Funktionsbegriff und Symbolbegriff€¦ · 2 und Lehre. Obgleich Cassirer selbst später seinen...

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Ruhr-Universität Bochum Fakultät für Philosophie und Erziehungswissenschaft Funktionsbegriff und Symbolbegriff Ernst Cassirers erkenntniskritische Theorie des Begriffs Inaugural - Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie vorgelegt von WEON-SOOK LEE aus TAEGU, Republik Korea Referent: Prof. Dr. Wolfgang Bonsiepen Korreferent: Prof. Dr. Helmut Pulte Bochum, den April 2009 Tag der mündlichen Prüfung: 22. 07. 2009

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Ruhr-Universität Bochum

Fakultät für Philosophie und Erziehungswissenschaft

Funktionsbegriff und SymbolbegriffErnst Cassirers erkenntniskritische Theorie des Begriffs

Inaugural - Dissertation

zur Erlangung des akademischen Grades

eines Doktors der Philosophie

vorgelegt von

WEON-SOOK LEE

aus TAEGU, Republik Korea

Referent: Prof. Dr. Wolfgang Bonsiepen

Korreferent: Prof. Dr. Helmut Pulte

Bochum, den April 2009

Tag der mündlichen Prüfung: 22. 07. 2009

Inhaltsverzeichnis

Einleitung ............................................................................................................................. 1

2

1. Der Grundgedanke der Erkenntniskritik Cassirers ........................................................... 8

1.1. Die Erkenntniskritik bei Cassirer in Substanzbegriff und Funktionsbegriff ................. 8

1.2. Cohens Substanzbegriff ............................................................................................. 22

1.3. Die Einheit des Bewusstseins bei Cohen und Cassirer .............................................. 29

1.3.1. Cohens Einheit des Bewusstseins ....................................................................... 29

1.3.2. Das Bewusstsein der Relation bei Cassirer ........................................................ 33

1.4. Cassirers Interpretation der ‚Ideenlehre‘ Platons ........................................................ 38

1.4.1. Ideenlehre ........................................................................................................... 38

1.4.2. Seelenlehre ........................................................................................................ 43

1.4.3. Systematik der Ideen .......................................................................................... 46

1.5. Die ‚Stufen der Objektivierung‘ der Erkenntniskritik ................................................ 49

2. Die Theorie des Begriffs in Substanzbegriff und Funktionsbegriff ............................... 57

2.1. Die Theorie der Begriffsbildung ................................................................................. 57

2.1.1. Cassirers Kritik der traditionellen Abstraktionstheorie ..................................... 57

2.1.2. Die Reihenbildung und der Funktionsbegriff ..................................................... 67

2.2. Die Bedeutung des Funktionsbegriffs ..........................................................................74

2.2.1. Der Funktionsbegriff und der Zahlbegriff .......................................................... 74

2.2.2. Der Funktionsbegriff und die Relationslogik ..................................................... 83

2.2.3. Der Funktionsbegriff als Gesetzesbegriff .......................................................... 85

2.3. Kritik an Cassirers Begriffstheorie in Substanzbegriff und Funktionsbegriff ............ 95

2.3.1. Kritik Hönigswalds: Subsumption oder Reihenbildung? .................................. 96

2.3.2. Kritik von Heymans: Gattungsbegriffe und ‚Merkmalslehre‘ ......................... 107

2.3.3. Cassirers Replik auf Heymans: Bedeutungsfunktion ....................................... 111

3. Die Theorie des Begriffs in Philosophie der symbolischen Formen ........................... 115

3.1. Wissenschaftliche Erkenntnis als symbolische Form ............................................... 119

3.2. Wissenschaftliches und mythisches Bewusstsein ............................................... 130

3.3. Die Begriffsbildung in der wissenschaftlichen Erkenntnnis .................................... 137

3.3.1. Der natürliche Weltbegriff und seine Grenze ................................................. 137

3.3.2. Die Begriffsbildung in der wissenschaftlichen Erkenntnis .............................. 142

3.3.3. Gegenstand als funktionale Einheit ................................................................. 147

3.3.4. Die Korrelation des Allgemeinen und Besonderen .......................................... 155

3.3.5. Das erste und zweite Allgemeine bei Lotze ..................................................... 160

3.4. Zeichen als Bedeutungsträger ................................................................................... 167

3.4.1. Zeichen im natürlichen Weltbegriff ................................................................. 167

3.4.2. Zeichen und die Grenze der sprachlichen Begriffsbildung .............................. 172

3.4.3. Ordnungszeichen im wissenschaftlichen Begriff ............................................. 177

3.5. Wissenschaftliche Begriffe als intellektuelle Symbole ............................................ 181

3.5.1. Sinnliche Symbole und intellektuelle Symbole ............................................... 181

3.5.2. Symbolfunktion und symbolische Prägnanz .................................................... 185

3.5.2.1. Symbolische Formung und das Wahrnehmungsurteil ............................... 188

3.5.2.2. Symbolische Prägnanz und wissenschaftliche Erkenntnis ......................... 193

3.6. Die Auseinandersetzung zwischen Marc-Wogau und Cassirer ................................ 204

3.6.1. Marc-Wogaus Kritik an Cassirers Symbolbegriff ............................................ 204

3.6.1.1. Marc-Wogaus Kritik .................................................................................. 205

3.6.1.2. Cassirers Replik: Identitätslogik vs. Relationslogik .................................. 215

3.6.2. Intension und Extension ................................................................................... 219

3.6.2.1. Bestimmungskomplexe und Relationsbestimmung bei Marc-Wogau ....... 223

3.6.2.2. Cassirers Kritik an Marc-Wogau ............................................................... 230

3.6.2.3. Marc-Wogaus Replik auf Cassirers Bemerkungen ................................... 235

3

4. Cassirers symbolische Form der Begriffsbildung ....................................................... 238

4.1. Ergebnis der Untersuchung: Funktionsbegriff und Symbolbegriff .......................... 238

4.2. Die Zeichentheorie und das ‚Bedeutungsproblem‘ bei Cassirer .............................. 245

4.3. Cassirers Invariantengedanke der Wahrnehmung und des Begriffs ......................... 254

4.3.1. Cassirers Invariantengedanke und Kleins Erlanger Programm ........................ 254

4.3.2. Die Wahrnehmungskonstanten und die Invarianten des Begriffs .................... 262

4.4. Cassirers philosophische Systematik und ‚Basisphänomene‘ .................................. 267

4

Resümee .......................................................................................................................... 275

5

Bibliographie ................................................................................................................... 279

1

Einleitung

Wenn man die Entwicklung von Ernst Cassirers Werken, angefangen mit Substanzbegriff

und Funktionsbegriff [SuF] bis hin zur Philosophie der symbolischen Formen [PsF]

verfolgt, lässt sich feststellen, dass der Grundgedanke seiner Erkenntnistheorie nicht nur

von den Kant-Interpretationen oder ‚Kant-Auslegungen‘ seiner Lehrer Hermann Cohen und

Paul Natorp, die Begründer der Marburger Schule des Neukantianismus, sondern auch von

Platons ‚Ideenlehre‘1 und Gottfried Wilhelm Leibnizens Funktionsbegriff beeinflusst ist.

Das liegt vor allem daran, dass sowohl die Leibniz-Forschung2 als auch die Platon-

Forschung von Cohen und Natorp wesentliche Bestandteile der Arbeit des kritischen

Idealismus der Marburger Schule sind.3

Die gegen Mitte des neunzehnten Jahrhunderts begonnene philosophische Bewegung, die

unter dem Motto ‚Zurück zu Kant‘ stand, fand ihre Resonanz in der

Universitätsphilosophie. Als Cassirer sein Studium begann, war der Neukantianismus an

vielen deutschen Universitäten dominant.4 1899 promovierte Cassirer5 in Marburg bei

Cohen und Natorp mit der Studie Descartes’ Kritik der mathematischen und

naturwissenschaftlichen Erkenntnis. Seine Preisschrift Leibniz’ System in seinen

wissenschaftlichen Grundlagen von 1902 repräsentiert die kritische Philosophie der

Marburger Schule. Cassirer vertritt jene Rezeption von Kant, welche die Philosophie Kants

als Philosophie der Wissenschaft versteht, greift den charakteristischen Leitgedanken

dieser Schule auf und macht ihn zum Ausgangspunkt seiner kritischen Erkenntnistheorie.

Einen Einblick in Cassirers Kant-Interpretation gewinnt man über sein Werk Kants Leben

1 Vgl. Cassirer, PdG. Cassirers Platon-Interpretation zeigt deutlich, dass er in ihr weitestgehend denStandpunkt, den seine Lehrer innerhalb der Platonforschung eingenommen hatten, übernommen hat; vgl.auch Cassirer, ZLS besonders S. 204-206.

2 Zur Leibniz-Forschung der Marburger Schule vgl. Helmut Holzhey, Die Leibniz-Rezeption im›Neukantianismus‹ der Marburger Schule. In: A. Heinekamp (Hg.) Beiträge zur Wirkungs- undRezeptionsgeschichte von Gottfried Wilhelm Leibniz. Studia Leibnitiana, Supplementa XXVI, 1986, S.289-305; Zur Rezeption Cassirers von Descartes und Leibniz vgl. Ihmig (1997a): Kap. II. CassirersRezeption von Descartes und Leibniz; Ferrari weist auch auf den Einfluss von Leibniz auf die PsF hin vgl.Ferrari (1988b); vgl. auch Pätzold (1995).

3 Vgl. Lembeck (1994). 4 Man könnte unter Neukantianismus sechs Schulen nennen: die von Hermann von Helmholtz (1821-1894)

geleitete physiologische Schule, die realistische Schule mit Alois Riehl (1844-1924), die Badische Schulemit Wilhelm Windelband (1848-1915), die relativistische Schule mit Georg Simmel (1858-1918), dieSchule von Jakob Friedrich Fries (1773-1843) und Neonard Nelson (1882-1927), die Marburger Schulevon Hermann Cohen (1842-1918) und Paul Natorp (1854-1924). Aus „Neo-Kantianism“ in Ency-clopaedia Britannica, Bd. 16, 1967, pp. 213-214.

5 Vgl. Gawronsky (1958), p. 6. Als Cassirer 1894 in Berlin eine Kant-Vorlesung besuchte, erfuhr er durchden Privatdozenten Georg Simmel von Cohen und entschied sich nach Marburg zu gehen. Simmel habegesagt : „Undoubtedly the best books on Kant are written by Herman Cohen; but I must confess that I donot understand them.“

2

und Lehre. Obgleich Cassirer selbst später seinen eigenen Weg beschreitet, bleibt er im

Grundgedanken der Erkenntnistheorie stets ein Marburger Neukantianer.

Innerhalb der Erkenntnistheorie liegt Cassirers Augenmerk vor allem auf der Theorie des

Begriffs. Er stellt sie im Zusammenhang mit der Begriffslogik in den Mittelpunkt seiner

Erkenntnistheorie, und in ihr tritt sein erkenntnistheoretischer Grundgedanke am

deutlichsten hervor. Als Cassirer im Jahre 1910 das Werk SuF veröffentlichte, wurde es

wie zum Beispiel von Johannes Paulsen6 nur als ein Produkt der Marburger Schule

angesehen, dem man keine große Aufmerksamkeit schenkte. Hans Blumenberg spricht bei

der Entgegennahme des Kuno Fischer-Preises der Universität Heidelberg im Juli 1974

zutreffenderweise davon, dass das Werk SuF zu Unrecht vergessen worden ist.7 Man kann

annehmen, das ‚Vergessen‘ resultiere zum Teil daraus, dass sich Cassirer von 1933 an bis

zu seinem Ableben 1945 im Exil aufhielt. Anders als in Deutschland wurde Cassirer in den

USA rezipiert, wo im Jahre 1949 in New York The Philosophy of Ernst Cassirer8 als

sechster Band der Reihe The Library of Living Philosophers erschien, obwohl Cassirer dies

nicht mehr erleben durfte. In diesem Band hebt Kurt Lewin in seinem Essay Cassirer’s

Philosophy of Science and the Social Sciences das Werk SuF mit folgenden Worten hervor:

„To me these decades of rapid scientific growth of psychology and of the social sciences in

general have provided test after test for the correctness of most of the ideas on science and

scientific development expressed in his Substanzbegriff und Funktionsbegriff.“9

In SuF geht es um die Theorie der Begriffsbildung in den mathematischen

Naturwissenschaften, wobei der ‚Funktionsbegriff‘ sowohl die Prinzipien des

mathematischen Funktionsbegriffs als auch Cassirers grundlegende Gedanken zur

erkenntnistheoretischen Begriffslogik ausdrückt. Ein Grundproblem seiner Begriffstheorie,

die er in SuF aufstellt, ist das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem

beziehungsweise von Inhalt und Umfang des Begriffs.

Cassirers Darlegungen seiner Begriffstheorie stützen sich auf die geschichtliche

Entwicklung der Wissenschaften und auf die systematische Darstellung ihres Gehalts

anhand großer Forscher. Von der Beobachtung der wissenschaftlichen Entwicklung Ende

6 Paulsen (1912).7 Blumenberg (1974), S. 457: „Das erste große Thema Cassirers war also ein monumentaler historischer

Nachruf, aber gerade darin kein Mitvollzug der Abwertung: durch ihre Geschichte, durch denumfassenden und abschließenden Blick auf sie, wird die Erkenntnistheorie zum Leitfaden einergeschichtstheoretischen Reflexion. Das zweite große Thema Cassirers war die Theorie derBegriffsbildung in dem noch heute, wie ich meine, unausgeschöpften und weithin zu Unrecht vergessenenWerk von 1910 »Substanzbegriff und Funktionsbegriff«. ,Vergessen‘ ist ein Stichwort, wenn manWirkung und Wirkungslosigkeit Cassirers in ihren überraschenden Proportionen betrachtet.“

8 Schilpp (1958). 9 Lewin (1958), p. 272.

3

des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts ausgehend ergibt sich aber für Cassirer ein

geändertes Bild der traditionellen formalen Logik. Einerseits scheint für ihn die Arbeit, die

man für die Formulierung der Grundlehren der formalen Logik Jahrhunderte lang geleistet

hat, mehr und mehr abzubröckeln, andererseits erkennt er neu entstehende Problemfelder,

die sich besonders aus der Berührung mit der allgemeinen mathematischen

Mannigfaltigkeitslehre ergeben. Weil sich die mathematische Mannigfaltigkeitslehre bis

ins Gebiet der Methodik der Naturerkenntnis hinein erstrecke, verlange der systematische

Zusammenhang, in welchen die Logik auf diese Weise einbezogen werde, eine erneute

Prüfung. So versucht er die Probleme der traditionellen formalen Logik an bestimmten

Wendepunkten in der geschichtlichen Entwicklung der Wissenschaft zu erhellen. Die

traditionelle formale Logik hat seit Aristoteles mit der Subsumption von Inhalten, mit dem

Ordnungsrang zweier Begriffe, also Art und Gattung zu tun. In der aristotelischen Logik

bedeutet ‚Wirklichkeit‘ die Wirklichkeit der ontologischen Substanz, das heißt, dass die

Wirklichkeit als die Verhältnisse des Seienden nachzubilden ist. Diese substanzielle

Weltansicht veränderte sich nach Cassirer seit der Renaissance in der Philosophie wie in

der Wissenschaft und man richtete sich gegen die ‚absoluten Substanzen‘. In der

Geschichte der Philosophie zeigt sich aber, dass die Stellungnahmen gegen den

aristotelischen ‚Begriffsrealismus‘, trotz allen mannigfachen Wandlungen in der Logik,

wirkungslos geblieben sind (vgl. SuF, 11). Cassirer ist der Ansicht, dass die herkömmliche

logische Lehre vom Begriff den modernen Wissenschaften nicht mehr genügt, da sie sich

als unzureichend erweist, die neuen Probleme der modernen Wissenschaft vollständig zu

bezeichnen. Darüber hinaus geht er davon aus, dass der sachliche Gehalt der

mathematischen Erkenntnisse auf eine Grundform des Begriffs zurückgewiesen habe, die

in der traditionellen formalen Logik nicht zu klarer Bezeichnung und Anerkennung

gekommen sei. So hat ihn diese Überzeugung, zu der er vor allem durch seine

Untersuchungen über den Reihenbegriff und den ‚Grenzbegriff‘ in der mathematischen

Erkenntnis gelangt war, zu einer erneuten Analyse der Prinzipien der Begriffsbildung

veranlasst. Cassirer stellt hierbei als Kriterien die Geltung und Anwendbarkeit des Begriffs

auf und betont, dass eine eindeutige Bestimmung des Begriffs für die „konkret-

wissenschaftliche Begriffsbildung“ (SuF, 7) an die Stelle der Unbestimmtheit und

Vieldeutigkeit gesetzt werden muss.

Nach Cassirer gibt es zwei Haupttypen der Betrachtungsweise in den

erkenntnistheoretischen Strömungen der Philosophie; der eine richtet den Anfang der

theoretischen Fragestellung auf den Wirklichkeitsbegriff und der andere auf den

4

Wahrheitsbegriff (vgl. ET I, 3; PsF I, 28 f.; SuF, 167 f.). Das heißt, dieser sucht von der

Geltung bestimmter Kriterien der Wahrheit aus die letzte Bedeutung der gegenständlichen

Urteile zu ermitteln, während jener das ‚Dasein‘ der Dinge als das feste Datum gelten lässt

und von diesem aus versucht, den Sinn und Inhalt des Wahrheitsbegriffs zu ermitteln.

Diese beiden laufen in der Geschichte parallel und werden als Gegensätze gegenüber

gestellt. Sie sollen Cassirers Ansicht nach nicht als Widerstreitende, sondern unter dem

Netz der Korrelation betrachtet werden. Denn die Frage nach der Wahrheit einer

Erkenntnis war, wie die Geschichte zeigt, mit der nach der „Übereinstimmung mit dem

Gegenstande“ verknüpft, und damit wurde das Problem zu einer Diallele (ET I, 5).10

Der erkenntnistheoretische Grundgedanke in SuF ist später in der PsF durch den Begriff

des Symbols erhalten geblieben, der wiederum zu einem der zentralen Begriffe seines

späteren philosophischen Denkens wird. Cassirer selbst hat gesehen, dass seine

Bestimmung des Funktionsbegriffs für die Wissenschaft außerhalb der Naturwissenschaft

nicht ohne Einschränkung anwendbar ist. Ihm ist klar geworden, dass „von der besonderen

Form der mathematischen und der mathematisch-physikalischen Begriffe“ kein

Rückschluss auf die allgemeine Form des Begriffs überhaupt gezogen werden kann (ZTB,

130). Er weist darauf hin, dass das Ergebnis der Untersuchungen in SuF, die sich im

Wesentlichen auf die Struktur des mathematischen und des naturwissenschaftlichen

Denkens bezogen hatten, nicht für eine methodische Grundlegung der

Geisteswissenschaften ausreichen würde. So unternimmt er in der PsF eine prinzipielle

Erweiterung der Erkenntnistheorie (vgl. PsF I, Vorwort; PsF III, Vorrede) und der damit

verbundenen Begriffstheorie, in der das logische Problem des Begriffs mit dem

allgemeinen ‚Bedeutungsproblem‘ verknüpft ist.

Karl-Norbert Ihmig führt an, dass das Interesse an Cassirers PsF und dem sich darauf

gründenden Versuch einer Kulturphilosophie in den letzten Jahren gewachsen sei, aber

seine Wissenschaftsphilosophie hingegen wenig Beachtung gefunden habe. Dies sei

deshalb erstaunlich, da „die Wurzeln sowohl seiner Idee einer Philosophie der

symbolischen Formen als auch der Begriff der symbolischen Form selbst in seiner

Auseinandersetzung mit wissenschaftsphilosophischen Problemen zu suchen“ seien.11 Die

Mathematik und die mathematischen Naturwissenschaften seien für Cassirer, auch in

seinem Selbstverständis als Neukantianer, stets ein Orientierungspunkt seines Schaffens

geblieben. Berücksichtigt man, dass Cassirer selbst die PsF als eine „kritische Revision“

(ZTB, 130) des Werkes SuF bezeichnet und darauf hinweist, dass es sich bei der PsF um

10 Vgl. Kant (W1990), S. 102. KrV, A 57/ B 82.11 Ihmig (2001), Einleitung, S. 1.

5

eine Erweiterung der Begriffstheorie von seinem Werk SuF handelt, ist man geneigt der

Behauptung Ihmigs zuzustimmen.

Cassirer hebt später noch im Werk Determinismus und Indeterminismus in der modernen

Physik, das ungefähr 27 Jahre nach SuF erschien, seine unveränderte ‚Grundanschauung‘

hervor:

„Was die Grundanschauung betrifft, gemäss der ich selbst diese Fragen zubehandeln suche, so hat sie sich gegenüber meiner Schrift »Substanzbegriff undFunktionsbegriff« (1910) in den eigentlich wesentlichen Zügen nicht geändert.Ich glaube auch heute noch diese Anschauung aufrecht erhalten zu können; jaich glaube, sie auf Grund der Entwicklung der modernen Physik schärferformulieren und besser begründen zu können, als es früher der Fall war.“ (DuI,Vorrede, VII)

Man darf daraus den Schluss ziehen, dass sich der Grundgedanke aus SuF ohne

wesentliche Änderung wie ein roter Faden durch seine ganze Gedankenwelt zieht und der

Funktionsbegriff zu einem Grundstein in der Cassirerschen philosophischen Architektonik

wird.

Die Bedeutungslehre in PsF, in der Cassirer seine Begriffstheorie hinreichend begründen

und vollständig aufbauen zu können glaubt (vgl. ZTB, 130), wird durch eine Theorie des

Zeichens bestimmt. Die Funktion des Zeichens in der Dimension des Mythos hat nur

Ausdrucksfunktion, das heißt, im Mythos kann das Zeichen nur als Ausdruck dienen, und

in der Dimension der Sprache hat das Zeichen Darstellungsfunktion. Dieses Zeichen wird

dann in der Dimension der wissenschaftlichen Erkenntnis zu einem reinen

‚Bedeutungszeichen‘, das „alles bloß-Ausdrücksmäßige, alles anschaulich-Repräsentative

von sich abgestreift“ hat (PsF III, 334), wodurch der wissenschaftliche Begriff

gekennzeichet ist.

Cassirer schreibt im ersten Band der PsF über Die Sprache, den Bereich oder die

Dimension der Darstellungsfunktion, und im zweiten Band über Das mythische Denken,

den Bereich der Ausdrucksfunktion in den symbolischen Formen. Im dritten Band

Phänomenologie der Erkenntnis werden dann diese Bereiche unter dem Gesichtspunkt der

Erkenntniskritik ausgeführt, und die Reihenfolge von Sprache und Mythos wird getauscht.

Hier wird zuerst der Bereich der Ausdrucksfunktion, die für die Ausdruckswelt als Mythos

steht, und dann der Bereich der Darstellungsfunktion, die für die anschauliche Welt steht,

erläutert. Als dritter Teil folgen seine Ausführungen zum Bereich der Bedeutungsfunktion,

die für die wissenschaftliche Erkenntnis steht. Diese drei Dimensionen sollen als

6

‚Stufenfolge der Objektivierung‘ oder ‚Objektivitätsstufen‘ seiner ‚Phänomenologie der

Erkenntnis‘ und somit der Stufenfolge der Begriffsbildung dienen. Die Bereiche der

Ausdrucksfunktion und der Darstellungsfunktion stehen in der Begriffstheorie unter dem

Bereich des ‚natürlichen Weltbegriffs‘ und der Bereich der Bedeutungsfunktion unter dem

des wissenschaftlichen Weltbegriffs. Die Objektivitätsstufen der Begriffsbildung verlaufen

hier von der Ausdrucksfunktion über die Darstellungsfunktion zur Bedeutungsfunktion.

Es gibt Kritiker, die Cassirer vorwerfen, dass seine Theorie in PsF großenteils nicht

argumentativ gerechtfertigt ist oder dass man über seine Philosophie letztlich im Unklaren

bleibt.12 Versucht man dennoch eine Konvergenz seines philosophischen Systems zu

finden, muss man den Kerngedanken Cassirers in der Theorie des Begriffs suchen.13 Die

vorliegende Arbeit versucht daher das verwobene Cassirersche Gedankennetz der Begriffe

Funktion, Substanz und Symbol zu entflechten, auch wenn dies nicht ganz gelingen sollte.

Sie macht seine Begriffstheorie, die er in SuF und später im dritten Band der PsF aufstellt,

zum Gegenstand der Untersuchung. Bei der Analyse der Begriffstheorie geht es nicht um

die Analyse einzelner Texte, auch wenn sie nicht selten Verwendung findet, sondern um

die Herausarbeitung des wesentlichen Gedankengangs Cassirers. In dieser Arbeit wird

daher rein induktiv vorangegangen. Es wird der Frage nachgegangen, was der

Funktionsbegriff in seiner Begriffstheorie und somit auch innerhalb seiner

Erkenntnistheorie bedeutet. Darüber hinaus wird versucht, den Symbolbegriff in seiner

Philosophie der symbolischen Formen zu klären.14 Dabei soll auch untersucht werden, in

welcher Beziehung die beiden Begriffe Funktion und Symbol stehen. Die Klärung der

Bedeutung des Funktionsbegriffs und des Symbolbegriffs soll letztlich zum besseren

Verständnis der Cassirerschen Gedankenwelt beitragen. Am Ende der vorliegenden Arbeit

soll sich auch zeigen, ob sich die Kritik, die bisher an Cassirers Begriffstheorie geübt

wurde, wirklich rechtfertigen lässt.

