliche Unterstützung zum einen und gleichzeitig die Spionagegegen eben diese Länder andererseits keinen Widerspruch dar, sondern sind zwei völlig verschie-dene und unabhängige Erscheinungen. 4

Sergej Stepachin, damals Direktor der russischen Gegenspionage und Premierminister seinesLandes, gewährte einmal - und nahezu wortgleiche Äußerungen in Moskau während der späterenJahre lassen kaum an ein Versehen glauben - einen sehr aufschlußreichen Einblick in die Denk-weise der heutigen russischen Spionage: "Die Durchführung einer Aufklärungstätigkeit dient ineiner modernen und zivilisierten Welt durchaus nicht als Hindernis für die Aufrechterhaltungfreundschaftlicher Beziehungen und auch Bündnisbeziehungen zwischen den Staaten."5

1 The Times, 24.2.1994; ähnlich Corriere della Sera, 3.3.1994; vgl. auch: Verfassungsschutzbericht Berlin 1994,

hrsg. vom Landesamt für Verfassungsschutz Berlin, Berlin 1995, S. 165.2 Wostok , Nr. 3, Köln 1995, S. 32. Wostok ist die faktische Nachfolge der von der UdSSR-Botschaft in Bonn

herausgegebenen Zeitschrift "Sowjetunion heute".3 Neue Zürcher Zeitung, 21.4.1990; La Libre Belgique, 5.6.1990; Die Welt, 7.11.1990; Der Tagesspiegel,

2.12.1990; Die Nieuwe Gazet (Antwerpen), 27.1.1991; Le Soir, 11.4.1992; Die Welt, 19.8.1992, 24.10.1992.

4 Peter Frisch (Vizepräsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz): Vortragsmanuskript vom August 1991,Köln, S. 6; Verfassungsschutzbericht 1995, hrsg. vom Bayerischen Staatsministerium des Innern, München1996, S. 162.

5 Russisches Fernsehen I, 5.3.1994 (so bereits am 1.3.1994); Radio Rußland, 13.3.1998.

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Nicht überhören sollte der Westen auch die Worte Stepachins: "Es ist durchaus natürlich, daß derStaat sich nicht von einer Funktion wie der Aufklärung trennen kann." Gleichzeitig gestandPrimakow im gleichen Zusammenhang: "Insgesamt sind wir überall bestrebt, aktuelle, zuverläs-sige und bestenfalls dokumentarische Informationen zu bekommen." Selbst Moskaus heutige"Kooperation (mit dem Westen) ersetzt die Spionagetätigkeit nicht". 6 Sie ist ebenfalls für dasjetzige Rußland ein unverzichtbares Mittel geworden.

2. Der Nationale Sicherheitsrat und die Dienste

Die Gesamtleitung aller nachrichtendienstlichen Tätigkeit liegt beim Präsidenten der RussischenFöderation. Wie das Gesetz über die Auslandsaufklärung vom 8.7.1992 in Artikel 12 näher aus-führt, legt er die Strategie für die Spionage fest und kontrolliert und koordiniert die Arbeit dereinzelnen Dienste.

Ihm zur Seite steht der Nationale Sicherheitsrat der Russischen Föderation ("Sowbes RF"), derauch gerade für die Koordinierung der Tätigkeit der Nachrichtendienste und deren Kontrollezuständig ist. Im März 1998 wurden sogar der russische Verteidigungsrat, der bis dahin vorwie-gend als sein Gegengewicht fungierte, sowie das erst im Oktober 1997 neu eingerichtete Militär-inspektorat mit seinen Kontrollbefugnissen über die Streitkräfte in den Sicherheitsrat integriert.

Im September 1998 stieg Generaloberst Nikolai Bordjuscha zu seinem Sekretär auf; drei Monatespäter erhielt er ebenfalls die Führung der Präsidialadministration im Kreml. Nach seinem Stu-dium an der KGB-Hochschule für Gegenspionage machte er bei den Grenztruppen Karriere undwar später deren Leiter geworden. Ende März 1999 indes entließ ihn Präsident Boris Jelzin ausbeiden Funktionen. Offiziell begründete man dies mit der Übernahme einer anderen Position,tatsächlich hatte er ihn wohl in mehreren Punkten enttäuscht. Am 29.3.1999 ernannte ein ErlaßJelzins den damaligen Leiter des russischen Inlandsgeheimdienstes (FSB), Wladimir Waldimiro-witsch Putin, zum Nachfolger.

Die Leiter der einzelnen Nachrichtendienste Rußlands sind als ständige Mitglieder im NationalenSicherheitsrat präsent und damit auch in dessen Beschlüsse eingebunden. Zum Ständigen Mit-glied des Sicherheitsrates ernannte Jelzin Mitte Juni 1999 den Premierminister Stepachin, derbisher (nur einfaches) Mitglied gewesen war. Dem Gremium gehören auf geheimdienstlicherSeite weiterhin Alexeij Moljakow, einst Leiter der militärischen Gegenspionage beim damaligenFSK, und wahrscheinlich ebenso der ehemalige Stellvertretende Direktor des FSB, ValentinSobolew, sowie Oleg Tschernow an. War auf Geheiß des Präsidenten der bisherige Leiter vonFAPSI, Wladialaw Scherstjuk, mit seiner Entlassung am 31. Mai 1999 zugleich zum Stellvertre-tenden Sekretär des Sicherheitsrates ernannt worden, so wurde er - mit anderen Personen, u.a.dem früheren Premier Primakow - bereits am 14. Juni wieder entlassen. 7

Unter dieser Struktur - des Präsidenten und des Nationalen Sicherheitsrates - arbeiten heute dieverschiedenen Spionagedienste.

6 Stepachin in: Russisches Fernsehen I, 5.3.1994; Primakow in: Russisches Fernsehen I, 19.12.1995; Russisches

Fernsehen I, 13.3.1998; Wostok, a.a.O., S. 5.

7 Interfax (Moskau), 14.6.1999 (siehe auch vom 31.5.1999); Itar-Tass (Moskau), 14.6.1999.

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2.1 Der zivile Nachrichtendienst (SWR)

Der gewiß wichtigste Spionagedienst ist der SWR, welcher letztlich als Nachfolger der ErstenHauptverwaltung des KGB (Spionage) anzusehen ist und deren Tätigkeit er in nahezu gleicherWeise fortführt. Bereits am 11. Oktober 1991 hatte der sowjetische Staatsrat die Auflösung jenesberüchtigten Komitees für Staatssicherheit beschlossen. Wie dessen letzter Leiter Wadim Bakatinwenige Tage später darlegte, wollte man mehrere selbständige Geheimdienste bilden, auf die diebisherigen Aufgaben lediglich aufgeteilt wurden; daß er dabei als erstes die Spionage nannte -"Die Information wird zur Hauptaufgabe" - war zweifellos kein Zufall.8 Diese gruppierte sichunter der Bezeichnung "Zentraler Nachrichtendienst" ("Centralnaja sluschba raswedki" - abge-kürzt CSR).9

Leiter wurde der genannte Primakow, der seit 1959 dem ZK der KPdSU angehörte, 30 Jahrespäter zum Kandidaten des Politbüros und dann im September 1991 zum Ersten StellvertretendenLeiter des KGB der UdSSR aufstieg. Kritiker werfen ihm vor, für die blutigen Maßnahmen gegenLitauen sowie in Baku verantwortlich zu sein und allzu enge Kontakte zu palästinensischenTerrororganisationen gehabt zu haben; er hätte, so ist zu hören, den Kreml in das Dilemma desAfghanistan-Krieges gestürzt und dürfte nicht ohne Schuld am Rücktritt des damaligen Außen-ministers Schewardnadse gewesen sein. 10

Noch kurz vor dem 20. Dezember 1991 sollte der CSR als einheitliche Struktur aller souveränerStaaten der GUS erhalten bleiben und nicht abgewickelt werden. Mit der Bildung der GUS aberstellte ein Dekret Jelzins am 20.12.1991 den gesamten CSR unter die alleinige Kontrolle der Rus-sischen Föderation, welcher nunmehr als "Dienst für Auslandsaufklärung" ("Sluschba wjneschnejraswedki" - abgekürzt SWR) deklariert wurde. Faktisch bedeutet dies, daß die frühere ErsteHauptverwaltung des KGB als ein separater russischer Spionagedienst überlebte und daßzugleich das bisherige KGB-Agentennetz rund um die Welt unberührt blieb. Bei seinem Besuchim SWR-Hauptquartier am 26.12.1991 ernannte Jelzin Primakow dann auch zum Direktor desSWR. 11

8 Sowjetisches Fernsehen, 15.10.1991.

9 Im Westen wurde häufig die Abkürzung "ZAD" verwendet, während man in Rußland stets von "ZSR" sprach(siehe Wadim Bakatin: Im Innern des KGB, Frankfurt/Main 1993, S. 112 f.). Die damals nicht selten zu hörendeAbkürzung "VRR" (" Vneschnaja Raswedka Rosii") stellte indes keine offizielle Bezeichnung dar, sondern warein bloßer Arbeitsbegriff.

10 Siehe auch: Der Spiegel, Nr. 47, 1991, S. 186; Newsweek, 21.9.1998, S. 48.11 Tass, 29.11.1991; Sowjetisches Fernsehen, 18.12.1991; Neue Zeit, 20.12.1991; Le Soir, 21./22.12.1991;

Alexander Rahr: RFE/RL "Research Report", München 1992, S. 1; Radio Moskau, 26.12.1991.

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Am 8. Juli 1992 verabschiedete das Parlament in Moskau ein direktes "Gesetz der RussischenFöderation über die Auslandsaufklärung". Ausdrücklich wird diese in Artikel 2 und 5 zur nach-richtendienstlichen Beschaffung und Verarbeitung von Informationen über Politik, Wirtschaft,Verteidigungsfragen sowie auf wissenschaftlich-technischem Gebiet verpflichtet.

Anfang Januar 1996 wurde Primakow zum Außenminister ernannt. Sein Nachfolger - und damitjetziger Leiter des SWR - ist Wjatscheslaw Iwanowitsch Trubnikow, der seit 1992 sein Stellver-treter war. Er wurde am 25. April 1942 in Irkutsk geboren. 1965 absolvierte er das MoskauerStaatsinstitut für internationale Beziehungen (einer der prestigereichsten Hochschulen derUdSSR) als Indologe. Nach eigenen Angaben war er seither für die Aufklärung tätig. 1966 setzteman ihn als "Praktikanten" an der Sowjetbotschaft in Neu Delhi ein, und ab 1971 arbeitete er fünfJahre in Indien als vermeintlicher Korrespondent der sowjetischen Nachrichtenagentur Nowosti,um dann von 1987 bis 1988 Erster Sekretär an der diplomatischen Vertretung seines Landes inDhaka zu sein. Zwölf Monate später wurde er als KGB-Resident in der äußeren Funktion einesBotschaftsrates erneut in die indische Metropole geschickt. 1989 rückte Trubnikow in die Füh-rungsspitze seines Dienstes auf; 1994 beförderte man ihn zum Generaloberst. In der russischenStaatsführung scheint er besonderen Rückhalt zu genießen, denn 1998 wurde er sowohl an denVerhandlungen zwischen Rußland und den USA über die Reduzierung strategischer Waffen alsan den Gesprächen mit dem jugoslawischen Staatspräsidenten Milosevic in Moskau zur Beile-gung des Kosovo-Konfliktes beteiligt. Privat ist Trubnikow Liebhaber von Büchern, Musik undFilmen. Mit seiner Frau Natalja, die er in der Studentenzeit kennenlernte, hat er eine jetzt20jährige Tochter.12

Sein Stellvertreter ist der Erste Stellvertretende Direktor, der heute 57 Jahre alte GeneralleutnantAlexej Schtscherbakow. Dessen Spezialgebiet liegt auf dem wissenschaftlich-technischenBereich; er studierte an einer Moskauer Hochschule Technik und trat 1964 dem KGB bei, für daser mehrere Einsätze auch gerade in Westeuropa durchführte. Die Stellvertretenden Direktorensind Jurij Subakow und Iwan Gorelowskij. Ihnen zur Seite steht als Vorsitzender der Berater-gruppe Trubnikows Generalleutnant Wadim Kirpitschenko, der seit 1952 zum sowjetischenGeheimdienst gehört und später u.a. KGB-Top-Agenten in Kairo führte und Spionage-Operatio-nen gegen die USA lenkte. 1975 rückte er in der Moskauer Zentrale zum Leiter der Verwaltung Sder Ersten Hauptverwaltung auf, welcher der Einsatz von Illegalen obliegt. Ab 1980 war er ErsterStellvertretender Direktor jener Hauptverwaltung. 13

Der Leiter der Presse-Abteilung hieß etliche Jahre Generalmajor Jurij Kobaladse, bis er MitteMärz 1999 von seinem bisherigen Stellvertreter Boris Labusow abgelöst wurde. 1952 in Brestgeboren, kam dieser 1978 zum KGB und sechs Jahre danach in dessen Spionagedienst, von 1988bis 1992 "arbeitete" er in Belgien. 14

12 Russisches Fernsehen, 10.1.1996; Verfassungsschutzbericht 1998 (Pressematerial), hrsg. vom Bundesministe-

rium des Innern, Bonn 1999, S. 191; Friedrich-Wilhelm Schlomann in: Deutsche Welle, 22.3.1996.

13 Bodo Wegmann in: Europäische Sicherheit, Nr. 6, Bonn 1995, S. 51; Neue Zürcher Zeitung, 25.4.1995; TheKorea Herald, 9.9.1993. "Illegale" sind Personen, die unter falscher Identität in das gegnerische Spionage-Operationsgebiet eingeschleust werden.

14 Kobaladses neue Tätigkeit als stellvertretender Leiter der Nachrichtenagentur "Itar-Tass" ist als ein üblicherWechsel zu werten, wohl mit der Absicht, den Einfluß des SWR in den Massenmedien zu verstärken. Auch derbisherige Geheimdienstler Leonid Koschkarjew ging ins Fernsehen, während Grigorij Rapota – bis dato Leiterder Nordamerika-Spionage des SWR – die Führung des staatlichen Waffenexport-Unternehmens Roswooru-

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Gegliedert ist der SWR zum einen in regionale Abteilungen; die wichtigsten sind:

1. USA, Kanada2. Lateinamerika3. Westeuropa (ohne Deutschland), Australien und Neuseeland4. Deutschsprachige Länder, Osteuropa6. Fernost8. Nahost9. anglophones Afrika10. frankophones Afrika17. Südasien18. Mittelost

Bei dem anderen Zweig, den Verwaltungen, wäre primär hervorzuheben:

Verwaltung R: Planung, Analyse, AuftragssteuerungVerwaltung R 1: Information, AuswertungVerwaltung K: Gegenspionage, AbwehrVerwaltung S:Illegale15.

Für Desinformation und sogenannte "Aktive Maßnahmen" existiert noch ein "Sluschba A". 16

Die Zentrale des SWR befindet sich inmitten von Wald in Jasenewo (südöstlich von Moskau),einen knappen Kilometer hinter dem äußeren Autobahnring; sie war bereits seit Juni 1972 dasHauptgebäude der Ersten Hauptverwaltung des KGB.

Die Zahl der heutigen Hauptamtlichen dieses "Dienstes für Auslandsaufklärung" - weltweit -wird im Westen allgemein auf 10.000 bis ca. 13.000 geschätzt. Gewiß wurden knapp 2.000Stellen abgebaut (vor allem fiel der bürokratische Apparat der bisherigen Parteiorganisation fort),andererseits die Abteilungen für Wirtschaftsspionage und technische Beschaffung mit jungenAkademikern aufgefüllt. Bedenkt man, daß die Spionage des KGB der damaligen gesamtenSowjetunion 12.000 Angehörige gezählt haben soll und somit jetzt vielleicht diejenige des SWRallein in Rußland personell sogar stärker sein dürfte, so muß dies schon sehr nachdenklichstimmen. 17 Der SWR ist der parlamentarischen Kontrolle unterworfen und unterliegt demdirekten Weisungsrecht der russischen Präsidenten.

schenije übernahm; er ist zudem mit Tatjana Samolis verheiratet, der langjährigen Sprecherin des SWR; siehe:Interfax, 19.3.1999; Itar-Tass, 27.11.1998.

15 Leiter der Verwaltung S ist der Deutschland-Spezialist Wladimir Sawerschinski, der bis 1989 im KGB-Haupt-quartier Berlin-Karlshorst war und von dort Einsätze von "Illegalen" in Westeuropa leitete.

16 "Nasse Sachen" (Mord, Entführungen) gibt es offensichtlich nicht mehr im Ausland, aber wohl noch innerhalbRußlands; siehe: Die Welt, 19.2.1997.

17 So u.a. Kid Möchel: Der geheime Krieg der Agenten, Hamburg 1997, S. 20; Karl-Wilhelm Fricke/BernhardMarquardt: DDR-Staatssicherheit: Das Phänomen des Verrats, Bochum 1995, S. 97; Verfassungsschutzbericht1996, hrsg. vom Thüringer Innenministerium, Erfurt 1997, S. 83; siehe auch Oleg Gordiewsky/ChristopherAndrew: KGB: Die Geschichte seiner Auslandsoperationen von Lenin bis Gorbatschow, München 1990,S. 787.

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2.2 Militärische "Kundschafter" (GRU)

Strukturell und auch personell völlig unberührt von den Entwicklungen im Lande blieb hingegendie "Hauptverwaltung Aufklärung beim Generalstab" ("Glawnoje Raswedywatelnoje Uprawle-nije" - abgekürzt GRU). Nach Auflösung der Sowjetunion war sie zunächst dem VereinigtenKommando der Streitkräfte der GUS unterstellt worden und sollte als gemeinsamer GUS-Nach-richtendienst erhalten bleiben. Im Juli 1992 jedoch wurde die GRU vollständig von Rußlandübernommen und untersteht seitdem allein dem russischen Verteidigungsministerium.18

Leiter war unmittelbar nach dem Putsch von 1991 Generaloberst Jewgeni Timochin, ein vollstän-diger "Outsider" aus dem Bereich der Luftverteidigung. Bereits im August 1992 übernahm dannauch sein Stellvertreter, der damalige Generalmajor - 1995 zum Generaloberst befördert - FjodorIwanowitsch Ladygin, die Führung. Sein Nachfolger wurde im Mai/Juni 1997 der derzeitigeLeiter dieses militärischen Spionagedienstes, Generaloberst Walentin Wladimirowitsch Korabel-nikow (Jahrgang 1946). Ihm wird die Verantwortung für die Tötung des tschetschenischenRebellenführers Dschochar Dudajew zugeschrieben. Erster Stellvertretender Leiter ist General-oberst Wladimir Ismailow, der früher für operative Aufgaben zuständig war, als (einfache) Stell-vertreter fungieren Generalleutnant G.M. Polischtschuk und Viktor Sorin.