Es gibt verschiedene Interpretationen von Cassirers Philosophie, die sich mit den frühen

erkenntnistheoretischen Werken und seiner PsF beschäftigen. In einigen wird der Frage

nachgegangen, „ob das Aufkommen der Philosophie der symbolischen Formen und die

Hinwendung zu einer umfassenden ›Kulturphilosophie‹ zugleich einen Bruch mit seiner

Erkenntnistheorie und Wissenschaftsphilosophie bedeutet. Erscheint die Erkenntnistheorie

dann nur noch »als etwas Sekundäres« und wird sie der Frage nach dem Verstehen von

12 Vgl. Kaegi (1995), S. 73; vgl. auch Orth (1988), S. 47.13 Vgl. Stätter (1952).14 Man bezeichnet Cassirers Philosophie in Philosophie der symbolischen Formen als Philosophie der

symbolischen Formen.

7

Sinn untergeordnet?“,15 wie zum Beispiel John Michael Krois sich fragt. Demgegenüber

gibt es Autoren, die, wie Massimo Ferrari, einer „durchgehende[n] Linie“ gewahr werden,

die „vom Problem des Begriffs zu dem des Symbols“ führt,16 oder die, wie Wolfgang

Marx, die Philosophie der symbolischen Formen „als eine Erweiterung von Cassirers

Erkenntnistheorie“ ansehen.17

Die vorliegende Arbeit beabsichtigt, eine Antwort auf die Frage zu finden, ob die

Philosophie der symbolischen Formen Cassirers einen Bruch mit seiner Erkenntnistheorie

und Wissenschaftsphilosophie bedeutet oder eine Erweiterung derselben ist; eine Antwort

darauf soll über die Untersuchung der Begriffstheorie in SuF und PsF gefunden werden.

Der Aufbau dieser Arbeit gestaltet sich wie folgt: Im Kapitel 1 wird auf die Hintergründe

von Cassirers Erkenntniskritik eingegangen. Die Untersuchung der Begriffstheorie in SuF,

die im Kapitel 2 folgt, soll dann dazu dienen, im Kapitel 3 ein besseres Verständnis von

der philosophischen Entwicklung Cassirers und dem späteren Symbolbegriff in PsF zu

erlangen. Das Problem des Verhältnisses von Allgemeinem und Besonderem, das in SuF

als Hauptproblem der Begriffstheorie angesehen wird, wird in PsF wieder aufgenommen

und von Cassirer durch die Theorie des Symbolbegriffs aufzulösen versucht. Im Kapitel 4

werden dann zunächst die Ergebnisse der Untersuchung zusammengefasst und im

Anschluss daran sich daraus ergebende Probleme noch weiter vertieft.

15 Ihmig (1997a), S. 18; vgl. Die Einleitung von Krois in Cassirer, STS, S. XVII.16 Ferrari (1988a), S. 124; vgl. Ihmig (1997a), S. 18.17 Ihmig (1997a), S. 18. Ihmig verweist auf Marx (1975), S. 312 f.

8

1. Der Grundgedanke der Erkenntniskritik Cassirers

1.1. Die Erkenntniskritik bei Cassirer in Substanzbegriff und Funktionsbegriff

Cohens Werk Das Prinzip der Infinitesimal-Methode und seine Geschichte (1883) hat auf

die damaligen Mitglieder der Marburger Schule einen so großen Einfluss ausgeübt, dass

diese es „ohne größere Modifikationen zu ihrer eigenen systematischen Grundansicht

gemacht“ haben.18 Cohen entwickelte seine Thesen aus diesem Werk in der Logik der

reinen Erkenntnis (1902) systematisch weiter, so kommt jenem für die Entwicklung des

Cohenschen Systems eine besondere Bedeutung zu.19

In seiner Abhandlung Das Prinzip der Infinitesimal-Methode und seine Geschichte widmet

Cohen sich hauptsächlich der Frage nach der Realität. Realität bedeutet für ihn letztlich,

dass „nicht von dem bewußtseinsmäßigen Stellvertreter der Realität, der Empfindung, als

Korrelat eines Reizes, auszugehen ist, sondern vom wissenschaftlichen Gegenstand, vom

Gegenstand der wissenschaftlichen Erfahrung, wie er in der mathematischen

Naturwissenschaft konstituiert“ wird.20 Daher ist das Ziel seiner Untersuchung die

Rechtmäßigkeit, die Bedingungen der Gültigkeit der Erkenntnis, zu ergründen und mit

Hilfe dieser die Prinzipien der Gegenstandsbezogenheit der Erkenntnis zu suchen.21 Dabei

steht das Verhältnis zwischen Sinnlichkeit und Denken als Korrelation im Vordergrund:

„Es soll das Verhältnis zwischen Sinnlichkeit und Denken als ,Korrelation‘bestimmt werden; die Funktion jedes einzelnen Erkenntnisbestandteils läßt sichnicht ohne diese Verbundenheit denken. Nicht als ,psychologischeGrundbeschaffenheiten des Geistes‘, sondern allein als Bedingungen sollenSinnlichkeit und Denken genommen werden, ‚aus deren Wirksamkeit undGeltung die der wissenschaftlichen Erkenntnis sich deduzieren läßt‘.“22

Cohen ist, wie W. Marx hervorhebt, der Auffassung, dass die isolierte Analyse der

Erkenntnisfaktoren nicht die korrelative Verbundenheit erreicht, „welche die Wissenschaft

konstituiert und hinsichtlich deren ihr logischer Wert überhaupt erst bestimmbar wird“.

Nur das „Zusammenfungieren von Sinnlichkeit und Denken ist als Bedingung der

18 Flach (1968), S. 32.19 Vgl. SuF, S. 130 f. Cassirer betont in SuF, dass „C o h e n s Logik der reinen Erkenntnis [...] den Gedanken

des Ursprungs, auf dem sie sich aufbaut, an den Prinzipien der I n f i n i t e s i ma l r e c h n u n g entwickelt[hat].“; vgl. auch Marx (1977), S. 24.

20 Schulthess (1984), S. 7.21 Vgl. Flach (1968), S. 12.22 Marx (1977), S. 23.

9

Funktionsbestimmung der einzelnen Faktoren anzusetzen, es ist die Bedingung der

Möglichkeit der Bestimmung der Bestimmtheit von Wissenschaft und ihren

Gegenständen“.23

Die Erkenntniskritik ist nach Cohen „nicht schlechthin auf den erkennenden Geist

gerichtet, sondern auf den Inhalt der E rkenn tn i s s “.24 Er will die Erkenntnis „nicht als

eine Art und Weise des Bewusstseins, sondern als ein Fa c tum , welches in der

Wi s se ns cha f t sich vollzogen hat und auf gege benen G rund l agen sich zu

vollziehen fortfährt“ verstehen.25 Die Erkenntnis richtet sich auf den Tatbestand der

Wissenschaft und prüft ihre Geltungswerte sowie ihre Rechtsquellen. Daher will Cohen

anstelle der Erkenntnistheorie den Ausdruck der ‚Erkenntniskritik‘ setzen.26

Er interpretiert Kants Kritik der Vernunft als eine Kritik der Erkenntnis oder der

Wissenschaft: „Die Kritik entdeckt das Reine in der Vernunft, insofern sie die

Bedingungen der Gewissheit entdeckt, auf denen die Erkenntniss als Wissenschaft

beruht.“27 Damit unterscheidet die Erkenntniskritik den Kantischen Idealismus von anderen

Idealismen, und sie bestimmt und verdeutlicht den Gehalt des Transzendentalen. Der

Idealismus überhaupt löst die Dinge in Erscheinungen und Ideen auf; die „Erkenntniskritik

hingegen zerlegt die Wissenschaft auf die V ora us se t zunge n und Gr und lagen , die in

ihren Ge se t ze n und für dieselben angenommen werden.“28 Der erkenntniskritische

Idealismus hat also wissenschaftliche Tatsachen zu seinen Objekten und bildet dank des

Begriffs des Transzendentalen die wissenschaftliche Form des Idealismus:

„Denn das Tr anss c enden ta l e bezieht sich auf die Möglichkeit einerErkenntniss, welcher der Werth a p r i o r i s c h e r oder wissenschaftlicherGeltung zukommt. Die E r kenn tn i s k r i t i k ist somit gleichbedeutend mit dert r a n ss cende n ta l en Logik; denn ihre Aufgabe ist die Entdeckung dersyn the t i s chen Gr undsä t z e oder derjenigen G rund la gen desErkennens, auf welchen die Wi s s ens c ha f t sich aufbaut, und von derenGeltung sie abhängt.“ 29

Cohen macht aber den Unterschied zu Kant deutlich, indem er konstatiert: „Während Kant

selbst aber noch mit psychologischen Vorstellungen und Zumuthungen kämpft, so

ob jec t i v i r en wir in seinem Sinne, in dem Geist und Buchstaben des kritischen Systems

23 Marx (1977), S. 24.24 Cohen (1883), S. 10.25 Cohen (1883), S. 5.26 Vgl. Cohen (1883), S. 6.27 Cohen (1883), S. 6.28 Cohen (1883), S. 6.29 Cohen (1883), S. 7.

10

die V er nun f t in der Wis s ens cha f t .“30

Cassirer übernimmt diesen Terminus Erkenntniskritik von Cohen und der Nebentitel von

SuF, Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik, lässt vermuten, dass

Cassirer anknüpfend an Cohen, die Grundfragen der Erkenntniskritik weiter zu untersuchen

versucht. W. Marx stellt dazu fest: „E. Cassirers ‚Substanzbegriff und Funktionsbegriff‘

kann man als Beleg dafür werten, daß die wesentlichen Einsichten der Cohenschen Logik

als einer Theorie der Wissenschaften unabhängig von der Terminologie der ‚Logik der

reinen Erkenninis‘ formulierbar sind.“31

Cohens Werk Logik der reinen Erkenntnis bildet den ersten Teil seines Systems der

Philosophie.32 In diesem Werk beschäftigt sich Cohen weiter mit dem Begriff der Realität,

der seiner Ansicht nach auf keinen Fall mit der Wirklichkeit gleichgesetzt werden darf.

Denn die Wirklichkeit sei eine Instanz der Empfindung und „de r En t s a t z de r

E mpf indung i s t d i e Vora uss e t z ung be i de r Re a l i t ä t de s Unend l i c h -

k l e inen“.33 Die Realität soll als Erzeugnis des reinen Denkens verstanden werden. Denn

„das Unendlichkleine wird [...] nie als reale, aktual unendlichkleine Größe verstanden, es

hat insofern kein Sein, schon gar nicht ein anschauliches [...], sondern es wird als

realisierendes Element des Denkens, das Erzeugen, Konstruieren ist, in seinem

Geltungswert für die Erkenntnis ausgelegt“.34

Es ergibt sich hieraus die Frage, was reines Denken ist. Diese Frage ziele aber, wie Helmut

Holzhey betont, nicht auf eine Definition und verlange auch nicht eine Klärung des

semantischen Feldes von ‚Denken‘. Die Frage, was Denken ist, ist „Ausdruck der

Reflexion des Denkens“.35 Das Verstehen des ‚Ursprungs‘ Cohens kann eine Antwort auf

diese Frage geben, denn er erklärt, „das Denken selbst ist das Ziel und der Gegenstand

seiner Tätigkeit“,36 und „Denke n i s t D enken de s Ur s pr ungs “.37 Die Erkenntnis

30 Cohen (1883), S. 6; vgl. Marx (1977), S. 23. Marx fasst die entscheidenden Einwände von Cohen gegenKants Theorie in zwei Punkten zusammen: „1. Eine metaphysische Deduktion der Kategorien istentbehrlich; vom Standpunkt seiner Logik aus muß man sogar sagen, daß es eine solche überhaupt nichtgeben kann. 2. Kant hat nicht genügend die Konsequenzen bedacht, die sich aus der Vorschaltung einerselbständigen Anschauungsvoraussetzung für das Denken ergeben. Die Kantische Annahme derZweistämmigkeit der menschlichen Erkenntnis hat zur Folge, daß die Theorie des Denkens bzw. der aufAnwendung hin disponierten Verstandesbegriffe sich auf eine Voraussetzung beziehen muß, für die mansich eine theoretische Entschlüsselung solange nicht denken kann, wie es keine Verbindung, sondern nurdas Nebeneinander der heterogenen Stämme gibt.“

31 Marx (1977), S. 42 f.32 Cohens philosophische Systematik wurde auf vier Teile angelegt. Der zweite Teil Ethik des reinen

Willens erschien im Jahre 1904 und 1912 der dritte Teil Ästhetik des reinen Gefühls. Der vierte Teil‚Psychologie‘ ist nicht in Buchform erschienen.

33 Cohen (1902/1914), S 128. 34 Schulthess (1984), S. 31.35 Vgl. Holzhey (1986), Bd. 1, S. 183.36 Cohen (1902/1914), S. 29. 37 Cohen (1902/1914), S. 36; vgl. Holzhey (1986), Bd. 1, S. 183.

11

beruht nach Cohen einzig und allein auf Denken und dieses Denken „darf keinen Ursprung

haben außerhalb seiner Selbst, wenn anders seine Reinheit uneingeschränkt und ungetrübt

sein muß.“38 Die Ursprünglichkeit des Denkens macht seine Reinheit aus und der

Denkinhalt ist rein, wenn er der Denktätigkeit entspringt. Diese Reinheit des Denkens wird

jedoch dann getrübt, wenn man neben oder vor der Denktätigkeit Anschauung vermutet,

„vor allem wenn eine Empfindungsmaterie als Element oder konstitutive Bedingung des

Denkinhalts angenommen wird“.39 Dies ist ein unreiner, kein wahrhafter Inhalt. Das Reine

ist nicht inhaltlos; es „wird nicht dem Inhalt überhaupt, sondern nur dem nicht aus-

schließlich denkerzeugten Inhalt gegenübergestellt.“40 Diese Reinheit des Denkens hat nach

Cohen einen funktionalen Sinn.41 Denken bedeutet Erzeugen und Denken als Erzeugung ist

die Synthesis der Einheit.42

Karl-Heinz Lembeck weist auch darauf hin, dass Cassirers SuF diesem Grundgedanken

Cohens folgt und ihn weiterentwickelt.43 In seinem umfangreichen Werk Platon in

Marburg behandelt Lembeck ausführlich die Platon-Interpretationen von Cohen und

Natorp. Dabei wird auch deutlich, welchen Stellenwert Platon in der Marburger Schule

hatte und welche Bedeutung ihm dabei zukam. Es ist allgemein bekannt, dass Cohen und

Natorp nicht nur Kant, sondern auch Platon und Leibniz im Sinne des Marburger

Neukantianismus interpretierten. Sie interpretieren nach Lembeck die Platonische Idee als

Funktion,44 wobei Cohen, Lembeck zufolge, die Platonische Idee auf die funktionale Ebene

der zwischen Verstand und Vernunft vermittelnden Urteilskraft reduziere.45 Der statische

Ideenbegriff wird durch den dynamischen Relationsbegriff ersetzt, und die

Substanzvorstellung soll schließlich durch den Funktionsbegriff abgelöst werden. Dieser

Gedanke Cohens ist für Cassirers SuF von Bedeutung. Lembeck weist auch darauf hin,

dass der Titel des Werkes SuF schon in Natorps Platos Ideenlehre nachweisbar ist.46

38 Cohen (1902/1914), S. 13.39 Holzhey (1986), Bd. 1, S. 176.40 Holzhey (1986), Bd. 1, S. 176.41 Vgl. Holzhey (1986), Bd. 1, S. 176.42 Vgl. Cohen (1902/1914), S. 28 f., 53 und 26.43 Lembeck (1994), S. 341: „Cassirer bezeichnet Cohens mathematik-theoretische Analysen aus IM [Das

Prinzip der Infinitesimal-Methode und seine Geschichte] und LrE [Logik der reinen Erkenntnis] in seinereinschlägigen Untersuchung zum Substanzbegriff und Funktionsbegriff als Höhepunkt und markantestenBeleg für die Folgerichtigkeit dieser Entwicklung.“

44 Vgl. Lembeck (1994), besonders S. 36-43, 204 f. und 341.45 Vgl. Lembeck (1994), S. 40.46 Lembeck (1994), S. 217, Lembeck zitiert Natorps Platos Ideenlehre (1903), S. 109: „Die Einheit des

geistigen Blicks, in der das Mannigfaltige der Sinne zusammengeschaut wird, das ist die »eine Idee«, vonder PLATO schwankt, ob er sie ψυχή oder wie anders nennen soll. Man muß sich hierbei erinnern, daßψυχή sehr oft bei PLATO und überhaupt in der philosophischen Sprache der Griechen als Ersatz für dasfehlende Wort eintritt, welches unserm »Bewußtsein« entspräche. Es ist sehr häufig nicht Substanz-,sondern Funktionsbegriff [...]“.

12

Nach Lembeck kann man für den gesamten Duktus des Natorpschen Platon-Verständnisses

als Schlagwort „den Begriff der Einheit, genauer den der ›synthetischen Einheit‹“

hervorheben, „der die Methodenbedeutung der Idee kennzeichnet und ihren

Gesetzescharakter umschreibt“.47 Die ‚synthetische Einheit‘ erörtert Natorp selbst in

seinem nachgelassenen Manuskript mit den Worten:

„Heiße »Synthesis« die Thesis (Setzung), in der eine Mehrheit vorgegebener,abgesehen davon logisch auseinanderliegender Setzungen in Einheit, das heißtlogischer Simultaneität gesetzt wird, so ergibt sich der Aufbau der Erkenntnis,logisch-genetisch betrachtet, als Aufbau immer höherer Synthesen auf anderen,schon vorausgesetzten, mit dem idealen Ziele einer letzten, allumspannendenSynthese, in der erst »die« Erkenntnis »des« Seins vollendet wäre. In solchemAufbau stellt dann der »Gang« der Erkenntnis sich deutlich in Doppelrichtungdar: als Gang der Vereinigung, Vereinheitlichung einerseits, der Vermannig-faltigung, Differenzierung andererseits. Diesen auf seine Gesetze zu bringen,wird die allgemeine Aufgabe der Logik, die sich konzentriert im Problem derKategorien, als der schlechthin ursprünglichen Weisen oder Richtungen ebendieser Vereinheitlichung und wieder Vermannigfaltigung.“48

Anhand dieser synthetischen Einheit der Methode entwickelt Natorp schließlich den

Schlüsselbegriff des ‚transzendentalen Bewusstseins‘, das er bereits im platonischen

Seelenbegriff glaubt vorzufinden. So sieht Natorp die Einheit des Bewusstseins als

Grundfunktion der Erkenntnis an, die in Platons Begriff der Idee enthalten ist.49 Die

Funktion, die dem Begriff der Seele beziehungsweise dem Begriff des Bewusstseins bei

Platon zukommen solle, sei demnach, die Beziehungen der Logoi untereinander auf jeweils

übergeordnete Erkenntnis-Einheiten und zuletzt die ‚gesetzliche‘ Einheit aller

Wechselbezüge überhaupt zu gewährleisten.50 Daher definiere Natorp das Bewusstsein

allgemein durch den Beziehungsbegriff.51 Dieser Gedanke des ‚transzendentalen

Bewusstseins‘ Natorps ist bei Cassirer im letzten Kapitel von SuF Zur Psychologie der

Relationen deutlich sichtbar und spielt später in PsF eine entscheidende Rolle.

Wenn es auf die Frage nach dem alten philosophischen Problem von Form und Materie

47 Lembeck (1994), S. 21648 Holzhey (1986), Bd. 2, S. 90. 49 Vgl. Lembeck (1994), S. 216 f. Lembeck zitiert an dieser Stelle: „Die Begründung der Einheit des

Gegenstandes in der Einheit des Bewußtseins und zwar in der Gestalt des Gesetzes dürfte kaum alsoriginelle Entdeckung Kants bezeichnet werden. Sie ist im Prinzip schon sehr klar enthalten in PlatosBegriff der ›Idee‹.“ (Natorps Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode. Tübingen 1912, S. 206)

50 Vgl. Lembeck (1994), S. 217. Lembeck verweist hier auf Natorps Über Platos Ideenlehre, Berlin, 1914,S. 15.

51 Lembeck (1994), S. 217. Lembeck verweist auf Natorps Philosophie. Ihr Problem und ihre Probleme,Göttingen 1911, S. 81 und 164 f.; Über Platos Ideenlehre, Berlin 1914, S. 27; Allgemeine Psychologienach kritischer Methode, Tübingen 1912, S. 27.

13

ankommt, ist Cassirer im gewissen Sinne doch ein Platoniker. Für ihn scheint weder der

Empirismus noch der Idealimus auf diese Frage eine Antwort geben zu können. Denn der

Empirismus kann nicht die Rolle des Denkens verleugnen und es gibt auch genauso wenig

einen logischen Idealismus, „der versuchen könnte, das ‚reine Denken‘ von der Beziehung

auf die Welt des ‚Faktischen‘ und von der Bindung an sie“ loszulösen (ZER, 27). Die

Platonische Ideenlehre verknüpft Denken und Faktum, aber, so meint Cassirer, „auch für

den Platonischen Idealismus steht der Satz fest, dass es nicht möglich sei zu denken, ohne

aus irgendeiner Wahrnehmung heraus“ (ibd.). Die Funktion des „Logischen in uns“ besteht

aber nicht darin, die Summe der Wahrnehmungen zu ziehen, sondern „sie bewährt sich in

der Unterscheidung und Beurteilung des in der Wahrnehmung Gegebenen. Diese

Unterscheidung macht den eigentlichen Grundcharakter des Denkens [...] aus“ (ibd.).

„In dieser Platonischen Bestimmung des Verhältnisses von Denken undEmpfindung, von Vernunft und Sinnlichkeit, haben wir — wie Cohen betonthat — ,einen der fundamentalen Gedanken in der Entwicklung derErkenntniskritik‘52 vor uns. [...] Die Dialektik der Wahrnehmung ruft die desDenkens zur Beurteilung und zur Entscheidung auf. Überall dort, wo dieWahrnehmungen gleichsam friedlich nebeneinander ruhen, wo keine innereSpannung zwischen ihnen besteht, ruht auch das Denken — erst dort, wo siesich widersprechen, wo sie einander aufzuheben drohen, tritt seingrundlegendes Postulat, seine unbedingte Einheitsforderung hervor undverlangt eine Umbildung, eine Neugestaltung der Erfahrung selbst.“ (ZER, 27f.)

Neben dem Einfluss von Kant ist der Einfluss der Platonischen Ideenlehre von Anfang an

durchgehend in der Cassirerschen Gedankenwelt zu spüren, selbst wenn er auch nicht viel

über Platon geschrieben hat. Cassirers Verständnis der Ideenlehre Platons, wie sehr dieses

auch von dem seiner Lehrer geprägt sein mag, bildet einen Teil des Fundaments seines

Denkens, der ihn vom Funktionsbegriff in SuF bis zu seinem späteren Symbolbegriff in der

PsF begleitet (vgl. ZLS). Cassirer interpretiert die Dialektik Platons als eine nicht nur die

einzelnen Begriffsbestimmungen in ihrem reinen An-Sich erfassende und festhaltende,

sondern mit der Wesensbestimmung zugleich das Verhältnis aufweisen wollende Dialektik.

Ihr Ziel ist das System, die ‚Gemeinschaft‘ der Begriffe, und dieses System aufzustellen ist

die Grund- und Hauptaufgabe, die Platon der Logik stellt.53 Damit hat sich die analytische

Logik der reinen Identität „zu einer synthetischen Logik erweitert, in deren Mittelpunkt die

Frage nach der möglichen Verbindung, der Relation und Korrelation des Verschiedenen

52 Cassirer verweist hier auf Cohen (1871/1918), S. 16 ff.53 Vgl. Cassirer, PdG, S. 83-135.

14

steht“ (ZLS, 206). Versteht man unter diesem Gesichtspunkt die Cassirersche Theorie des

Begriffs, so sollte der Symbolbegriff in PsF als Relationsbegriff verstanden werden (vgl.

ZLS, 207).

Cassirer zitiert und stützt sich in den meisten seiner Werke auf Platon. Im Abschnitt 1.4

soll daher die Platon-Interpretation Cassirers kurz dargestellt werden, wobei sich das

Augenmerk auf die ‚Ideenlehre‘ richtet, die in engem Zusammenhang mit der

Begriffstheorie Cassirers steht. Die Intention der Darstellung der Platon-Interpretation wird

es sein, zu zeigen, inwiefern die Begriffstheorie Cassirers unter dem Einfluss der

‚Ideenlehre‘ Platons steht; es wird jedoch nicht beabsichtigt, die Platon-Interpretation

Cassirers kritisch zu hinterfragen.

Wie zuvor kurz skizziert, lassen sich nach Ihmig die sich aus den Interpretationen der

Marburger Neukantianer ergebenden Umgestaltungen von Kants Philosophie wie folgt

zusammenfassen54:

1. Die Rolle der reinen oder empirischen Anschauung wurde neu bestimmt. Die

Anschauung wurde nicht mehr als eigenständige Erkenntnisquelle akzeptiert, sondern das

reine Denken wurde als fundamental für alle Erkenntnis betrachtet.55 Raum und Zeit galten

nicht mehr als Formen der reinen Anschauung, sondern wurden gleichfalls unter die

Formen des reinen Denkens gerechnet.56 Der Philosophie geht es, „um die Entwicklung

eines ,Systems der logischen Denkfunktionen‘57 [...], das die kategorialen Grund-

bestimmungen der Objekte der Wissenschaften offenlegen sollte“.58

2. Der Gegenstand der Erkenntnis sei kein gegebener, sondern ein dem Denken

‚aufgegebener‘ oder ein vom Denken zu konstruierender. Wenn für Kants Begriff des

Gegenstands das Gegebensein eines Mannigfaltigen in der Anschauung wesentlich war,

ließen die Marburger Neukantianer diese Voraussetzung fallen. Die „,Erzeugung‘ des

Gegenstands wurde als unendliche, prinzipiell nicht abschließbare Aufgabe begriffen,

deren Lösung man sich nur sukzessive nähern könne.“59 Die Methode bei diesem Prozess

nimmt aber bei den drei Vertretern der Marburger Schule Cohen, Natorp und Cassirer

unterschiedliche Gestalten an:

54 Ihmig( 1993a), S. 31 ff.55 Vgl. auch Lembeck (1994), S. 108: „mit der Verabschiedung des Kantischen Gedankens von der

Anschauung als eigener Erkenntnisquelle“.56 Vgl. Ihmig (1993a), S. 31.57 Ihmig verweist hierfür auf Natorps Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften (1910), S. 35

und 49.58 Ihmig (1993a), S. 31.59 Ihmig (1993a), S. 31.