Die heutige GRU-Zentrale besteht aus einem neun- sowie einem 15geschössigen Hochhaus undbefindet sich in Moskau auf einem Gelände, das durch die Straßen Choroschewkoje Schosse,Leningradski Prospekt, Begoraja Ulitsa und Kuusineena Ulitsa eingegrenzt wird. Früher war hierder Chodjuka-Militärflugplatz. Die Personalstärke der GRU dürfte heutzutage 12.000 Offiziereund Soldaten betragen. 19

Der Aufbau des Dienstes besteht einmal aus fünf wichtigen von insgesamt sechs Verwaltungen:

1. Verwaltung: Europa (ohne Großbritannien) einschließlich der Staaten des ehemaligenWarschauer Paktes

2. Verwaltung: Asien3. Verwaltung: Nord- und Südamerika, Großbritannien5. Verwaltung: Operative Aufklärung15. Verwaltung: Wirtschaftsspionage

18 Verfassungsschutzbericht 1992, hrsg. vom Bundesministerium des Innern, Bonn 1993, S. 174; Verfassungs-

schutzbericht Bayern 1992, hrsg. vom Bayerischen Staatsministerium des Innern, München 1993, S. 141.19 Vergleiche zu früheren Jahren sind schwierig. Der einzig seriöse Hinweis erwähnt "über 5.000 höhere Offiziere

mit akademischer Spezialausbildung"; siehe: Viktor Suworow: GRU. Die Speerspitze: Spionage-Organisationenund Sicherheitsapparat der Roten Armee, Bern 1985, S. 55.

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Die Auswertung umfaßt acht Verwaltungen, besonders:

7. Verwaltung: Europa (mit Großbritannien) sowie Nord- und Südamerika8. Verwaltung: Asien, Afrika, Naher und Mittlerer Osten12. Verwaltung: Strategische Waffen, Militärpolitik

Von den fünf technischen Verwaltungen erscheinen besonders bedeutungsvoll:

6. Verwaltung: Funk- und elektronische Aufklärung"99 GTs SS": Weltweite Führung der SIGINT-Einheiten

Von den fünf selbständigen Verwaltungen seien genannt:

14. Verwaltung: Operationen von IllegalenSpezialverwaltung: Unterstützung von Illegalen

In einem Interview mit dem russischen Armee-Organ "Krasnaja Swesda"20 führte der damaligeLeiter der GRU über die Spionage-Angriffsziele seines Dienstes aus: "Die Objekte unserer Auf-merksamkeit sind die Streitkräfte, die Technik, Bewaffnung und Einrichtung auf dem möglichenKriegsschauplatz: das Kommunikationssystem, die Straßen, Flugplätze, Flüsse, Kanäle, dieDurchlaßfähigkeit der Hauptverkehrswege."

Zusätzlich hat die GRU über ihre - in Artikel 11, Absatz 2 des Gesetzes über die Auslandsaufklä-rung genau festgelegte - Aufgabe hinaus seit geraumer Zeit ihre Spionageaktivitäten zunehmendauf die Bereiche Wirtschaft, Wissenschaft und Technik ausgedehnt. Von der GRU ausgebildetund im Kriegsfall auch gesteuert werden die Spetnaz-Spezialkräfte, wobei unter diesem Begriffheute ebenfalls die Luftlande-Aufklärungsbataillone fallen. 21

Übersehen wird in der politischen Öffentlichkeit des Westens zumeist, daß die GRU ebenfallseigene Satelliten zur elektronischen Aufklärung besitzt. Gegenwärtig scheinen 80 in Betrieb zusein, durchweg werden sie von Plesetsk (Nordwest- Rußland) ins All geschossen. Ebenfalls ver-fügt der Dienst über etliche Flugzeuge zur funkelektronischen Aufklärung. Die zu gleichenZwecken eingerichtete Bodenstation Lourdes auf Kuba kann nach nordamerikanischen Einschät-zungen "auch die Kommunikation des Weißen Hauses (in Washington) abfangen". Jedenfallsdürften diese zweifellos in der Lage sein, die gesamte Satellitenkommunikation der USA in Formvon Telefongesprächen, Faxe, E-Mails zu kontrollieren; russischerseits wird stolz behauptet, "dasZentrum beschafft zwischen 60 und 70 Prozent aller (nachrichtendienstlichen) Daten über dieVereinigten Staaten". Ähnliches wird man von dem Stützpunkt in der Cam Ranh Bay in Vietnamfür Südostasien annehmen können. 22 Daß die GRU auch Aufklärungsschiffe einsetzt und währenddes Spätfrühjahrs 1999 von der Adria aus genaue Informationen über die NATO in Jugoslawiensammelte, räumen Moskauer Medien offen ein.23

20 Moskau, 29.4.1992.

21 Im Vergleich zu früher mit rund 36.000 Soldaten wurden die reinen Sabotage-Einheiten zahlenmäßig reduziert,"aber sie bleiben konstant bereit, jeden Befehl auszuführen"; siehe Iswestija, 5.11.1998.

22 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.4.1999; Oleg Gordiewsky/Christopher Andrew: KGB, a.a.O., S. 727.

23 Russisches Fernsehen, 4.6.1999; vgl. ebenso: Interfax, 26.3.1999.

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Auch die GRU ist der parlamentarischen Kontrolle unterworfen und unterliegt dem direktenWeisungsrecht des russischen Präsidenten. Im Vergleich zum SWR erscheint sie effektiver unddamit gefährlicher.

2.3 Fernmelde- und elektronische Aufklärung (FAPSI)

Mit Dekreten Jelzins vom 29.8.1991 und besonders vom 27.12.1993 entstand aus der bisherigenAchten Hauptverwaltung und primär der 16. Abteilung der Ersten Hauptverwaltung des KGB die"Föderale Agentur für das Nachrichten- und Informationswesen der Regierung beim Präsidenten"("Federalnoje Agentstwo Prawitelstwennoj Swjazi informatsij" - abgekürzt FAPSI).

Geleitet wurde der Dienst seit seiner Gründung von General Alexandr Starowoitow - ein alterKGB-Spezialist auf diesem Gebiet. Anfang Dezember 1998 entließ ihn Präsident Jelzin ohneAngaben von Gründen. Gegen ihn bestand seit längerem der Vorwurf der Veruntreuung vonStaatseigentum, ebenso brachte man ihn mit der Verhaftung des Leiters der FAPSI-Finanzabtei-lung, Monastireski, in Zusammenhang. Sein Nachfolger wurde der am 16.10.1941 geboreneGeneraloberst Wladislaw Petrowitsch Scherstjuk, der ab 1995 Leiter der DrittenHauptverwaltung (radioelektronische Überwachung) der FAPSI war und drei Jahre danach zumStellvertretenden Generaldirektor des Dienstes aufstieg. Ende Mai 1999 wurde er von der Leitungder FAPSI entbunden und noch am gleichen Tage - der im Westen bisher nur wenig bekannte -Wladimir Matjukin zum neuen Leiter ernannt. Erster Stellvertretender Generaldirektor vonFAPSI dürfte weiterhin Generalleutnant V. Markomenko sein und Chef des Hauptdirektorats G.Jemeljanow. 24

Die Personalstärke ist gerade in den letzten Jahren auf 80.000 Mitarbeiter angestiegen; zusammenmit den Fernmeldetruppen, welche ebenfalls FAPSI unterstellt sind, beläuft sich die Zahl sogarauf 120.000 Männer und Frauen. Die Zentrale hat die Anschrift Nowii Arbat, Prospekt Kalinina22, Moskau.

Neben einer gezielten Telefonüberwachung im Lande selber - dies gilt ebenfalls für offizielledeutsche Stellen, wie der Gouverneur von Nowosibirsk einmal ausplauderte25 - geht es auch umreine Spionage: Ein Schwerpunkt ist dabei das Eindringen in westliche Kommunikations- undComputersysteme, speziell in Sicherheitsbehörden. Die Schwachstellen im Datenaustausch imZuge der weltumspannenden Vernetzung sowie der Vernetzungen der Wirtschaftsunternehmenuntereinander haben die Spezialisten des Dienstes längst erkannt. Gewiß gibt es heutzutage keineRichtfunkstrecken nach Deutschland, doch werden Abhörmöglichkeiten der russischen Vertre-tungen in Bonn, München und gerade in Berlin von westlichen Kennern unterstellt. Als keines-falls übertrieben erscheint jedenfalls die Feststellung: "Auch die neuesten Verschlüsselungs-programme und Maßnahmen zum Schutz vor unerwünschten Zugriffen bieten keine völligeSicherheit des Informationsaustausches."26

24 Wadim Bakatin, Im Innern des KGB, a.a.O., S. 58, 100; Rußland TV (Moskau), 20.5.1997.25 Die Welt, 29./30.11.1997.

26 Verfassungsschutzbericht 1998, hrsg. vom Bayerischen Staatsministerium des Innern, München 1999, S. 163(siehe auch S. 160); Verfassungsschutzbericht 1997, a.a.O., 1998, S. 255; Verfassungsschutzbericht 1998, hrsg.vom Staatsministerium des Innern des Freistaates Sachsen, Dresden 1999, S. 81.

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Im Gegensatz zum sonstigen Ausland ist FAPSI in Deutschland offiziell in Form eines "Bürosder russischen Botschaft" in Berlin vertreten. In der westlichen Öffentlichkeit stellt sie sich alseine Art russischer Telekom vor und bietet sich als "Kommunikationsspezialist in der modernenInformationstechnologie" an - dadurch eröffnet sich die Möglichkeit, Agenten mit direktemZugang zum Objekt zu plazieren. 27 FAPSI unterliegt dem direkten Weisungsrecht des russischenPräsidenten, indes aber keiner parlamentarischen Kontrolle.

2.4 Gegenspionage (FSB)

Im Zusammenhang mit der Auflösung des Sicherheitsministeriums entstand auf AnweisungJelzins Ende 1993 ein "Föderaler Dienst für Spionageabwehr" ("Federalnaja sluschba kontras-wedki" - abgekürzt FSK), der letztlich als Nachfolger der Zweiten und Dritten Hauptverwaltungdes KGB zu sehen ist. Anfang April 1995 erhielt der Dienst eine modifizierte gesetzliche Grund-lage und die Bezeichnung "Föderaler Sicherheitsdienst" ("Federalnaja sluschbar besopasnosti" -abgekürzt FSB). Er bekam nunmehr auch das Recht, "die Geheimdienste und Organisationenausländischer Staaten zu infiltrieren" und ebenso "nachrichtendienstliche Operationen auf denTerritorien ausländischer Staaten durchzuführen" - was allerdings nur in Abstimmung mit deneigentlichen Auslandsspionagediensten Rußlands erfolgen soll.28 Neben der Hauptverwaltung zurBekämpfung der Organisierten Kriminalität (OK) existieren die Departements für Spionage-abwehr, Terrorismusbekämpfung, für logistische Dienste, für Verwaltung und Personal sowie das5. Departement "Analyse, Prognose und strategische Planung". Die Gegenspionage wird vom1. Departement betrieben; die Führung liegt seit vier Jahren bei Generalleutnant PawlowitschPetschenkin.

Leiter des neuen FSB war damals Serjeg Stepachin, der spätere Premier der Russischen Födera-tion. Nach der mißlungenen Operation zur Geiselbefreiung in Budjonnewsk wurde er im Juni1995 auf Antrag der Duma seines Amtes enthoben. Knapp einen Monat später trat GeneraloberstMichail Barsukow seine Nachfolge an. 29 Im Zusammenhang mit den Wahlen entließ ihn Jelzinund setzte im Juli 1996 Generaloberst Nikolai Kowaljew ein; er war nach zweijährigem Aufent-halt in Afghanistan Stellvertreter der Leiter des KGB in Moskau geworden. Zwei Jahre spätermußte auch er gehen, da er nicht mehr das Vertrauen des Präsidenten besaß.

Direktor des FSB war dann der am 7.10.1952 geborene heutige Generaloberst WladimirowitschPutin. Nach seinem Jurastudium trat er 1975 der Spionageabteilung des KGB bei und war von1984 bis 1990 an führender Position in der geheimen KGB-Filiale in Dresden, Angelikastraße 4eingesetzt. Danach gehörte er zur Präsidialverwaltung in Moskau und wurde nach sechs weiteren

27 Verfassungsschutzbericht 1994, hrsg. vom Bundesministerium des Innern, Bonn 1995, S. 215 (vgl. ebenfalls

S. 210); Verfassungsschutzbericht 1996, hrsg. vom Thüringer Innenministerium, Erfurt 1997, S. 84; Verfas-sungsschutzbericht des Landes Brandenburg 1998 (Vorabdruck), hrsg. vom Ministerium des Innern des LandesBrandenburg, Potsdam 1999, S. 88; Andreas Förster: Maulwürfe in Nadelstreifen, Berlin 1997, S. 40 ff..

28 Itar-Tass, 21.12.1993; Stimme Rußlands (Moskau), 5.4.1995; "Ein hochrangiger Vertreter" des FSB gegenüberInterfax, 6.4.1995; siehe auch: NTW-Fernsehen (Moskau), 7.4.1995; Verfassungsschutzbericht 1998 (Presse-material), hrsg. vom Bundesministerium des Innern, Bonn 1999, S. 191.

29 Die Welt, 21.7.1995; Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.7.1995, 18.10.1995.

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Jahren ihr Stellvertretender Leiter.30 Mit der Ernennung Putins zum Premier am 9. August 1999wurde seine bisherige Position noch am gleichen Tage von Nikolaj Platonowitsch Patruschewbesetzt. Dieser wurde am 11. Juli 1951 in Leningrad geboren und machte 1975 dort sein Examenals Schiffsbauingenieur. Noch im gleichen Jahre war er Mitarbeiter des KGB Leningrad-Karelien. Offenbar "bewährte" er sich, denn bereits 1994 rückte er zum Leiter der VerwaltungSicherheit des FSB in Moskau auf. Wiederum vier Jahre später wurde er stellvertretender Leiterdes Departements für Organisation sowie Personalfragen und im selben Monat Leiter derVerfügungsabteilung bei der Hauptkontrollverwaltung des Präsidenten. Kurz danach ernanntedieser ihn zum stellvertretenden Direktor des FSB und im Mai dieses Jahres zum ErstenStellvertretenden Direktor jenes Geheimdienstes.

Sein Erster Stellvertreter heute ist der 1950 geborene Wiktor Tscherkesow. Nach Abschluß seinesJurastudiums an der Leningrader Universität wurde er 1975 Leiter der dortigen Untersuchungs-abteilung des dortigen KGB und stieg dann im Oktober 1992 zum Direktor des MBR im GebietLeningrad auf, um im August 1998 Erster Stellvertretender Direktor des FSB unter Putin zuwerden.

Die Zahl aller FSB-Hauptamtlichen umfaßte anfangs 138.000, die dann 1994 stark reduziertwurde. Den Zentralen Apparat verringerte man Ende 1998 auf sogar 4.000 Personen. Offiziellbeläuft sich der Dienst auf 77.640 Militärangehörige und ziviles Personal, der Westen glaubt an80.000 bis 100.000 Menschen. 31 Die Zentrale des FSB liegt in der Ulitsa B. Lubjanka 1/3 inMoskau.

Der Dienst obliegt der parlamentarischen Kontrolle und ist dem Präsidenten direkt unterstellt.

2.5 Grenz-Erkundung (FPS)

Der "Föderale Grenzdienst der Russischen Föderation" ("Federalnaja Pogranitschnaja Sluschba" -abgekürzt FPS) wird seit Mitte September 1998 von Generaloberst Konstantin Tozkij geleitet, derinsgesamt über 200.000 Offiziere und Soldaten befehligt. Für die Auslandsspionage besteht einebesondere "Verwaltung Aufklärung der Grenztruppen", deren Personalstärke ca. 4.000 Mannbeträgt. In jedem Grenzbezirk existiert eine solche Abteilung, deren Leiter in Personalunion derVertreter des Kommandeurs des jeweiligen Gebietes ist. Neben Agenten setzt der FPS auchFernmeldeelektronische Mittel ein. Verantwortlich für diese Tätigkeit war lange Jahre General-oberst Alexandr Bespalow, der vor einiger Zeit von General Roschkow abgelöst wurde.32

30 Interfax, 25.7.1998; Der Tagesspiegel, 28.7.1998.

31 Alexander Schdanowitsch (Leiter des Zentrums für Öffentlichkeitsarbeit des FSB) in: Magazin für die Polizei,Januar/Februar-Heft 1997, Lippstadt 1997, S. 39.

32 Radio Echo Moskwj, 29.1.1999; Verfassungsschutzbericht 1997, hrsg. vom Niedersächsischen Innenministe-rium, Hannover 1998, S. 226, das teilweise allerdings von anderen Zahlen ausgeht.

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2.6 Der "Präsidialdienst" (FSO)

Der "Schutzdienst der Russischen Föderation" ("Federalnaja Sluschba Otschranj" - abgekürztFSO) wurde im Sommer 1996 aus der "Hauptverwaltung Schutz" (GUO) und dem persönlichen"Sicherheits- und Nachrichtendienst des Präsidenten" (SBP) gebildet und ist für den direktenSchutz Jelzins sowie der Regierungsmitglieder und für einen entsprechenden Objektschutzzuständig. Er umfaßt wahrscheinlich 25.000 bis 35.000 Mann und untersteht GeneralleutnantJurij Krapiwin. Innerhalb der FSO leitet Anatolij Kusnezow die "SBP-Komponente" mit ihren10.000 bis 12.000 Mitarbeitern. Dieser kann der russische Präsident nach völlig freiem Ermessenauch Spionageaufträge geben, denn sie unterliegt nicht einer parlamentarischen Kontrolle.33

2.7 Die Dienste und der heutige russische Staat

All das bedeutet zugleich, selbst die turbulente Entwicklung in Rußland mit seinen verschiedenenriesengroßen Schwierigkeiten hält den Kreml nicht davon ab, sechs Spionagedienste mit insge-samt schätzungsweise 200.00 bis 250.000 Hauptamtlichen zu unterhalten. 34 Dennoch muß festge-stellt werden, daß ihre Aufklärung bisher nicht die Intensität erreicht hat wie in den Zeiten derSowjetunion.