15

„Für Cohen bedeutet sie die Entfaltung der verschiedenen Urteilsarten aus derursprünglichen Einheit des Denkens. Natorp versteht darunter einefortschreitende Entwicklung von ,Synthesen‘ des Denkens, wobei er‚Synthesis‘ charakterisiert als die Methode, das Verschiedene identisch zusetzen und das Identische different [...]. Cassirer schließlich faßt die Methodeals das allgemeinste Verfahren der Reihenbildung überhaupt auf. Einig warensich alle drei darüber, daß in den von ihnen genannten Varianten eineursprüngliche Funktion der Synthesis des Denkens zum Ausdruck gebrachtwird.“60

3. Kants Annahme von ‚Dingen an sich‘ werde übereinstimmend zurückgewiesen.

4. Die ‚synthetische Einheit der Apperzeption‘, die Theorie des Bewusstseins, aus der Kant

versucht hat, eine logische Grundfunktion abzuleiten, „wurde ersetzt durch die Ableitung

derselben aus einem System von Grundsätzen, das die Einheit der wissenschaftlichen

Erfahrung verbürgen sollte“.61 Cohen habe dieser Maxime folgend die Grundsätze der

transzendentalen Analytik in den Mittelpunkt seiner Rezeption der Kantischen Philosophie

gestellt.

5. Kants Kategoriensystem werde von den Neukantianern als ein ‚offenes‘ System

betrachtet, das der Erweiterung und Veränderung fähig sein sollte.

Die Abweichungen Cassirers von seinen Lehrern Cohen und Natorp können mit Ihmig in

folgenden vier Punkten zusammengefasst werden.

1. „Während bei Cohen und Natorp die Lehre vom Urteil den Ausgangspunkt ihrer

Reflexionen über die Methode bildete, stand bei Cassirers Betrachtungen die Lehre vom

Begriff im Vordergrund.“62

2. Cassirer habe in viel stärkerem Maße als Cohen und Natorp auch die neuesten

naturwissenschaftlichen Theorien in seine Überlegungen miteinbezogen.

3. Cassirer hebe den Unterschied zwischen ‚reinen Verstandesbegriffen‘ und den

‚regulativen Prinzipien‘ der Vernunft, denen nach Kant nur subjektive und keine objektive

Bedeutung zukommt, teilweise auf. Während Kant die direkte Art, einem Begriff objektive

Realität zuzuteilen, die Schematisierung eines Begriffs nenne, spreche Cassirer in Bezug

auf die indirekte Art von einer Symbolisierung des Begriffs. Eine solche Symbolisierung

sei nun gleichfalls für die Vernunftideen möglich.

4. Der Symbolbegriff nehme ab 1921/22 eine zentrale Stellung in der Philosophie Cassirers

ein. Er dient einerseits der Vermittelung zwischen Naturwissenschaften und

Geisteswissenschaften, andererseits „ermöglicht er die Anknüpfung an eine Art

60 Ihmig (1993a), S. 31.61 Ihmig (1993a), S. 32.62 Ihmig (1993a), S. 32.

16

‚transzendentaler Deduktion‘, sofern Cassirer eine Ableitung der dem Symbolbegriff

zugrunde liegenden ,Urfunktion der Repräsentation‘ aus der Struktur des Bewußtseins

zumindest andeutet“.63

Cassirers Untersuchung in SuF wurde durch seine Studien zur Philosophie der Mathematik

angeregt. Indem er versuchte, von Seiten der Logik aus einen Zugang zu den

Grundbegriffen der Mathematik zu gewinnen, erwies es sich als notwendig, die

‚Begriffsfunktion selbst‘ näher zu zergliedern und auf ihre Voraussetzungen

zurückzuführen (vgl. SuF, Vorwort, V). Die Begriffstheorie in SuF beschäftigt sich

vornehmlich mit der Begriffsbildung innerhalb der mathematischen Naturwissenschaften.

Dabei ist hervorzuheben, dass Cassirer innerhalb seiner Begriffstheorie den

Begriffsrealismus und dessen psychologische Vorstellung von der anschaulichen Welt

strikt ablehnt.

Der Funktionsbegriff, der im Werk SuF eingeführt wird, ist ein mathematischer Begriff.

Geschichtlich betrachtet geht dieser auf Leibniz zurück: „Leibniz entdeckte 1673 den

mathematischen Funktionsbegriff, also zwei Jahre vor seinen revolutionären Gedanken zur

Infinitesimal-Rechnung.“64 Cassirer weist in der Vorrede des Werkes Leibniz’ System

darauf hin, dass die Frage nach den logischen Grundlagen der Mathematik und Mechanik

auf den philosophischen Ursprung dieser Wissenschaften, wie er bei Descartes und Leibniz

thematisiert wird, zurückgeht (vgl. LS, Vorrede, VII ).

Cassirer betrachtet den Funktionsbegriff bereits bei Descartes in dessen analytischer

Geometrie als leitenden Grundgedanken, wobei die Funktion auf die algebraische Quantität

eingeschränkt ist. Der Funktionsbegriff bedeutet „die gegenseitige Abhängigkeit von

Größen, sofern diese durch eine algebraische Gleichung darstellbar gedacht wird“ (LS,

148). Cassirer hebt hervor, dass sich die Bedeutung dieses Begriffs bei Leibniz ändert,

„indem die Operationen der Algebra sich von Anfang an einem System von Beziehungen

überhaupt einordnen, in welchem erst ihre bedingte Bedeutung sich feststellt“ (ibd.). So

wird das Verhältnis als spezieller Ausdruck für die gegenseitige logische Abhängigkeit

zwischen Inhalten aufgefasst:

„Versteht man daher unter einer »substantiellen« Weltansicht die Auffassung,nach der alles Sein und Geschehen im Grunde auf letzte und starre, absolute»Dinge« sich zurückführt, so ist Leibniz’ Philosophie diesem Standpunkt

63 Ihmig (1993a), S. 33; bezüglich Symbolfunktion und Wahrnehmungsurteil, vgl. 3.5.2.; zum Einfluss derGestaltpsychologie auf Cassirer und dessen Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Psychologie,vgl. Plümacher (1997), (2003) und auch (2004), S. 51-64; vgl. auch Poggi (1995).

64 Schulthess (1981), S. 225.

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unmittelbar entgegengesetzt. Ihre Tendenz, von der sie ausgeht und die von nunab im Fortschritt des Idealismus sich durchsetzt, geht dahin, den älterenSeinsbegriff durch den Funk t i ons begr i f f zu verdrängen“ ( LS, 538 f.)

Und so ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass Cassirer sich in seiner Theorie des

Begriffs an Mathematiker und Wissenschaftler, wie zum Beispiel Hermann von Helmholtz

(1821-1894), Heinrich Hertz (1857-1894), Pierre Duhem (1861-1916), Jules Henri

Poincaré (1854-1912), Felix Klein (1849-1925) und David Hilbert (1862-1943) anlehnt.65

Jedoch muss man in diesem Zusammenhang ganz besonders Felix Kleins

Invariantentheorie im Erlanger Programm66 und David Hilberts ‚Axiomatisierung‘ der

Mathematik hervorheben, die aus dem Bereich der Mathematik den größten Einfluss auf

Cassirers erkenntniskritische Begriffstheorie ausgeübt zu haben scheinen.67

Die Geometrie, die sich seit Euklid nicht viel geändert hatte, erfuhr im 19. Jahrundert, das

als „goldenes Zeitalter der Geometrie“ bezeichnet wird,68 vielfältige Richtungen in ihrer

Entwicklung und erreichte gleichzeitig einen Höhepunkt in ihrer Geschichte. Die

Wichtigkeit der Entdeckung der nichteuklidischen Geometrie und ihr Einfluss auf die

Wissenschaft ist offenkundig und bedarf keiner besonderen Betonung.69 Die Denkweise der

nichteuklidschen Geometrie hat ihre Wirkung nicht nur in der Mathematik und der

Wissenschaft hinterlassen, sondern auch in der Erkenntnistheorie einen Wendepunkt

markiert: „Die nichteuklidische Geometrie ist einer der größten Durchbrüche in der

Geschichte der Mathematik und ein Wendepunkt in der Ideengeschichte überhaupt“.70

Die Begründer der nichteuklidischen Geometrie waren Mathematiker und Denker, die

versuchten, das Parallelenproblem des Beweises von ‚Postulat 5‘ zu lösen,71 und dabei eine

65 Vgl. Seidengart (1995b), S. 135-137.66 Kleins Abhandlung Vergleichende Betrachtungen über neuere geometrische Forschungen erschien zuerst

als Antrittsvorlesung in der philosophischen Fakultät zu Erlangen im Jahre 1872 und wird geläufig dasErlanger Programm genannt. Es wurde 1893 in Mathematische Annalen 43 (1893), S. 63-100 wiederabgedruckt.

67 Ihmig hat diesen Einfluss von Klein und Hilbert ausführlich behandelt, vgl. Ihmig (1996), (1997a) und(1997b).

68 Ihmig (1997a), S. 281.69 Zu den zahlreichen Schriften über die nichteuklidische Geometrie zählen unter anderem Klein

(1871/1873); Bonola (1919)70 Davis/ Hersh (1994), S. 208.71 Mittelstraß (EPW 1995), Bd. 3, S. 49: Das Problem des Beweises von Postulat 5 in Euklids Elementen;

Parallelenaxiom oder Parallelenpostulat sind die heute am meisten verbreiteten Bezeichnungen für dasfolgende Prinzip: „Gefordert soll sein [...], daß, wenn eine Gerade zwei andere Geraden so schneidet, daßdie innen auf derselben Seite entstehenden Winkel zusammen kleiner als zwei Rechte sind, dann die zweiGeraden bei unbeschränkter Verlängerung sich auf der Seite treffen, auf der die Winkel liegen, diezusammen kleiner als zwei Rechte sind.“; vgl. Davis/ Hersh (1994), S. 225: In derÜberlieferungsgeschichte der Elementen wurde dieses Prinzip in der Tradition der lateinischenEuklidausgabe als fünftes unter den Postulaten und in der Tradition der griechischen Ausgabe als elftesunter den Axiomen aufgeführt. Man beachte, dass, obschon das 5. Postulat als Parallelenpostulat bekanntist, das Wort parallel darin nicht vorkommt. Das Wort wird bei Euklid unter Definition 23 entwickelt.

18

neue Geometrie entdeckten. Dabei darf nicht unerwähnt bleiben, dass diese zwar fast

gleichzeitig dasselbe Problem bearbeiteten, dies aber unabhängig von einander taten. Man

nimmt an, dass Carl Friedrich Gauß (1777-1855) der erste war, der die neue Geometrie

‚nichteuklidisch‘ nannte und schon um 1813 „ein klares Bild von einer konsistenten

Geometrie gewann, in welcher Postulat 5 durch seine Negation ersetzt ist“.72 Gauß

untersuchte in den darauf folgenden Jahren die neue Geometrie und entdeckte eine Reihe

ihrer Sätze.

Ein Professor der Jurisprudenz namens Ferdinand Schweikart (1780-1859) und die

ungarischen Bolyais, Vater Wolfgang Bolyai (1775-1856) und Sohn János Bolyai (1802-

1860), Nicolai Ivanovich Lobatschewski (1793-1856) und F. A. Taurinus (1794-1874)

waren die wichtigen Begründer der nichteuklidischen Geometrie. Sie alle hatten durch ihre

Bemühungen um den Beweis von Postulat 5 die gemeinsame Idee, dass eine neue

Geometrie, die zu Euklid konträr ist, logisch möglich ist. Diese neue Geometrie ist

heutzutage unter dem Namen hyperbolische Geometrie oder Lobatschewskische Geometrie

bekannt. Neben ihr gibt es noch eine weitere nichteuklidische Geometrie, die vor allem von

Bernhard Riemann (1826-1866) entwickelt wurde und als Riemannsche oder elliptische

Geometrie bezeichnet wird. Einer der großen Unterschiede zwischen den beiden genannten

Geometrien ist der, dass, wenn in einer Ebene eine Gerade L und ein Punkt P, der nicht auf

L liegt, gegeben ist, es in der Lobatschewskischen Geometrie mindestens zwei Geraden

gibt, die durch P laufen und zu L parallel verlaufen, und in der Riemannschen Geometrie

keine. Mit anderen Worten, in der Riemannschen Geometrie existieren keine parallele

Geraden.73

Neben dieser nichteuklidischen Geometrie gab es auch die in eine andere Richtung

entwickelte projektive Geometrie. Die Mathematiker wurden schon früher durch die

Probleme der ‚Perspektiven‘, die zum Beispiel von Künstlern, wie Leonardo da Vinci

untersucht wurden, zu Überlegungen bezüglich der projektivischen Eigenschaften der

Geometrie angeregt. Das malerische Bild kann als Projektion des Originals auf die

Leinwand betrachtet werden. Obwohl Längen und Winkel notwendigerweise auf der

Leinwand verzerrt sind, kann man die geometrische Struktur des Originals recht gut

erkennen. Das heißt, dass es geometrische Eigenschaften geben muss, die ‚invariant

gegenüber Projektionen‘ sind. Diese Eigenschaften erscheinen im Bilde unverändert und

ermöglichen daher die ‚Identifizierung‘. Die Aufgabe der projektiven Geometrie ist es,

72 Trudeau (1998), S. 185. 73 Vgl. Davis/ Hersh (1994), S. 229.

19

diese Eigenschaften aufzufinden und zu untersuchen.74

Ein systematisches Studium der projektiven Geometrie begann Ende des 18. Jahrhunderts,

als die École Polytechnique in Paris eine neue Periode des mathematischen Fortschritts

einleitete. Den Grundstein legte einer ihrer Schüler, Jean Victor Poncelet (1788-1867), der

in russischer Kriegsgefangenschaft im Jahre 1813 die berühmte Schrift Traité des

Propriétés projectives des figures verfasste.75 Ohne auf die Details in der Entwicklung der

projektiven Geometrie einzugehen,76 gilt es darauf hinzuweisen, dass im 19. Jahrhundert

die projektive Geometrie zu einem der Hauptgegenstände der mathematischen Forschung

wurde.

Wie Kant sich für sein System der Philosophie auf die Euklidische Geometrie und die

Newtonsche Physik stützt,77 so stützt sich Cassirer auf die nichteuklidische Geometrie und

die moderene Physik. Bei Kant heißen Urteile entweder analytisch oder synthetisch. Das

Urteil heißt analytisch, wenn das Prädikat B im Subjektbegriff A enthalten ist, und wenn

das Prädikat B ganz außerhalb des Subjektbegriffs A liegt, heißt es synthetisch.78

Analytische Urteile sind a priori und synthetische Urteile sind a posteriori. Kant lehnt sich,

um die Möglichkeit der Metaphysik als Wissenschaft zu begründen, an mathematische

Urteile als ‚synthetische Urteile a priori‘ an. Er erkennt die mathematischen Begriffe als

konstruktive Begriffe, die sich von aller anderen Erkenntnis unterscheiden. Er betont, dass

das „Wesentliche und Unterscheidende der reinen mathematischen Erkenntnis von aller

andern Erkenntnis a priori ist, dass sie durchaus nicht aus Begriffen, sondern jederzeit

nur durch die Konstruktion der Begriffe [...] vor sich gehen muß.“79

Die Mathematik ist, wie die Geschichte zeigt, nicht mehr die Wissenschaft von Größe und

Zahl, sie erstreckt sich auf „alle Inhalte, in denen vollkommene gesetzliche Bestimmtheit

und stetige deduktive Verknüpfung erreichbar ist“ (KmM, 4). So ist die Mathematik für

Cassirer „die notwendige Vermittlung zwischen den idealen logischen Prinzipien und der

Realität der Natur“ (LS, 123) und dient ihm als Instrument der Forschung, als

Voraussetzung der Entdeckung eines neuen Naturbegriffs. Die Mathematik als Instrument

der Forschung anzusehen ist schon bei Cohen angelegt.80 Dieser sieht dabei Platon „als

74 Vgl. Courant/ Robbins (1992), S. 132.75 Vgl. Courant/ Robbins (1992), S. 132. 1822 erschien die erste Auflage. 76 Einen detailierten Überblick der Entwicklung bietet Ihmig (1997a), S. 281-288.77 Vgl. Cassirer, PN, S. 280.78 Vgl. Kant (W1990), S. 52. KrV, A6 ff./ B10 ff.79 Kant (W1993), S. 132. Prolegomena § 4, A 34.80 Vgl. Holzhey (1986), Bd. 1, S. 153, Fußnote 45. Holzhey verweist auf Cohens Kants Theorie der

Erfahrung (1885) S. 222: „dass die Mathematik lediglich als Instrument der Naturwissenschaft unsangeht“ und S. 239: „dass die Mathematik als Gegenstand der transscendentalen Frage immerhin nur alsdas Instrument der Natur-Erkenntnis zu gelten hat“.

20

Gewährsmann eines methodischen Idealismus, der in der Verknüpfung von Philosophie

und Wissenschaft, hier Mathematik, festgemacht ist.“81

Mit der Entwicklung der Mathematik erfährt analog dazu auch die Logik eine Erneuerung

und Erweiterung ihres Gehaltes.82 Sie wird für Cassirer zu einer allgemeinen ‚Logik der

Relationen‘, „die die verschiedenen möglichen Grundtypen der Beziehung analysiert und

auf ihre formalen Momente zurückführt“ (KmM, 4). In SuF wird diese Logik der Relation

der aristotelischen formalen Logik gegenübergestellt und bezieht sich explizit auf Russells

The Principles of Mathematics (vgl. SuF, 48; KmM, 4). Diese sich eng an Russell

orientierende Logik der Relation in der Bildung der Reihenbegriffe in SuF erfährt später

eine Erweiterung durch den Symbolbegriff. In PsF wird sie zu einer ‚symbolischen

Relation‘, die Cassirer auch als die Relation zwischen Bewusstsein und Gegenstand

bezeichnet.

Cassirers Betrachtungsweise oder Methode in der Erkenntnistheorie in SuF beruht auf den

mathematischen Naturwissenschaften, hierbei besonders auf der Relativitätstheorie und der

Quantentheorie in der modernen Physik (vgl. auch ZER; DuI). In seinen

erkenntnistheoretischen Betrachtungen, in seinen philosophie-historischen oder

wissenschaftshistorischen Betrachtungen geht es nur darum, durch sie neue Perspektiven,

neue oder andere Denkweisen und methodische Lösungen zu gewinnen, und nicht darum,

wie man den Eindruck gewinnen könnte, dass er seine umfangreichen Kenntnisse zur

Schau stellen und sich ihrer frei bedienen will.

Die Relativitätstheorie zeigt für Cassirer auch, dass der Physiker nicht das gemessene

Objekt selbst, sondern die besonderen Bedingungen der Messung ins Auge zu fassen hat.

Bei jeder objektiven Messung muss ein bestimmter subjektiver ‚Index‘ hinzugefügt

werden, der die besonderen Bedingungen der Messung kenntlich machen kann. Jede

Wissenschaft erhält nach Cassirer ihren Gegenstand dadurch, dass sie ihn aus dem

Gegebenen durch bestimmte Formbegriffe ‚heraushebt‘. Der Gegenstand der verschiedenen

Wissenschaften kann erst durch den jeweiligen Gesichtspunkt der Erkenntnis bestimmt

sein: „Je nach dem Wechsel dieses ideellen Gesichtspunktes entstehen für das Denken

verschiedene Klassen und verschiedene Systeme von Objekten“ (ZER, 13). Cassirer betont

aber auch die Differenz des Standpunktes innerhalb der Naturwissenschaft, genauer gesagt,

81 Holzhey (1986), Bd. 1, S. 148 f.; zu Platon und Mathematik vgl. Cohen: Platons Ideenlehre und dieMathematik, 1878; vgl. auch Cohen (1902/1914).

82 Vgl. KmM, S. 4; vgl. auch Irvine (2003), p. 9: „Through Frege and others late in the nineteenth century,mathematics helped transform logic from a merely formal discipline to a mathematical one as well,making available to it the resources of contemporary mathematics. In turn, logic opened up new avenuesof investigation concerning reasoning in mathematics [...]“.

21

zwischen dem Physiker beim Experiment und der Erkenntnistheorie.

Der Standpunkt der Physik und das physikalische Gegenstandskriterium kann durch die

Aussage des Physikers, dass „alles, was man messen kann, auch existiere“ (ZER, 14),

verdeutlicht werden. Vom Standpunkt der Erkenntniskritik aus stellt sich aber die

Aufforderung, die grundlegenden Bedingungen dieser Meßbarkeit selbst aufzudecken und

in systematischer Vollständigkeit zu entwickeln. Selbst die einfachste Messung muss sich

auf gewisse theoretische Voraussetzungen, zum Beispiel ‚Prinzipien‘, ‚Hypothesen‘ oder

‚Axiome‘ stützen, die sie als Postulate des Denkens an diese Welt heranbringen muss

(ibd.).

Die Wirklichkeit des Physikers steht also als ein Vermitteltes gegenüber der Wirklichkeit

der Wahrnehmung und ist dann ein Inbegriff der abstrakten Gedanken, die als Ausdruck für

bestimmte funktionale Zuordnungen und Abhängigkeiten der Erscheinungen dienen:

„Der beschränkte Umkreis von Tatsachen, der uns sinnlich allein zugänglichist, weitet sich vor dem geistigen Blick zum naturgesetzlichen Zusammenhangder Phänomene überhaupt. Die unmittelbare Anzeige des Augenblicks wirdnach allen Richtungen hin überschritten; an ihre Stelle tritt der Gedanke einerallgemeingültigen Ordnung, die im Kleinsten wie im Größten gleichmäßigGeltung besitzt und die sich daher auch von jedem Einzelpunkte aus wiederumrekonstruieren lassen muß. Erst vermöge dieser Bereicherung seinesunmittelbaren Gehalts wird der Inhalt der Wahrnehmung zum Inhalt der Physikund damit zum ,objektiv wirklichen‘ Inhalt.“ (SuF, 372 f.)

Wie bereits erwähnt, steht die kritische Philosophie Cassirers in ihrem theoretischen

System mit der Mathematik und mit den mathematischen Naturwissenschaften eng

zusammen und sucht in diesen die erkenntniskritische Begründung, wobei die

Abbildtheorie, wie zum Beispiel eine Abbildung der empirisch-anschaulichen

Wirklichkeit, strikt abgelehnt wird:

„Was die neue Physik uns gelehrt hat, ist die Tatsache, dass jener Wechsel des‚Standpunkts‘, den wir immer dann vollziehen müssen, wenn wir von einerSinn-Dimension zu einer anderen fortgehen, wenn wir die ,Welt‘ derNaturwissenschaft mit der der Ethik, der Kunst u.s.f. vertauschen, nicht aufdiesen Übergang allein beschränkt ist. Die Mannigfaltigkeit der ,Perspektiven‘,die sich hier vor uns auftut, hat schon im naturwissenschaftlichen Gebiet selbstihr methodisches Gegenbild. Die moderne Physik hat die Hoffnung aufgebenmüssen, mit einem festbestimmten System von Symbolen das Ganze desNaturgeschehens erschöpfend darzustellen. Sie sieht sich vor die Not-wendigkeit gestellt, verschiedene Arten von Symbolen, von schematischen

22

»Erklärungen« auf dasselbe Geschehen anzuwenden; sie muss ein und dasselbeSein als ,Partikel‘ und als ,Welle‘ beschreiben und darf sich von diesemGebrauch nicht dadurch abschrecken lassen, dass die anschaulicheVereinigung der beiden Bilder sich als unmöglich erweist.“ (DuI, 265)

Diese Ansicht Cassirers trägt auch zum Verständnis seines Symbolgedankens in PsF bei,

auf den im Rahmen der Analyse des Symbolbegriffs in Kapitel 3 eingegangen wird.

1.2. Cohens Substanzbegriff

Cohens Auffassung des Substanzbegriffs ist für Cassirers Substanzbegriff in SuF und PsF

von besonderer Bedeutung und soll daher in diesem Abschnitt eingehend betrachtet

werden.

Der Gegenstand der Erkenntnis bedeutet für die Marburger Neukantianer nicht etwas

Feststehendes, an sich Gegebenes: „nicht am Himmel sind Sterne gegeben , sondern in

der Wissenschaft der Astronomie bezeichnen wir diejenigen Gegenstände als gegebene,

welche wir von, wenngleich ernstlich gemeinten, Erzeugungen und Bearbeitungen des

Denkens als in der Sinnlichkeit gegründet unterscheiden“.83 Aber das heißt nicht, dass

Sinnlichkeit und Denken als heterogene Stücke, wie Sinnlichkeit und Verstand bei Kant,

miteinander in Verbindung gebracht werden sollen, sie sollen vielmehr ein homogenes

Ganzes bilden. Beide sind Möglichkeitsbedingungen wissenschaftlicher Erfahrung, und

man betrachtet diese Möglichkeitsbedingungen als ihre Funktion, nur so können sie, wie

W. Marx es ausdrückt, transzendentallogisch betrachtet werden.84 In diesem

Zusammenhang ist die (sinnliche) Anschauung keineswegs ein „denkfremder Faktor“,85 der

dem Denken gegenüber- und entgegensteht. Sie ist auch „Denken, nur nicht blosses

Gesetzesdenken, sondern volles Gegenstandsdenken“,86 wie Natorp es treffend formuliert.

Damit unterscheidet sich die Rolle der Anschauung in der Marbuger Schule von der bei

Kant.

Für Cohen ist es nicht konsequent genug, dass Kant den Ausgangspunkt für die

mathematische Anschauung, Raum und Zeit, in der Realität des Gegenstandes sucht. Raum

und Zeit fundieren bei Kant bloße Relationen zwischen Gegenständen, und das heißt für

83 Cohen (1883), S. 127.84 Marx (1977), S. 25.85 Natorp (1912), S. 204; vgl. auch Marx (1977), S. 25.86 Natorp (1912), S. 204.

23

Cohen aber, sie sind nicht „das Etwas überhaupt, das in Relation steht und Realitätsgeltung

beansprucht“. Er ist daher der Ansicht, dass der transzendentale Ausgangspunkt nicht in

der ‚transzendentalen Ästhetik‘, sondern in der ‚Analytik der Grundsätze‘ gesucht werden

soll, da die Grundsätze „die Bedingungen objektiver Realität (Gültigkeit) formulieren“.87

Das Urteil der Substanz ist die erste Urteilsart der dritten Urteilsklasse, der Urteile der

mathematischen Naturwissenschaft, in Cohens Logik der reinen Erkenntnis. Bei den

Urteilen der mathematischen Naturwissenschaft geht es um die Mechanik und die sich ihr

angliedernde Naturwissenschaft.88 Cohens Urteilssystem erinnert uns zwar an Kants

Urteilstafel und Kategorientafel, aber weil er, wie erwähnt, von der ‚Analytik der

Grundsätze‘ bei Kant ausgeht, stützt er sich auf die Tafel der Grundsätze, die von Kant als

„Regeln des objektiven Gebrauchs“ der Tafel der Kategorien bezeichnet wird.89 Daraus

ergibt sich, dass die dritte Urteilsklasse, die Urteile der mathematischen Naturwissenschaft,

dem dritten Grundsatz Kants, den Analogien der Erfahrung entspricht. Als Leser hat man

Schwierigkeiten Cohen zu folgen und das hängt, abgesehen davon, dass man den

Beweisgang vermisst, teilweise auch damit zusammen, dass man die Termini, die Cohen

verwendet, genau verstehen muss. So kann man die Urteile in der Logik der reinen

Erkenntnis nach Holzhey als „in sich selbst bestimmte Erkenntnisprinzipien“ verstehen.90

Die Kategorie ist für Cohen das Element der reinen Erkenntnis, sie ist Ausdruck für den

Grundbegriff und Hinweis auf die Grundformen des Urteils. Kategorien sind „die

Grundformen, die Grundrichtungen, die Grundzüge, in denen das Urteil sich vollzieht“.91

Cohen macht aber keine eindeutige Zuordnung von Urteilen und Kategorien, weil man die

„K or r es pondenz j e e i ne r Ka t egor i e mi t j e e ine r Ur t e i l s a r t “ aufgeben

muss92:

„Indem wir also an dem Verhältnis von Kategorie und Urteil festhalten,nehmen wir keine Scheidung unter ihnen dergestalt an, daß nur die Reihe unddie Gliederung der einen, sei es die der Urteile oder die der Kategorien, zum

87 Schulthess (1984), S. 8.88 Vgl. Cohen (1902/1914), S. 77 f.; das Urteilssystem Cohens besteht aus vier Urteilsklassen: 1. Die Urteile

der Denkgesetze, 2. Die Urteile der Mathematik, 3. Die Urteile der mathematischen Naturwissenschaft, 4.Die Urteile der Methodik. Die Urteilsarten der ersten Klasse sind: das Urteil des Ursprungs, das Urteil derIdentität, das Urteil des Widerspruchs; die der zweiten Klasse: das Urteil der Realität, das Urteil derMehrheit, das Urteil der Allheit; die der dritten Klasse: das Urteil der Substanz, das Urteil des Gesetzesund das Urteil des Begriffs; die der vierten Klasse: das Urteil der Möglichkeit, das Urteil der Wirklichkeitund das Urteil der Notwendigkeit.

89 Vgl. Kant (W1990), S. 203. KrV, A 161/ B 200. Die Tafel der Grundsätze: 1. Axiome der Anschauung, 2.Antizipationen der Wahrnehmung, 3. Analogien der Erfahrung, 4. Postulate des empirischen Denkensüberhaupt.

90 Holzhey (1986), Bd. 1, S. 93. 91 Cohen (1902/1914), S. 47.92 Cohen (1902/1914), S. 73.

24

Leitfaden für die andere werden müßte; sondern wi r ne hme n e inedur chgäng ige Kor r e l a t i on zwi sc hen i hnen an . Demnach kann nichtnur eine Urteilsart eine Mehrheit von Kategorien enthalten; sondern auch eineKategorie kann zugleich in mehreren Urteilsarten enthalten sein. DieVerzweigung und Verästelung des Motivs erweitert zugleich seine Wurzelung.So fließend müssen den Kategorien gegenüber die Grenzen der Urteilsartengedacht werden, ohne daß sie deshalb ihre eigene Gliederung verlieren dürfen.Die Diskretion zwischen Kategorie und Urteil ist wechselseitige. Die Kategorieist das Ziel des Urteils, und das Urteil ist der Weg der Kategorie.“93

Daher lassen sich mehrere Kategorien aus einer Urteilsart ableiten und eine Kategorie kann

in mehreren Urteilsarten vertreten sein. Somit können die Kategorien ‚Bewegung‘,

‚Erhaltung‘ und ‚Substanz‘ unter dem Urteil der Substanz stehen.

Die Substanz wird allgemein als das Sein bezeichnet, aber sie nimmt nach Cohen auf die

Bewegung Rücksicht. Für ihn begeht Aristoteles den Fehler, dass er die Substanz als erste

Kategorie — in ontologischer Anwendung — seiner Kategorientafel aufstellt und damit

das Einzelding zur Substanz macht.94 Der alten und der modernen Substanz fehlt der Wert

und die Kraft des ‚Ursprungs‘, daher konnte sie die Probleme des Seins nicht bewältigen.

Die Geschichte der mathematischen Naturwissenschaft hat gezeigt, dass in ihrem

Mittelpunkt stets der Begriff der Substanz stand. Cohens Ansicht nach durfte der Substanz

der ‚Ursprung‘ und die ‚Realität‘ nicht weiter fehlen (vgl. 1.1). Denn die „Bedeutung der

Realität konnte vielleicht durch die des Ursprungs klar und sichergestellt werden, und

dadurch das Problem der Substanz dem Fortschritt der Wissenschaft gemäß zu neuen

Formulierungen und neuen Lösungen reifen“.95

Die Natur soll nicht als ein bestehendes Ding gedacht werden, sie soll in Vorgängen

aufgehoben werden. Sie besteht in Veränderungen, was zur Folge hat, dass die Substanz in

die Relation, in die Relativität der Vorgänge eingeht. Die Veränderung bildet das

methodische Mittel der Mathematik und durch Veränderung wird die Mathematik zur

mathematischen Naturwissenschaft. Darum will Cohen die Substantialität durch den

Begriff Bewegung erklären. Die Substanz ist die Voraussetzung für die Veränderung, die

Grundlage für die Verhältnisse, die in Proportion (Relation) und Gleichung gebildet

werden, und so ist sie auch die Grundlage für das Verhältnis von Zeit und Raum.

Der Leitgedanke Cohens im Urteil der Substanz ist die Korrelation von Erhaltung und

Bewegung. Raum und Zeit sind feste Beziehungsgrundlagen, um in ihnen die Korrelation

von Erhaltung und Bewegung darzustellen. Cohen vertritt auch Kants Ansicht der Relation

93 Cohen (1902/1914), S. 52: vgl. auch Holzhey (1986), Bd. 1, S. 99. 94 Vgl. Cohen (1902/1914), S. 248. 95 Cohen (1902/1914), S. 211.

25

der Substanz, wobei er bei diesem das kategorische Urteil hervorhebt: „Dieser ersten

Urteilsart der Relation gab Kant die Substanz zur Kategorie.“96 Damit wurde, so Cohen,

eine Art des Urteils als das Urteil der Aussage, das Urteil des Satzes ausgesondert.

Die Korrelaton zwischen Bewegung und Erhaltung, die seinen Substanzbegriff ausmacht,

erklärt Cohen wie folgt. Unter Bewegung wird der Terminus verstanden, der sämtliche

Probleme der mathematischen Naturwissenschaft umfasst und sie alle vereinigt. So ist die

mathematische Naturwissenschaft die Wissenschaft der Bewegung geworden. Die

Bewegung als Kategorie umfasst demnach alle Methoden und bezeichnet zugleich die

Einheit aller Methoden: „Die Bewegung bedeutet nicht allein etwas an und in der Zeit; s i e

s e t z t z ug l e i ch de n Ra um vo r aus .“97

Die Zeit ist durch die Antizipation (Zukunft) und die korrelative Retrospektive

(Vergangenheit) bestimmt. Die Gegenwart ist ein Moment des Raumes, sie bildet einen

relativen, idealen Durchgangspunkt, aber kein selbständiges Glied der Korrelation:

„Gegenwart ist die Festhaltung dessen, was ohne sie in Vergangenheitversinken müßte. Diese Festhaltung vollzieht das Be i sammen , zunächst dasZusammen des Raumes. Auf dem Grunde dieses Beisammen bildet sich eineneue Korrelation zwischen A1 und A2.“98

Die Gegenwart und das Beisammen sind von den beiden Gesichtspunkten der Zeit und des

Raumes aus gesehen zwei Ausdrücke für denselben Inhalt.

Das Beisammen schließt die Bewegungen aus, daher muss das Beisammen des Raumes

aufgelöst werden, wenn die Bewegung entstehen soll. Die Bewegung löst das Beisammen

des Raumes auf. Die Auflösung des Beisammen, als die Auflösung des Raumes, geht in die

Zeit zurück, und diese Auflösung von Raum in Zeit ist die Vollziehung des Verhältnisses

zwischen Zeit und Raum. Ein wahrhaftes Verhältnis vollzieht sich in dieser Auflösung.

Der Raum bildet dann kein fixes Bild mehr, sondern er wird zum „Projektionsfeld“: Er

wird „zum Schauplatz für die Veränderungen, welche in methodischen Operationen an und

auf ihm zur Vollziehung kommen“.99 Hierbei wird aber nur das fixierte Raumgebilde

aufgelöst und der Raum selbst bleibt als Projektionsfeld erhalten. Diese Erhaltung des

Raumes lässt „den inneren Zusammenhang der Bewegung mit dem Leitgedanken der

96 Cohen (1902/1914), S. 217; vgl. Kant (W1990), S. 111, 118 f. Kants ‚kategorische Urteil‘ steht in derUrteilstafel unter ‚Relation‘ und ‚Inhärenz und Subsistenz‘ (substantia et accidens) steht in der Tafel derKategorien als erste Urteilsart der ‚Relation‘.

97 Cohen (1902/1914), S. 229.98 Cohen (1902/1914), S. 228.99 Cohen (1902/1914), S. 231.

26

Substanz wieder hervortreten“.100

Um den Begriff Erhaltung zu erklären, führt Cohen zunächst die Koordinaten-Theorie ein:

„Im Ausdruck der Koordinaten liegt die Relation, als Korrelation. Und dieBewegung ist es, durch welche diese Korrelation ermittelt wird; die Bewegungdes Punktes auf einer Axe hat die entsprechende Bewegung auf der andern Axezur notwendigen Folge. So scheinen die Koordinaten nur ein Mittel derVeranschaulichung zu sein, um die Bewegung kenntlich zu machen, welche einPunkt macht, indem er eine Kurve beschreibt; indessen liegt ihnen eineV or aus se t zung zugrunde, welche ihren Zusammenhang mit derdynamischen Bewegung erkennbar macht. [...] D ie Koor d ina t en- A xenb i lde n da he r e i ne w ich t ige V er t re t ung des Ge dankens de rSubs t anz ; des Seins für die Bewegung.“101

Auf die Erhaltung selbst geht Cohen aber nicht im Detail ein, er stellt sie lediglich der

Bewegung gegenüber: Die Bewegung löst das Beisammen, die feste Verbindung der

Punkte, auf, und das heißt, sie lässt im Raum den festesten Halt, der seine Kraft nur aus der

korrelativen Substanz schöpft, entstehen. Sie ist die umfassende Voraussetzung des Seins

für alle Erscheinungsweisen. Somit betätigt sich die Kategorie der Substanz „als die

Kategorie der Erhaltung in ihrer Korrelation zur Bewegung.“102

Bewegung löst also, fasst man diese Auffassung Cohens kurz zusammen, das Beisammen

auf, und sie löst den Raum in Zeit auf. Erhaltung ist ein selbständiges Element und auf den

Raum übertragbar. Sie bildet das Gegengewicht zur Auflösung des Raumes in die Zeit, und

die Koordinaten-Axen sichern die Erhaltung. Man muss die korrelative Bedeutung der

Substanz an der Immanenz der Erhaltung in der Bewegung erkennen. Die Erhaltung ist die

Substanz, aber sie ist nicht absolut, sondern sie ist das Korrelat der Bewegung. Die

Bewegung und die Erhaltung sollen sich auch vereinigen, und die Erhaltung als Kategorie

ist mit der Bewegung vereinbar und ihr korrelativ. In dieser ‚rein logischen Vereinigung‘

bestehe der Inhalt, also der Inhalt des Gegenstands.

Veränderung, Bewegung und Auflösung sind nach Cohen Begriffe, die zu der Kategorie

des Ursprungs gerechnet werden müssen, eine Forderung auf die es in seinem

Erkenntnisprinzip eigentlich ankommt. So meint er, „B ew egung muß Er zeugung

we rden“,103 und das ist die Vereinbarung, die der Kategorie der Bewegung aufgegeben

ist. Man muss auch in der Substanz die Vereinbarung mit der Kategorie des Ursprungs ins

100 Cohen (1902/1914), S. 232.101 Cohen (1902/1914), S. 233.102 Cohen (1902/1914), S. 234.103 Cohen (1902/1914), S. 237.

27

Reine bringen. Bei der Auflösung des Beisammen ist vorgesehen, dass „die Erzeugung des

Ursprungs obwalte, und in der Erzeugung von Realitäten sich bewähre. Somit ist die

Herrschaft der Kontinuität gesichert“,104 und mit ihr auch die Grundlage der Erhaltung.

So ist die Substanz bei Cohen das Korrelat der Bewegung und Erhaltung, und diese

Auffassung des Substanzbegriffs begründet sich im Begriff der Energie der Mechanik:

„Nicht auf das Sein allein bezieht sich die Erhaltung. Wir haben ja erkannt, daßes ein solches absolutes Sein nicht gibt. Die Substanz ist das Sein derBewegung. Aber auch auf die Bewegung allein darf die Erhaltung nichtbezogen werden. Diese Durchdringung von Sein und Veränderung hat zu einerNüanzierung im Begriffe der Bewegung geführt, [...]. Es läßt sich nun aberverstehen, daß dieselbe Rücksicht auch dem Begriffe der Substanz sichzugewandt hat. Und die Terminologie wird um so gelungener erscheinenmüssen, wenn in ihr beide Rücksichten zugleich befriedigt sind. Diese doppelteTendenz vertritt der moderne Begriff der Ene r g i e .“105

Der Versuch, die Substanz als Korrelat der Bewegung und Erhaltung zu erklären, liegt

abseits der Wege der traditionellen Logik, die die Substanz mit ‚Identitätslogik‘ zu erklären

versucht. So wurde zum Beispiel bei den Eleaten Sein und Denken für identisch gehalten,

und bei Aristoteles wurde die Substanz zum ontologischen ‚Dingbegriff‘.

Auch Natorp erklärt, was die Substanz ist, indem er den Aristotelischen

Gegenstandsbegriff kritisiert.106 Aristoteles schließe vom logischen Bedürfnis der

Erkenntnis auf eine absolut logische Beschaffenheit des Gegenstands, nämlich des

gegebenen Gegenstands unserer empirischen Erkenntnis. Natorp kritisiert noch schärfer,

dass es für Aristoteles sogar keiner Schlussfolgerung bedarf, „weil er von Anfang an das

Denken vom Sein schlechthin abhängig denkt, setzt sich ihm die Aussage, die vom Denken

zunächst gemeint und richtig war, selbstredend und ohne jedes Bedürfnis einer weiteren

Begründung um in eine Aussage über das Sein, das gegebene Sein der Erfahrungs-

objekte“.107 Natorp ist der Ansicht, dass der Substanzsatz ein synthetischer, nicht aber

analytischer Satz ist: er bedeutet

„ein Gesetz des V er fah r ens , den Gegenstand in der Erfahrung e r s tau f zubaue n , das Gesetz eines P r oze ss e s der Erkenntnis, der in der Thatein une nd l i c he r , a b sc h luß l o se r ist. Gegenstand ist das, was wir als eines,identisches s e t ze n ; der Gegenstand als Substanz: was wir als identischen

104 Cohen (1902/1914), S. 238.105 Cohen (1902/1914), S. 288.106 Natorp (1903), S. 387 f.107 Natorp (1903), S. 387.

28

Bezugspunkt unsrer Aussagen, mit jederzeit nur relativer, nicht absoluterGültigkeit ansetzen. ARISTOTELES dagegen setzt zuversichtlich voraus, daß derGegenstand gegeben ist. [...] Allerdings: was notwendig für unsre Erkenntnis,das gilt eben damit für den Gegenstand als Ge gens t and uns r e rEr kenn tn i s . Das heißt aber nicht, daß der Gegenstand an sich, inabschließender Bestimmtheit, so sein muß, wie unsre Erkenntnis ihn setzt.Sondern, er »ist« so, das kann nur heißen: er ist für uns, auf der je erreichtenStufe, unter den jeweiligen Voraussetzungen unsrer Erkenntnis, so zubestimmen, er bleibt aber dabei, und zwar ohne Ende, weiter bestimmbar.“108

Natorp übt jedoch auch Kritik an Cohens Substanzbegriff, die sich in einem

nachgelassenen Manuskript findet.109 Sie lässt sich in drei Punkten zusammenfassen: 1.

Cohen vertrete die Relativierung der Substanz „zur bloßen Bestimmungsgrundlage für die

Veränderung, welch letztere rein aus den methodischen Voraussetzungen der Erkenntnis,

d.h. rein mathematisch darzustellen ist.“110 2. Es wird auch nicht deutlich „was und welcher

Art das sich Erhaltende sein soll“.111 3. Die Bewegung als Auflösung des Raumes in die

Zeit ist für Natorp nicht deutlich geworden: der Raum wird „nicht aufgelöst, er bleibt.

Bewegung ist nicht bloße Zuordnung von Raumpunkten zu Zeitpunkten sondern

Zuordnung eines und desselben, wie immer zu bestimmenden x für eine jede Zeitstelle zu

einer bestimmten Raumstelle und zwar in stetigem Übergang. Was dies x sei, was in der

Bewegung von Stelle zu Stelle des Raumes sich in der Zeit übertrage, das erst ist die Frage

der Substanz.“112 Man kann die Materie ganz in Energie auflösen, als das Bewegliche im

Raum. Sie ist aber als Substrat der Veränderungen in der Natur nicht entbehrlich.

Die Ausführungen zur Theorie des Begriffs im Kapitel 2 werden zeigen, dass die

angeführte Einsicht Cohens und auch die Natorps für Cassirers eigenen Substanzbegriff

von großer Bedeutung sind.

108 Natorp (1903), S. 388.109 Vgl. Holzhey (1986), Bd. 2, S. 5-35 und 56-58.110 Holzhey (1986), Bd. 2, S. 56.111 Holzhey (1986), Bd. 2, S. 57.112 Holzhey (1986), Bd. 2, S. 58.

29

1.3. Die Einheit des Bewusstseins bei Cohen und Cassirer

1.3.1. Cohens Einheit des Bewusstseins

Versucht man Cassirers Theorie des Begriffs zu verstehen, stößt man immer wieder auf das

Problem des Bewusstseins des Erkennenden. Dieses Bewusstsein des Erkennenden wird

von Cassirer als Voraussetzung seiner Begriffstheorie und Erkenntnistheorie für so

selbstverständlich erachtet, dass er innerhalb seiner Begriffstheorie keine näheren Angaben

dazu macht. In SuF spricht er von der „Einheit des Bewußtseins“ (SuF, 436), die man im

Sinne von Cohen verstehen sollte.

Cohen selbst setzt sich in seiner Schrift Logik der reinen Erkenntnis kritisch mit der

Einheit des Bewusstseins bei Kant auseinander. Er ist der Ansicht, dass die Einheit des

Bewusstseins bei Kant, obschon dieser sie „als Grundlage und als Einheit der Erkenntnisse

in den Mittelpunkt seiner systematischen Terminologie stellte“, nicht im Zentrum seines

philosophischen Systems und auch nicht im Mittelpunkt der Kritik der reinen Vernunft

steht; „denn sie bezieht sich nicht auf die Probleme der Dialektik. Und sie bezieht sich

auch positiv weder auf die Ethik, noch auf die Ästhetik.“113 Dies sei nach Cohen ein

scheinbarer Fehler in der Terminologie Kants, der jedoch ein Vorzug der Kantischen

Wahrheit geworden sei:

„Denn die Einheit des Bewußtseins beruhte nunmehr strengstens in denGrundlagen derjenigen Erkenntnis, in denen sie sich präzis betätigte; in denensie sich in dem sachlichen Wert von Grundsätzen entfaltete. D ie E inhe i t desBewuß t se in s de f i n i e r t e s i c h a l s d i e E inhe i t desw i s s ens c ha f t l i c hen Bewuß t se in s . “ 1 1 4

Demgegenüber versteht Cohen unter Bewusstsein nicht allein das wissenschaftliche

Bewusstsein, sondern er ist davon überzeugt, dass sich das Bewusstsein auch auf die

Sittlichkeit und die Kunst erstreckt. Das Problem der Einheit des Bewusstseins ist deshalb

als Einheit des Kulturbewusstseins zu verstehen und damit verbietet sich eine rein

psychologische Auffassung des Bewusstseins. Er ist aber der Ansicht, dass man die

Unterschiede der drei Gebiete, also Wissenschaft, Sittlichkeit und Kunst, des Bewusstseins

nicht verwischen soll. Man soll den Wert der Psychologie nicht innerhalb der Psychologie

selbst suchen, sondern in dem Problem der Einheit des Kulturbewusstseins, „welches sie

113 Cohen (1902/1914), S. 16.114 Cohen (1902/1914), S. 16.

30

allein im Gesamtgebiete der Philosophie zu verwalten hat“. Somit gehöre sie zum System

der Philosophie:

„D ie s es In t e re s s e an de r E i nhe i t de s K u l t u r bew uß t s e i n s mußa ls e i n sys t e mat i sc hes In t e re s se de r P h i l o s oph ie e r kann twer den . Das System der Philosophie kommt nicht ins Gleichgewicht, wennes nicht dieses Problem einer wahrhaften Einheit des Bewußtseins bewältigthat.“ 115

Cassirer folgt dieser Ansicht Cohens und unterscheidet das Bewusstsein in das

erkenntniskritische Bewusstsein, das Erfahrungsbewusstsein und das empirisch-

wissenschaftliche Bewusstsein, je nachdem mit welchem Gegenstand das Bewusstsein

gerade zu tun hat (vgl. PsF I, 36-41; 3.2). Dies bildet die Voraussetzung für seine

Erkenntnistheorie und Begriffstheorie.

Cassirers Werken merkt man sehr deutlich an, dass in ihnen immer wieder auf Cohens

Kant-Interpretation zurückgegriffen wird. Es wird sogar behauptet, dass Cohen der einzige

war, der für Cassirers Gedankenwelt überhaupt eine große Rolle gespielt hat.116

Hervorgehoben werden kann in diesem Zusammenhang Cassirers Aufsatz Hermann Cohen

und die Erneuerung der Kantischen Philosophie, da die Analyse desselbigen den Einfluss

der transzendentale Methode Cohens auf Cassirer verdeutlicht.

Cassirer hält in diesem Aufsatz fest, dass die transzendentale Methode dazu führt, „das

Bewußtsein nicht als einen Teil der Natur, sondern als das Insgesamt jener apriorischen

Grundsätze, die die Möglichkeitsbedingungen der Erkenntnis der Gegenstände darstellen,

aufzufassen“.117 Er betont auch, das Transzendentale heißt nach Kant diejenige

Betrachtungsweise, „die nicht sowohl von den Gegenständen als von unserer Erkenntnisart

von Gegenständen überhaupt ihren Ausgang nimmt“ (HC, 255). Daher meint er, es sollte

vor der Frage nach dem Sein des Objekts die Frage nach der Erkenntnisart beantwortet

sein. Denn die Frage nach dem Sein des Objekts allein bleibt im transzendentalen Sinne

unbestimmt und unlösbar. Diese Erkenntnisart bedeutet, dass sie ihren Ausgang nicht vom

Objekt zum Subjekt, sondern umgekehrt vom Subjekt zum Objekt nimmt. Die

eigentümliche Wendung von Cohens Kantauffassung und Kantkritik setzt nach Cassirer an

dem Punkt ein, wo Kant selbst den Mittelpunkt seiner Lehre setzt, nämlich an der

‚Revolution der Denkart‘, die in der Vernunftkritik in der transzendentalen

115 Cohen (1902/1914), S. 17.116 Kajon (1988), S. 249.117 Kajon (1988), S. 250.

31

Problemstellung wurzelt.