Trotz der Veränderungen und Reformen auch im Sicherheitsapparat der russischen Föderationdarf bei ihrer politisch-ideologischen Bewertung nicht übersehen werden: Die genannten Dienstesind letztlich direkte Nachfolge des KGB bzw. der einstigen GRU. In ihren Führungsetagensitzen heute hochprofessionelle, sehr erfahrene ältere Nachrichtendienstführer, die man nach1991 teilweise wieder aktivierte. Ohnehin arbeiten überaus viele Angehörige der früherenDienste, denen während des Kalten Krieges die nachrichtendienstliche Praxis mit entsprechenderideologischer Ausrichtung vermittelt wurde, noch immer in der russischen Spionage - selbst dasalte "Feindbild" blieb oftmals erhalten. Sehr offen schreibt Wadim Bakatin, der letzte KGB-Chef,in seinem Buch: "Geblieben sind die Erfüllungsgehilfen, die die kommunistische Ideologie gegensozial-chauvinistischen Patriotismus ausgetauscht ... und problemlos in den neuen Machtstruktu-ren Fuß gefaßt haben. Geblieben ist auch der Bolschewismus als Denkweise. ... Er erlebt sogareinen neuen Aufschwung."35

Der SWR, betonte Primakow, "zeichnet sich durch besondere Kontinuität aus, da er den bestenTraditionen vorangegangener Dienste treu geblieben ist. Wir sagten und sagen uns nicht von demlos, was für den Staat, die Gesellschaft und das Volk nützlich und wichtig ist und was von denVorgängern der Geheimdienste in Rußland und natürlich auch in der Sowjetunion im Laufe vielerJahrzehnte und Jahrhunderte entwickelt wurde". 36

33 Verfassungsschutzbericht 1998 (Pressematerial), hrsg. vom Bundesministerium des Innern, Bonn 1999, S. 192;

nicht zuletzt gibt es einen Aufklärungsdienst im russischen Außenministerium, der jedoch nicht offiziellexistiert.

34 So u.a.: Bonner Rundschau, Bonn, 27.12.1997; die Zahl von "insgesamt nahezu 300.000" (so VS-aktuell, Nr. 2,hrsg. vom Innenministerium Mecklenburg-Vorpommern, Schwerin 1996, S. 15) entsprach dem damaligenStand, inzwischen erfolgten personelle Reduzierungen.

35 Wadim Bakatin: Im Innern des KGB, a.a.O., S. 12 (siehe ebenfalls S. 52, 163, 297); Verfassungsschutzbericht1998 (Pressematerial), hrsg. vom Bundesministerium des Innern, Bonn 1999, S. 193.

36 Wostok, a.a.O., S. 32.

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Man kann sagen, daß die heutigen Hauptamtlichen der Dienste sich zwar in der Tradition dereinstigen "Tschekisten" fühlen - jedoch sich nicht als solche selber sehen. Bezeichnend ist dieHaltung der FSB-Führung Mitte Juni 1999 anläßlich des 85. Geburtstages von Jurij Andropow,der 15 Jahre lang das KGB leitete. In einem Fernsehinterview erklärte Putin, "es würde absolutfalsch sein, dieses Datum zu ignorieren. ... Es scheint, daß eine Gesellschaft Menschen wieAndropow benötigt, aufrechte und strenge Persönlichkeiten in ihrer moralischen Integrität. Dasist unser Leben, Schicksal und Geschichte". 37 Die Behauptung Trubnikows, die Motivation derrussischen Führungsoffiziere im Ausland sei heutzutage "viel höher als bei jenen, die vor zehnbis 15 Jahren in der Hoffnung auf ein hohes Gehalt und viele Auslandsreisen zur Aufklärunggekommen waren", erscheint allerdings allzu propagandistisch gefärbt.38 Während der vergange-nen Jahre gewannen die Spionagedienste im heutigen politischen und staatlichen Machtgefügeder Russischen Föderation an Ansehen und Einfluß; sie sind wieder hoffähig und erneut einelementarer Bestandteil der russischen Sicherheitsstrategie. Die sehr hohen militärischen Rängeder Leiter der einzelnen Dienste dokumentieren nicht zuletzt deren Wichtigkeit auch für das heu-tige Moskau. Insofern haben SWR, GRU, FAPSI und FSB einen Stand erreicht, der mit dem desfrüheren KGB bzw. der GRU von damals vergleichbar ist. Es kommt hinzu, daß Präsident Jelzin,der vor jenem Putsch kaum Interesse an den Diensten zeigte, dies seitdem um so stärker hat. DasDenkmal Felix Dserschinkis - der Vater der berüchtigten Tscheka - vor der Lubjanka in Moskauhatten 1991 freiheitsliebende Russen geschleift, Ende 1998 wurde es nach einem Beschluß desrussischen Parlamentes wieder aufgestellt.

Unter den Haushaltskürzungen des russischen Staates haben auch die Geheimdienste zu leiden -sofern sich deren Tätigkeit innerhalb der Föderation vollzieht (im Ausland erhalten ihre Bedien-steten Devisen in offenbar gleicher Höhe wie bisher). Die Angehörigen der einzelnen Dienstescheinen während der zurückliegenden Jahre ihre Gehälter nicht selten mit zwei- oder dreimona-tiger Verspätung bekommen zu haben. Gewiß versprach Primakow mehrfach, im SWR fürAbhilfe zu sorgen, auch er aber mußte den Umstand berücksichtigen, daß einfach nicht genügendGeld vorhanden war. Ende Juli 1998 räumte Premier Kirijenko "bestehende Verzögerungen beider Auszahlung der Gehälter für die Mitarbeiter des Föderalen Sicherheitsdienstes" ein undmahnte: "Eine normale Erfüllung der Verpflichtungen durch den Haushalt im Hinblick auf alleDienste muß gewährleistet werden." Doch noch im September vergangenen Jahres wurdebekannt, daß die FSB-Mitglieder "gegenwärtig lediglich die Hälfte ihrer Bezüge erhalten undEssenszuschüsse seit sechs Monaten nicht mehr ausgegeben wurden". Wenn bereits einigeWochen später eine Zeitung behauptete, die Gelder würden pünktlich und in voller Höhe ausbe-zahlt und diese seien selbst für junge Offiziere höher als die eines Divisionskommandeurs imVerteidigungsministerium, so war dies wohl primär zur Beruhigung der politischen Öffentlichkeitbestimmt.39 Ein recht pessimistisches Bild zeigt sogar die GRU: "Finanzielle Probleme habenschließlich den militärischen Geheimdienst veranlaßt, nach Wegen auch ins Kommerzielle zuschauen. Einige von diesen sind völlig legal. ... Aber einige sind in beträchtlichem Maße zweifel-haft."40

37 Russisches TV, 15.6.1999; kritisch dagegen NTW-Fernsehen, 15.6.1999.38 Trubnikow in: Magazin für die Polizei, Mai-Heft 1996, Lippstadt 1996, S. 39.39 Itar-Tass, 27.7.1998; TW-6 Moscow, 23.9.1998; Nesawisimoje Wojennoje Obosrenije (Moskau), 9.11.1998.

40 Iswestija, 5.11.1998.

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Überaus negativ scheint die Situation beim Grenzdienst und damit sicherlich auch bei dessen"Verwaltung Aufklärung" zu sein, zumal dieser nach Äußerung seines Direktors Toskij 1998weniger als ein Drittel der ihm zustehenden Finanzmittel erhielt; in diesem Jahr benötige er fürseine Funktionsfähigkeit eigentlich 18,7 Milliarden Rubel, das notwendige Minimum seien 9,2Milliarden, während das Budget dem Dienst - seinen weiteren Worten zufolge - lediglich ganze5,9 Milliarden Rubel zuwies.41

Das Verhältnis zwischen den verschiedenen Spionagediensten Rußlands und der dortigen Organi-sierten Kriminalität erscheint vielschichtig. Nicht wenige bisherige Geheimdienstler, die im Zugeder personellen Reduzierung entlassen wurden, fanden den Weg zu Mafia-Gruppierungen, beidenen sie mit ihren Kenntnissen und ihren Verbindungen äußerst willkommen waren. Der krimi-nelle Untergrund begann spätestens 1998 verstärktes Interesse ebenfalls an der GRU zu zeigen.Bereits zuvor hatte der deutsche Bundesnachrichtendienst in einem internen Bericht gewarnt:"Die Einflußnahme der Organisierten Kriminalität auf einzelne Personen und Gruppen der Nach-richtendienste ist teilweise schon so intensiv geworden, daß von einer partiellen Durchdringunggesprochen werden muß."42 Nach allen vorliegenden Informationen trifft dies besonders für dieGrenztruppen mit ihrer "Verwaltung Aufklärung" zu: Einerseits erfüllen die Mafia-Gruppenbesonders "heiße" Aufträge des Geheimdienstes, bei denen die eigentliche Steuerung unter allenUmständen verschleiert werden soll. Zum anderen erhalten sie "technische Hilfe" seitens derSpionage in Form falscher Ausweise und auch Unterstützung bei ihren illegalen Grenzübertritten.Daß die Mafia den Diensten Geld zahlt, ist oft zu hören -im Einzelfall wohl auch zu unterstellen-,doch sind dafür konkrete Beweise bisher nicht bekannt geworden. Von offizieller russischer Seitewerden solche Behauptungen und Vermutungen als "ein erdachtes Problem, das zu politischenZwecken ausgenutzt werden soll", hingestellt.43

Andererseits schuf Präsident Jelzin mit seinem Erlaß Nummer 515 "Über die Struktur des Russi-schen Föderalen Sicherheitsdienstes" vom Mai 1997 bekanntlich eine FSB-Hauptverwaltung fürdie Bekämpfung der Organisierten Kriminalität, die keineswegs ohne Erfolge arbeitet.

In Deutschland machte sich das Problem der Mafia-Gruppierungen nach der Wiedervereinigungbald in den neuen Bundesländern bemerkbar. Zumeist waren daran frühere KGB-Angehörigeführend beteiligt. In Mecklenburg-Vorpommern mußte der Verfassungsschutz registrieren,"immer mehr" Hauptamtliche eines russischen Nachrichtendienstes fänden Kontakt zur Organi-sierten Kriminalität.

In Thüringen konnten Verzahnungen mit Schwerkriminellen der sogenannten "Russen-Mafia" inVerbindung mit Wirtschaftsspionage festgestellt werden, wobei Vernetzungen über Polen bisOsteuropa reichen. Neuerdings sind solche Verbindungen und Verknüpfungen ebenfalls inBaden-Württemberg zu bemerken. 44 Daß vor rund zwei Jahren die bundesdeutschen Sicherheits- 41 Radio Echo Moskwj, 29.1.1999; Itar-Tass, 27.5.1999.42 Rheinischer Merkur, 8.1.1999, S. 6; Viktor Timtschenko: Rußland nach Jelzin, Hamburg 1998, S. 208 f.;

Iswestija, 5.11.1998.

43 Die Welt, 29.5.1999; Boris Kostenko (damals stellvertretender Leiter des FSB) gegenüber Itar-Tass, 6.10.1997.44 Verfassungsschutzbericht 1994, hrsg. vom Innenministerium Mecklenburg-Vorpommern, Schwerin 1995,

S. 66; Norddeutsche Neueste Nachrichten, 6.5.1995; Verfassungsschutzbericht 1994, hrsg. vom ThüringerInnenministerium, Erfurt 1995, S. 57; Wir kennen ihn, hrsg. vom Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz,Erfurt 1997, S. 29; Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.1.1999.

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stellen diese Verflechtung von Organisierter Kriminalität und russischen Geheimdiensten zueinem Beobachtungsschwerpunkt erhoben, dokumentiert den Ernst der Lage.

3. Operationsgebiet Deutschland

Wie bereits in den Jahren vor 1989/90, so zählt nach Äußerungen des damaligen SWR-LeitersPrimakow auch gerade das wiedervereinte Deutschland zu den wichtigsten Zielgebieten der heu-tigen russischen Spionage. Im Weltmaßstab werden es an erster Stelle weiterhin die USA sein, inEuropa dürfte es zweifellos die Bundesrepublik sein. 45 Grund hierfür sind das wachsende politi-sche Gewicht Bonns bzw. Berlins, die - in Moskau allerdings wohl überschätzte - Wirtschafts-kraft unseres Landes sowie sein wissenschaflich-technisches Niveau und nicht zuletzt die geogra-phisch-strategische Lage als "ein Schlüssel zu Europa und zur NATO"46. Bewiesen wird dieseinmal durch den unvermindert hohen Anteil von Offizieren der Nachrichtendienste in den russi-schen Vertretungen hier, wobei im europäischen Vergleich Deutschland "mit Abstand an derSpitze" liegt. Vor Jahren konnte das Bundesamt für Verfassungsschutz 165 Hauptamtliche derSpionage enttarnen, in Bonn waren es 60, in Berlin bereits damals 56 - während FrankreichsAbwehrstellen "nur" 80 und MI 5 in England 35 feststellten. Das Verlangen des Verfassungs-schutzes, doch über 100 dieser erkannten Pseudo-Botschaftsangehörigen auszuweisen, wurde amRhein damals - gewiß aus außenpolitischen Erwägungen - abgelehnt. Ein starkes Indiz ist außer-dem die anhaltend große Anzahl von Einreiseanträgen identifizierter Nachrichtendienstoffiziere,die bei weitem über der Zahl der Visumanträge für andere europäische Länder liegt; zwischen1991 und 1997 gab es mindestens 560 derartiger Fälle. Bei Visa-Verweigerungen deutscherseitsfür erkannte Geheimdienstler pflegt Moskau scharfen Protest einzulegen - was insofern nur eineBestätigung der Bonner Ansichten ist. Seit einiger Zeit wird in diesem Zusammenhang auch mitGefälligkeitseinladungen gearbeitet: Ein Dritter trägt an die deutsche Referenzperson die Bitteheran, einen - ihr unbekannten - Russen einzuladen. Nicht nur in einem Fall erfolgte ein Miß-brauch der Dokumente. Typisch dafür erscheint, daß ein SWR-Offizier als Referenz in seinemAntrag ein Berliner Wirtschaftsunternehmen mit eigenem Repräsentanzbüro in Moskau angab.Dessen Inhaber indes war sowohl der Name des Offiziers als auch sein angebliches Wirtschafts-unternehmen völlig unbekannt; gewiß waren Blankounterlagen benutzt worden. Eine weitereVariante sind die Versuche, die bundesdeutschen Sicherheitsvorkehrungen durch die Fälschungvon Einladungspapieren zu unterlaufen. 47

45 Verfassungsschutzbericht 1993, hrsg. vom Bundesministerium des Innern, Bonn 1994, S. 196; Verfassungs-

schutzbericht 1998 (Pressematerial), hrsg. vom Bundesministerium des Innern, Bonn 1999, S. 194; Verfas-sungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen über das Jahr 1997, hrsg. vom Innenministerium des Lan-des Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 1998, S. 255.

46 Hansjörg Geiger (damaliger Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz) in: Der Spiegel, Nr. 5, 1996,S. 36.

47 Verfassungsschutzbericht 1997, hrsg. vom Bundesministerium des Innern, Bonn 1998, S. 174 f.; Verfassungs-schutzbericht 1998 (Pressematerial), hrsg. vom Bundesministerium des Innern, Bonn 1999, S. 189; Verfas-sungsschutzbericht Hamburg 1997, hrsg. vom Landesamt für Verfassungsschutz, Hamburg 1998, S. 223; Süd-deutsche Zeitung, 22.6.1998, 7.8.1998; Verfassungsschutzbericht Berlin 1995, hrsg. vom Landesamt für Ver-fassungsschutz Berlin, Berlin 1996, S. 168 ff..

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3.1 Die Lage in der DDR

Die KGB-Zentrale im ehemaligen St. Antonius-Krankenhaus im Sperrgebiet Berlin-Karlshorstwar seit Ende des Zweiten Weltkrieges die größte Operationsbasis des Sowjetgeheimdienstes imAusland. Seine Erste Hauptverwaltung in der DDR zählte an Hauptamtlichen insgesamt rund1.000 Mann. Die GRU verfügte dort über fünf "Aufklärungsstützpunkte" mit vielleicht 250 bis300 Offizieren und Soldaten. Bis etwa Ende 1989/Anfang 1990 erhielt das KGB in der DDR rund80 Prozent seiner Nachrichten und Erkenntnisse von der "Hauptverwaltung Aufklärung" (HVA)als der Spionageabteilung des Ost-Berliner Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Offiziell wares zwar nur anfrageberechtigt, tatsächlich gestaltete sich die Zusammenarbeit überaus eng: VieleAkten der HVA trugen den Vermerk "F" (für die sowjetischen "Freunde"), teilweise wurde dersowjetische Geheimdienst sogar am direkten Aktenumlauf beteiligt.