Die Erkenntniskritik handelt „nicht von Vorstellungen und Vorgängen im denkenden

Individuum, sondern von dem Geltungszusammenhang zwischen Prinzipien und ,Sätzen‘“,

der von jeder Betrachtung des subjektiv-psychologischen Denkens unabhängig sein muss

(HC, 257). Daher bildet für Cohen, so Cassirer, die Einheit des Bewusstseins einen anderen

Ausdruck für die Einheit der synthetischen Grundsätze, „auf deren Giltigkeit die

Möglichkeit der Erfahrung und damit die Möglichkeit der Gegenständlichkeit überhaupt

beruht“ (ibd.). Die synthetischen Grundsätze sind für Cohen „die Hebel der Erfahrung“ und

sie bedingen „in letzter Instanz die Möglichkeit der Erfahrung“118. Diese Einheit der

Grundsätze geht auf einen ‚obersten Grundsatz‘, nämlich die Einheit des Bewusstseins

zurück. Die Organisation des ‚Geistes‘, die der Idealismus sucht, kann nach Cohen im

Strukturzusammenhang der Naturwissenschaft, wie der Ethik und Ästhetik abgelesen

werden.

Cassirers Interpretation von Cohens Begriff der Einheit des Bewusstseins kann nach Irene

Kajon unter drei Aspekten zusammengefasst werden.119 Erstens, Cohens Begriff der Einheit

des Bewusstseins basiert auf seiner Auffassung der Kantischen Erkenntnistheorie. Für

Cassirer ist entscheidend, dass Cohen „das Prinzip der Wechselbeziehung zwischen Idee

und Wirklichkeit als dasjenige Prinzip betrachtet, das auch auf sämtliche anderen Bereiche

der menschlichen Erfahrung angewandt werden muß“.120 Der zweite Aspekt sei die

‚Offenheit‘ der transzendentalen Methodik beziehungsweise des transzendentalen

Gesichtspunkts für die Mannigfaltigkeit der Erfahrung. Drittens, der Begriff der Einheit des

Bewusstseins stehe insofern im Zusammenhang mit Kants philosophischer Lehre, als „sich

die Philosophie mit der Ermittlung des letzten Ziels des Menschen befaßt“.121 Das letzte

Ziel des Menschen bestehe in der Verwirklichung jener ethischen Gemeinschaft, die durch

den Begriff der Freiheit selbst bestimmt werde.

Diese drei Aspekte stellen Kajons Meinung nach die charakteristischen Hauptzüge der von

Cassirer selbst in seinen Werken vertretenen Lehre von der Einheit des Bewusstseins dar,

und darüber hinaus ist sie der Ansicht, dass es auf der Basis dieser drei Aspekte möglich

wird, Cassirers Werke und die Folgerichtigkeit seiner philosophischen Entwicklung zu

begreifen. Man kann dieser Meinung Kajons aber nur teilweise zustimmen, denn die

Philosophie Cassirers wird zwar auf dem Fundament der Einheit des Bewusstseins

118 Cohen (1871/1918), S. 518.119 Kajon (1988), S. 252.120 Kajon (1988), S. 252.121 Kajon (1988), S. 253.

32

aufgebaut, ihre Charakteristika aber sind mehrdimensional, denen man nicht einfach unter

den drei Aspekten folgen kann. Seine Philosophie kann man als Philosophie der

Anthropologie, der Wissenschaft und im weitesten Sinne als Kulturphilosophie

bezeichnen, die noch weitere Aspekte verlangt. Wenn man dazu noch bedenkt, dass man

Cassirer als Hegelianer oder logischen Empiristen oder Positivisten bezeichnen könnte,

dann wird noch deutlicher, dass Cassirers Philosophie unter mehr als den von Kajon

ausgeführten Aspekten betrachtet werden muss.

Wie oben angeführt, bildet die Einheit des Kulturbewusstseins bei Cohen als ‚Einheit des

Bewusstseins‘ den Ausgang zur Naturerkenntnis sowie der Ethik und der Ästhetik. In

Cassirers frühen Werken, Leibniz’ System und SuF, wurde dieser Begriff in Bezug auf

moderne Wissenschaft und philosophische Reflexion benutzt.122 Nach Kajon entwickelte

Cassirer in seinen späteren Werken die These, dass „der Begriff der Einheit des

Bewußtseins die Verschiedenheit der menschlichen Erfahrungsbereiche als spezifischer,

jeweils durch ihr eigenes Sonderprinzip bestimmter Bereiche berücksichtigt“.123 Kajon

verfolgt die weitere Entwicklung des Begriffs der Einheit des Bewusstseins im späteren

Schrifttum Cassirers, wobei sowohl die begriffliche Verwendung im Bereich der

Kulturphilosophie als auch im Bereich der Lebensphilosophie analysiert wird. Darauf wird

hier im Folgenden aber nicht weiter eingegangen, stattdessen wird Cassirers Auffassung

des transzendentalen erkenntniskritischen Gegenstandsbewusstseins näher betrachtet.

Man kann an dieser Stelle vorwegnehmen, dass Cassirer in SuF die Funktion des

Bewusstseins als das Bewusstsein der Relation hervorhebt und in PsF als ‚symbolische

Funktion‘ (vgl. PsF I, 22: 3.2). Im folgenden Abschnitt soll auf erstere näher eingegangen

werden, wogegen letztere im Kapitel 3 im Zusammenhang mit dem Symbolbegriff erörtert

wird. In PsF wird der Begriff der ‚Einheit des Bewusstseins‘ weiterentwickelt, so dass

letztlich das Verhältnis zwischen dem Bewusstsein und dem Gegenstand als symbolische

Relation betrachtet und damit auch als symbolische Funktion des Bewusstseins bezeichnet

werden kann, die für die verschiedenen symbolischen Formen der Sprache, des Mythos und

der wissenschaftlichen Erkenntnis stehen soll. Cassirer schildert die symbolische Funktion

des Bewusstseins präzise im zweiten Band der PsF im Kapitel Charakter und

Grundrichtung des mythischen Gegenstandsbewußtseins, mit der Absicht, zu zeigen, dass

das erkenntniskritische Gegenstandsbewusstsein im Grunde nicht anders als das mythische

Gegenstandsbewusstsein funktioniert. Beide haben denselben Grundcharakter, das heißt,

das Ganze wird dadurch gewonnen, dass jede Setzung eines Teils die Setzung des Ganzen122 Vgl. Kajon (1988), S. 254.123 Kajon (1988), S. 257.

33

nicht seinem Inhalt nach, sondern seiner allgemeinen Struktur und Form nach in sich

schließt:

„Jedes Einzelne gehört hier schon ursprünglich einem bestimmten Komple xan und bringt die Regel dieses Komplexes in sich zum Ausdruck. Erst dieGesamtheit dieser Regeln aber macht die wahrhafte Einheit des Bewußtseinsals Einheit der Zeit, des Raumes, der gegenständlichen Verknüpfung usf. aus.“(PsF I, 37)

So basiert der Prozess der ‚Beziehung der Vorstellung auf den Gegenstand‘ auf der Einheit

des Bewusstseins, das heißt, auf der Einheit der synthetischen Grundsätze nach Cohen.

1.3.2. Das Bewusstsein der Relation bei Cassirer

Die traditionelle Metaphysik hat nach Cassirer die alten Probleme des Dualismus nicht

überwunden, sondern sie hat immer wieder zur Trennung in eine subjektive und objektive

Welt geführt. Das charakteristische Verfahren der Metaphysik bestehe darin, dass sie auf

dem Gebiet der Erkenntnis selbst, das ‚Logisch-Korrelative‘ in ein ‚Dinglich-

Gegensätzliches‘ umdeute und die zusammengehörigen Gesichtspunkte, welche nur in

Bezug aufeinander bestimmt seien, von einander abtrenne. Die metaphysischen Fragen

nach dem Verhältnis des Denkens und Seins, des Subjekts und Objekts können unter dem

Gesichtspunkt der Erkenntniskritik verdeutlicht und die Probleme können unter dem

Gesichtspunkt der Logik des Reihenbegriffs gelöst werden. Die Metaphysik hat nach

Cassirer an dem Punkt versagt, da sie in der begrifflichen Unterscheidung von ,Dingen‘

und ‚Geist‘ einer räumlichen Trennung in Innen- und Außenwelt folgte: „Die Geschichte

der Metaphysik wechselt zwischen den gegensätzlichen Tendenzen ab, ohne daß es ihr

gelingt, die eine aus der anderen abzuleiten und auf sie zurückzuführen“ (SuF, 360).

Die metaphysischen Fragen verlassen aber das Gebiet der Erkenntnisprobleme nicht. Denn

wenn der Begriff des Objekts deutlich wird, ist damit der Begriff der Wirklichkeit, um den

es der Metaphysik geht, ebenfalls gewonnen. Die Erkenntniskritik versucht auch das

Problem des Dualismus der metaphysischen Grundbegriffe zu lösen, nur beschreitet sie

dabei den umgekehrten Weg, den die traditionelle Metaphysik zurücklegte. Das heißt, für

die Erkenntniskritik lautet das Problem nicht, wie man vom Subjektiven zum Objektiven,

34

sondern vom Objektiven zum Subjektiven gelangen kann.124 Es geht dabei nicht darum,

was eine bestimmte Erfahrung ‚ist‘, sondern um das, was sie ‚wert ist‘, das heißt, welche

Leistung ihr im Aufbau des Ganzen zukommt. Die eigentliche Leistung des Begriffs liegt

nach Cassirer eben in diesem Aufbau des Ganzen der Erfahrung:

„Wie die eigentliche Leistung des Begriffs nicht darin liegt, daß durch ihn eingegebenes Mannigfaltige abstrakt und schematisch ,abgebildet‘ wird, sonderndarin, daß er ein Gesetz der Beziehung in sich schließt, durch welches ein neuerund eigenartiger Zusammenhang des Mannigfaltigen erst geschaffen wird, sozeigt sich hier die Form der Verknüpfung der Erfahrungen als dasjenige, wasdie veränderlichen ‚Eindrücke‘ zu konstanten ,Objekten‘ umschafft.“ (SuF,380)

Alle empirische Erkenntnis hat die Gewinnung der konstanten ‚Objekte‘, also letzter

Invarianten, zum Ziel, die die notwendigen und konstitutiven Faktoren jedes

Erfahrungsurteils bilden (vgl. SuF, 356 f.). Unter diesem Gesichtspunkt scheinen die

mannigfachen empirischen Aussagen von sehr verschiedenem Wert zu sein. Man findet

aber Zusammenhänge, die „im Flusse der Erfahrung beharren“, die man ‚objektiv‘ nennt.

Cassirer erklärt was objektiv und subjektiv heißen soll:

„Objektiv heißen uns zuletzt diejenigen Elemente der Erfahrung, auf denen ihrunwandelbarer Bestand beruht, die sich also in allem Wechsel des Hier undJetzt erhalten; während dasjenige, was diesem Wechsel selbst angehört, wasalso nur eine Bestimmung des i nd iv i due l l e n , einmaligen Hier und Jetztausdrückt, dem Kreise der Subjektivität zugerechnet wird.“ (SuF, 362)

Für die Unterscheidung zwischen objektiv und subjektiv gibt es aber für Cassirer keine

festgelegte Grenzlinie. Der Gegensatz ist vielmehr beweglich, relativ und wechselseitig,125

und er ist nicht räumlicher, sondern dynamischer Natur. Somit ist die Grenze zwischen

Subjekt und Objekt beweglicher Natur. Es handelt sich beim Prozess der Wahrnehmung

um eine Beziehung, „die zwischen dem relativ engeren und dem relativ weiteren

Erfahrungskreis, zwischen relativ abhängigen und relativ unabhängigen Urteilen besteht“

(SuF, 365). Der sinnlichen Wahrnehmung ist somit „von selbst statt einer bloßen Zweiheit

von Bestimmungen, eine Wertfolge gegeben, die nach einer bestimmten Regel

fortschreitet“ (ibd.). Damit kann das ‚Subjektive‘ wie folgt umschrieben werden:

124 Vgl. Natorp (1887), S. 274.125 Vgl. Swabey (1958), p. 141.

35

„Das ,Subjektive‘ ist nicht der gegebene selbstverständliche Ausgangspunkt,von welchem aus nun in einer spekulativen Synthese die Welt der Objekte zuerreichen und zu konstruieren wäre, sondern es ist erst das Ergebnis einerA na ly se , die den Bestand der Erfahrung selbst, die also die Geltung festergesetzlicher Relationen zwischen Inhalten überhaupt, voraussetzt.“ (SuF, 370)

Das Subjektive und das Objektive sind, wie oben angeführt, unmittelbar aufeinander

bezogen, keines kann ohne das andere bestimmt werden. Das Problem der Erkenntnis führt

somit zu einer Relation, zu einem Inbegriff von Beziehungen, welcher selbst dann die

Voraussetzung für die Trennung in subjektiv und objektiv bildet. Es entsteht hier die

Forderung nach einer Psychologie der Relation, die nur durch Umbildung der

psychologischen Methode, also durch ein neues psychologisches Mittel erreicht werden

kann, denn die bloße Betrachtung des sinnlichen Erlebens kann nicht dem Problem gerecht

werden:

„Diese Umformung in den P r inz ip i en der Psychologie bildet selbst einwichtiges erkenntnistheoretisches Problem: es zeigt sich auch hier, daß es dieArt der Begr i f f s b i l dung ist, die, wie in den übrigen Gebieten, einecharakteristische Verschiebung erfährt.“ (SuF, 434)

Cassirer sieht hierbei den Anfang der wissenschaftlichen Psychologie bei Platon.126 Platons

Seelenbegriff wird Cassirers Interpretation zufolge selbständig, indem er aus dem

‚Naturbegriff‘ heraustritt und in die Bedeutung des Selbstbewusstseins hinübergeht (vgl.

1.4.2). Dieser Übergang ist aber nur mit Mitteln der reinen Logik möglich, das heißt, von

der bloßen Wahrnehmung als Teil des Naturprozesses gelangt man nicht zum Selbst. Denn

die Gesamtheit der sinnlichen Eindrücke kann das Ganze der Erkenntnis nie vollständig

erklären. Erkennen bedeutet daher nicht bloße Wahrnehmung, zum Beispiel eines Tons;

Erkenntnis betrifft vielmehr Aussagen über Sein oder Nicht-Sein, Ähnlichkeit oder

Unähnlichkeit, Einheit oder Vielheit, Identität oder Gegensatz der Wahrnehmungsinhalte.

Diese Aussagen lassen sich nicht durch reine Wahrnehmungen belegen, sondern sie gehen

darüber hinaus, indem sie zu einer Verknüpfung dieser Wahrnehmungsinhalte gelangen.

Um jedoch eine solche Verknüpfung erreichen zu können, bedarf es eines besonderen

Zustands, der unabhängig von Wahrnehmungsqualitäten und -organen ist. Dieser Zustand

ist in der Seele selbst gegeben. Durch sie gelangt man aus dem Chaos sinnlicher Erlebnisse

zu einer Einheit des Bewusstseins, zu einem identischen Selbst. Die Seele kann somit als

126 Vgl. Cassirer, PdG, S. 103-109. Cassirer betrachtet die Umbildung des theologischen Seelenbegriffs alsdie entscheidende Leistung Platons.

36

systematische Zusammenfassung der reinen Relationsbegriffe verstanden werden.

Die Begriffe, die sich im wissenschaftlichen Gebrauch als fruchtbar erwiesen haben,

können aber die Elemente, die die psychologische Betrachtung als Träger der Objektivität

ansieht, nicht erfassen. Denn die Bedeutung dieser Elemente beruht darauf, „daß sie sich

von dem Typus der Realität, der hier als Muster dient, entfernen und ihn geflissentlich

überschreiten“ (SuF, 439). Es bleibt daher immer ein letzter Rest, den die

Erkenntnisanalyse weder begreifen, noch beseitigen kann, wie „ein Schattenbild von

unsicherer Wesenheit und Herkunft“ oder Geistern gleich (SuF, 438). Es bleiben immer

Merkmale, die aus der bloßen Summierung der Einzelteile nicht erklärt werden können.

Dieser Umstand kann jedoch durch eine erneute Revision der Grundbegriffe behoben

werden, die im Grunde genommen einer neuen Begriffsbildung innerhalb der Psychologie

gleichkommt. Es ist der Begriff der ‚Gestaltqualität‘,127 der nach Cassirer die erste

Anregung zu einer erneuten Revision der allgemeinen Grundbegriffe der Psychologie

gegeben haben soll.128

Cassirer führt hierfür als Beispiel eine Melodie an, die scheinbar nur durch die

Wahrnehmung der einzelnen Töne zu erfassen ist. In Wirklichkeit aber kann man alle

Einzelteile ändern, zum Beispiel durch eine neue Tonart, und trotzdem bleibt die Einheit

erhalten. Damit kann man festhalten, dass ein Bewusstsein der Identität von Ganzen, von

Einheiten, von psychischen ‚Grundgestalten‘ besteht, das nicht von der Besonderheit der

Elemente abhängt129: „Ein Ganzes bilden heißt im psychologischen Sinne nichts anderes,

127 Vgl. Mittelstraß (EPW 1995), Bd. 1, S. 765. Das Wort ‚Gestaltqualität‘ stammt aus dem Aufsatz ÜberGestaltqualitäten, der im Jahre 1890 von Christian von Ehrenfels veröffentlicht wurde. Damit gilt 1890als ‚Geburtsjahr‘ der Gestalttheorie der Psychologie, die sich „zur Deutung und Erklärung psychischerPhänomene auf die Annahme stützt, daß die Einzelphänomene nur durch Rückgriff auf die innerenorganischen Gesetze von ganzheitlichen Gestalten adäquat verstanden werden können“; vgl. Ehrenfels(1890/1988), S. 136: „Unter Gestaltqualitäten verstehen wir solche positive Vorstellungsinhalte, welchean das Vorhandensein von Vorstellungskomplexen im Bewußtsein gebunden sind, die ihrerseits ausvoneinander trennbaren (d.h. ohne einander vorstellbaren) Elementen bestehen. – Jene für dasVorhandensein der Gestaltqualitäten notwendigen Vorstellungskomplexe wollen wir die Grundlage derGestaltqualitäten nennen.“

128 Vgl. SuF, S. 438: „Die m o d e r n e Psychologie versucht zunächst nur in vereinzelten Ansätzen zu einerneuen Fassung des Problems vorzudringen. L e i b n i z greift unmittelbar wieder auf Platon zurück, wenner betont, daß die Inhalte, die die traditionelle Lehre dem ‚Gemeinsinn‘ zuspricht, daß insbesondereA u s d e h n u n g , G e s t a l t , und B e w e g u n g I d e e n d e s r e i n e n V e r s t a n d e s seien, die zwaranläßlich sinnlicher Eindrücke sich bilden, aber sich in ihnen niemals erschöpfend begründen lassen. Inder neueren deutschen Psychologie ist es sodann besonders T e t e n s , der diese Anregung aufnimmt undsie zu einer ausgebildeten Theorie der reinen ‚Verhaltungsgedanken‘ weiterführt. Im Ganzen aber bleibthier durchaus das L o c k e s c h e Schema herrschend, nach welchem ein Begriff erst dann als wahrhaftverstanden und abgeleitet gelten kann, wenn es gelungen ist, die einfachen Sinnesinhalte darzulegen, auswelchen er sich zusammensetzt. Auch die Ideen der ‚Reflexion‘ die anfangs eine besondere Stellungeinzunehmen scheinen, werden zuletzt nach diesem Maßstab gemessen. Sie besitzen nur insoweitwahrhaft p o s i t i v e n Gehalt, als sie sich unmittelbar in einzelnen, anschaulich gegebenenVorstellungsbildern zum Ausdruck bringen lassen.“

129 Vgl. Ehrenfels (1890/1988); vgl. auch Plümacher (2004), S. 52 ff.

37

denn als Ganzes wi r ken . Nicht nur die Teile als solche, sondern auch ihr gesamter

Komplex löst stets bestimmte besondere Wirkungen auf unser Gefühl und unsere

Vorstellung aus“ (SuF, 443). Auf Grund dieser Wirkung, die vom gesamten Komplex

ausgeht, kann man über die Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit und so weiter urteilen.

Demnach lautet die Frage, wie man vom Ganzen zu den Teilen gelangen kann, aber nicht

umgekehrt. Es zeigt sich somit, dass man sowohl einfache Empfindungen, als auch

spezifische Beziehungen, wie zum Beispiel, Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, als nicht

weiter reduzierbare Daten des Bewusstseins anerkennen muss.

Die Relationen bestehen dabei nicht als zeitlich oder örtlich abgegrenzte Teile, sondern sie

bestehen aus ihrer Notwendigkeit heraus. Das empirische Urteil, das sich auf ein Objekt

der tatsächlichen Wirklichkeit bezieht, ist bloß eine Aussage über die

Erfahrungsgegenstände im Hier und Jetzt. Demgegenüber ist eine Aussage, die sich auf die

Abhängigkeit zwischen zwei Elementen bezieht, durch die Natur der Glieder selbst

determiniert:

„Von den idealen Relationen dieser Art sind Urteile möglich, die, um in ihrerWahrheit erfaßt zu werden, nicht der Probe durch verschiedene, successivdurchlaufene Einzelfälle bedürfen, sondern ein für alle Mal mit der Einsicht indie No t wend igke i t des Zusammenhangs erkannt werden.“ (SuF, 450)

Die Relationen erscheinen zunächst als nachträgliches Ergebnis, das auf den gegebenen

einfachen Empfindungsinhalten aufbaut. Bei der weiteren Analyse zeigt sich aber, dass an

die Stelle des Nacheinander oder der Über- und Unterordnung, also der Zeit und

Raumordnung von Inhalten ein Verhältnis ‚strengster Korrelativität‘ zwischen diesen

treten muss: „Es bedarf einer Reihe verwickelter intellektueller Operationen, es bedarf

immer erneuter begrifflicher Arbeit, um hier den ‚potentiellen‘ logischen Gehalt in

‚aktuellen‘ Gehalt überzuführen.“ (SuF, 451) Das Bewusstsein ist nicht nur in den

sinnlichen Phänomenen, wie zum Beispiel Farben und Töne, Gerüche und Geschmäcke,

sondern auch in den ‚metaphänomenalen‘ Gegenständen, wie Vielheit und Zahl, Identität

und Verschiedenheit, begründet. „Sein Bestand wurzelt lediglich in der gegenseitigen

Zusammengehörigkeit der beiden Momente, deren keines daher als ‚erstes‘ und

ursprüngliches dem anderen voranzustellen ist.“ (SuF, 452) Cassirer ist der Ansicht, dass

jeglicher Inhalt des Bewusstseins schon auf irgendeine Art gegliedert ist, denn

„alles Bewußtsein verlangt irgendeine Art der Ver knüp f ung : und jede Form

38

der Verknüpfung setzt eine Relation des Einzelnen zu einem umfassendenGanzen, setzt eine Einordnung des individuellen Inhalts in irgendeinenGesamtzusammenhang voraus.“ (SuF, 394)

Daraus lässt sich folgern, dass „der Prozeß des Wahrnehmens von dem des Urteils nicht

zu trennen ist. Es sind elementare Urteilsakte, kraft deren der Einzelinhalt als Glied einer

bestimmten Ordnung erfaßt und damit erst in sich selbst gefestigt wird“ (SuF, 453).130 Das

Urteil ist somit eine Form der objektivierenden Bestimmung, „durch welche ein

Sonderinhalt als solcher unterschieden und zugleich einer Mannigfaltigkeit systematisch

eingeordnet wird“ (SuF, 453 f.).

Es zeigt sich somit, dass im gleichzeitigen Erfassen der Relationen und der Empfindung

bereits ein Akt des geistigen Tuns vorliegt, ein Moment der Aktivität des Ich. Die

Empfindungen und ihre Beziehungen werden hierbei nicht als real voneinander getrennt

betrachtet, sondern die Erkenntniskritik spricht den Urteilen einen eigenen Geltungswert

zu. Die Erkenntniskritik betrachtet das Denken nicht als einen Prozess des reinen passiven

Aufnehmens von fertigen Zusammenhängen, sondern als eine produktive Leistung, bei der

Urteile geschaffen werden.

1.4. Cassirers Interpretation der ‚Ideenlehre‘ Platons

1.4.1. Ideenlehre

Cassirer verfasste mit der Philosophie der Griechen von den Anfängen bis Platon den

ersten Teil des von Max Dessoir herausgegebenen Werkes Die Geschichte der

Philosophie.131

Platon ist für Cassirer der erste Philosoph, der zum Begriff und zum Problem des Seins

vorgedrungen ist. Erst Platon stelle die Frage nach der Bedeutung des Begriffs, und die

130 Das an dieser Stelle von Cassirer angesprochene ‚Urteil‘ in Bezug auf Wahrnehmung ist vom Urteil derAussage zu unterscheiden, vgl. Ritter et al. (HWP), Bd. 11, S. 436. Das Urteil gehört neben Aussage,Behauptung und Proposition „zu denjenigen Gebilden, die nach traditioneller Auffassung wahr oderfalsch sein können und damit Träger von Wahrheitswerten sind. Die Begriffsgeschichte von [Urteil] istaufgrund dieser Gemeinsamkeit mit der Geschichte der genannten Begriffe aufs engste verwoben“.

131 Max Dessoir (Hg.): Lehrbuch der Philosophie. Vol. 1. Die Geschichte der Philosophie. Berlin, 1925.Cassirer schreibt in einer Anmerkung zu seiner Darstellung der Platonischen Ideenlehre, dass sie auf denVersuch verzichtet, eine von Dialog zu Dialog fortschreitende ‚genetische‘ Entwicklung desPlatonischen Denkens zu geben. Die Scheidung in die drei Hauptepochen müßte natürlich eingehaltenwerden; innerhalb dieser Epochen aber seien die einzelnen Dialoge als ein Ganzes behandelt. Erverweist hier auf Cohens Platons Ideenlehre und die Mathematik (1878) und Natorps Platos Ideenlehre.Eine Einführung in den Idealismus (1903) vgl. Cassirer, PdG, S. 83.

39

entscheidende Leistung von ihm bestehe in der Entdeckung der inneren Problematik des

Grundbegriffs, auf dem alle vorsokratischen Systeme sich aufbauten. In den

vorsokratischen Systemen ist die reine Form des Gedankens noch an die Form der Dinge

gebunden und in ihr verhaftet.132 Erst Platon setze hier einen scharfen Trennungsstrich, erst

bei ihm werde der Unterschied zwischen dem Reich der Gedanken und dem der Dinge

klarer und zu einer ‚methodischen Antithese‘.

Alle Vorsokratiker hatten gefragt, was das Sein sei und wie es zu bestimmen sei. Platon ist

jedoch der Ansicht, die Bedeutung des Begriffs müsse feststehen, bevor man nach der

näheren Bestimmung eines Begriffs frage. Wenn sich sichere Aussagen über einen Inhalt,

über seine Eigenschaften machen lassen, sollte schon erkannt sein, was er selbst ist. Mit

diesen Fragestellungen geht Platon nicht nur über die Lehren der Vorsokratiker, sondern

auch über Sokrates selbst hinaus, dem er jedoch die Form der Frage als solche verdankt;

das ti esti wird, als das bleibende Instrument, der Methode der Sokratischen

Gesprächsführung entnommen. Die Frage der Eleatik nach dem Sein war auf das Seiende

gerichtet. Die assertorische Behauptung des Parmenides und der Eleatik, ‚das Seiende ist‘,

wird bei Sokrates in eine problematische Form, ‚was ist das Sein ?‘ umgesetzt. Diese Form

wird bei Platon zu höchster Allgemeinheit entwickelt, „indem sie sich gewissermaßen

gegen sich selber wendet und sich in sich selbst reflektiert“ (PdG, 85). Cassirer geht davon

aus, dass das Sein, von dem Sokrates sprach, nicht das Sein der Dinge, sondern das Sein

der Bedeutung war:

„Es ging nicht auf die Ex i s t e nz bestimmter Inhalte, sondern auf dieBestimmung des eindeutigen S inns der Begriffe. Nicht nach dem Dasein oderden Eigenschaften irgendwelcher in der unmittelbaren sinnlichen Anschauungaufweisbarer Ge gens t ände wurde hier gefragt, sondern nach dem Gehalt derPrädikation, der A uss age selbst.“ (PdG, 85 f.)

Das Bedeutungsproblem dient somit Platon als Ausgangspunkt des Philosophierens,

während der Begriff des Seins nur als ein abgeleitetes Resultat, als Folgerung aus diesem

Anfang erscheint. So wird sein Kosmos der Kosmos der Bedeutungen. Sein Blick ist auf

die Wahrheit der Gegenstände, statt auf die Gegenstände selbst, gerichtet.133

132 Vgl. Cassirer, PdG, S. 87. Die Pythagoreer fassen zum Beispiel die Zahl als rein gedanklichesVerhältnis auf, das nur in den Sinnendingen besteht. Bei Heraklit ist Logos die ‚ewig sich selbst gleiche‘Regel und das immanente Gesetz allen Geschehens. Heraklit stellt aber den Logos zugleich in deranschaulichen Form des Weltenfeuers dar, das sich nach Maßen entzündet und nach Maßen verlischt. Inden eleatischen Systemen, angefangen bei Xenophanes bis hin zu Melissos, schlägt immer wieder derBegriff der logischen Einheit in den der kosmischen Ganzheit um.

133 Vgl. PdG, S. 86. Cassirer zitiert hier Platons Phaidon, 99D: „ich müsse mich hüten, daß mir nicht

40

In seinem Aufsatz Zur Theorie des Begriffs meint Cassirer, dass „das logische Problem des

Begriffs mit dem B ede u tungspr ob l em verknüpft“ ist, und dass sich nur innerhalb

einer systematischen „Bedeutungslehre“ die Begriffslehre „zureichend begründen und

vollständig aufbauen“ lässt (ZTB, 130; vgl. ET II, 115). Das Bedeutungsproblem bildet mit

der ‚Symbolfunktion‘ den Mittelpunkt seiner Begriffstheorie in PsF. Eingedenk dieser

Tatsache stellt man bei der Lektüre von Cassirers Platon-Interpretation fest, dass man auch

in ihr seine Gedanken zur Begriffstheorie wiederfindet.

Der geschichtliche Grund für das oben geschilderte Verhältnis zwischen Platon und den

Vorsokratikern liege, so Cassirer, darin, dass seit dem Auftreten des Sokrates das Problem

der Natur nicht mehr als unmittelbarer Anknüpfungspunkt der philosophischen

Betrachtung gelten könne. Cassirer verweist hier auf eine Stelle am Anfang von Platons

Phaidros,134 in der durch die Sokratische Frage nach dem Sinn und Zweck des

menschlichen Daseins, auch alle übrigen philosophischen Fragen einen neuen Akzent

erhalten haben:

„Die große Leistung des Sokrates, wie Platon sie verstand und wie er siezunächst mit einseitiger Schroffheit verkündete, lag eben in der Einsicht, daßdie ‚Vernunft‘ des Seins, daß sein Logos sich nicht in den Dingen, sondern nurim Denken und im Tun, offenbaren könne.“ (PdG, 88)

So entsteht durch die Frage nach der Wirklichkeit im Sokratischen Dialog das

philosophische Grundproblem Platons, das Problem der Dialektik. Cassirer ist der Ansicht,

man sollte sich, um das Problem der Dialektik bei Platon fassen zu können,

vergegenwärtigen, dass für Platon das Sprachproblem und das Bedeutungsproblem

innerlich zusammengehören. Denn das Denken ist für Platon noch ein Gespräch. Das Sein

ist daher auch ursprünglich das, was sich in der Form des Gesprächs expliziert und sich in

keiner anderen Form offenbaren kann. Platon frage nicht wie die Dinge in Raum und Zeit

möglich, noch aus welchen Ursachen sie entstanden seien, sondern aus welchen Quellen

das Verständnis, die Verständigung über die Dinge hervorgehe.

begegne, was denen, welche die Sonnenfinsternis betrachten und anschauen, zu begegnen pflegt. Vielenämlich verderben sich die Augen, wenn sie nicht im Wasser oder sonst worin nur das B i l d der Sonneanschauen. So etwas merkte ich auch und befürchtete, ich möchte ganz und gar an der Seele geblendetwerden, wenn ich mit den Augen nach den Gegenständen sähe und mit jedem Sinne versuchte, sie zutreffen. Sondern mich dünkte, ich müsse zu den Begriffen (λόγοι) meine Zuflucht nehmen und in ihnendie Wahrheit des Seienden betrachten. Doch vielleicht trifft dieses Gleichnis in gewisser Hinsicht nichtzu: denn das gebe ich keineswegs zu, daß derjenige, der das Seiende in den Begriffen betrachtet, esmehr in Bildern betrachte, als wer in den Dingen.“

134 PdG, S. 87 f., Platon, Phaidros, 230 D: „Das verzeihe mir nur, mein Bester. Ich bin eben lernbegierig,und Felder und Bäume wollen mich nichts lehren, wohl aber die Menschen in der Stadt.“

41

Der sinnliche Akt des Hörens ist die Bedingung für das Verstehen, aber er enthält in sich

nicht das, was zur Erklärung des logischen Aktes des Verstehens dienen kann. Der

gesprochene und gehörte Laut, der an sich Sinnliches ist, weist auf Nicht-Sinnliches hin.

Somit kann es als Tatsache angesehen werden, dass zwischen Laut und Bedeutung ein

‚symbolischer‘ Zusammenhang besteht. Hierauf basierend will Cassirer die griechische

Sprache als ein Organ des Gedankens ansehen: „Das Zeichen [braucht] dem Bezeichneten

in keiner Weise zu g l e i c hen , um seiner geistigen Funktion zu genügen, als ,Hinweis‘ auf

den Gegenstand zu dienen.“ Das einfachste Wort der Sprache enthält bereits einen sicheren

Beleg dafür, „daß eine solche ,Stellvertretung‘ möglich ist, daß im Sinnlichen ein rein

Intellektuelles sich symbolisch auszudrücken vermag“ (PdG, 90).135 Das Wort steht nicht

einzeln, sondern erhält seinen eigentümlichen Sinn aus dem Zusammenhang des Satzes,

und die einzelnen Sätze stehen nicht für sich, „sondern sie fordern und bedingen einander

und schließen sich erst damit zu einem einheitlichen ,Sinngefüge‘, zu einem gegliederten

‚Logos‘ zusammen“ (ibd.).

In diesen Sätzen wird schon die grundlegende Problematik der Begriffstheorie Cassirers

deutlich. Die Termini ‚Zeichen‘, ‚Funktion‘ und ‚symbolisch‘ sind Grundelemente seiner

Theorie des Symbolbegriffs in PsF und die des Funktionsbegriffs in SuF. Der

Substanzbegriff, der das Sein von gegebenen Dingen in Raum und Zeit bezeichnet, wird

von Cassirer in SuF ‚Dingbegriff‘ genannt. Diesen Dingbegriff lehnt er jedoch ab und hebt

stattdessen ‚Logos‘ im Denken hervor, eine Einsicht innerhalb seiner Begriffslehre, die auf

der ‚Ideenlehre‘ Platons beruht.

Über die bisherigen Ausführungen gelangte man sozusagen zum Eingang der Platonischen

Gedankenwelt, von dem aus man „von der Betrachtung der Sprachform zur Betrachtung

der allgemeinen Form des Wis s ens weitergeführt [wird], die für Platon ihren

charakteristischen und prägnanten Ausdruck in den Urteilen der M at hema t i k findet“

(ibd.). Die Mathematik deckt für Platon das innere Gesetz, die Struktur und Wesensform

des Wissens überhaupt auf. Die Gegenstände der Mathematik sind in den Inhalten der

unmittelbaren Sinnenwahrnehmung nicht anzutreffen:

„Wie das Wort der Sprache an einen sinnlichen Inhalt anknüpft, aber seineFunktion als Wort, seine Bedeutung erst dadurch erlangt, daß es über diesenInhalt hinausgreift und ihn als bloßes Symbol, als Hinweis auf ein ,anderes‘

135 PdG, S. 90. Cassirer meint weiter: „Es scheint, daß sich hierin die griechische S p r a c h e , wie so oft, alseigentliches Organ des Gedankens selbst bewiesen hat. Denn im Griechischen ist es ein und dasselbeWort [...], das den physischen Akt des Sprechens und die logische Funktion des ,M e i n e n s ‘ und‚B e d e u t e n s ‘ bezeichnet.“

42

gebraucht, so dienen auch die sinnlichen Gestalten, auf die wir uns bei derAussprache und beim Beweis irgendeines geometrischen Lehrsatzes stützen,nur zur psychologischen Verdeutlichung des Gemeinten, aber sie fassenniemals den Kern der Meinung selbst. [...] was in der mathematischenDef i n i t i on des Kreises oder der Kugel als deren notwendige Bedingungausgesprochen ist, das ist in dem einzelnen sinnlichen Gebilde immer nurunvollkommen erfüllt: das Sinnliche faßt niemals die mathematischeBedeutung schlechthin, sondern verhält sich zu ihr als bloße ,Andeutung‘.“(PdG, 91)

Man müsse aber mit Platon begreifen, so Cassirer, dass die Wirklichkeit in Raum und Zeit

nur dann einen festen Bestand und einen sichern Halt gewinnt, „wenn es eine Wahr he i t

gibt, die in sich selbst feststeht und stand hält, weil sie ,selbst an sich selbst‘ gilt und für

alle Aussagen über das relative, das empirische Sein die Grundlage bildet“ (PdG, 92).

Platon hielt von dem Gorgias bis zu den Gesetzen, einer seiner späteren systematischen

Hauptschriften, an der griechischen Grundanschauung fest, die körperliche Natur könne

keinen festen Bestand aufweisen, wenn sich nicht in ihr, mitten im Wandel des Einzelnen,

die Natur des Ganzen behaupte.

In der Welt des Physischen ist auch das Besondere nicht nur einfach da, sondern es strebt

danach, sich in dieser seiner Besonderung zu erhalten. Diese Erhaltung aber wäre auch

dann möglich, wenn sie verlangt, dass „es seine Bestimmtheit der Art, der Bestimmtheit,

der Regel des Ganzen einfügt. Die Physis des Einzelnen besteht nur kraft dieser ,Fügung‘,

kraft dieser Beziehung, in die sie sich zur ,Physis des Ganzen‘ setzt“ (PdG, 96). Die Natur

des Ganzen ist nicht das bloße Aggregat, sondern sie ist wie die geometrische Gleichheit,

ein an sich unsichtbares Verhältnis: „Sie ist eine Einheit, die alle Einzelheit bedingt, die

aber selbst niemals als Einzelheit erscheint.“ (PdG, 97)

Cassirer betont hier, dass der Inhalt des Grundprinzips der Platonischen Lehre nicht nach

seinem bloßen ‚Was‘ bestimmt werden sollte, sondern nach seinem ‚Warum‘ begriffen, das

heißt, aus seinen gedanklichen Motiven heraus entwickelt werden sollte.

Der Gegenstand der Platonischen Betrachtung wechselte ständig: von den Grundfragen der

Logik und der sprachlichen Bedeutungslehre zu denen der Geometrie und des

mathematischen Wissens, von diesem zu den Problemen der Ethik und Wertlehre, der

Technik und Naturlehre, zur Lehre vom menschlichen wie zu der vom staatlichen Körper.

Platon stellte auf all diesen Gebieten die entscheidenden Fragen, nämlich die nach der

Beziehung des Besonderen auf das Allgemeine und nach der Bedeutung des ‚Gegenstands‘:

„Was ist es, das in ihnen [Gebieten] allen die Beziehung des Einzelnen auf das Ganze

herstellt und gewährleistet, — was ist es, das dem Besonderen, über sein individuelles

43

Da se i n , über seine Existenz an diesem oder jenem Punkte der empirischen Raum- und

Zeitreihe, eine bestimmte allgemeingültige Bede u tung verleiht?“ (PdG, 100).

Die Erscheinungswelt erweist sich somit als eine Welt, die sich selbst nicht genügt, die in

der bloßen Tatsächlichkeit ihres Daseins einen steten Hinweis auf ein anderes, ihr selbst

nicht Angehöriges enthält. Das Subjekt und das Prädikat im empirischen Urteil gehören

‚gleichsam zwei verschiedenen Dimensionen‘ an. Das Subjekt ist ein bloßes Das-da, das

Prädikat aber hat eine ‚in sich bestimmte Bedeutung‘, die aber selbst nicht unmittelbar

erscheint. Die verschiedenen Arten der Prädikation bestimmen verschiedene Richtlinien,

die alle über das unmittelbare Dasein der Erscheinungen hinausführen. Wenn man alle

diese Richtlinien verfolgt, die sich zuletzt in einem gemeinsamen Punkt schneiden, so

erreicht man in diesem Punkt das Zentrum der Platonischen Lehre, die Idee. Cassirer

interpretiert die Ideen Platons wie folgt:

„Die Ideen sind diejenigen Gebilde, die, selbst keines unmittelbaren Daseinsfähig, alles erscheinende Dasein erst begründen; das heißt: sie sind innerhalbjedes Einzelgebiets die bedeutunggebenden Momente. Wo wir von einem Seinder Phänomene, der Subjekte unserer empirischen Urteile, sprechen, da kennenwir dieses Sein doch immer nur als einen Übergang von einem Zustand zumanderen, also als ein bloßes En t s t ehe n ; die reinen Bedeutungen allein, die alsPrädikate im Urteil fungieren, be s t ehe n als mit sich selbst identische, inihrem Sinn konstante Normen und Bezugspunkte des Urteils. So trennt sich dasSein der Wahrheit von dem des empirischen, des zeitlich-räumlichen Daseins;[...] Beide sind voneinander getrennt und doch notwendig aufeinander bezogen— wie das Abgeleitete, wenn es überhaupt verstanden werden soll, auf seinenUrsprung, das Begründete auf seinen Grund, das Bedingte auf das Unbedingtebezogen werden muß.“ (PdG, 102)

So sei die Idee der Ausdruck des ‚Sinngehalts‘, der der Wahrnehmungswelt durch den

Logos der Sprache und durch den der bildnerischen Tätigkeit, durch die Bestimmung im

reinen Denken und durch die Bestimmung zu einem allgemeingültigen Zweck

fortschreitend verliehen werde.

1.4.2. Seelenlehre

Wenn man die Grundlehre Platons im oben angeführten Sinne versteht, so Cassirer, bleibt

noch die Frage unbeantwortet, ob die Idee als geistige Form etwas anderes und etwas mehr

als eine rein subjektive Form ist.

44

Im Dialog Parmenides wird die Frage gestellt, ob dann, wenn man das reine Denken als

eine Funktion der Seele selbst versteht, alles, was es erreicht, im Kreis der Seele, im Kreis

des Bewusstseins eingeschlossen bleibt. Die Voraussetzung für eine Antwort auf diese

Frage ist, dass das gesamte Verhältnis von Idee und Seele auf eine neue Grundlage gestellt

wird, das heißt, „daß die Begriffe des ,Seins‘ und des ,Bewußtseins‘ einer radikalen

Umbildung unterzogen werden und ihr Verhältnis neu bestimmt wird“ (PdG, 104). Eine

systematisch durchgeführte Antwort auf die Fragen findet sich nach Cassirer aber erst im

Theaitetos.

Cassirer betont, dass die Ursprünglichkeit und die eigentümliche Grundrichtung Platons

bei seiner Seelenlehre deutlich hervortritt, weil er an bestimmte Voraussetzungen gebunden

bleibt, die er nicht im methodisch-dialektischen Beweisgang bestimmt, sondern die er der

philosophischen und religiösen Überlieferung entnimmt. Die Umbildung des theologischen

Seelenbegriffs, „die Peripetie, welche die mythische Lehre von der Seele durch ihre

Beziehung und Hinlenkung auf das Grundproblem der Ideenlehre erfährt“, hält Cassirer für

die entscheidende Leistung Platons (PdG, 105 f.): „Durch die Vermittlung der Ideenlehre,

durch die unlösliche Korrelation, die sich zwischen der Seele und der Idee herstellt, erhält

erst der Begriff der Seele seinen neuen, seinen streng philosophischen Gehalt.“ (PdG, 106)

Cassirer unterscheidet in der Entwicklung des Seelenbegriffs bei Platon drei

Grundauffassungen. In der einen wird die Seele als ein Art Substanz, als ein Ding

genommen, das vom Körper unterschieden, doch in irgendeiner Weise in ihm enthalten ist;

in der zweiten erscheint die Seele als dynamische Ursache der Bewegung; in der dritten

wird sie zum reinen Ausdruck der Persönlichkeit, des Selbstbewusstseins. Diese drei

Momente des Seelenbegriffs liegen, so Cassirer, in Platons Darstellung beieinander und

greifen in der Gestaltung seiner Lehre vielfältig ineinander über. Im Phaidon, in den

Beweisen für die Unsterblichkeit, sieht Cassirer das erste Moment überwiegen, im

Phaidros das zweite und das dritte gelangt dann im Theaitetos zur vollkommenen und

selbstständigen Entfaltung. So hält er den Theaitetos in der Entwicklung des Platonischen

Seelenbegriffs für entscheidend: „Hier sind alle mythischen Reste, alle Reste des

Seelenstoffes oder der Seelenkraft, abgestreift: das Problem der Seele ist zum Problem des

Ich, zum Problem der Bewußtseinseinheit und des Bewußtseinsganzen fortgebildet.“ (ibd.)

Im Reich des Werdens, wie im Heraklitischen Satz vom Fluss aller Dinge, ist die Einheit

des Objekts wie die des Subjekts vielmehr eine bloße Fiktion. Aber in dieser negativen

Feststellung liegt umgekehrt die positive Folgerung, dass sich hier das sinnlich-einzelne

Dasein zu einem Ganzen der Bedeutung zusammenschließen muss:

45

„Die einzelnen Elemente müssen nicht als einfaches Neben- oderNacheinander, sondern als ein In-Einander gefaßt werden: derart, daß jedes vonihnen sich auf die Gesamtheit aller andern bezieht und schon in seinemeinfachen Dasein auf diese Gesamtheit, auf die Natur des Ganzen, hinweist.“(PdG, 108)

Cassirers Interpretation zufolge weisen die Hinweise im Theaitetos auf das gleiche System

von Beziehungen hin, nämlich auf die Ideen. Es geht wieder um die Begriffe von Sein und

Nicht-Sein, von So-Sein und Anders-Sein, von Einheit und Vielheit etc., durch die allein

die Verknüpfung und Schaffung eines psychischen Zusammenhangs sich als möglich

erweist.

Die sinnliche Wahrnehmung würde gewöhnlich isolierte, gegeneinander beziehungslose

und daher auseinanderfallende Bestimmungen ergeben, wenn sie überhaupt Bestimmungen

zu geben vermag:

„Damit diese Bestimmungen sich verknüpfen, damit sie zur Einheit eines‚Selbst‘ zusammengehen: dazu muß an ihnen, statt ihrer sinnlichenBesonderheit, vielmehr ein Allgemeines erfaßt werden — und diese Erfassungdes Allgemeinen ist ein Werk der Seele, das sie ohne Vermittlung eineskörperlichen Organs ,selbst durch sich selbst‘ ausüben muß [...].“ (PdG, 108)136

Dasjenige, was man die Einheit des Ich nennt, kommt dadurch zustande, dass man im

Denken alles Einzelne auf ein Allgemeines, auf die Natur des Ganzen bezieht und dass

diese Beziehung nur durch das Medium der reinen Ideen erfolgen kann. Die Ideen seien so

wenig einfache Daten des Bewusstseins, seien so wenig Schöpfungen unseres Ich, dass

vielmehr umgekehrt das wahre Ich erst auf Grund ihrer gedacht, erst durch sie konstituiert

werden könne.

Die Seele ‚greift‘ nach dem Sein, nach dem reinen Begriff von Sein und Nicht-Sein, von

Einheit und Vielheit, von Gleichheit und Verschiedenheit, um die sinnlichen Eindrücke zu

gliedern, zu sondern und zu beurteilen (vgl. PdG, 108). Die menschliche Seele schaut auf

das ‚Seiende‘, auf das Reich der Ideen, und durch diese Schau streckt sich die Seele nach

den Ideen. Die entscheidende Frage dabei ist, wie die Welt der Seele mit der Welt der

räumlich-zeitlichen Erscheinungen zusammenhängt. Die Welt der Dinge erzeugt nicht ein

einfaches Abbild, einen Abdruck ihrer selbst in der Seele. Beide Welten sind mittelbar

136 Hier verweist Cassirer auf Theaitetos 185 D f.; Platon (1993), Bd. IV, S. 101: Theaitetos sagt: „Ich kannkein Organ dafür nennen, doch will es mir scheinen, als gäbe es dafür gar kein besonderes Organ wie fürdie einzelnen Sinneswahrnehmungen, vielmehr dürfte wohl die Seele selbst durch ihre eigene Kraft dasan allen Gemeinsame betrachtend erfassen.“

46

dadurch miteinander verknüpft, „daß sie auf das gleiche Sein, auf das Sein der reinen Idee

als den ursprünglichen Einheitspunkt hinweisen, und daß sie diesem Sein ,nachstreben‘.

Dabei tritt freilich der Sinn und der Charakter dieses Strebens in seiner vollen Klarheit erst

im Gebiet des Seelischen hervor“ (PdG, 109).

Wenn man auf dem Gebiet des Physischen stehenbleibt, so kann die ‚Teilhabe‘ der

Erscheinung an den Ideen, der methodische Begriff ‚Methexis‘ immer wieder so verstanden

werden, dass er ein dingliches Verhältnis einschließt. Wenn man aber von der Seele

ausgeht, tritt der Sinn der Teilhabe der Erscheinung an den Ideen unverkennbar heraus, das

heißt, der methodische Begriff Methexis fordert die Beziehung des Ganzen der

Erscheinungswelt auf das systematische Ganze der Ideen. Man habe vermutet, so Cassirer,

„daß hier Platon die wahre Methexis e n tdeck t haben muß. Denn jedesseelische Phänomen weist schon in seinem einfachen Dasein, in seinemphänomenalen Bes t and eine doppelte Beziehung auf. Es ist eines und vieles;in sich geschlossen und in sich gespalten; es verweilt in sich selbst und strebtdoch ständig über sich selbst hinaus“. (PdG, 109)

1.4.3. Systematik der Ideen

Cassirer sieht in der Gruppe der Dialoge Platons, die gewöhnlich Alterswerke genannt

werden, die Systematik der Ideen als vervollständigt an. Die Entwicklung des Gedankens

zeige, dass er sich in allgemein methodischer Hinsicht behaupten konnte, obwohl der

Begriff und das Problem des Kosmos vom Phaidon bis zum Timaios Änderungen

unterworfen wurden. Der Phaidon kenne nur den ethischen Kosmos, den Kosmos der

Seele, der ihr dann zuteil werde, wenn sie sich mit der ihr eigentümlichen Besonnenheit

und Gerechtigkeit, mit Tapferkeit und Wahrheit schmücke. Im Timaios dagegen sei es der

Kosmos als Ordnung und Schönheit der sichtbaren Welt. Platons Blick ruhe auf ihrer

inneren Geschlossenheit und Regelmäßigkeit und ihrer Einzigkeit und Selbstgenügsamkeit.