Heutigen Erkenntnissen zufolge sah die KGB-Führung in Moskau bereits seit 1985 das Ende derDDR kommen. Noch im Sommer 1989 erweiterte sie aus wohl gleichen Erwägungen ihr dortigesInformationsnetz. Die großen Demonstrationen in Leipzig, Dresden und Ost-Berlin überraschtesie "schockartig", zumal man mit großen Unruhen wohl erst bei Jahresende gerechnet hatte. VomFall der Berliner Mauer wurde die KGB-Dependance in Karlshorst nicht etwa vom Verbindungs-offizier im MfS, sondern durch das westliche Fernsehen informiert. Für dieses nachrichtendienst-liche Defizit spricht auch der - zumindest damals - versäumte Aufbau einer nachrichtendienst-lichen Infrastruktur. Andererseits erfolgte seitens der GRU an manchen Orten relativ frühzeitigdas Abschalten nicht-sicherer Helfershelfer, die Reaktivierung sogenannter Notfall-Agenten unddas Verstecken von Funkgeräten. Bereits Ende 1989/Anfang 1990 erließ die KGB-Leitung in derDDR den Befehl, sich "intensivst" um neue "Kundschafter" zu bemühen, ein weiterer erfolgtebereits im Frühherbst 1990. Bald wurde ihre Zentrale von bisher 300 Hauptamtlichen auf 800 bis1.000 Führungsoffiziere (FO) - die also die Spione führen - erhöht und sie in die sowjetischenMilitäranlagen in der Nähe von Rehagen (zwischen Trebbin und Luckenwalde) verlagert. DieGRU zog sich von Potsdam in das Hauptquartier der sowjetischen Besatzungstruppen inWünsdorf zurück. Sie bekam damals den Befehl, ein Reservenetz, insbesondere von bisherigenAngehörigen des Ministeriums für Staatssicherheit und der Volkspolizei, zu rekrutieren. 48

3.2 Zwischen Wiedervereinigung und Abzug der russischen Truppen

Im März 1991 mußten bundesdeutsche Stellen eine - im Vergleich zum Vorjahr - Verdoppelungder Spionage-Anwerbungsversuche registrieren. Ab April war eine weitere Steigerung festzu-stellen. Wenige Monate danach kam der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz zu derEinschätzung: "Die Spionageaktivitäten werden aggressiv fortgesetzt." Im November erklärte erin einem Interview: "Nachweisbar baut das KGB in einem ganz beachtlichen Umfang in der

48 Kai Diekmann/Ralf Georg Reuth: Helmut Kohl: Ich wollte Deutschlands Einheit, Berlin 1996, S. 131 f.; Walter

Süß: Staatssicherheit am Ende, Berlin 1999, S. 281; Eduard Schewardnadse: Die Zukunft gehört der Freiheit,Hamburg 1991, S. 233 (vgl. auch S. 253); Hans-Hermann Hertle: Chronik des Mauerfalls, Berlin 1997, S. 237(S. 231, 235); Markus Wolf: In eigenem Auftrag, München 1991, S. 146; Friedrich-Wilhelm Schlomann in:Politische Studien, Nr. 324, München 1992, S. 82 ff.; Gerhard Boeden (Präsident des Bundesamtes für Verfas-sungsschutz) in: Welt am Sonntag, 4.2.1990; Urteil des Kammergerichts Berlin, (1) 3 BJs 1136/91-3 (286)(25/92) vom 12.10.1992, S. 7; Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.9.1994.

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Bundesrepublik sein Agentennetz aus. Seit Anfang 1990 sind über 20 KGB-Agenten enttarntworden."

Etwa zur gleichen Zeit wurden die Funksprüche der GRU aus dem Gebiet der bisherigen DDRmehrere Tage lang auffällig verlangsamt - für Kenner ein sehr sicheres Zeichen der Anleitungvon neuen Funkern. Bald konnte das Bundesamt für Verfassungsschutz 16 Morse-Funk-Linien indie "alte" Bundesrepublik ausmachen, eine weitere Linie ins niederländische Grenzgebiet undzwei weitere in die Schweiz. Im Sommer 1992 soll der militärische Spionagedienst der Russenbereits über "ein Netz von 800 Agenten" in Deutschland verfügt haben, das wären wahrscheinlichmehr als in den Zeiten von vor der deutschen Einheit.49

Im Interesse eines echten Vertrauensverhältnisses zwischen Deutschland und Rußland schlugBundeskanzler Kohl während des Frühjahrs 1992 der Regierung in Moskau das Arrangement vor,die gegenseitige Spionagetätigkeit einzustellen oder doch zumindest zu reduzieren; bedauer-licherweise ging darauf am Rhein niemals eine Antwort ein. Wohl sagte die Sprecherin des SWR:"Wir haben unser Spionagenetz in Deutschland schon verkleinert." Und ähnlich beteuerte derdamalige Erste Stellvertretende Direktor Trubnikow: "Bereits bis zu 30 Prozent der Kundschaf-ter" seien nach Rußland zurückgekehrt. Und in der Tat reduzierten bestimmte Teilbereiche derrussischen Stellen ihre Hauptamtlichen - indes wurde keine einzige "Quelle" abgeschaltet. ImGegenteil: Manche weitere gezielte Neuanwerbung blieb nicht unbekannt.50

Ende August und dann Mitte Oktober 1992 verhandelte der Koordinator für die deutschen Nach-richtendienste im Bundeskanzleramt, Staatsminister Dr. Bernd Schmidbauer, in Moskau über dieSpionageproblematik. Überaus optimistisch hieß es dann in bundesdeutschen Zeitungen:"Rußland hat versprochen, jegliche aggressive Aufklärungsarbeit gegen die BundesrepublikDeutschland bis zum Jahresende einzustellen" - ein Begriff, unter dem bisher eigentlich nur"Nasse Sachen" zu verstehen waren. In Wahrheit wurde von russischer Seite damals auch ledig-lich "eine wesentliche Reduzierung (nicht völlige Einstellung) der Spionage" gegen Deutschlandzugesagt, "und zwar in mündlicher Form, nicht in Form einer schriftlichen Vereinbarung". 51

Mitte Februar 1993 besuchte SWR-Chef Primakow das Bundeskanzleramt in Bonn, das KölnerBundesamt für Verfassungsschutz und ebenso die Zentrale des Bundesnachrichtendienstes inPullach. Vereinbart wurde in den Gesprächen u.a. eine Übereinkunft, wonach der BND in Mos-kau eine offizielle Vertretung und der SWR eine solche in Bonn eröffnen werden. Wohl etwaseuphorisch meinte Staatsminister Dr. Schmidbauer, es "soll in Zukunft ein Grundprinzip desSWR sein, daß er seine Arbeit nicht gegen die Interessen der Bundesrepublik Deutschland richtet,sondern nur eigenen nationalen Interessen und eigener Sicherheit dient. Also keine gegen unsgerichtete SWR-Spionage auf deutschem Boden mehr." Anderseits mußte es wie einWiderspruch wirken, wenn er zugleich den bundesdeutschen Verfassungsschutz als Abwehrstelle 49 Eckart Werthebach in: Die Welt, 5.7.1991; Ders. in: Der Spiegel, Nr. 45, 1991, S. 23; Friedrich-Wilhelm

Schlomann: Die Maulwürfe, München 1993, S. 285 f.; das erwähnte Urteil des Kammergerichts Berlin, S. 15(siehe Fußnote 48).

50 Deutsche Welle, Zentralredaktion, 25.8.1992; Itar-Tass, 14.4.1992; Russisches Fernsehen, 28.5.1992. EineReduktion der Auslandsagenten hatte Moskau auch Finnland versprochen, die ebenfalls nicht erfolgte; siehedazu: Salzburger Nachrichten, 13.2.1992; Iswestija, 17.2.1992.

51 Die Welt, 2.10.1992; Kölnische Rundschau, 2.10.1992; Zitate aus dem Brief des Chefs des Bundeskanzleramtesvom 16.11.1992 an den Autor; Europäische Sicherheit, Nr. 1, Bonn 1994, S. 32.

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ermahnte: "Die muß trotz aller Schritte, die wir jetzt gehen, hellwach sein. Wer jetzt euphorischwird und die Dinge nicht realistisch sieht, dem ist nicht zu helfen."

Doch am genau gleichen Tage, als seine Äußerungen in Deutschland veröffentlicht wurden,sprach in Moskau die Pressesekretärin Primakows vom Recht eines jeden Landes, in anderenStaaten Missionen seiner Geheimdienste zu unterhalten, und hob dann eigentlich unmißverständ-lich hervor: "Aber dies stellt in keiner Weise eine Alternative zum Geheimdienst an sich dar, derauch weiterhin unter Nutzung aller spezifischen Mitteln und Methoden betrieben wird."52

Im Sommer des folgenden Jahres mußte Schmidbauer etwas resignierend einräumen, von der"erforderlichen drastischen Reduzierung" der geheimdienstlichen Aktivitäten in Deutschland"haben wir noch nichts bemerkt". Rußland betreibe "nach wie vor eine sehr aggressive Spiona-getätigkeit vor allem im militärischen Bereich". Ähnlich stellte der Präsident des Bundesamtesfür Verfassungsschutz fest, die GRU habe die Zeit vor dem Abzug der russischen Armeen ausDeutschland genutzt, "um sich ein neues Agentennetz zu schaffen". Von Überläufern und durchAuswertung abgehörter Gespräche weiß man, daß die neuen "Kundschafter" noch bis 1994 in denrussischen Kasernen in der bisherigen DDR für ihren Einsatz gegen Deutschland geschult wur-den. Den weiterhin arbeitenden Spionageapparaten blieb in den neuen Bundesländern ein enor-mer Fundes an personenbezogenen Informationen - und damit an potentiellen Agenten zurück.53

3.3 "Intensive Spionageaktivitäten"

Es konnte nicht ausbleiben, daß auf beiden Seiten der Ton härter wurde. Im direkten Widerspruchzum gegebenen Versprechen der Russen von Mitte August 1992 führte der damalige Leiter derPressestelle des Auslandsspionagedienstes, Jurij Kabaladse, in schroffer Diktion aus: "Der SWRhat über eine Einschränkung seiner Aufklärungstätigkeit nichts verlauten lassen." Bundesinnen-minister Manfred Kanther nahm dies bei der Verabschiedung des bisherigen Präsidenten desBundesamtes für Verfassungsschutz, Dr. Werthebach, und der Amtseinführung von Dr. Geigerdann zum Anlaß, deutlich zu betonen: "Ich sage deshalb an dieser Stelle nachhaltig, daß bei denvielfältigen freundschaftlichen Verbindungen der Bundesrepublik Deutschland mit Ländern, diefrüher auf der östlichen Gegenseite standen, es mindestens ein unfreundlicher Akt ist, weiterhingegen uns zu spionieren - moderat ausgedrückt. Ich empfinde es als unangemessen und als injedem Einzelfall als ein Schlag gegen die guten Beziehungen. Ich kann auch nicht so recht einse-hen, warum wir vielerlei Hilfe leisten, die dann gegen uns gekehrt wird. So geht man unterFreunden nicht miteinander um. Ich erwarte, daß sich Freundschaftlichkeit in der Verringerungvon gegen uns gerichteter Spionagetätigkeit niederschlägt."54

Auch seine Worte Ende Mai 1996, die russische Spionage sei angesichts der starken deutschenUnterstützungen an Rußland "eine politische Unverfrorenheit erster Klasse", waren bestimmt in

52 Focus, Nr. 8, 1993, S. 12; Itar-Tass, 22.2.1993.53 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.6.1994; Focus, Nr. 2, 1995, S. 27; Süddeutsche Zeitung, 7.8.1998; Ver-

fassungsschutz-Bericht Berlin 1995, hrsg. vom Landesamt für Verfassungsschutz Berlin, Berlin 1996,S. 173.

54 Ansprachen zum Präsidentenwechsel im Bundesamt für Verfassungsschutz am 27. Juli 1995, hrsg. vom Bun-desamt für Verfassungsschutz, Köln 1995, S. 7; Interfax, 7.7.1995.

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jeder Weise zutreffend, verbesserten die Situation an der "unsichtbaren Front" allerdings nicht. InBaden-Württemberg warnte der scheidende Innenminister Frieder Birzele vor dem "erheblichenUmfang der russischen Spionagetätigkeit", welche wieder eine "ernst zu nehmende Bedrohung"darstelle. Zugleich hieß es im Verfassungsschutzbericht Sachsens mahnend, mit einer weiterenZunahme der Aktivitäten russischer Geheimdienste sei zu rechnen. 55 Auch 1997 mußte derBundesinnenminister konstatieren: "Die Bemühungen der russischen Dienste, die BundesrepublikDeutschland nachrichtendienstlich aufzuklären, sind ungebrochen." Die in einer Fernsehsendungaufgestellte Behauptung, allein in Thüringen seien in letzter Zeit 50 Russen wegen Spionage aus-gewiesen worden, wurde zwei Tage später vom Präsidenten des dortigen Landesamtes fürVerfas-sungsschutz dementiert - wenngleich auch er das Vorgehen Moskaus schon als "rechtbemerkbar" erachtete. Angesichts des näher rückenden Umzugs der Bundesregierung an dieSpree waren in Berlin besonders intensive Bemühungen zu spüren, hier nachrichtenmäßig Fuß zufassen: Die Anwerbungen erreichten "einen neuen Höhepunkt". 56 Auf Berichte in deutschenZeitungen, Bonn wolle auf den Abzug der russischen Spione drängen, reagierten die russischenMedien mit der Behauptung, jene Pressemeldung hätte Bundeskanzler Kohl "sehr verärgert" under halte eine Verschärfung der deutschen Gesetze zur Kontrolle der Medien für notwendig.Tatsächlich hatte dieser sich gegen die Verletzung der Privatsphäre von Bürgern gewandt, aberebenso strikt gegen gesetzliche Veränderungen - von Spionage war in diesem Zusammenhangüberhaupt kein ein-ziges Wort gefallen. Beim Treffen zwischen Kohl und Jelzin Ende Novemberin Moskau wurde die Geheimdienstproblematik leider ausgeklammert. Der Kanzler vertrat dazudie - nicht unum-strittene - Auffassung, eine solche habe praktisch keinen Einfluß auf diePolitik.57

Auch der jüngste Jahresbericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz läßt in keiner Weise eineVerminderung des nachrichtendienstlichen Vorgehens Rußlands erkennen, und ebenfalls dieneuesten Jahresberichte der einzelnen Landesämter für Verfassungsschutz sprechen von "intensi-ven Spionageaktivitäten". Wahrscheinlich gehört ein solches Verhalten auch zum heutigenSystem Moskaus. Louis Frech, der Direktor von FBI, stellt für sein Land fest: "Ich denke, daß dierussische (Spionage-) Aggression selbst in der Nach-Kalten-Kriegs-Zeit unvermindert anhält. Sieeskaliert. Es ist ein ernstes und andauerndes Problem." Auch der im Frühsommer 1999 veröffent-lichte Staatsschutz-Bericht der Schweiz, der für seine zurückhaltende Sprache bekannt ist, ver-merkt: "Die russischen Nachrichtendienste SWR und GRU verstärkten ihre operativen Aktivitä-ten weiter."58

55 Abgedruckt in: Süddeutsche Zeitung, 25.5.1996; Die Welt, 8.6.1996; Verfassungsschutzbericht 1996, hrsg. vom

Staatsministerium des Innern des Freistaates Sachsen, Dresden 1997, S. 81.

56 Zitiert nach: Das Bundesministerium des Innern informiert: 8.4.1997, hrsg. vom Bundesministerium des Innern,Bonn, S. 8; Kennzeichen D, 26.11.1997; Telefon-Interview des Verfassers mit dem Präsidenten des Landesam-tes für Verfassungsschutz in Thüringen am 28.11.1997; Verfassungsschutz-Bericht Berlin 1997, hrsg. vomLandesamt für Verfassungsschutz Berlin, Berlin 1998, S. 182.

57 Itar-Tass, 19.11.1997; Russisches Fernsehen, 23.11.1997; Schreiben des Chefs vom Dienst des Presse- undInformationsamtes der Bundesregierung vom 25.11.1997 an den Autor; Bonner Rundschau, 1.12.1997.

58 So z.B. Verfassungsschutzbericht 1998, hrsg. vom Bayerischen Staatsministerium des Innern, München 1999,S. 160, 163; Verfassungsschutz-Bericht Berlin 1998, hrsg. vom Landesamt für Verfassungsschutz Berlin, Berlin1999, S. 160 ff.; The Independent, 18.4.1998; Staatsschutz-Bericht 1998, hrsg. vom Eidgenössischen Justiz- undPolizeidepartement, Bern 1999, S. 115.

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4. Ziele der russischen Spionage

Die Zielrichtungen der russischen Nachrichtendienste und ihres Vorgehens stellen in Deutschlandnach wie vor die Politik, die Wirtschaft und das Militär dar. Die jeweiligen Schwerpunkte derAusspähung sind natürlich von den aktuellen Ereignissen oder auch bestimmten Entwicklungenabhängig und werden vom russischen Präsidenten sowie vom Nationalen Sicherheitsrat bestimmt.Erwartungsgemäß ist ein sehr wichtiger Punkt das Zusammenwachsen Europas, wobei geradeauch der weitere politische und wirtschaftliche Fortschritt des Baltikums das Interesse findet. DieErweiterung der EU, bei der ein vereintes Europa mit dem Euro als Wirtschaftsmacht ein großesGewicht haben wird, beobachtet der Kreml sehr genau. Hauptangriffsziel seiner gesamten Spio-nage war in den zurückliegenden Jahren - und dürfte es auch heutzutage noch sein - indes dieOsterweiterung der NATO. Wie die angesehene Moskauer Tageszeitung "Nesawissimaja Gaseta"aus dem russischen Generalstab erfahren haben will, erhielt bereits im Frühherbst 1995 die GRUdie persönliche Anweisung von Präsident Jelzin, die russische Führung mit "rechtzeitigen undumfassenden Informationen über alle Vorgänge" im Zusammenhang mit der geplanten NATO-Osterweiterung zu unterrichten. Ihre heimlichen Helfershelfer sollten vor allem "Schwachstellenim Brüsseler NATO-Hauptquartier und in der nächsten Umgebung von NATO-GeneralsekretärWilli Claes" orten. Bei seiner Rede anläßlich des 75jährigen Bestehens der russischen Auslands-spionage unterstrich Primakow erneut "die besondere Aufmerksamkeit", die dieser Problematikgehöre.59

4.1 Wirtschaftsspionage

Wird die Dunkelziffer bei der heutigen Spionage relativ hoch sein, so dürfte nach allen bisherigenErkenntnissen die wirtschaftlich-technische Ausspähung eindeutig Vorrang haben. Das Schicksaljeder Regierung im Kreml hängt doch letztlich von der ökonomischen Entwicklung des Riesen-landes ab. Nach wie vor müssen gewaltige Entwicklungsrückstände aufgeholt werden, insbeson-dere im Bereich der Mikroelektronik, der Computertechnik, wie überhaupt in der gesamten Tele-kommunikationstechnik einschließlich der Software. Interessant für die russische Spionage abersind ebenfalls internationale Wirtschafts- und Finanzorganisationen, High-Tech-Unternehmensowie Technologiezentren. Der billigste und ebenfalls schnellste Weg ist nun einmal der illegale,das durch Spionage erfolgende Beschaffen von Forschungs- und Entwicklungsergebnissen, tech-nischem Know how über Produktionsverfahren sowie von fertigen Endprodukten der Industrie.Das nachrichtendienstliche Interesse konzentriert sich primär - gerade in der Forschung - aufgroße Konzerne, richtet sich aber auch auf innovative kleine mittelständische High-Tech-Unter-nehmen. 60 Das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg, welches als einziges Zah-

59 Verfassungsschutzbericht 1998 (Pressematerial), hrsg. vom Bundesministerium des Innern, Bonn 1999, S. 194;

Verfassungsschutz Rheinland-Pfalz, Tätigkeitsbericht 1998, hrsg. vom Ministerium des Innern und für Sport inRheinland-Pfalz, Mainz 1999, S. 65 (siehe auch: Verfassungsschutz Rheinland-Pfalz, Tätigkeitsbericht 1997,a.a.O., 1998, S. 64); Nesawissimaja Gaseta (Moskau), 4.10.1995; Itar-Tass, 21.12.1995; über Sorgen des polni-schen Ministerpräsidenten vor "geplanten Aktionen des russischen Geheimdienstes" gegen den Beitritt seinesLandes zur NATO besonders in: Polnischer Rundfunk, 18.2.1997.