Der Gedanke des Systems bei Platon war nach Cassirer schon im Gorgias konzipiert und

stellt im Timaios den eigentlichen Mittelbegriff zwischen der ethischen, der

mathematischen und der physischen Ordnung dar:

„Aber indem er [der Gedanke des Systems] im Timäus vor allem auf densichtbaren Kosmos bezogen wird, indem das System sich als Weltsystemkonstituiert, hat doch die prinzipielle Scheidung zwischen den empirisch-sinnlichen Dingen und den reinen Vernunftgründen nichts von ihrer Schärfe

47

verloren. Denn eben das, worauf aller Zus amme nha ng der Dinge beruht, istselbst nicht dinglicher Art; ist nicht materiell, sondern mathematisch, und somitrein ideell, zu erfassen. Die Welt ist kein Aggregat von Stoffen, sie ist nichteinmal ein Resultat verschiedener Kraftwirkungen, sondern ihr Bestand ruht inder Wahrheit und Gewißheit reiner Gestalt- und Zahlverhältnisse, in derWahrheit der mathematischen Proportion. [...] Auch die Kosmologie desTimäus ist nicht vom Kosmos zum Logos, sondern von diesem zu jenemgegangen: sie geht von der Gewißheit eines höchsten Vernunftgesetzes aus, dassie sodann im Weltall gleichsam verkörpert wiederfindet.“ (PdG, 124 f.)

Die Welt der Erscheinungen erhielt ihre eigentümliche Bedeutung dadurch, dass sie sich

der Teilhabe an den Ideen fähig erwies. Das besondere und einzelne Dasein fügte sich kraft

der Beziehung auf die Idee zu einem sinnvollen Ganzen zusammen:

„Die Mannigfaltigkeit des Sinnlichen wurde in die Einheit der Idee‚zusammengesehen‘ [...] Die Form dieser Zusammenschau aber erfolgte derart,daß hierbei beständig an den Akt der Begriffsbildung, das heißt an den Akt dersprachlichen und logischen Prädikation, angeknüpft wurde. [...] Kraft diesesschlichten und überall wiederkehrenden Verfahrens der Begriffsbestimmung[...] konnten wir von den mannigfachsten Ansatzpunkten ― von der Welt desWissens wie von der des Tuns, vom Sein der Körperwelt wie von dem derSeele, von den Gebilden der Natur wie von der politischen und sozialenWirklichkeit ― den ‚Aufstieg‘ zur Idee vollziehen.“ (PdG, 125)

Es scheint, dass die allgemeine Methodik der Ideenlehre auf die verschiedenartigsten

Inhalte und Gebiete in gleicher Weise anwendbar sein könnte. Das Verfahren bietet aber für

die Systematik der Ideen selbst keine unmittelbare Gewähr: „Denn die Idee besagt als

solche nur die Forderung der Sinneinheit selbst, die sich an jedem beliebigen empirischen

Material zum Bewußtsein bringen läßt.“ (PdG, 126) Dieses Problem entwickelt sich daher

zum logischen Grundproblem Platons, das seine Alterswerke beherrscht.

Nach Ansicht Cassirers rücken der Parmenides und der Sophistes, der Politikos und der

Philebos zu einer Einheit zusammen: „die gemeinsame Aufgabe dieser Dialoge [besteht

darin], den Begriff der Dialektik dadurch methodisch zu vollenden, daß bestimmte

Grundverhältnisse, die zuvor nur an der Beziehung der Erscheinung auf die Idee

aufgewiesen waren, nunmehr an den Ideen selbst zur Darstellung kommen sollen.“ (ibd.)

Im Parmenides und im Philebos zeigt sich, dass eine Erscheinung an mehreren, teilweise

sogar entgegengesetzten Ideen teilhaben kann, dass ein Sinnending ‚eines und zugleich

auch vieles‘ sein kann, dass es ein Ganzes ist, das aus einer Mehrheit von Teilen besteht.

In den Alterswerken sieht man, dass die Form der Ideenlehre in strenger methodischer

Kontinuität aus ihr selbst erwächst. Platon spricht hier von einer Bewegung der reinen

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Ideen, der ‚Kinesis‘, die der ursprünglichen Konzeption der Ideenlehre zu widersprechen

scheint. Der Begriff ‚Kinesis‘ schließt für Platon weder einen räumlichen Nebensinn ein,

noch haftet ihm eine empirisch-zeitliche Bestimmung an. Auch das Anders-Werden geht

nicht auf ein Entstehen oder Vergehen in der Zeit zurück, „sondern es bezeichnet selbst ein

rein ideelles Verhältnis ― es drückt eine Andersartigkeit der Beziehung aus, die durch den

Wechsel des Bezugspunktes ermöglicht und gefordert wird“ (PdG, 128).

„Was ein bestimmter Begriff ist und bedeutet ― das läßt sich im Grundeimmer nur dadurch erfassen, daß er von anderen un t e r sc h i ede n wird. Seinelogische Determination ist zugleich Negation: jedes Prädikat, das ihmzugesprochen wird, bedeutet zugleich, daß ihm ein anderes, diesementgegengesetztes, abgesprochen wird. Und nur durch diese wechselseitigeBejahung und Verneinung, durch dieses Ineinandergreifen von S e i n undN ich t - Se i n im Urteil wird einem Begriff gleichsam seine Stelle im logischenGesamtraum bestimmt. [...] Identität und Andersheit sind daher, rein logischgefaßt, selbst nicht Gegensätze, sondern streng korrelative Momente, die erst inihrer Beziehung aufeinander den einheitlichen Sinn eines Begriffskonstituieren. [...] Der echte Begriff aber soll die Differenzen, die in ihm selbstliegen, nicht in dieser Weise auslöschen und zudecken, sondern er soll sieumgekehrt offenbaren und ersichtlich machen, indem er zugleich freilich eineübergreifende Regel ausdrückt, durch welche alle diese Differenzenaufeinander bezogen und aneinander gebunden sind. Diese Bindung undVerpflechtung kommt nur in einer Wechselbeziehung, in einer Art Bewegungvon der Einheit zur Andersheit und in der Gegenbewegung von der Andersheitzur Einheit hin, zustande. Und sie ist es, die nunmehr für Platon den Akt des‚Logischen‘ überhaupt konstituiert [...].“ (PdG, 128 f.)

Ohne die Beziehung von dem einen auf das andere, ohne die logische und dialektische

Bewegung vom einen zum anderen hin, gibt es auch das, was Vernunft, was Erkenntnis

genannt wird, nicht mehr. Platon stelle in den Altersdialogen das logische Problem des

Urteils in aller Schärfe dar. Als Sokratiker war er selbst ursprünglich von einem

Begriffsproblem ausgegangen und hatte das Allgemeine, das er suchte, als das Allgemeine

des Begriffs bestimmt. „In den Alterswerken erst weitet sich der Begriff der

‚Gemeinschaft‘, der sich bisher auf das Verhältnis der Erscheinung zur Idee bezog, zum

Ausdruck eines Verhältnisses, das unter den Ideen selbst stattfindet.“ (PdG, 130) Damit

wird es zur höchsten Aufgabe der Dialektik, diese systematische Gemeinschaft

herzustellen:

„Die ,Natur‘ jeder Idee, ihr reines Wesen, schließt also notwendig bestimmteRelationen positiver wie negativer Art, Relationen des ,Seins‘ und des Nicht-Seins, der Andersheit oder der Entgegensetzung, der Verträglichkeit oder

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Unverträglichkeit inbezug auf andere Ideen in sich. Damit erst ist das Urteil alsEinheit des Verschiedenen und somit als synthetisches Urteil gefunden.“ (PdG,130)

Die gesamte griechische Logik hatte nach Cassirer seit Parmenides mit dem Urteilsproblem

gerungen. Die Logik war aber zu keiner Lösung dieses Problem gelangt, „weil sie einseitig

am Satz der Identität als dem obersten Kriterium aller Wahrheit festhielt“ (ibd.). Erst der

Platonische Begriff des Nicht-Seins bringt nach Cassirer die Lösung aus diesem logischen

Bann, erst mit ihm dringt echte geistige Bewegung in die Sphäre des Logischen ein:

„Platon hat hier dieselbe Leistung für die Logik vollbracht, die Demokrit kraftdes gleichen Begriffs für die Physik vollzogen hat. Wie Demokrit alsNaturforscher, so wendet Platon sich als Ideenforscher gegen die Eleatik undihr starres Seins- und Einheitsprinzip: wie jener das Nicht-Seiende, das ,Leere‘,insofern als real erweist, als es die Bedingung für die Bewegung der Atome,also die Bedingung für das Sein und die Erkennbarkeit irgendwelcherobjektiver V er hä l t n i s s e des Realen bildet, so zeigt Platon, daß ohnedasselbe keine objektive U nte r sc he idung , keine Abgrenzung bestimmterlogischer Seins- und Sinnsphären möglich wäre. So bahnt Demokrit alsPhysiker, Platon als Dialektiker den Weg zum kritischen Verständnis desRelationsbegriffs ― jener zeigt, was die Relation im Aufbau des Systems derNatur, dieser, was sie im Aufbau des Systems des reinen Wissens bedeutet.Wenn die Ideenlehre keine andere Leistung als diese vollbracht hätte ― wennsie lediglich den Charakter des Urteils als synthetischen Urteils, als Einheit desVerschiedenen, festgestellt hätte, so würde sie schon aus diesem Grunde eineschlechthin fundamentale Bedeutung für die Geschichte der Logik und für diegesamte Geschichte der Philosophie besitzen.“ (PdG, 131)

1.5. Die ‚Stufen der Objektivierung‘ innerhalb der Erkenntniskritik

Cassirer interpretiert, wie es für einen Neukantianer der Marburger Schule selbst-

verständlich ist, Kants kritische Philosophie in erster Linie als eine ‚Theorie der

Erfahrung‘: „Den wesentlichen Inhalt der Kantischen Lehre bildet nicht das Ich, noch sein

Verhältnis zu den äußeren Gegenständen, sondern worauf sie sich in erster Linie bezieht,

das ist die Gesetzlichkeit und die logische Struktur der Erfahrung“ (EP II, 662). Ungeachtet

dieser Aussage macht er aber auch deutlich, dass bei Kant seiner Meinung nach im

Zusammenhang mit dem Gegenstandsbegriff der Begriff der Objektivität im Vordergrund

steht: „Die Grundfrage der Kritik der reinen Vernunft läßt sich durch den Begriff der

Objektivität bezeichnen. Die objektive Gültigkeit unserer apriorischen Erkenntnisse zu

50

erweisen, bildet ihre zentrale Aufgabe“ (EP II, 733). Cassirer weist auch darauf hin, dass

die methodische Grundlegung, die Kant in der Kritik der reinen Vernunft gegeben hat, als

Voraussetzung für all seine eigenen Arbeiten auf dem Gebiet der theoretischen Philosophie

angesehen werden muss.137 So bildet der Begriff der Objektivität sowohl in SuF als auch in

PsF den Ausgangspunkt seiner Begriffstheorie.

Der Prozess, über den man nach und nach zur ‚Objektivität‘ gelangt, kann nach Cassirer in

drei Stufen unterteilt werden, die er als „Stufen der Objektivierung“ (SuF, 367) oder

„Stufenfolge in den Graden der Objektivität“ (SuF, 365) bezeichnet. Die Untersuchungen

in der vorliegenden Arbeit werden offenlegen, dass die Objektivierungsstufen oder auch

Objektivitätsstufen eng mit den drei Stufen der Symbolfunktion in PsF —

Ausdrucksfunktion, Darstellungsfunktion und Bedeutungsfunktion — in Verbindung

stehen, deren Unterschiede später in Kapitel 3 dargestellt werden.

Die erste Stufe beginnt mit der unmittelbaren Erfahrung, „die noch von keinem Moment

der Reflexion durchsetzt ist“ und diese Stufe ist die des ‚Daseins‘ schlechthin, „die alle

Inhalte gleichmäßig und unterschiedslos in sich befaßt“. Das Bewusstsein kann etwas nur

in der Form auffassen, „in der es sich der direkten Erfahrung darbietet“. In dieser Stufe

besteht noch keine feste Scheidewand zwischen Erfahrungen: „Die mannigfachen Inhalte

ordnen sich gleichsam in e ine r Ebene: noch gibt es keine bestimmten Gesichtspunkte, die

irgendeinen Vorrang des einen vor den andern begründen könnten.“ (SuF, 361) Die direkte

Wahrnehmung bietet uns nur isolierte Bruchstücke, „nur völlig d i s k r e t e Werte, die in

keiner Zusammenfassung ein stetiges Ganzes ausmachen“ dar (SuF, 366).

Man muss aber dieser Stufe, sofern man zur Charakteristik derselben den Gegensatz des

Subjektiven und Objektiven heranziehen möchte, das Merkmal „durchgängiger

Objektivität“ anerkennen: „denn in ihr besitzen die Inhalte noch jene Passivität, jene

fraglose und unzweifelhafte Gegebenheit, die wir mit dem Gedanken des ‚Dinges‘ zu

verknüpfen pflegen“ (SuF, 361).

Die zweite Stufe beginnt unmittelbar, sobald die logische Reflexion diesen Eindruck der

„vollkommenen Einheit und Geschlossenheit“ aufhebt (SuF, 361). In dieser Stufe setzt die

Entzweiung ein, die bereits in den ersten Ansätzen der wissenschaftlichen Weltbetrachtung

verborgen liegt: „Die Grundtendenz dieser Betrachtung geht dahin, die sinnlichen Daten

nicht einfach hinzunehmen, sondern sie in ihrem Wer t e zu unterscheiden“ (SuF, 361).

137 Vgl. Cassirer, ZLS, S. 227 f. Er macht deutlich, dass er in PsF dem Weg, „den Kant der ,kritischenPhilosophie‘ gewiesen hat“, zu folgen versucht: „Sie [PsF] will nicht von einem allgemeinendogmatischen Satz über die Natur des absoluten Seins ausgehen, sondern sie stellt vorerst die Frage, wasdie Aussage über ein Sein, über einen ,Gegenstand‘ der Erkenntnis überhaupt bedeutet, und auf welchenWegen und durch welche Mittel Gegenständlichkeit überhaupt erreichbar und zugänglich ist.“

51

Man solle hier nicht bei dem metaphysischen Unterschied des Innen und Außen stehen

bleiben, denn damit sei ein Gegensatz gegeben, der keine Vermittlung zulasse. Bei Cassirer

geht es darum, zu erkennen, dass der Gegenssatz des Subjektiven und Objektiven in einer

‚Beziehung‘ steht, „die zwischen dem relativ engeren und dem relativ weiteren

Erfahrungskreis, zwischen relativ abhängigen und relativ unabhängigen Urteilen besteht“

(SuF, 365). Wenn der sinnliche Eindruck, der einem gegeben ist, von der Farbe her als

grün oder blau bezeichnet wird, so bedeutet dies, dass ein ‚primitiver‘ Urteilsakt ausgeübt

wurde, der bereits in jener Richtung „vom Variablen zum Konstanten“ liegt (SuF, 366).

Der Inhalt der Empfindung wird hier vom momentanen Erlebnis losgelöst und erscheint als

ein gleichbleibendes Moment, das sich in identischer Bestimmung festhalten lässt. Aber es

genügt hier nicht, „sinnliche Wahrnehmungen schlechthin zusammenzunehmen, sondern

neben diese bloße Vereinigung des Gegebenen muß ein Akt der l og i s che n E r gänzung

treten“ (ibd.). Auf dieser zweiten Stufe tritt nach Cassirer „das allgemeine Verfahren der

Umformung und Bereicherung des Gegebenen auf Grund der logischen Forderung seiner

durchgängigen Verknüpfung“ in voller Schärfe hervor (ibd.). Der Gegenstand der

Erfahrung wird „als ein kon t inu i e r l i ches Sein gedacht, dessen Fortbestand in jedem

Punkte der stetigen Folge der Zeitmomente als no t we nd ig postuliert wird“ (ibd.). Die

direkte Wahrnehmung, wie zum Beispiel das ‚Gesehene‘ und ‚Gehörte‘ gebe nur

unzusammenhängende, zeitlich auseinanderfallende Massen von Perzeptionen, während

der Begriff des ‚Gegenstandes‘ die vollkommene Erfüllung der Zeitreihe, also streng

genommen die Setzung eines unendlichen Inbegriffs von Elementen, verlange.

Die dritte Stufe ist gekennzeichnet durch die Fortbildung des oben erwähnten allgemeinen

Verfahrens, worauf die Wissenschaft ihre Definition der Natur und des Naturobjekts

gründen soll (vgl. SuF, 366). Die logischen Ansätze werden jetzt bewusst aufgenommen

und in methodischer Absicht weitergeführt. In diesem Zusammenhang hebt Cassirer die

‚Denktätigkeit‘ hervor:

„Um diese Festigkeit und Stetigkeit, die in keinem sinnlich wahrnehmbarenObjekt jemals völlig erfüllt ist, zu erreichen, sieht sich der Gedanke zu einemhypothetischen Unterbau des empirischen Seins hingeführt, der aber keineandere Funktion besitzt, als die beständige Ordnung innerhalb dieses Seinsselbst darzustellen. [...] Der Abschluß dieses Prozesses wäre erreicht, sobald esuns gelungen wäre, zu jenen letzten Konstanten der Erfahrung überhauptvorzudringen, die, wie sich zeigte, zugleich Voraussetzung und Ziel derForschung bilden. Das System dieser unveränderlichen Elemente bildet dasMuster der Objektivität überhaupt; ― sofern dieser Terminus rein auf eineBedeutung eingeschränkt wird, die der Erkenntnis völlig faßbar und erreichbar

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ist.“ (SuF, 367)

Wie man diesem Zitat entnehmen kann, meint Cassirer mit der oben erwähnten ‚logischen

Ergänzung‘ im Grunde genommen die Zuordnungsfunktion des Gedankens. Der Gedanke

der Ordnung und der Objektivität, die man über die einzelnen Stufen der Objektivierung

erreicht, lässt sich auch in seinem Systembegriff erkennen, was zur Folge hat, dass er auch

zu einem grundlegenden Gedanken seiner Begriffstheorie in SuF wird, in der der

Funktionsbegriff und der damit verbundene Gesetzesbegriff hervortreten.

Ihmig stellt im Zuge seiner Untersuchung in der Schrift Cassirers Invariantentheorie der

Erfahrung und seine Rezeption des ›Erlanger Programms‹ fest138, dass Kant die Idee eines

Systems der Erfahrung auch unter Einschluss der besonderen Naturgesetze entwickelt hat139

und Cassirer in diesem Sinne sein eigenes System auch als System der Erfahrung versteht.

Cassirers Kantinterpretation entnimmt er, dass die Zusammenhänge in Kants

Transzendentalphilosophie für Cassirer von Bedeutung sind, die „zwischen dem Begriff

der Objektivität und dem Begriff des Gegenstandes, sowie zwischen dem Gesetzes- und

Naturbegriff bestehen“.140 Im Folgenden wird, um die Begriffstheorie Cassirers besser zu

verstehen, Ihmigs Interpretation des Cassirerschen Systembegriffs kurz dargestellt.

Die oben genannten ‚Zusammenhänge‘ in Kants Systemgedanken sind Cassirers Ansicht

nach durch die Entwicklung der Einzelwissenschaften nicht im Geringsten widerlegt,

sonderen haben sich vielmehr als zutreffend erwiesen. Kants transzendentale Methode, die

nicht ein im absoluten Sinne gegebenes Sein voraussetzt, sondern die Bedingungen

aufzusuchen bestrebt ist, ist nach Cassirer charakteristisch für eine „funktionale Ansicht der

Erkenntnis“.141 Diese ‚funktionale Ansicht der Erkenntnis‘ interpretiert Ihmig als objektive

Erkenntnis, von der „immer nur in bezug auf gewisse (apriorische) Erkenntnisbedingungen

gesprochen werden kann“142:

„Daher hat die Transzendentalphilosophie primär die Aufgabe, das

138 Ihmig (1997a).139 Ihmig verweist hier auf Kants Einleitung in Kritik der Urteilskraft (Kant, Akademie Ausgabe, Bd. XX,

S. 201-211) und zitiert daraus folgende Stelle (S. 203): Ihmig (1997a) S. 158: „Gleichwohl aber bedarfdie besondere, durchgehends nach beständigen Principien zusammenhängende, Erfahrung auch diesensystematischen Zusammenhang empirischer Gesetze, damit es für die Urteilskraft möglich werde, dasbesondere unter das Allgemeine, wie wohl immer noch empirische und so fort an, bis zu den oberstenempirischen Gesetzen und denen ihnen gemäßen Naturformen zu subsumiren, mithin das Aggregatbesonderer Erfahrungen als System derselben zu betrachten; denn ohne diese Voraussetzung kann keinduchgängig gesetzmäßiger Zusammenhang, d.i. empirische Einheit derselben statt finden.“

140 Ihmig (1997a), S. 216.141 Ihmig (1997a), S. 163; vgl. EP IV, S. 69 f.142 Ihmig (1997a), S. 216 f.

53

Zustandekommen objektiver Erkenntnis dadurch einsichtig zu machen, daß siediese Bedingungen offenzulegen versucht. Genügen diese Bedingungendarüber hinaus den Kriterien, daß sie erstens in einem inneren Zusammenhangstehen, d.h. eine Einheit gemäß einem Prinzip und somit ein System bilden, undzweitens auch für empirische Gegenstände Gültigkeit besitzen, dann machendiese Bedingungen ein System der Erfahrung aus.“143

Diese Erkenntnisbedingungen bei Kant weisen nach Ihmig erhebliche qualitative

Differenzen auf. Die Erkenntnisbedingungen gliedern sich „in eine Stufenreihe von

empirischen Anschauungen, reinen Anschauungen, Kategorien und Vernunftideen“. Die

qualitativen Unterschiede entstehen jedoch dadurch, dass Kant „jede einzelne Stufe mit

einem besonderen Erkenntnisvermögen in Verbindung bringt und diese Vermögen als

völlig unabhängig voneinander betrachtet“.144 So bedeutet das Korrelat der empirischen

Anschauungen bei Kant ‚Vermögen der Sinnlichkeit‘, das Korrelat der reinen

Anschauungen ‚Einbildungskraft‘, das Korrelat der Kategorien ‚Verstand‘ und das der

Ideen ‚Vernunft‘.

Bei der „Weiterentwicklung kantischer Grundgedanken im Hinblick auf die Konstitution

eines Systems der Erfahrung“145 versucht Cassirer zwar einerseits Kants Konzeption des

Systems von Erkenntnisbedingungen beizubehalten, andererseits aber gibt er „Kants

Korrelation der einzelnen Stufen mit gewissen Erkenntnisvermögen“,146 auf:

„Gleichzeitig versucht er vermittels einer Analyse der unterschiedlichen Stufenein Prinzip herauszuarbeiten, das von der speziellen Natur einer ganzbestimmten Stufe unabhängig ist und deshalb als ein Gesichtspunkt betrachtetwerden kann, der diese ›Objektivitätsstufen‹, wie sie Cassirer auch nennt, zueinem System verbindet. Das von Cassirer entdeckte methodische Prinzip,welches die Einheit des Systems fundieren soll, manifestiert sich in derMethode der Invariantenbildung.“147

Diese ‚Methode der Invariantenbildung‘ erläutert Cassirer selbst in SuF so, dass die

kritische Erfahrungslehre die „a l l geme i ne Inva r i an t e n theo r i e de r E r fah r ung“

bilden will und damit versucht, eine Forderung zuerfüllen, „auf welche die Charakteristik

des induktiven Verfahrens selbst immer deutlicher hindrängt“ (SuF, 356). Dieser Gedanke

der Invariantenbildung lehnt sich an Felix Kleins Erlanger Programm an und wird später

im Zusammenhang mit Cassirers Wahrnehmungstheorie im Kapitel 4 detailliert erörtert.

143 Ihmig(1997a), S. 217.144 Ihmig(1997a), S. 217.145 Ihmig(1997a), S. 217.146 Vgl. 1.3.1, Distanzierung von der Kantischen ‚Psychologie‘ bei Cohen.147 Ihmig(1997a), S. 217.

54

Ihmig ist der Meinung, dass Cassirer sich, um seinen eigenen Systembegriff von der

traditionellen metaphysisch-spekulativen Fassung desselben abzugrenzen, der von Kant

genannten Entgegensetzung zwischen dem Analytisch-Allgemeinen und dem Synthetisch-

Allgemeinen bedient. Cassirers kritische Betrachtungsweise bei der Systembildung beruht

auf Kants Begriff des Analytisch-Allgemeinen, und dies schildert er selbst im

Zusammenhang mit seiner Philosophie der symbolischen Formen.148 Die Allgemeinheit

aber, die er sowohl in SuF als auch in PsF darzustellen versucht, wird von ihm als

„konkrete Allgemeinheit“ (SuF, 26) bezeichnet, auf welche im Zusammenhang mit dem

Allgemeinen bei Rudolf Hermann Lotze im Kapitel 3 näher eingegangen wird.

Hier wird zunächst der Frage Ihmigs nachgegangen: „Was ist der Unterschied zwischen

dem ›Analytisch-Allgemeinen‹, welches Cassirer als grundlegend für seine System-

konzeption betrachtet, und dem ›Synthetisch-Allgemeinen‹?“149 Cassirer erläutert den

Unterschied zwischen den beiden in PsF. Die Frage nach der Allgemeinheit geht nach

Cassirer auf Platons Sophistes zurück, in dem dieser die systematische ‚Gemeinschaft‘ der

reinen Ideen und Formbegriffe aufgestellt hat. Die zwei Betrachtungsweisen, die kritische

und die metaphysisch-spekulative Betrachtungsweise, unterscheiden sich in ihrer Lösung

dieses Problems und auch dadurch, „daß beide einen verschiedenen Begriff des

‚Allgemeinen‘ und damit einen verschiedenen Sinn des logischen Systems selber

voraussetzen“ (PsF I, 28). So erläutert Cassirer, dass die kritische Betrachtung auf den

Begriff des Analytisch-Allgemeinen zurückgeht und die metaphysisch-spekulative

Betrachtung auf den des Synthetisch-Allgemeinen hinzielt. Die kritische Betrachtung

begnügt sich damit, „die Mannigfaltigkeit der möglichen Verknüpfungsformen in einem

höchsten Systembegriff zu vereinen und sie damit bestimmten fundamentalen Gesetzen

un te r z uor dnen“ (PsF I, 29). Die metaphysisch-spekulative Betrachtungsweise setzt

dagegen den Begriff des Synthetisch-Allgemeinen voraus, insofern „sich a us einem

einzigen Urprinzip die Totalität, die konkrete Gesamtheit der besonderen Formen

entwickelt“ (ibd.)