60 Verfassungsschutz-Bericht Berlin 1998, hrsg. vom Landesamt für Verfassungsschutz Berlin, Berlin 1999,S. 163; Vortrag von Peter Frisch (Vizepräsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz): Die Sicherheitslageder Bundesrepublik Deutschland im Zeichen der Veränderungen in Osteuropa, insbesondere in der DDR, Köln1990, Manuskript-Seite 9 f.. Schon der Vizepräsident der KGB-Spionage, Leonid W. Schebarschin, erklärte

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len über die verschiedenen Angriffsziele der Spionage in seinem Bereich publizierte, gab dazufolgende Erkenntnisse bekannt 61:

1996 1997Wirtschaft/Wissenschaft 87% 62%Politik/Verwaltung 7% 19%Militär 3% 8%unterstützende und spionage-vorbereitende Handlungen 3% 11%

Gewiß bezogen sich diese Angaben auf Spionage schlechthin, wobei die russische allerdings denHauptteil ausmachte. Auch konnten sie sich verständlicherweise nur auf bekannt gewordene Fälleerstrecken (wobei sich dann noch die große Frage stellt, ob das hoch-industriealisierte Bundes-land als symptomatisch für das gesamte Deutschland angesehen werden kann). Dennoch istdaraus die Bedeutung der russischen Wirtschaftsspionage abzulesen. Überaus offen wird dieseauch in Moskau eingeräumt, etwa von Primakow mit seinen Worten, die Aufklärung müsse "fürgünstige Bedingungen für die Entwicklung der Wirtschaft und des wissenschaftlich-technischenFortschritts im Lande sorgen".

Das im Juli 1992 veröffentlichte "Gesetz der Russischen Föderation über die Auslands-aufklärung" besagt dann auch in Artikel 5, die Ziele der Spionage seien u.a. die "Förderung derwirtschaftlichen Entwicklung und des wissenschaftlich-technischen Fortschritt des Landes durchBeschaffung von wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Informationen durch dieOrgane der Auslandsaufklärung".

Anfang 1995 berichteten die "Moscow News", Jelzin habe betont, der SWR müsse einen wichti-gen Beitrag zur Stärkung der russischen Wirtschaft leisten. Wenige Tage danach rief er auf einerSitzung des Nationalen Sicherheitsrates direkt zur verstärkten Wirtschaftsspionage auf, um aufdiese Weise "den technologischen Abstand zu den entwickelten Ländern des Westens" zu redu-zieren. 62 Den Schaden der bundesdeutschen Wirtschaft durch diese Ausspähung - allerdings nichtnur seitens Moskaus - schätzen Kenner auf jährlich zehn bis 20 Milliarden DM, für die nächstenfünf Jahre befürchten sie sogar eine Verdoppelung. Daß Wirtschaftsspionage zugleich auch denVerlust von Arbeitsplätzen bedeutet, wird zumeist nicht gesehen. "Denken Sie an die Wirt-schaftsspionage bei uns, die läuft auf vollen Touren. Die Intensität hat überhaupt nicht abgenom-men", dies stellte Staatsminister Dr. Bernd Schmidbauer schon vor längerer Zeit fest. Jahre spätersprach der Leiter der Gewerkschaft der Polizei von einer "fatalen Fehleinschätzung der tatsächli-chen Bedrohungslage" auf diesem Gebiet, und der Präsident der Bundesamtes für Verfassungs-schutz, Dr. Peter Frisch, erachtet diese Gefahr als "erheblich". Nach wie vor aber existiert in derbundesdeutschen Wirtschaft praktisch kein Gefahrenbewußtsein, man hat auch kaum Interesse aneiner Überprüfung der Mitarbeiter auf einstige Stasi-Kontakte.63 In weiterer Konsequenz gibt es

ähnlich: "In den letzten Jahren zwingt uns die Realität, der Wirtschaftsproblematik mehr Aufmerksamkeit zuwidmen." Siehe: Zentrales Sowjetisches Fernsehen, 20.12.1990.

61 Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 1996, hrsg. vom Innenministerium in Baden-Württemberg,Stuttgart 1997, S. 188; Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 1997, a.a.O., 1998; S. 196.

62 Tass, 30.9.1991; Moscow News, 4.2.1996; Itar-Tass, 7.2.1996.63 Wolfgang Hoffmann in: Die Zeit, 2.7.1998, S. 19; Süddeutsche Zeitung, 4.6.1996, 28.1.1999; Südwestfunk,

8.1.1992; Welt am Sonntag, 28.3.1999; Geheimschutz in der Wirtschaft, hrsg. vom Innenminister des Landes

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zudem oft auch nur geringe Sicherheitsvorkehrungen. Im Februar 1998 rief StaatsministerSchmidbauer die deutschen Unternehmer zu mehr Wachsamkeit gegenüber ausländischen Spio-nen auf: "Wir sehen die Gefahr, daß der deutschen Wirtschaft durch diese Art der Spionage sehrviel Geld verlorengeht. ... Unsere Unternehmen sind vergleichsweise naiv. Es reicht nicht aus,nur über die technischen Möglichkeiten ausländischer Spione zu sprechen und sich darüber zubeklagen. Zusätzlich müssen auch konkrete Schritte unternommen werden, um deutscheUnternehmen zu schützen." Doch immer noch informieren betroffene Betriebe zumeist nur rechtzögerlich die Sicherheitsbehörden. Der Generalbundesanwalt Kay Nehm führte einmal in einemInterview zu Recht aus: "Ich kann mich jedoch des Eindrucks nicht erwehren, daß diegeschädigten Firmen selbst den Verdachtsmomenten nicht mit dem nötigen Ernst nachgehen undgegenüber den Belangen der Strafverfolgung eher desinteressiert sind. ... Man scheut vermutlicheine öffentliche Hauptverhandlung, bei der Firmengeheimnisse und Interna preisgegeben werdenmüßten" - und die erschreckenden Sicherheitslücken. Im Sommer 1999 schrieb eine angesehenedeutsche Zeitung: "Fachleute rechnen mit einer weiteren Zunahme der Wirtschaftsspionage inden nächsten Jahren."64

4.2 Politische Spionage

Sie hat keineswegs an Bedeutung verloren, im Gegenteil: In seinem Großmacht-Denken willMoskau ebenfalls in Zukunft die Ansichten und Vorhaben auch der deutschen Bundesregierungwissen. Präsident Jelzin selber äußerte im Hauptquartier des SWR, die russische Auslandsauf-klärung stehe "vor einer verantwortungsvollen Aufgabe: Sie müsse über entsprechende Pläne undAbsichten führender Länder des Westens ... vorherige Informationen erhalten."

Zu dieser Politischen Spionage gehört auch das immer wieder festzustellende Bemühen, dasPaßwesen sowie das polizeiliche An- und Abmeldesystem eines jeweiligen Landes zu erkunden.Im Herbst 1993 versuchte ein als Botschaftssekretär getarnter russischer Nachrichtendienst-offizier mit einem angeblich aufgefundenen deutschen Reisepaß in näheren Kontakt und dann ineinen "Gedankenaustausch" mit dem Leiter einer Berliner Meldestelle zu kommen; sein eigentli-ches Interesse galt der Beantragung von Personalausweisen und Reisepässen sowie deren Bear-beitung. Ähnlich bemühte sich im September 1997 der Dritte Sekretär der Konsularabteilung inder Außenstelle der Russischen Botschaft in Berlin, zwei deutsche Polizisten anzuwerben; siesollten für eine korrekte polizeiliche An- und Abmeldung von russischen "Kundschaftern" undKurieren der Spionagedienste eingesetzt werden. Schon sehr früh versuchte die sowjetisch-russi-sche Spionage, über die neu aufgebauten Landesämter für Verfassungsschutz in der Ex-DDRnähere Kenntnisse zu erlangen. In dem Glauben, unter dem Personal befänden sich auchAbwehrkräfte, unterliegen deutsche diplomatische und konsularische Vertretungen in Rußland -wie auch schon vor 1990/1991 - einer intensiven Personen- und Objektüberwachung.

Mecklenburg-Vorpommern, Schwerin 1993, S. 39; Aktuelles aus dem Verbandsbereich, hrsg. vom Verband fürSicherheit in der Wirtschaft Norddeutschland e.V., Hamburg 1998, S. 69; CH-D Wirtschaft, Nr. 12, hrsg. vonder Handelskammer Deutschland-Schweiz, Zürich 1993, S. 3; Rheinische Post, 25.6.1999.

64 Verfassungsschutzbericht 1997, hrsg. vom Staatsministerium des Innern des Freistaates Sachsen, Dresden 1998,S. 83; Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.2.1998 (siehe ebenfalls 25.1.1999); Interview in: Der Spiegel,Nr. 13, 1996, S. 44; Andreas Förster: Maulwürfe in Nadelstreifen, a.a.O., S. 24; Rheinische Post, 25.6.1999.

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Besonderes Interesse an den Modalitäten bei der Ausstellung deutscher Pässe in einem General-konsulat in Rußland zeigte der SWR in seinem Versuch, eine frühere Bedienstete des Auswärti-gen Amtes in Bonn wieder als "Kundschafterin" zu reaktivieren; für sie wurde sogar eine eigeneAgenten-Funklinie eingerichtet.65

4.3 Militärische Erkundung

Bereits nur wenige Monate nach dem Fall der Berliner Mauer versuchte das KGB, Offiziere derBundeswehr nachrichtendienstlich "anzusprechen". Alexandr Kokoschin, der Erste Stellver-tretende Verteidigungsminister damals, sprach von einem "klaren System von Prioritäten" in der"militärtechnischen Politik", und er nannte dabei an erster Stelle die Aufklärung. Primakowführte in seinem mehrfach erwähnten Artikel aus: "Dem Geheimdienst obliegt es, die zuständigenstaatlichen Stellen rechtzeitig über die Entwicklung und Einführung neuer Arten von Waffen undKampftechnik in anderen Ländern in Kenntnis zu setzen."

Die Hauptziele der russischen Spionage gegenüber der Bundeswehr sind offenbar. Nach derWichtigkeit aufgezählt: die Streitkräfte als solche, die jetzige Militärpolitik Bonns bzw. Berlins,die heutige Militärtechnik sowie Militärökonomie. Hinzu kommen natürlich die Manöver mitanderen Armeen, besonders die Übungen mit Streitkräften des früheren Warschauer Paktes.

"Die Aktivitäten des militärischen Geheimdienstes Rußlands (haben) zugenommen", stellte derLeiter des MAD, Rudolf von Hoegen, Ende 1992 fest.66 Dahinter stand gewiß die wohl rechterfolgreiche Aktion der russischen Aufklärung: Basierend auf der heute angestrebten Zusammen-arbeit zwischen Bonn und Moskau sowie insbesondere unter Vorspiegelung einer "Kamerad-schaft von Soldat zu Soldat", wurden im Zuge eines vorgetäuschten "Informationsaustausches"Kontakte und auch vermeintliche Freundschaften aufgebaut und über längere Zeit kultiviert, umschließlich nachrichtendienstlich relevante Erkenntnisse zu erlangen. Eigentlich alle auf dieseWeise angegangenen Bundeswehrangehörigen hatten den wahren Hintergrund nicht erkannt.Noch heute glauben selbst höhere Offiziere leicht an die Parole von "Kamerad zu Kamerad" undsehen nicht den Offizier, der zur GRU gehört.

Nicht vergessen werden sollte, daß die "Partnerschaft für den Frieden" Moskau viele offizielleKontakte zur NATO eröffnet, was zugleich eine völlig neue Dimension für seine Spionage dar-stellt. Zur Problematik einer solchen Zugriffsmöglichkeit auch auf vertrauliche NATO-Doku-mente meldete Reuter: "Das Problem für die NATO liegt darin, den Russen Zugang zu nachrich-tendienstlichen Daten zu gewähren, ohne westliche Quellen und Netze zu kompromittieren."67

Vor einigen Jahren wurden immerhin zwei russische Verbindungsoffiziere für die dortige Koor-dinationszelle der PFP vom Westen zurückgewiesen - wegen ihrer bisherigen Zugehörigkeit zurGRU.

65 Itar-Tass, 27.4.1994; Oleg Gordiewsky/Christopher Andrew: KGB, a.a.O., S. 799; Wadim Bakatin: Im Innern

des KGB, a.a.O., S. 104; Verfassungsschutzbericht 1998 (Pressematerial), hrsg. vom Bundesministerium desInnern, Bonn 1999, S. 196, 198; Verfassungsschutzbericht Thüringen 1992, hrsg. vom Thüringer Innenministe-rium, Erfurt 1993, S. 58; Focus, Nr. 40, 1997, S. 11.

66 Russisches Fernsehen, 4.12.1992; Wostok, a.a.O., S. 33; Die Welt, 24.11.1992; Le Figaro, 28.4.1992.

67 Aus Brüssel, 26.10.1995.

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5. Die Lenkung der Agenten

Die Frage, von wo und durch welche Personen direkt an der "unsichtbaren Front" die Spionagejeweils gelenkt wird, muß ebenfalls sehr unterschiedlich beantwortet werden.

5.1 Zentrale Moskau

Seit dem Wegfall der DDR als einer geographisch sehr günstig gelegenen Basis zur Aufklärunggegenüber der "alten" Bundesrepublik bietet sich einmal das russische Territorium an. Von denZentralen der einzelnen Nachrichtendienste in Moskau bestehen direkte Verbindungen zum ein-zelnen "Kundschafter" im Ausland. Die Anbahnung kann bei Geschäfts- oder privaten Urlaubs-reisen in die Russische Föderation erfolgt sein; von der Hauptstadt werden aber auch solcheAgenten geführt, die in ihrem westlichen Heimatland auf irgendeine Weise angeworben wurden.Ist ein direktes System - sofern ein solches aus Rußland existiert - auch wohl noch nicht zuerkennen, so scheinen solche aus Rußland angelegte Verbindungen zumeist für einen längerenZeitraum vorgesehen zu sein. Nach Einschätzung deutscher Sicherheitsbehörden werden diemeisten Deutschen, die im Solde der russischen Spionage stehen, heutzutage von Moskau ausgesteuert.68

5.2 Legale Residenturen

Die räumliche Distanz des "Kundschafters" zu seiner Spionagezentrale birgt auch Nachteile insich. Eine räumliche Annäherung und damit eine Art Brückenkopf-Funktion zum jeweiligenOperationsgebiet verschaffen sich viele Staaten daher durch sogenannte Legale Residenturen,worunter getarnte nachrichtendienstliche Stützpunkte besonders in ihren Botschaften, Konsulatenund anderen offiziellen Vertretungen zu verstehen sind. Deren Mitarbeiter fungieren äußerlich als"Diplomaten" bzw. Militärattachés und genießen durchweg den strafrechtlichen Schutz derImmunität. Zur Zeit der UdSSR dürfte etwa die Hälfte der Mitglieder ihres Diplomatischen Corpsprimär Führungsoffiziere eines Spionagedienstes gewesen sein. Hatte der damalige sowjetischeAußenminister Boris Pankin noch im September 1991 gemeint, diese hätten fortan in den Bot-schaften Moskaus keinen Platz mehr, so widersprach KGB-Chef Bakatin dann einen Monat spä-ter, und Primakov erklärte im März 1992 öffentlich, auf eine Nutzung der diplomatischen Ver-tretungen Rußlands für nachrichtendienstliche Aktivitäten auch in Zukunft nicht verzichten zukönnen. Zwar kündigte er damals eine Reduzierung der in Deutschland eingesetzten SWR-Mitglieder an, doch beschränkte sich diese auf den Bereich der Verwaltung - ein harter Kernbesonders erfahrener und kompetenter Geheimdienstoffiziere verblieb. Noch im März 1999erachtete das Bundesinnenministerium in Bonn die anhaltend hohe Präsenz solcher Männer undFrauen als "besorgniserregend", und der jüngste Verfassungsschutzbericht des Kölner Bundes-amtes spricht von "unvermindert hoher Personalstärke, großem Einsatz und vielfältigen Aktivi-täten". 69

68 Verfassungsschutzbericht 1995, hrsg. vom Bundesministerium des Innern, Bonn 1996, S. 265; Verfassungs-

schutzbericht 1998 (Pressematerial), a.a.O., 1999, S. 197; Verfassungsschutz Rheinland-Pfalz, Tätigkeitsbericht1997, hrsg. vom Ministerium des Innern und für Sport in Rheinland-Pfalz, Mainz 1998, S. 68.

69 Verfassungsschutzbericht 1992, hrsg. vom Bundesministerium des Innern, Bonn 1993, S. 174, 178 ff.; Verfas-sungsschutzbericht 1993, a.a.O., 1994, S. 198; Verfassungsschutzbericht 1998 (Pressematerial), a.a.O., 1999, S.

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Aufgrund ihres Status und ihrer offiziellen Funktion als Diplomaten und Militärattachés sinddiese besonders privilegiert, interessante Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Militär desLandes näher kennenzulernen und sie in scheinbar harmlosen Gesprächen "abzuschöpfen". Sehrerleichtert wird dies, da derartige Kontakte seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion allgemeinals normal angesehen werden und die Menschen im Westen sich offener geben - bei vielen istdabei allerdings die Sensibilität hinsichtlich eines möglichen nachrichtendienstlichen Hinter-grundes verlorengegangen: Sie sind "oft völlig arglos", wie ein Jahresbericht eines Landesamtesfür Verfassungsschutz feststellen muß, und so ist die offene Gesprächsabschöpfung bei denRussen in der Tat "heute die beliebteste Methode der nachrichtendienstlichen Informations-gewinnung". Wichtig ist dem Botschaftsangehörigen, auch auf privater Ebene möglichst bald einVertrauensverhältnis zu seinem deutschen Gesprächspartner aufzubauen: Das Ziel besteht darin,bei diesem Hemmschwellen abzubauen und ihm schließlich ebenfalls vertrauliche Informationenzu liefern. Der Übergang zur angestrebten eigentlichen konspirativen Tätigkeit äußert sich dannin der Bitte, ihn nicht mehr in der Botschaft anzurufen - zumeist wird behauptet, oft unterwegs zusein -, die Verbindung vertraulich zu behandeln und gegenseitige "Treffs" zu vereinbaren. Geld-oder Sachgeschenke verstricken den Deutschen dann mehr und mehr in ein - natürlich ebenfallsbewußt angestrebtes - Abhängigkeitsverhältnis.

Wird ein Mitglied einer offiziellen russischen Vertretung dieser - verbotenen - Nachrichten-beschaffung überführt, kommt es zur still und leise erfolgenden Ausweisung aus Deutschland. Inden letzten Jahren dürfte diese Zahl allerdings eher relativ niedrig gewesen sein.70

5.3 Joint-ventures

Eine weitere Art ist es, Geheimdienstangehörige unter privatwirtschaftlicher Tarnung in Unter-nehmen innerhalb Deutschlands einzusetzen; dies kann etwa als Beschäftigte, Teilhaber odersogar Gründer eines russischen oder deutsch-russischen Betriebes erfolgen. Seit 1991 ist zu beob-achten, daß bei solchen Firmengründungen oder auch nur Kapitalbeteiligungen an einzelnenUnternehmen Personen beteiligt sind, die zumindest früher als Nachrichtendienstoffiziere identi-fiziert wurden. Ob sie - wie von ihnen erwartungsgemäß zumeist behauptet wird - nach demZusammenbruch der UdSSR aus dem Milieu eines Spionagedienstes ausschieden und heutekeinerlei nachrichtendienstliche Kontakte mehr haben, darf angezweifelt werden. Ziel ist, unterdem Deckmantel einer bestehenden Firma Wirtschaftsspionage zu betreiben oder auch "nur"deren Know-how abzuschöpfen - nach den Vorstellungen russischer Geheimdienste "eineelegante Tarnung und Arbeitsbasis".

199; Verfassungsschutz-Bericht 1997, hrsg. vom Landesamt für Verfassungsschutz Berlin, Berlin 1998, S. 183;Pressemitteilung des Bundesministeriums des Innern: 25.3.1999, hrsg. vom Bundesministerium des Innern,Bonn; bezüglich polnischer Sorgen vor nachrichtendienstlicher Tätigkeit siehe: Wprost (Posen), 20.6.1999.

70 Verfassungsschutzbericht 1997, hrsg. vom Bayerischen Staatsministerium des Innern, München 1998, S. 255;Verfassugsschutz-Bericht Berlin 1993, hrsg. vom Landesamt für Verfassungsschutz Berlin, Berlin 1994, S. 171;Verfassungsschutzbericht 1997, hrsg. vom Niedersächsischen Innenministerium, Hannover 1998, S. 227; IhreVerantwortung – unsere Sicherheit, hrsg. vom Bundesamt für Verfassungsschutz, Köln 1995, S. 19. Auchandere Länder sahen sich gezwungen, russische Botschaftsangehörige wegen Spionage auszuweisen: so 1992 inFrankreich, 1995 und 1996 in der Schweiz, 1997 in Polen, 1998 in Norwegen und der Schweiz, in Süd-Koreaund in Frankreich.

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In Erfurt wurde 1992 eine Firma von einem Russen als GmbH gegründet, die zu 100 Prozent inHänden früherer Sowjet-Bürger lag. Zwar erzielte sie kaum Umsatz oder gar Gewinne, dennochverfügte sie über viel Geld. Von deutschen Unternehmen ließ sie sich teilweise recht detaillierteUnterlagen und Pläne übermitteln - stets mit der Behauptung, ein größerer Ankauf stünde kurzbevor. Ebenfalls in Thüringen gründete ein Bundesbürger 1990 eine Firma, die allerdings zu 80Prozent in Händen russischer Unternehmen stand. Wohl um Mißtrauen zu vermeiden, sank dieserAnteil äußerlich bald auf ein Fünftel. Tatsache blieb: Ein Mitarbeiter war wenige Jahre zuvorwegen Spionage als Botschaftsangehöriger aus einem westeuropäischen Land ausgewiesen wor-den. Heute existieren in Deutschland rund 3.000 Joint-ventures, in denen mindestens 60 Russengeheimdienstlicher Tätigkeit stark verdächtigt sind. In Bayern gibt es etwa 120 Firmen mit russi-scher Kapitalbeteiligung; jede fünfte stuft der dortige Verfassungsschutz abstrakt als mögliches"Spionage-Nest" ein. Die Zahl der enttarnten oder doch verdächtigten Mitglieder vonGeheimdiensten in derartigen Unternehmen ist in den letzten Jahren stetig angestiegen.

Beklagt wird von bundesdeutschen Sicherheitsstellen immer wieder: "Die Empfehlung, ausSicherheitsgründen auf die Einstellung solcher Personen zu verzichten, stößt bei Wirtschafts-unternehmen - selbst bei geheimgeschützten - immer wieder auf Unverständnis, weil die Bewer-ber aufgrund ihrer Sprachkenntnisse, Beziehungen und Einblicke in das jeweilige Wirtschafts-system häufig als hochwillkommene Spezialisten für den Osthandel angesehen werden."

Sie versprechen sich von ihnen entscheidende Wettbewerbsvorteile, das nachrichtendienstlicheRisiko wird zuweilen bewußt in Kauf genommen. Neuerdings tritt FAPSI sogar "ganz offiziellals Teilhaber einer deutschen Marketingfirma" auf. 71

5.4 Getarnte Journalisten

Im Herbst 1990 hatte die Spionage Moskaus darauf verzichtet, ihre "Kundschafter" alsangebliche Journalisten ins Ausland zu schicken, und noch ein Jahr später versprach Primakow,fortan keine Spione unter journalistischer Tarnung mehr in den Westen zu entsenden. Seit etwa1993 aber greifen die russischen Dienste auch auf diese alte Methode zurück - gehören zumBerufsbild eines Journalisten doch Recherchen und neugierige Fragen, die sie für einenAußenstehenden kaum von einem Angehörigen eines Nachrichtendienstes unterscheiden. DieZahl der bei russischen Presseagenturen in Deutschland als "Journalisten" eingesetztenGeheimdienstmitglieder ist während der vergangenen Jahren offensichtlich wieder angestiegen.Die politische Aufklärung in Deutschland erfolgt zunehmend unter dieser Tarnung. Durch einegeschickte Gesprächs-abschöpfung sind politische Informationen allzu oft leicht zu beschaffen.

71 Verfassungsschutzbericht 1992, hrsg. vom Bundesministerium des Innern, Bonn 1993, S. 176; Verfassungs-

schutzbericht 1995, a.a.O., 1996, S. 255 f.; Demokratie im Diskurs (Band 2: In guter Verfassung), hrsg. vomLandesamt für Verfassungsschutz Thüringen, Erfurt 1997, S. 187 ff.; Wirtschaftsspionage – Informationsschutz,hrsg. vom Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg, Stuttgart 1994, S. 7; Informationsschutz inder gewerblichen Wirtschaft – Mit Sicherheit ein Gewinn, hrsg. vom Ministerium des Innern und für Sport inRheinland-Pfalz, Mainz 1999, S. 10; Die Welt, 9.7.1999, 29.5.1999. Polen verweigerte Anfang 1999 ausSicherheitsgründen 15 russischen Unternehmen die Verlängerung der erforderlichen Aufenthaltsgenehmigung;siehe Polnischer Rundfunk, 2.3.1999.

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In Norwegen lief Ende Mai 1991 ein Agent des KGB in den Westen über; zuletzt hatte er alsKorrespondent der sowjetischen Zeitung "Rabotchaja Tribuna" gearbeitet. Die Niederlandewiesen im April 1992 drei als "Journalisten" arbeitende russische Spione aus. Anfang Januar1995 zwang die britische Regierung einen Vertreter des Moskauer Staatsfernsehens wegenSpionage zum Verlassen des Landes.72 In Deutschland wurden während der letzten Zeitgegenüber keinem russischen Journalisten nachrichtendienstliche Vorwürfe erhoben, dochscheinen einige aufgrund eines klassischen Fehlers nicht völlig frei von entsprechendenVerdachtsmomenten zu sein.

5.5 Illegale Residenten

Illegale Residenten sind der verlängerte Arm der Führungsstelle des Nachrichtendienstes imauszuspionierenden Land, wo sie aufgrund dieser Tätigkeit in der Illegalität leben und einen odermehrere "Kundschafter" anleiten bzw. betreuen. Da der Einrichtung von Tarnpositionen in denLegalen Residenturen letztlich Grenzen gesetzt sind, ist ohnehin eine Ausweitung der Illegalen zuerwarten. Schon Bakatin sprach sich 1991/1992 für eine erhöhte Aufmerksamkeit gegenüber die-ser Art von Führungsoffizieren aus, und auch der Aufbau der heutigen russischen Spionage-dienste läßt verstärkte Aktivitäten auf dieser Geheimdienstschiene erwarten.

Ende April 1992 nahmen finnische Grenzbeamte ein aus Rußland kommendes "englisches" Ehe-paar fest. Ihre Pässe waren Totalfälschungen, wie sie in der Qualität eigentlich nur von Nach-richtendiensten gefertigt werden können. Typisch war auch ein mitgeführter Weltempfänger mitDrahtantenne und verändertem Kopfhörer - wie er schon oft von Illegalen zum Funkempfangbenutzt wurde -, Notizbücher - deren Eintragungen auf einen Geheimcode schließen ließen -sowie ein Papierblock deutscher Herkunft - der schon für Geheimschreibverfahren benutzt wor-den war. Weiter fand man im Reisegepäck Gegenstände deutschen Ursprungs wie Parfümerie-Artikel und auch Plastiktüten. Sollten die beiden Reisenden in Deutschland als Illegale Residen-ten eingesetzt werden? Als die Finnen sie später nach Rußland abschoben, wurden sie an derGrenze von einem hauptamtlichen Mitarbeiter des SWR in Empfang genommen. 73

72 International Herald Tribune, 27.11.1991; Süddeutsche Zeitung, 22.6.1991; Frankfurter Allgemeine Zeitung,

25.4.1992; Die Welt, 12.1.1995; Verfassungsschutzbericht 1993, hrsg. vom Innenministerium in Baden-Württemberg, Stuttgart 1994, S. 110; Verfassungsschutz-Bericht Berlin 1996, hrsg. vom Landesamt für Verfas-sungsschutz Berlin, Berlin 1997, S. 180.

73 Wadim Bakatin: Im Innern des KGB, a.a.O., S. 103; Verfassungsschutz-Bericht Berlin 1998, hrsg. vom Lan-desamt für Verfassungsschutz Berlin, Berlin 1999, S. 166; Michael S. Voslensky: Das Geheime wird offenbar,München 1995, S. 128; Verfassungsschutzbericht 1992, hrsg. vom Bundesministerium des Innern, Bonn 1993,S. 192 f..

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6. Der Spion

Auch bei dieser Thematik bieten sich die verschiedensten Varianten an. Im Einzelfall wird manzu unterscheiden haben zwischen früheren, schon während der Zeit der UdSSR eingesetzten"Kundschaftern", den inzwischen reaktivierten Agenten der DDR und den erst nach 1989/1990angeworbenen Spionen.

6.1 Der "Kundschafter" aus den Jahren vor 1989/90

An heimlichen Helfershelfern stehen den heutigen russischen Spionagediensten einmal solcheaus der Zeit vor dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems in Ost-Berlin und Moskauzur Verfügung; selbstverständlich wurden diese nach der Wende nicht abgeschaltet, sondernweiterhin geführt. Man denke etwa in Frankreich an Francis Temperville, der als Nuklear-Physiker bei der staatlichen Atomenergiekommission angestellt war und Moskau vier Jahre lang -auch nach 1991 - einen perfekten Überblick über den Stand der Atomrüstung an der Seineermöglichte. Die Schweizer Bundespolizei konnte Ende 1998 ein Illegalen-Ehepaar enttarnen,das unter der "Legende" von Auslandsschweizern rund 20 Jahre gearbeitet und in der Schweizeine Agentenfunkstation eingerichtet hatte. In den USA wurden Aldrich Hazen Ames und seineFrau verhaftet, sie waren seit 1985 für das KGB tätig gewesen - Ames selbst war jahrelang Leiterder US-Spionageabwehr gegen die sowjetischen und osteuropäischen Geheimdienste. Im Februar1998 standen drei US-Bürger vor Gericht, die früher im Solde der Spionage Ost-Berlin standenund sich nach deren Ende von Moskau übernehmen ließen. Im Spätherbst desselben Jahres kamman dem US-Feldwebel David Sheldon Boone von der NASA-Abhörstation bei Augsburg aufdie Spur: Der Dechiffrier-Experte verriet ab 1988 streng geheime Verschlüsselcode sowie dasWissen der Vereinigten Staaten über die sowjetisch-russische Funkaufklärung. 74

Wie viele Spione in der "alten" Bundesrepublik vor 1989/1990 im Dienst des KGB waren, istunbekannt; genannte Zahlen beruhen auf reinen Spekulationen. Für die GRU sollen nur etwa 170Westdeutsche tätig gewesen sein, wie Überläufer 1990 wissen wollten. Bekannt wurde ein typi-scher Fall aus Ost-Berlin: 1984 erklärte sich ein Kriminalpolizist zur Zusammenarbeit mit demSowjetgeheimdienst als "Informant" bereit. Nach der Wiedervereinigung übernahm ihn die(Gesamt-) Berliner Polizei; wohl wollte er nunmehr die Verbindung zum KGB abbrechen, dochwurde er durch die Drohung des russischen FO, ihn in größte Schwierigkeiten zu bringen, zurWeiterarbeit veranlaßt. In jüngster Zeit machte Bernhard N. bei der DASA in Hamburg Presse-Schlagzeilen: Von 1983 bis 1995 lieferte er Dokumente und Materialproben aus seinem Arbeits-bereich an das KGB und später an den SWR. Er wurde zuletzt direkt von Moskau geführt underhielt von dort auch per Funk die Anweisung, die Unterlagen in einen "Toten Briefkasten" zudeponieren - was offenbar den MAD auf seine Spur führte. Sein Motiv zum Verrat? Frust imDienst.75

74 Frankfurter Allgeme ine Zeitung, 24.10.1997; Staatsschutz-Bericht 1998, hrsg. vom Eidgenössischen Justiz- und

Polizeidepartement, Bern 1999, S. 105. Zum Fall Ames siehe: Newsweek, 7.3.1994, S. 8 ff.; Focus, Nr. 44,1998, S. 46.

75 Pressemitteilungen: 28.11.1997, hrsg. vom Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof, Karlsruhe; Verfas-sungsschutzbericht 1990, hrsg. vom Bundesministerium des Innern, Bonn 1991, S. 184; Süddeutsche Zeitung,7.8.1998.

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Zu den Überbleibseln aus jenen Zeiten gehören auch die Funde von damaligen Funkgeräten desKGB und der GRU: Im August 1998 gruben Angehörige des Bundeskriminalamtes in einemWald bei Saarlouis eine noch vollfunktionsfähige Funkanlage aus, die mit heimtückischenSprengfallen gesichert war; im Kriegsfalle sollte ein bekannter Kommunist auf diesem Wegeseine Sabotageanweisungen erhalten. Der Appell des Bundesamtes für Verfassungsschutz an dierussische Regierung, doch im Interesse der Sicherheit etwaige weitere derartige Verstecke zumelden, blieb erwartungsgemäß ohne Echo. Einige Monate später stieß die Schweizer Bundes-polizei in einem Wald bei Belfaux (Kanton Freiburg) auf ein Funkgerät, das vom KGB vermut-lich bereits 1966 dort angelegt worden und dessen Metallcontainer durch einen Sprengsatz gesi-chert war. Auf dem Kahlenberg bei Wien fand man vor Jahren eine Sendeanlage, wie sie durch-weg von GRU-Spionen benutzt wurde.76

6.2 "KGB-Helfer"

Im Unterschied zu der "nebenamtlichen" Tätigkeit eines bloßen Informanten waren die "KGB-Helfer" zumeist hauptamtlich für den sowjetischen Geheimdienst tätig. Dieser führte sie konspi-rativ - wie Agenten. In der Regel erhielten sie mit der Hilfe des Ministeriums für Staatssicherheitder DDR eine offiziell gedeckte "Legende" und konnten so etwa als Mitarbeiter des Ost-BerlinerInnenministeriums auftreten. Besonders bewährte "KGB-Helfer" hatten auch kurzfristige nach-richtendienstliche Hilfsaufgaben in West-Deutschland (Wahrnehmung von "Treffs", Verbin-dungsaufnahme zu "Kundschaftern") zu erledigen. Für die heutige Auslandsspionage Rußlandsstellen sie angesichts ihrer damaligen Schulung "ein hochwertiges Agentenpotential" dar.Dennoch dürfte der SWR vorsichtig bei ihrem Einsatz sein, da die DDR-Staatssicherheit - trotzVerbot - oftmals ihre Namen registrierte und die Frage, ob bei der Wende die betreffenden Aktenvernichtet wurden, sehr häufig ungeklärt ist. Die Zahl der bis heute aufgeklärten Fälle scheint inden neuen Bundesländern immer noch recht unterschiedlich zu sein.

Der bekannteste Fall ist derjenige eines Kriminalhauptkommissars in Frankfurt/Oder, der seit1975 für diese Tätigkeit "freigestellt" worden war und sich in den folgenden Jahren im nachrich-tendienstlichen "Ansprechen" von Bundesbürgern und beim Aufbau von zwei zuverlässigenDeckadressen in West-Berlin als recht aktiv erwies. Dem brandenburgischen Innenministeriumwaren seine Kontakte zum KGB seit 1990 bekannt, zumal er sie im obligatorischen Personal-fragebogen angegeben hatte. Wußte die Personalkommission des Innenausschusses des Land-tages nicht die Bedeutung der "KGB-Helfer"? Dieser Personenkreis, für den die Sowjets in dieRentenkasse der DDR eingezahlt hatte, hat heute dementsprechende Rentenansprüche. Voraus-setzung ist allerdings, daß die "KGB-Helfer" sich enttarnen und einen Nachweis erbringen, "daßihre (damalige) Inanspruchnahme als hauptberuflich zu werten ist". 77

Auch die GRU verfügte in der DDR über ein Netz von angeblich 850 "inoffiziellenMitarbeitern", die eigentlich erst beim Krisenfall zwischen dem Warschauer Pakt und der NATO

76 Focus, Nr. 6, 1999, S. 11; Staatsschutz-Bericht 1998, hrsg. vom Eidgenössischen Justiz- und Polizeideparte-

ment, Bern 1999, S. 106 f.; Kid Möchel: Der geheime Krieg der Agenten, a.a.O., S. 196 f..

77 Verfassungsschutzbericht 1991, hrsg. vom Bundesministerium des Innern, Bonn 1992, S. 176 f.; Verfassungs-schutzbericht des Landes Mecklenburg-Vorpommern 1992, hrsg. vom Innenminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern, Schwerin 1993, S. 6 f.; Verfassungsschutzbericht 1994, hrsg. vom Thüringer Innenministerium,Erfurt 1995, S. 58; Das Parlament, 28.6.1996, S. 17; Der Spiegel, Nr. 34, 1998, S. 17.

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eingesetzt werden sollten. Geplant war, einen Großteil von ihnen 1990/1991 zur Spionage nachWest-Deutschland einzuschleusen. 78

6.3 Gruppe Ljutsch

Es muß 1983 gewesen sein, als seitens des Sowjetgeheimdienstes unter dem Leiter der KGB-Residentur in Berlin-Karlshorst, General Anatolij Grigorjewitsch Nowikow, eine "GruppeLjutsch" mit ihrem Sitz in der sowjetischen Vertretung in Berlin, Unter den Linden aufgebautwurde - unabhängig vom sonstigen KGB und ohne jegliches Wissen des DDR-Ministeriums fürStaatssicherheit. Angesichts der in Moskau vermuteten Selbständigkeitsbestrebungen der Stasiund der Zweifel an der Loyalität der DDR-Führungskader hatte die Gruppe die Aufgabe einereigenen Überwachung der DDR. Auch nach dem Fall der Berliner Mauer arbeitete sie weiter,unterstand direkt der Moskauer Führung und soll mindestens 20 - nach anderen Angaben bis hinzu einigen 100 - sehr gut ausgebildete KGB-"Kundschafter" mit einem entsprechenden Stammvon "inoffiziellen Mitarbeitern" umfassen. Noch 1993 hieß es in westlichen Kreisen, diese Elite-Spionage-Gruppe sei "nach wie vor eine ernst zu nehmende nachrichtendienstliche Operations-einheit". Seitdem hat man von ihr indes nichts, auch nicht indirekt wieder gehört. Daraus aber zuschließen, sie existiere nicht mehr, wäre zweifellos sehr leichtfertig. 79

Letztlich sollte man in diesem Zusammenhang nicht vergessen: Ein nachrichtendienstlichesGefährdungspersonal könnte auf dem Territorium der neuen Bundesländer auch in den rund25.000 Russinnen und Russen zu sehen sein, von denen viele in ihrem Paß nur aufgrund ihresGeburtsortes noch als solche erkennbar sind. Viele Kräfte der wissenschaftlich-technischen Füh-rung der DDR wurden auf sowjetischen Universitäten ausgebildet und haben von dort auch oftihre Lebenspartner mitgebracht. Ob diese sich inzwischen mehr als Deutsche fühlen oder nochstärker mit "Mütterchen Rußland" verbunden sind, ist die Frage. Im letzteren Falle wären sievielleicht leicht "anzusprechen", bei ersterer Möglichkeit vielleicht durch entsprechenden Druckbei Besuchen von Verwandten in der alten Heimat.80

6.4 Frühere MfS-Hauptamtliche

Bereits im Sommer 1989 forderte der sowjetische Geheimdienst Angehörige des DDR-Ministe-riums für Staatssicherheit auf, mit ihren "Quellen" in seine Dienste zu treten. Sicherlich wurdenicht nur in einer MfS-Dienststelle dazu aufgerufen, künftig für das KGB zu arbeiten. General-major Oleg Kalugin, ehemals Chef der sowjetischen Spionageabwehr, erklärte im Sommer 1960in einem Interview mit einem DDR-Rundfunksender, sein Spionagedienst wäre schlecht beraten,wenn er auf solche Leute verzichten würde. Seine einige Monate danach erfolgten Worte, "viele"hätten sich beim KGB gemeldet, mögen vielleicht der Wahrheit entsprechen - können natürlich 78 Verfassungsschutzbericht 1990, hrsg. vom Bundesministerium des Innern, Bonn 1991, S. 184; Verfassungs-

schutzbericht 1994, a.a.O., 1995, S. 15.79 ZDF "Heute Journal", 15.9.1993; Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.9.1993; Karl-Wilhelm Fricke/Bernhard

Marquardt: DDR-Staatssicherheit, a.a.O., S. 94 f.; Ralf Georg Reuth/Andreas Bönte: Das Komplott: Wie eswirklich zur deutschen Einheit kam, München 1993, S. 210 ff.. General Nowikow war später in Moskau demLeiter der HVA, Generaloberst Markus Wolf, behilflich.

80 Die Welt, 28.5.1990.

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ebenso eine bewußte Desinformation bezwecken. Selbst wenn dies sowohl von dem Auslands-aufklärungsdienst Rußlands als auch von der Führung der DDR-Spionage lebhaft dementiertwird, so ist es doch die Wahrheit, daß ein großer Teil der Stasi-Akten -zumindest als Verfilmung-1989/1990 an das KGB ging. Man hat heute davon auszugehen: Moskau kennt alle Namen derHauptamtlichen der Staatssicherheit und gerade auch der "Hauptverwaltung Aufklärung" undgewiß ebenso des militärischen Spionagedienstes "Verwaltung Aufklärung". 81

Die Überwerbungsbemühungen dieses Personenkreises durch russische Dienste hält bis heute an.Dabei ist allerdings zu unterstellen: Generell sind Menschen zwar gern geneigt, in ihrem altenMetier weiter zu arbeiten, zumal wenn sich dieses gegen den alten "Feind" richtet - nämlichgegen das "kapitalistische System" in Deutschland. Indes werden die Älteren von ihnen inzwi-schen oft schon angesichts ihrer Lebensjahre nicht mehr den Anforderungen einer heutigen Spio-nage gewachsen sein. Andererseits haben jüngere Hauptamtliche des einstigen MfS, sofern sie inder jetzigen Marktwirtschaft erfolgreich sind, zumeist kein größeres Interesse an einer nachrich-tendienstlichen Tätigkeit für Rußland. General Heinz Engelhardt vom MfS dürfte zudem nichtder einzige sein mit Vorbehalten gegen die bisherigen "sowjetischen Freunde": "Denn als es unsan den Kragen ging, hatten wir keine moralische Hilfe mehr vom KGB. Die haben uns schnellfallengelassen. ... Einmal in der Scheiße zu stehen, das reicht mir."82

Ohnehin wird der SWR wissen, daß frühere MfS-Bedienstete oft im Blickfeld der Verfassungs-schutzbehörden stehen und es für ihn daher zweckmäßiger erscheint, politisch Unverdächtigeanzuwerben.

Die in den letzten Jahren gegründeten Vereinigungen der einstigen Stasi-Mitglieder verfolgenallgemein primär soziale Ziele. Erwartungsgemäß trauern sie den Verhältnissen der DDR nach -einzelne fühlen sich noch heutzutage an ihren einstigen Stasi-Eid gebunden - und lehnen die frei-heitliche Demokratie des einheitlichen Deutschlands ab, doch es sind keine sicherheitsgefährden-den Tendenzen erkennbar - wie etwa der Sturz der Bundesrepublik.83

81 Interview mit dem Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes, Hansjörg Geiger, in: Der Spiegel, Nr. 34, 1996,

S. 25; Interview mit dem Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Gerhard Boeden, in: DerSpiegel, Nr. 42, 1990, S. 24; Joachim Gauck: Die Stasi-Akten, Hamburg 1991, S. 86; Süddeutsche Zeitung,22.6.1990; Frankfurter Rundschau, 18.10.1990; Itar-Tass, 22.6.1992; General Werner Großmann, der letzteLeiter der "Hauptverwaltung Aufklärung", in: Der Spiegel, Nr. 3, 1999, S. 51.

82 Zitiert nach: Neueste Norddeutsche Nachrichten, 25./26.5.1991; ähnlich Reinhardt O. Hahn: Ausgedient. EinStasi-Major erzählt, Halle/Saale 1990, S. 75; Verfassungsschutz Rheinland-Pfalz, Tätigkeitsbericht 1997, hrsg.vom Ministerium des Innern und für Sport in Rheinland-Pfalz, Mainz 1998, S. 86.

83 Verfassungsschutzbericht 1996, hrsg. vom Staatsministerium des Innern des Freistaates Sachsen, Dresden 1997,S. 78; Verfassungsschutzbericht 1997, a.a.O., 1998, S. 81; Verfassungsschutzbericht 1997, hrsg. vom ThüringerInnenministerium, Erfurt 1998, S. 101.

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6.5 Reaktivierung von Ex-Agenten

Wahrscheinlich aber noch wichtiger war und ist für die Spionagedienste Moskaus die Übernahmeder bisherigen DDR-"Kundschafter" im Westen Deutschlands. Angeblich befanden sich Ende1989 dort 1.500 Agenten allein von der "Hauptverwaltung Aufklärung", 84 gewiß belief sich dietatsächliche Zahl wesentlich höher. Auch hierbei sollte man unterstellen, daß alle diese "Quellen"den sowjetischen Nachrichtendiensten bekannt waren oder es für sie anhand der einlaufendenBerichte des Ministeriums für Staatssicherheit relativ einfach war, diese zu identifizieren.Wiederholt hat Markus Wolf beteuert, es gebe keine bisherigen Spione Ost-Berlins, die nach1990 in den Dienst des KGB getreten seien: "Das wären Selbstmörder", "Das Risiko ist viel zugroß". 85 Die Wahrheit ist indes das Gegenteil: So blieb es kein Geheimnis, daß etwa Karlheinz S.aus Friedrichshafen sich im September 1990 bei einem "Treff" von seinem bisherigen MfS-Führungsoffizier zu einer Zusammenarbeit mit dem KGB überreden ließ; allein für seine Bereit-schaft erhielt er 3.000 DM. Ebenso willigte der Polizeibeamte Eckard K. aus Hamburg in eineFortsetzung der geheimdienstlichen Tätigkeit nunmehr für die Sowjets ein und lieferte bis zu sei-ner Festnahme im Oktober 1991 dem KGB gegen Entgelt dienstliche Unterlagen. Gleiches giltfür den Rentner Hermann K. aus der Elbe-Stadt. Auch der Waffenhändler Raimund A. arbeitetenach dem Ende der Stasi mit der Spionage Moskaus zusammen - es gab etliche solcher Fälle.Manche "Kundschafter" baten von sich aus um eine Übernahme in sowjetisch-russische Dienste.Bei dem Diplom-Ingenieur Dieter F. aus München waren es sogar ideologische Motive, währendbei den meisten Personen zweifellos finanzielle Gründe dominierten. Stets vermittelte der jewei-lige bisherige FO der "Hauptverwaltung Aufklärung" den Kontakt zu den neuen Auftraggebern;bei einem "Kundschafter" erfolgte dies noch nach dem 31.3.1990, obwohl das Ministerium fürStaatssicherheit bzw. das Amt für Nationale Sicherheit seine Tätigkeit offiziell eingestellt hatte.86

Bis in die jüngste Zeit versuchten die russischen Dienste ihrerseits bislang nicht-enttarnte DDR-Agenten im Wege der sogenannten positiven Erpressung für sich zu gewinnen: Die von ihnenvorgeschickten Führungsoffiziere der HVA betonten dann in einem Gespräch mit ihrem bisheri-gen "Kundschafter" im Westen ihre große Freude, daß sie beide bisher unentdeckt gebliebenseien und man jetzt weiterarbeiten werde, und zwar für Moskau. Bei einer Ablehnung des Ange-sprochenen wurde das Gespräch zwar direkter und auch in der Diktion härter; blieb dieser jedochbei einer eindeutigen Verneinung einer weiteren Spionagetätigkeit, so passierte nichts. Voraus-setzung für einen solchen "Besuch" ist natürlich stets das weitere Interesse der russischen Dienstean dem bisherigen geheimen Helfershelfer der DDR, er also weiterhin über Zugang zu wichtigen

84 Markus Wolf in: N 3, 28.12.1998. Die große Frage ist, woher er diese Zahl wissen will, zumal er nach eigenen

Worten seit längerem keinen Kontakt mehr zur HVA hatte. Siehe auch Eckart Werthebach in: Deutschlandfunk,7.3.1991; Peter Frisch in: Norddeutscher Rundfunk, 2.12.1991.

85 So z.B. in einem Interview mit dem ZDF, 14.8.1991 sowie in: Der Spiegel, Nr. 36, 1991, S. 25; auch hier stelltsich dieselbe Frage (siehe Fußnote 84). Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 1992, hrsg. vom Innen-ministerium in Baden-Württemberg, Stuttgart 1993, S. 99; Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.6.1990; Süd-deutsche Zeitung, 6.7.1999.

86 Verfassungsschutzbericht Bayern 1992, hrsg. vom Bayerischen Staatsministerium des Innern, München 1993,S. 142; Pressemitteilungen: 1.10.1990, 29.7.1991, 12.8.1991, 3.4.1992, 6.4.1992, 10.9.1992, 29.4.1993,10.8.1995, hrsg. vom Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof, Karlsruhe; Süddeutsche Zeitung,18.8.1992. Natürlich gab es auch Spione, die in dieser Situation kein Vertrauen mehr zum KGB hatten unddaher eine Weiterarbeit ablehnten (so etwa Gabriele Gast: Kundschafterin des Friedens, Frankfurt/Main 1999,S. 315).

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Personen oder entsprechenden Unterlagen verfügt. Die Frage, ob auch "verbrannte"87 Agentenheute eingesetzt werden, dürfte zu bejahen sein. Den Russen wird nicht unbekannt gebliebensein, daß in Deutschland Spionageakten durchweg nach nur zehn Jahren vernichtet werden.

Einen gleichen Hebel können SWR und GRU natürlich auch bei früheren Spitzeln ("IM") desMfS ansetzen, sofern sie ihnen namentlich bekannt sind. In einem Fall hatte ein KGB-Führungs-offizier einem MfS-Originaldokument entnehmen können, daß eine im früheren DDR-Staats-appparat beschäftigte Schreibkraft zu einer langjährigen Spitzel-Tätigkeit genötigt worden war;nach der Wiedervereinigung wurde sie in den Dienst eines neuen Bundeslandes übernommen undsogar als Vorzimmerkraft eines Ministers eingesetzt. Er erhielt den Auftrag, sie zur Spionage fürdas KGB zu gewinnen und dazu die aus den Stasi-Akten bekannten Druckmittel einzusetzen. 88

6.6 Anwerbung neuer Spione

Während die politische Öffentlichkeit im Westen Deutschlands sich 1990/1991 noch über Wertund Unwert einer "Amnestie" für Ost-Agenten (zudem ein hier juristisch völlig falscher Begriff)und über die weitere Existenz von Sicherheitsbehörden - ja selbst der Spionageabwehr - leiden-schaftlich stritt, begann Moskau ein neues Netz von "Kundschaftern" in Deutschland aufzubauen.Das Bild eines solchen heutigen Helfershelfers malte Trubnikow nach alter Manier in recht idea-listischen Farben: "Die heutige 'einpolige' Welt und das Diktat einer Supermacht finden nicht beiallen Gefallen. Jene Menschen helfen Rußland des öfteren, die der Sowjetunion mit ihrer kom-munistischen Ideologie keineswegs beigestanden hätten. Letzten Endes tragen das einfacheGefühl für Gerechtigkeit sowie persönliche, politische und nationale Interessen dazu bei, Agentenaußerhalb der Russischen Föderation anzuwerben."89

Wesentlich realistischer äußerte sich der Vorsitzende der Beratergruppe Primakows, WadimKirpitschenko, in einem Interview der "Krasnaja Swesda" Ende Oktober 1993: "Leute, die mituns zusammenarbeiten, haben relativ viele Motive. Da ist der Wunsch, etwas hinzuzuverdienen,Unzufriedenheit mit dem Vorgesetzten, Unzufriedenheit im Beruf oder der Wunsch, in einergeheimen Tätigkeit Selbstbestätigung zu finden. Es gibt auch viele Leute, die für unser Landgroße Sympathie hegen, zum Beispiel Auswanderer aus Rußland, die für ihre Heimat echteGefühle entwickeln oder ihr helfen wollen." Weiter meinte Kirpitschenko, daß früher vor allemauf ideologischer und patriotischer Grundlage geworben wurde. Da aber der Glaube an dieUdSSR allmählich dem Gefühl der Enttäuschung gewichen sei, habe der materielle Faktor anBedeutung gewonnen.

Das "Ansprechen" eines Spions in spe beginnt heute zumeist mit einer scheinbar zufällig erfol-genden Kontaktaufnahme; dabei kennt die russische Seite genau seine Gewohnheiten, Neigungenund gerade auch seine Schwächen. 90 Natürlich sind Anwerbungen angesichts der Situation und

87 Darunter sind solche zu verstehen, die bereits wegen nachrichtendienstlicher Tätigkeit verurteilt oder doch

angeklagt wurden, also Personen, deren einstige Spionagetätigkeit den deutschen Behörden bekannt ist.

88 Verfassungsschutzbericht 1992, hrsg. vom Bundesministerium des Innern, Bonn 1993, S. 184.89 In: Magazin für die Polizei, Mai-Heft 1996, Lippstadt 1996, S. 40.90 Michael S. Voslensky: Das Geheime wird offenbar, a.a.O., S. 89; Anleitung für die Geheimhaltung, hrsg. vom

Geheimschutzbeauftragten des Innenministeriums in Mecklenburg-Vorpommern, Schwerin 1997, S. 4.

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der unsicheren Zukunft der Russischen Föderation schwieriger geworden, doch gibt es anderer-seits immer wieder Methoden, Menschen zum Verrat zu bewegen - und alle diese Möglichkeitenwerden eingesetzt. Vom ersten Gespräch bis zur eigentlichen Anwerbung können viele Monatevergehen, das hängt ganz und gar von den Umständen ab. Die Hemmschwelle eines Menschen inMittel- und Westeuropa, für das heutige Rußland nachrichtendienstlich zu arbeiten, wird mitGeld erdrückt, im Falle einer Festnahme ist seine Familie mit einem Nummernkonto in derSchweiz oder auch in Luxemburg abgesichert (daß nach Artikel 23 jenes Gesetzes über die Aus-lands-aufklärung dem "Kundschafter" die russische Staatsbürgerschaft verliehen werden kannund sein Spionagedienst verpflichtet ist, ihm nach seiner Enttarnung in Rußland einenArbeitsplatz zu besorgen, dürfte ihn zweifellos kaum interessieren). Auch russischerseits ist mansehr vorsichtig und möchte kein Risiko eingehen, will man den Dialog Moskaus mit dem Westendoch nicht unnötig belasten. Zudem ist der Führungsoffizier bestrebt, möglichst keinen Fehler zubegehen, der dann vielleicht zu seiner Ablösung und damit zu seiner Rückkehr nach Rußland mitallen dortigen Problemen führen könnte. Die Anwerbungsmethoden sind also weniger aggressivund lautloser, damit aber andererseits nicht leichter aufklärbar geworden.

Der Agenten-"Lohn" ist heutzutage nicht geringer als in früheren Zeiten. Man zahlt so viel, wiedie Nachricht wert erscheint und man sich den Spion warm halten kann. Die GRU dürfte dabeimehr Geld als der SWR besitzen, sie ist jedenfalls schneller zum Zahlen bereit. Mitte September1991 nahmen Beamte des Bundeskriminalamtes in der Nähe von Magdeburg den Leiter der GRUin Sachsen-Anhalt, Oberst Viktor Scherdew, fest; bei einem "Treff" wollte er einen Deutschen fürdie Zeit nach dem Abzug der Besatzungsmacht gewinnen. Sowjetische Dienststellen behauptetennoch tagelang, er sei lediglich Offizier des "meteorologischen Dienstes" gewesen. 91 Gerade in denneuen Bundesländern macht man gerne Firmen mit Aufträgen von sich abhängig; dann erst erfol-gen die eigentlichen nachrichtendienstlichen "Wünsche" der vermeintlichen Geschäftspartner.

Erpressung als Mittel der Anwerbung wird heute nur in Einzelfällen bejaht; nach - zutreffender -russischer Ansicht ist sie kein geeignetes Mittel für eine dauernde Spionagezusammenarbeit.Falsch erscheint die weitverbreitete Meinung, ein bisheriger DDR-"Kundschafter" wäre nachEintritt der strafrechtlichen Verjährung nicht mehr erpreßbar: Auch dann drohen weiterhin diszi-plinarische Folgen.

Viele solcher Anbahnungen finden ganz offensichtlich in Rußland statt, besonders beiGeschäftsleuten. Hier, auf heimatlichem Territorium, sind SWR und GRU oft nicht sehr fein-fühlig. Daß in Moskauer Hotels - wie einst - Telefongespräche abgehört werden und Mädchen zubestimmten Zwecken zur Verfügung stehen, dürfte allgemein bekannt sein. Im Sommer 1997wurde einem deutschen Studenten von FSB-Angehörigen ein angeblicher Verstoß gegen russi-sche Visa-Bestimmungen vorgeworfen und ihm zugleich Hilfe versprochen - sofern er sich füreinen "Erfahrungsaustausch" zur Verfügung stelle.92

Eine alte Methode ist es auch, deutsche Aussiedler nachrichtenmäßig anzusprechen. Einmal ver-sucht der SWR sie zur Mitarbeit zu gewinnen mit der Behauptung, Rußland wandele sich zu

91 Siehe auch das Urteil gegen ihn seitens des Kammergerichts Berlin, (1) 3 BJs 1136/91-3 (286) (25/92) vom

3.9.1992, insb. S. 11; Der Tagesspiegel, 13.8.1992; Berliner Zeitung, 13.8.1992; Krasnaja Swesda, 25.11.1992.92 Verfassungsschutzbericht 1997, hrsg. vom Niedersächsischen Innenministerium, Hannover 1998, S. 228; Süd-

deutsche Zeitung, 31.7.1997.

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einer Demokratie und sei daher auf Erkenntnisse anderer Staaten angewiesen. Andererseits bildenspätere Besuche der Aussiedler bei ihren Verwandten in der einstigen Heimat genügend Ansatz-punkte zu einer - wie auch immer gearteten - Anwerbung. In Deutschland soll diese Gruppeprimär Arbeitsstellen bei High-Tech-Unternehmen und im Bereich der Bundeswehr anstreben. 93

Der "Perspektivagent" (der also aufgrund seiner beruflichen Perspektive später in eine für dieSpionage interessante Position aufsteigen soll und darauf bereits heute auf eine dann erfolgendedirekte Anwerbung vorbereitet wird) gehört seit etwa 1991 ebenfalls wieder zum "Kundschafter"-ABC. Bei einer längeren Freundschaft zwischen einem Russen und einem deutschen Studentenkann man eine solche Verbindung unterstellen. 94 Die russischen Geheimdienste werden auchkaum aufgehört haben, Personen unter einer "Legende" zur Agententätigkeit zu werben, bei derdiese glauben sollen, für eine andere Stelle oder Organisation als für den SWR oder die GRU zuarbeiten etwa für einen "vertraulichen Pressedienst der Schweiz" oder gar für "die CIA".

7. Übermittlungswege der Nachrichten

Angesichts der räumlichen Entfernung der Führungsstelle in Moskau zu ihrem Spion inDeutschland ist naturgemäß ein Verbindungswesen erforderlich.

7.1 Der "Treff"

Eine solche nachrichtendienstliche Begegnung zwischen dem einzelnen russischen FO undseinem "Kundschafter" erfolgte in den ersten Jahren nach 1990/1991 zumeist in der Weise, daßdieser nach Moskau flog oder der dortige Spionageführer als Tourist oder Geschäftsreisendergetarnt nach Berlin kam. Neuerdings findet seine Einreise gern über das Baltikum und Skandina-vien statt, zumal diese Länder die Kontrollen oft lockerer handhaben. Zu den meisten "Treffs"aber kommt es heutzutage gewiß in Rußland selber. Ist im Einzelfall hingegen Mittel- oder West-europa vorgesehen, so dürfte angesichts der weiterhin recht großzügigen Handhabung der WienerBehörden Österreich bevorzugt werden (ganz im Gegensatz zur Schweiz).95 Bei sehr wichtigenSpionen verlegt man den "Treff" auch außerhalb Europas - insofern besteht kein Geldmangel. Einsolches Treffen soll wenigstens einmal pro Jahr durchgeführt werden und der Weiterbildungsowie der Betreuung des Agenten dienen.

93 Verfassungsschutzbericht 1994, hrsg. vom Bundesministerium des Innern, Bonn 1995, S. 213; Verfassungs-

schutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen über das Jahr 1997, hrsg. vom Innenministerium des LandesBaden-Württemberg, Hannover 1998, S. 255 f.; Süddeutsche Zeitung, 17.8.1998; gleiches gilt für die Schweiz,siehe: Interview des Bundespolizei-Chefs Urs von Daeniken in: Tages-Anzeiger, 30.4.1998.

94 Peter Frisch, Vortrag, a.a.O., 13.11.1991, Manuskript-Seite 16; Verfassungsschutzbericht 1996, hrsg. vomInnenministerium des Freistaates Sachsen, Dresden 1997, S. 80; Friedrich-Wilhelm Schlomann: Die Maul-würfe, a.a.O., S. 290.

95 Kid Möchel: Der geheime Krieg der Agenten, a.a.O., S. 10, 17, 61, 158.

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7.2 Funkverbindungen

Der Funkverkehr zum "Kundschafter" lief bis Ende 1991 aus den Kasernen der russischen Trup-pen in der bisherigen DDR, seitdem aus der Gegend südlich von Moskau. Durchweg geht es umden sogenannten A-2-Verkehr, das heißt einseitigen Morsefunkverkehr von der Zentrale nachhier, oder den A-3-Verkehr, also einseitig Radiodurchsagen von dort auf Kurzwelle zum Spion;bei Nennung seiner Kennziffer hat er die Zahlen zu notieren, die in Fünfergruppen gesprochenund dann von ihm entschlüsselt werden. Bereits 1995 registrierte der Verfassungsschutz inBaden-Württemberg, es "kommt dem Agentenfunk eine besondere Rolle zu. Die Vielzahl derFunklinien und die Intensität der Funkausbildungsaktivitäten sind bezeichnend". 96 Er ist ausge-sprochen häufig geworden, wenngleich er nicht die Höhe der Funksprüche wie vor 1989 erreicht.Der Funkverkehr umgekehrt von Deutschland nach Rußland stellt nach wie vor eine große Aus-nahme dar.

7.3 "Tote Briefkästen"

Die Entschlüsselungsmittel sowie die Hinweise auf Sendezeiten und Frequenzen des Funks erhältder Spion über "Tote Briefkästen" (Verstecke, zumeist in ausgehöhlten Bäumen oder Zäunen).Diese werden durchweg von Angehörigen der Legalen Residenturen bedient, die dort ebenfallsdas "Honorar" und etwaige, nicht über Funk zu übermittelnde Unterlagen hinterlegen; sie gehendabei außerordentlich umseitig vor und scheinen neuerdings solche "TBK" stets auch nur einmalzu benutzen. Ein solches Versteck ist ebenfalls zum Übermitteln von Verratsmaterial seitens desAgenten an die Führungsstelle gedacht. Inzwischen liefert der technische Fortschritt im Bereichder elektronischen Kommunikation neue Dimensionen: Jeder Personalcomputer kann sich grund-sätzlich mittels krytologisch geschützter E-Mails in einen elektronischen "Toten Briefkasten"verwandeln.97

7.4 Geheimschreibverfahren

Üblicherweise berichtet der "Kundschafter" jedoch in Geheimschreibverfahren: an Deckadressenin Rußland und - noch häufiger - im Ausland. Von dort wird die einzelne Mitteilung dann an dieZentrale des SWR oder der GRU weitergeleitet.

96 Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 1995, hrsg. vom Innenministerium in Baden-Württemberg,

Stuttgart 1996, S. 156; Norddeutsche Neueste Nachrichten, 25.4.1997.97 Verfassungsschutzbericht 1995, hrsg. vom Bundesministerium des Innern, Bonn 1996, S. 256; Verfassungs-

schutzbericht 1996, a.a.O., 1997, S. 220; Verfassungsschutz-Bericht Berlin 1998, hrsg. vom Berliner Landesamtfür Verfassungsschutz, Berlin 1999, S. 163.

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8. Moskau und seine Spionage

Die seinerzeitige Sowjetunion gab ihre geheimdienstliche Tätigkeit im Ausland nur selten zu undallgemein auch lediglich beim Ableben ihrer großen Spione.98 Inzwischen muß der zeitgenössi-sche Betrachter eher das Gegenteil vernehmen und das auch noch in Form sehr häufig trotzig-stolzer Formulierungen. Im November 1992 erklärte Primakow überaus deutlich: "Rußland bleibteine Großmacht. ... Eine Großmacht braucht auch einen starken Geheimdienst."99 Vielleicht umetwaige Mißverständnisse zu klären, vielleicht auch um verzagte einstige MfS-Angehörigepsychologisch aufzurütteln, schrieb der damalige Leiter des Pressebüros des SWR im einstigenSED- und jetzigen PDS-Organ "Neues Deutschland": "Wir haben uns von der Konfrontation ver-abschiedet. Das bedeutet indes kein Ende der Aufklärung."100

Ende April 1994 besuchte Präsident Jelzin die Zentrale des SWR und hob dort hervor, daß nie-mand arbeitslos werde, da in einer Zeit der Kürzung der militärischen Ausgaben die Angaben derAgenten von besonderer Wichtigkeit seien und erhöht werden müßten. Die SWR-Angehörigenerfüllten eine der wichtigsten Aufgaben im Staat.101

Keinen Monat später meldete Itar-Tass von einer Geheimdienstkonferenz: "Boris Jelzin unter-strich den dringenden Bedarf des Landes 'an zuverlässigen, intensiv arbeitenden Spezialorganen.Um einen würdigen Platz in der internationalen Gemeinschaft einzunehmen ..., braucht Rußlandstarke und kampffähige Geheimdienste'. ... Zum Abschluß seiner Rede rief Präsident Boris Jelzin... dazu auf, die besten Traditionen der Geheimdienste behutsam zu bewahren und zu ver-mehren."102 Kurz danach führte Trubnikow gegenüber dem russischen Fernsehen überaus stolzaus: "Die russische Aufklärung bleibt ungeachtet aller Reorganisierungen und finanziellenSchwierigkeiten der letzten Zeit unter den vier stärksten der Welt neben der amerikanischen CIA,dem israelischen Mossad und dem Geheimdienst Englands. Wir waren noch immer in dieser Ligaund wollen hoffen, daß wir immer 'drin bleiben werden."103

Könnte man vielleicht noch annehmen und hoffen, diese verschiedenen Zitate seien aus irgend-welchen Gründen lediglich für den innerrussischen "Hausgebrauch" bestimmt gewesen, so führteJurij Kobaladse sogar in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung aus, "daß wir im Zusammenhangmit dem Personalabbau nie gesagt haben, daß die russische Aufklärung ihre Existenz aufgebe undihre Tätigkeit einstelle. ... Ich kann mir nicht vorstellen, daß Rußland, ein Land, das ungeachtetaller Probleme eine Großmacht bleibt, ... in naher Zukunft auf die Aufklärung verzichten wird. ...Wir bedrohen niemanden. ... Dennoch haben wir unsere nationalen Interessen."104 Trubnikowglaubte in einem Interview sogar betonen zu müssen: "Der russische Auslandsgeheimdienst hatkeine Konkurrenz der Welt", und stellt dazu fest, "daß nach dem russischen Auslandsgeheim-dienst der britische CIC und der israelische Mossad die mächtigsten Geheimdienste seien". 105

98 So etwa Prawda, 8.5.1965; Krasnaja Swesda, 17.11.1971; Iswestija, 12.3.1983.99 Itar-Tass, 3.11.1992.100 Berlin, 22.9.1993.

101 Komsomolskaja Prawda, 28.4.1994.102 A.a.O., 26.5.1994.103 Russisches Fernsehen, 14.6.1994.

104 A.a.O., 9.3.1966.105 Interfax, 18.12.1996.

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Zum 60. Bestehen der russischen Akademie für Auslandsaufklärung sandte Jelzin eine Grußbot-schaft, in der er u.a. ausführte: "Ihr könnt zu Recht stolz sein auf die ruhmreiche GeschichteEurer Institution. In ihren Mauern haben sich jene wahren Fachleute eingefunden, die für sichden zwar schweren, aber heroischen Beruf ausgewählt haben - den Beruf des Aufklärers." Derrussische Präsident meinte dann zuversichtlich, daß "das Kollektiv der Akademie alles tun wird,um auch in der Zukunft eine hochklassige Ausbildung der russischen Aufklärungskader zugewährleisten". 106

Zweifellos sind solche direkten Äußerungen in jüngster Zeit seltener geworden. Daraus abervielleicht die Schlußfolgerung ableiten zu wollen, im Kreml würden jetzt andere oder gar gegen-teilige Ansichten herrschen, wäre falsch. Dafür gibt es keinerlei Anzeichen. Vielmehr wird dierussische Spionage um politische Informationen, wirtschaftlich-technische Forschungsergebnisseund militärische Geheimnisse weitergehen - gleichgültig, ob die politische Öffentlichkeit imAusland dies zur Kenntnis nimmt oder sie immer noch nicht wahrhaben möchte.

106 Interfax, 22.10.1998; vgl. auch: Friedrich-Wilhelm Schlomann: Das KGB ist tot, doch seine Erben leben weiter,

Dokumentation, hrsg. von der Deutschen Welle, Köln 1996, S. 26 ff..

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Verantwortlich:Dr. Reinhard C. Meier-WalserLeiter der Akademie für Politik und Zeitgeschehender Hanns-Seidel-Stiftung

Autor:Dr. Friedrich-Wilhelm SchlomannPublizist, Königswinter

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"aktuelle analysen"

bisher erschienen:

Nr. 1 Problemstrukturen schwarz-grüner Zusammenarbeit(vergriffen)

Nr. 2 Wertewandel in Bayern und DeutschlandKlassische Ansätze - Aktuelle Diskussion - Perspektiven

Nr. 3 Die Osterweiterung der NATODie Positionen der USA und Rußlands (vergriffen)

Nr. 4 Umweltzertifikate - ein geeigneter Weg in der Umweltpolitik?(vergriffen)

Nr. 5 Das Verhältnis von SPD, PDS und Bündnis 90/Die Grünennach den Landtagswahlen vom 24. März 1996 (vergriffen)

Nr. 6 Informationszeitalter - Informationsgesellschaft -Wissensgesellschaft (vergriffen)

Nr. 7 Ausländerpolitik in Deutschland

Nr. 8 Kooperationsformen der Oppositionsparteien

Nr. 9 Transnationale Organisierte Kriminalität (TOK)Aspekte ihrer Entwicklung und Voraussetzungenerfolgreicher Bekämpfung (vergriffen)

Nr. 10 Beschäftigung und Sozialstaat

Nr. 11 Neue Formen des Terrorismus

Nr. 12 Die DVU - Gefahr von Rechtsaußen

Nr. 13 Die PDS vor den Europawahlen

Nr. 14 Der Kosovo-KonfliktAspekte und Hintergründe(vergriffen)

Nr. 15 Die PDS im Wahljahr 1999:"Politik von links, von unten und von Osten"(vergriffen)

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Nr. 16 Staatsbürgerschaftsrecht und Einbürgerung inKanada und Australien

Nr. 17 Die heutige Spionage Rußlands

in Vorbereitung:

Der Krieg in Tschetschenien

Ost-Timor und die Krise des indonesischen Vielvölkerstaates