Im § 77 der Kritik der Urteilskraft Kants geht es um die Eigentümlichkeit des

menschlichen Verstandes, die nach Ihmig für die gesamte Transzendentalphilosophie von

wesentlicher Bedeutung ist. Kant schloss eine Möglichkeit der Beantwortung der Frage,

auf welchem Grund die Beziehung der Vorstellung zum Gegenstand beruht, kategorisch

148 Vgl. PsF I, 29; auch EP III, S. 363 und 373, Anm.1; Ihmig (1997a), S. 218: „Der Systembegriff deskritischen Idealismus gründet sich demgemäß auf einen Begriff der Allgemeinheit, der dem desAnalytisch-Allgemeinen nahesteht“.

149 Ihmig (1997a), S. 218.

55

aus, „weil der menschliche Verstand nicht von der Art ist, daß er mit seinen Vorstellungen

zugleich die Gegenstände der Vorstellungen hervorbringen könnte gleich einem göttlichen

Verstand oder intellectus archetypus“.150 In der Kritik der reinen Vernunft spricht er von

letzterem „als einem intuitiven Verstand, der »in einer nichtsinnlichen Anschauung« (Kant,

KrV, B 312) seinen Gegenstand zu erkennen vermag, im Unterschied zu unserem rein

diskursiven Verstand, der in seiner Erkenntnismöglichkeit immer auf sinnliche

Anschauungen angewiesen ist“.151

Kant unterscheidet im § 77 der Kritik der Urteilskraft diesen diskursiven menschlichen

Verstand von einem intuitiven Verstand. Er wähle, so Ihmig, um diesen Unterschied

deutlich zu machen, als Kriterium die Art und Weise, wie das Allgemeine auf das

Besondere bezogen werde, „denn der menschliche Verstand erkennt vermittels Begriffen

(indem er urteilt), und Begriffe sind nach Kant allgemeine Vorstellungen“.152 So bezeichnet

Kant die Allgemeinheit, die für Begriffe charakteristisch ist, als Analytisch-Allgemeines:

„Unser Verstand nämlich hat die Eigenschaft, daß er in seinem Erkenntnisse, z.B. der Ursache eines Produkts, vom A na ly t i s ch- Al lge me i ne n (vonBegriffen) zum Besondern (der gegebenen empirischen Anschauung) gehenmuß; [...] Nun können wir uns aber auch einen Verstand denken, der, weil ernicht wie der unsrige diskursiv, sondern intuitiv ist, vom Syn the t i s ch -A l lgeme ine n (der Anschauung eines Ganzen, als eines solchen) zumBesondern geht, d. i. vom Ganzen zu den Teilen; der also und dessenVorstellung des Ganzen die Zufä l l i gke i t der Verbindung der Teile nicht insich enthält, um eine bestimmte Form des Ganzen möglich zu machen, dieunser Verstand bedarf, welcher von den Teilen, als allgemein-gedachtenGründen, zu verschiedenen darunter zu subsumierenden möglichen Formen, alsFolgen, fortgehen muß.“153

Kant verbindet auch das Kennzeichen des Analytisch-Allgemeinen der Begriffe als

conceptus communes mit dem Begriff der ‚analytischen Einheit des Bewusstseins‘.154

Cassirer interpretiert diesen Begriff des Analytisch-Allgemeinen Kants in Bezug auf

150 Ihmig (1997a), S. 219. 151 Ihmig (1997a), S. 219.152 Ihmig (1997a), S. 219.153 Kant (W1989), S. 361. Kant, KdU, A 344 f./ B 348 f.154 Vgl. Ihmig (1997a), S. 219; Kant (W1990), S. 137. KrV, B 134 Anm: „Die analytiche Einheit des

Bewußtseins hängt allen gemeinsamen Begriffen, als solchen, an, z. B. wenn ich mir r o t überhauptdenke, so stelle ich mir dadurch eine Beschaffenheit vor, die (als Merkmal) irgend woran angetroffen,oder mit anderen Vorstellungen verbunden sein kann; also nur vermöge einer vorausgedachtenmöglichen synthetischen Einheit kann ich mir die analytische vorstellen.“; vgl. auch Ihmig (1997a), S.221. Ihmig interpretiert die analytische Einheit bei Kant wie folgt: „Das Spezifikum dieser Art vonEinheit tritt am deutlichsten hervor, wenn man einen Blick auf das Verhältnis von Ganzem und Teilenwirft, das für diese Einheit typisch ist, und dieses Verhältnis dann mit demjenigen konfrontiert, das jederintuitiven Erkenntnis (bzw. insbesondere den Anschauungen) innewohnt.“

56

Gesetzesbegriff und Funktionsbegriff:

„Kant schränkt das Denken auf das »Analytisch-Allgemeine« ein: aber diesesAnalytisch Allgemeine ist für ihn nicht das Allgemeine des Gattungsbegriffssondern des Funktions- und Gesetzesbegriffs. Das Allgemeine desGesetzesbegriffes enthält das Besondere der Einzelfälle nicht nur, wie dieGattung, un t e r sich, sondern wahrhaft i n sich: es bestimmt an ihnen nicht nureinen Te i l , der willkürlich herausgehoben wird, sondern unterwirft sie in ihrerGesamtheit der Regel einer notwendigen Verknüpfung, wenngleich auch hierdie Besonderheiten der Anwendung (die besonderen »Konstanten« desEinzelfalls) nicht nach der Weise des Synthetisch-Allgemeinen a us derGesetzesform als solcher herleitbar sind. Die Gesetzes- und Funktionsbegriffestellen so diejenige Art der »konkreten Allgemeinheit« dar, die innerhalb desAnalytisch-Allgemeinen des diskursiven Denkens allein erreichbar ist.“ (EP III,373, Anm.1).

Ihmigs Ansicht nach ist die aus diesem Text herauszulesende Behauptung Cassirers, dass

Kant ‚uneingeschränkt‘ das Analytisch-Allgemeine mit dem Gesetzesbegriff in Ver-

bindung gebracht haben soll, recht problematisch: „Denn dasjenige, was Cassirer als

›Gattungsbegriffe‹ bezeichnet, deren Allgemeinheit er von der Allgemeinhiet der

Gesetzesbegriffe abgrenzt, entspricht im wesentlichen den empirischen Allge-

meinbegriffen“ und „es gibt aber keine Hinweise darauf, daß Kant, wenn er davon ausgeht,

daß das Analytisch-Allgemeine a l l en diskursiven Begriffen anhaftet, gerade die

empirischen Allgemeinbegriffe ausgeschlossen hätte.“155 Daher meint Ihmig, dass man

Cassirers These auf die Kategorien und die mathematischen Begriffe einschränken sollte.

Es ist charakteristisch für Cassirers frühe Arbeiten wie SuF, dass er das Analytisch-

Allgemeine mit dem Gesetzes- und Funktionsbegriff in Verbindung bringt. Es kommt ihm

in seiner Interpretation des Analytisch-Allgemeinen in erster Linie auf das Verhältnis vom

Besonderen und Allgemeinen an,156 das auch für den Begriff des Analytisch-Allgemeinen

kennzeichnend ist.

155 Ihmig (1997a), S. 224.156 Vgl. Ihmig (1997a), S. 225.

57

2. Die Theorie des Begriffs in Substanzbegriff und Funktionsbegriff

2.1. Die Theorie der Begriffsbildung

2.1.1. Cassirers Kritik der traditionellen Abstraktionstheorie

Die traditionelle aristotelische Logik ist nach Cassirer in allgemeinen Prinzipien der

getreue Ausdruck und Spiegel der Aristotelischen Metaphysik: „Die Auffassung vom

Wesen und von der Gliederung des Seins bedingt die Auffassung der Grundformen des

Denkens“ (SuF, 4). So wird im System des Aristoteles die Lücke in der Logik durch die

Metaphysik ergänzt und ausgefüllt. In den modernen Bestrebungen zur Reform der Logik

bleibt jedoch diese Verknüpfung mit allgemeinen Grundanschauungen und tritt besonders

an den großen Wendepunkten in der geschichtlichen Entwicklung deutlich hervor. Die im

Aufbau der logischen Erkenntnisse der Theorie des Begriffs zugewiesene fundamentale

Bedeutung weist auf diesen Zusammenhang zurück.

Cassirers Interpretation zufolge wurde die Weiterentwicklung der Logik seit Aristoteles

durch den Versuch gekennzeichnet, das Problem der ontologischen Form der

aristotelischen Logik zu lösen. Die neuzeitlichen Bestrebungen zur Reform der Logik

versuchten das überlieferte Problem zu lösen, indem sie die ‚Lehre vom Urteil‘ der ‚Lehre

vom Begriff‘ vorangehen ließen.157 Diese neuen Versuche zeigten aber, dass die

Urteilslehre selbst nur aus der aristotelischen Abstraktionstheorie des Gattungsbegriffs

heraus zu verstehen und zu begründen ist. Somit hat sich nur die äußere Gliederung der

Elemente des Begriffs verschoben: „Der gedankliche Zwang, unter dem auch all jene

Neuerungsversuche noch standen, machte sich alsbald darin geltend, daß in die Urteilslehre

selbst sich immer wiederum Züge eindrängten, die nur aus der herkömmlichen Theorie des

Gattungsbegriffs völlig zu verstehen und zu begründen waren.“ (SuF, 4 f.) Daraus ergibt

sich für Cassirer, dass sich alle kritischen Versuche einer Umformung der Logik auf einen

Punkt konzentrieren müssen, nämlich auf die allgemeine Lehre der Begriffsbildung.

Cassirer interpretiert den Grundbegriff der Substanz in den logischen Theorien von

157 Vgl. ‚Logik‘ in: Ritter et al. (HWP), Bd. 5, S. 357-383; Logik in der Neuzeit vgl. Ritter et al. (HWP),Bd. 5, S. 452-459; vgl. auch Kneale & Kneale (1962). Man kann die neuzeitliche Entwicklung in derGeschichte der Logik in drei Perioden unterteilen: die erste dauerte von 16. Jahrhundert bis Mitte des17. Jahrhunderts, die zweite von Mitte des 17. bis zum 18. Jahrhundert und die dritte Periode das 19.Jahrhundert. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich die traditionelle Logik in verschiedene Richtungen.Cassirer ist der Ansicht, dass die Bestrebungen, die traditionelle aristotelische Logik zu überwinden, bisEnde des 19. Jahrhunderts (bis vor Frege) erfolglos waren.

58

Aristoteles, die bei diesem als erste Kategorie158 hervortritt, wie folgt:

„Die Lehre vom Begriff ist das eigentliche Bindeglied, das beide Gebiete[Logik und Metaphysik] aneinander kettet. [...] Die echten und letztenGemeinsamkeiten der Dinge sind zugleich die schöpferischen Kräfte, ausdenen sie hervorgehen und denen gemäß sie sich gestalten. Der Prozeß derVergleichung der Dinge und ihrer Zusammenfassung nach übereinstimmendenMerkmalen, wie er sich zunächst in der S p r ac he ausdrückt, führt nicht insUnbestimmte, sondern endet, richtig geleitet, in der Feststellung der realenWesensbegriffe. Das Denken isoliert nur den Ar t t ypus , der in der einzelnenkonkreten Wirklichkeit als tätiger Faktor enthalten ist und der denmannigfaltigen, besonderen Gestaltungen die allgemeine Prägung verleiht. Diebiologische Gattung bezeichnet zugleich das Ziel, nach welchem die einzelneLebensform hinstrebt, wie die immanente Kraft, von der ihre Entwicklunggeleitet ist. Die logische Form der Begriffsbildung und der Definition kann nurim Hinblick auf diese Grundverhältnisse des Realen festgestellt werden. DieBestimmung des Begriffs durch seine nächsthöhere Gattung und durch diespezifische Differenz gibt den Fortschritt wieder, kraft dessen die realeSubstanz sich successiv in ihre besonderen Seinsweisen entfaltet. So ist esdieser Gr undbeg r i f f de r Subs t a nz , auf den auch die rein logischenTheorien des Aristoteles dauernd bezogen bleiben. Das vollständige System derwissenschaftlichen Definitionen wäre zugleich der vollständige Ausdruck dersubstanziellen Krä f t e , die die Wirklichkeit beherrschen [...].“ (SuF, 9)

Die höchste Wirklichkeit in der aristotelischen Logik ist somit die Wirklichkeit der

Substanz und sie geht nur von festen Subjekten aus, um ihnen nacheinander verschiedene

Prädikate zuzusprechen. Dies bedeutet, dass das Urteil hier nur als das Verhältnis des

Seienden zu Seienden wiederholt und nachgebildet werden kann. Der ‚Dingbegriff‘ ist der

Gattungsbegriff in der aristotelischen Klassifikation und diese wird für Cassirer ein

Problem des Verhältnisses zwischen Inhalt und Umfang des Begriffs. An die Stelle des

Substanzbegriffs, der nach Cassirer bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hindurch in der

Philosophie der Logik weitgehend seine oberste Position bewahrt hat, soll der

Funktionsbegriff in der modernen Logik der wissenschaftlichen Erkenntnistheorie treten.159

Mit dieser Überzeugung analysiert Cassirer die Prinzipien der Begriffsbildung erneut.

Cassirers Kritik an der traditionellen formalen Logik richtet sich hauptsächlich auf ihre

158 Vgl. Aristoteles (1995), Bd. 2, S. 11: Topik, Erstes Buch, 9. Kapitel (103b); vgl. auch Mittelstraß (EPW1995), S. 368. Die Zehn Kategorien von Aristoteles sind Substanz, Quantität, Qualität, Relation, Ort,Zeitpunkt, Lage, Haben, Wirken und Leiden.

159 Vgl. Irvine (2003), p. 9; vgl. Kneale & Kneale (1962), besonders chap. VIII-4. Frege’s Achievement. p.510 ff.: „Furthermore, even the supposedly simple theory of the four kinds of categorical statementbecomes more easily intelligible when it is realized that, whatever else it may convey, ‘Everyman ismortal’ entails the universal closure of the functional expression ‘if x is a man x is mortal’. And whenthis has been clarified, the relation of Aristotle’s logic to that of the Stoics becomes clear for the firsttime. In short, it is no exaggeration to say that use of quantifiers to bind variables was one of the greatestintellectual inventions of the nineteenth century.“ (p. 511).

59

Voraussetzungen und Verfahren. Denn bei ihr werden nur das Dasein der Dinge und das

Vermögen des Geistes vorausgesetzt. Das heißt, in der traditionellen formalen Logik bildet

das Dasein der Dinge nur als gegebenes Existierendes den Gegenstand der Betrachtung,

und dies geschieht durch das psychologische Vorstellungsvermögen des Geistes. Dabei

werden die Objekte, die nur durch den gemeinsamen Besitz ein und derselben Eigenschaft

gekennzeichnet werden, klassifiziert.

Im aristotelischen Verfahren der Klassifikationssyteme werden die Dinge, die durch den

gemeinsamen Besitz der Eigenschaft gekennzeichnet sind, zunächst zu Klassen vereinigt.

Danach entsteht allmählich eine immer festere Ordnung und Gliederung des Seins je nach

der Abstufung der sachlichen Ähnlichkeit. Bei der Begriffsbildung hebt man nur die

übereinstimmenden Merkmale eines Objekts hervor, lässt alle übrigen fallen und gewinnt

dadurch statt der ursprünglichen, anschaulichen Gesamtheit nur einen Teilbestand. Dieser

Teil aber erhebt den Anspruch, das Ganze zu beherrschen und zu erklären. Das

Vergleichen und Unterscheiden, also die Reflexion führt zu einer Abstraktion, die diese

verwandten Züge losgelöst von aller Beimischung mit ungleichartigen Bestandteilen rein

für sich erfasst und heraushebt. Dadurch besitzt jede Reihe vergleichbarer Objekte einen

höchsten Gattungsbegriff. Diese Auffassung liegt der traditionellen formalen Logik

zugrunde und sucht ihre Rechtfertigung in der Einheit des natürlichen Weltbildes.

In der traditionellen formalen Logik wird der Allgemeinbegriff durch die Klassifikation

von Gattungen und Arten gebildet, die durch Subsumption von Merkmalen gewonnen

werden. Durch Weglassung von Merkmalen der Arten steigt man zu einem immer

allgemeineren Gattungsbegriff empor. Dabei entsteht ein reziprokes Verhältnis von Inhalt

und Umfang des Gattungsbegriffs, das heißt, durch das Verhältnis zwischen der Abnahme

der Größe des Inhalts und der Zunahme der Größe des Umfangs entsteht eine

‚Begriffspyramide‘. Die Einteilung in Gattungen und Arten führt zu immer allgemeineren

und inhaltsärmeren Begriffen und das heißt, das Besondere verliert dadurch die spezifische

Bedeutung. So besitzen die allgemeinsten Begriffe keinerlei auszeichnende

Eigentümlichkeit und Bestimmtheit und führen mithin nicht zur Bestimmung der

Gegenstände und zu einer daraus folgenden Umgestaltung des natürlichen Weltbildes. Dies

bedeutet, das Allgemeine ist hier das inhaltsärmere Allgemeine, dennoch erhebt es

Anspruch auf Wirklichkeit. Das Reziprozitätsgesetz von Inhalt und Umfang in der

traditionellen Abstraktionstheorie zeigt für Cassirer deshalb den Mangel dieser Theorie an.

Er betont daher an dieser Stelle, dass es die Aufgabe des höheren Begriffs ist, den niederen

verständlich zu machen, „indem er den Grund seiner besonderen Gestaltung aufdeckt und

60

für sich hinstellt“ (SuF, 8).

Die logische Form der Begriffsbildung und der Definition in der aristotelischen Logik

kann, wie oben erwähnt, nur im Hinblick auf die in der Metaphysik thematisierten

Grundverhältnisse des Realen festgestellt werden. Die Bestimmung des Begriffs durch

seine nächsthöhere Gattung und durch die spezifische Differenz gibt den Fortschritt der

Klassifikation wieder, kraft dessen die reale Substanz sich sukzessiv in ihre besonderen

Seinsweisen entfaltet. So ist es dieser Grundbegriff der Substanz, auf den auch die rein

logischen Theorien von Aristoteles dauerhaft bezogen bleiben. Daher stellt Cassirer fest,

dass die spezifische Fassung der aristotelischen Logik durch die spezifische Fassung seines

Seinsbegriffs bedingt ist. Das, was Cassirer an der aristotelischen Logik am schärfsten

kritisiert, ist somit ihr Begriffsrealismus, in dem der Begriff als etwas Existierendes in der

Wirklichkeit und als Abbild der Wirklichkeit betrachtet wird. Hierbei geht es letzten Endes

um eine Feststellung der realen Wesensbegriffe.

Aristoteles habe selbst, so Cassirer, das Problem seiner Begriffsbildung erkannt und in

seiner Kategorienlehre die verschiedenen Arten und Bedeutungen des Seins geschieden

und versucht, diese Sonderung des Seins in seine verschiedenen Unterarten zu verfolgen

und deutlich zu machen. Dennoch ist in all diesen Versuchen der logische Vorrang des

Substanzbegriffs unverändert geblieben. So besagt das vollständige System der

wissenschaftlichen Definitionen bei Aristoteles nichts anderes als den vollständigen

Ausdruck der substantiellen Kräfte, die die Wirklichkeit beherrschen: „Quantität und

Qualität, Raum- und Zeitbestimmungen bestehen [so gesehen] nicht an und für sich,

sondern lediglich als Eigenschaften an absoluten, für sich bestehenden Wirklichkeiten.“

(SuF, 10) Damit wird Folgendes für die aristotelische Begriffsbildung charakteristisch:

„Das kategoriale Grundverhältnis des D inges zu seinen E i genscha f t e nbleibt fortan der leitende Gesichtspunkt, während alle relativen Bestimmungennur insofern in Betracht gezogen werden, als sie sich zuletzt, durchVermittlungen irgendwelcher Art, in Zustände an einem Subjekt oder an einerMehrheit von Subjekten umdeuten lassen.“ (SuF, 10)

Die Kategorie der Relation bei Aristoteles werde auch durch seine metaphysische

Grundlehre in eine abhängige und untergeordnete Stellung heruntergestuft. Jean Seidengart

bemerkt auch unter diesem Gesichtspunkt zum aristotelischen Substantialismus, dass die

Begriffstheorien von diesem und des Empirismus den Substraten auf Kosten der

Relationen ein Vorrecht einräumten: „Indem sich jedoch die wissenschaftliche Sprache

61

mathematisierte, hat sie die Verschiedenheit der kategorialen Tätigkeiten erweitert, welche

die gewöhnliche Sprache entweder auf die mereologische Relation (das Ganze oder der

Teil) oder auf die Zugehörigkeitsrelation (Ding und Eigenschaft) beschränkte.“160

Für Cassirer bleibt zu fragen, ob die aristotelische Theorie des Begriffs zureichend das

Verfahren der konkreten Wissenschaften darstellen kann, ob sie alle Einzelzüge dieses

Verfahrens umfassen und beherrschen und diese Einzelzüge in ihrem Zusammenhang wie

in ihrer spezifischen Besonderung darstellen kann. Man muss dies verneinen, denn „die

Begriffe, die Aristoteles letzten Endes sucht und auf die sein Interesse vornehmlich

gerichtet ist, sind die Gattungsbegriffe der beschreibenden und klassifizierenden

Naturwissenschaft“ (SuF, 15). Hierin liegt für Cassirer auch der Grund, warum die

aristotelische Lehre von der Begriffsbildung in all den mannigfachen Wandlungen, die sie

erfahren hat, unverändert geblieben ist. In der Geschichte der Philosophie zeigt sich in der

Tat, so Cassirer, dass aller Kampf gegen den aristotelischen Begriffsrealismus an diesem

Punkt wirkungslos geblieben ist.

Was Cassirer in Frage stellt, ist die Geltung und Anwendbarkeit der traditionellen

logischen Lehre vom Begriff. Es müssen sich gegen den gesamten Weg der

Begriffsbildung dieser Logik Bedenken erheben, weil diese Art und Weise der

Begriffsbildung schließlich gänzlich ins Leere führt. Insbesondere kann diese Methode der

Begriffsbildung die Forderung nach der ‚konkreten wissenschaftlichen Begriffsbildung‘

nicht erfüllen. Für ihn geht es letzten Endes um die Geltung und Anwendbarkeit des

Begriffs für die Wissenschaft. Daher stellt er dem Gattungsbegriff den Funktionsbegriff

gegenüber und sucht seine Begründung hierfür im Prozess der wissenschaftlichen

Entwicklung. Er ist der Meinung, wenn man den Gang der wissenschaftlichen Entwicklung

verfolgt, muss man anerkennen, dass die Logik des mathematischen Funktionsbegriffs der

Logik des Gattungsbegriffs gegenübertritt. Dabei stellt er eine Wandlung in der Bedeutung

des Substanzbegriffs fest und erkennt zugleich die Notwendigkeit der Schaffung einer

neuen Bedeutung für den Substanzbegriff.

Die Psychologie der Abstraktion — die nach Cassirer für George Berkeley charakteristisch

ist — hat auch nur „die Fähigkeit der Reproduktion einmal gegebener

Vorstellungsinhalte“, auf die der logische Gehalt schließlich zurückgeht: „Abstrakte

Gegenstände entstehen in jedem vorstellenden Wesen, dem sich in wiederholten Wahr-

nehmungen gleiche Bestimmungen des Wahrgenommenen dargeboten haben.“ (SuF, 13)

Somit bringt die psychologische Deutung des Begriffs der Abstraktion keine wahrhafte

160 Seidengart (1995a), S. 198.

62

Umwandlung. Der wissenschaftliche Begriff in Mathematik und Physik hat eine andere

Aufgabe und Leistung zu erfüllen; ihm soll nicht wie bei Berkeley die Aufgabe der

scholastischen Erklärung zugewiesen werden, sondern er soll im Sinne einer

Begriffsfunktion verstanden werden. Die psychologische Ableitung des Begriffs bei

Berkeley hat das traditionelle Schema nicht verändert, es wurde nur auf ein anderes Gebiet

verschoben. Denn die Vorstellungen existierender Dinge werden miteinander verglichen

und daraus wird ein gemeinsamer Bestand herausgehoben: „Der Prozeß ist gleichsam nur

in eine andere Dimension versetzt, indem er aus dem Gebiet des Physischen in das des

Psychischen übergetreten ist, während sein allgemeiner Ablauf und seine Struktur die

gleichen geblieben sind.“ (SuF, 12) Cassirers Kritikpunkt an der psychologischen

Abstraktion ist, dass die Vorstellung bei ihr das Abbild des sinnlichen Gegenstandes ist.

Auch die Assoziationstheorie David Humes wird von Cassirer kritisch unter denselben

Gesichtspunkten, unter denen er zuvor Berkeley kritisiert hatte, beleuchtet. Die Assoziation

der Vorstellungen bei Hume, in der Gedanken und Vorstellungen im Gedächtnis

beziehungsweise in Einbildungen miteinander verknüpft sind, unterliegt den drei

Prinzipien der Vorstellungsverknüpfung: Ähnlichkeit, Berührung in Zeit und Raum und

Ursache und Wirkung.161 Der Standpunkt dieser psychologischen Abstraktion ist für

Cassirer mit dem des mittelalterlichen ‚Konzeptualismus‘ nahe verwandt:

„die sachlichen und sprachlichen Abstrakta können aus den Wahrneh-mungsinhalten abgeleitet werden, weil sie in ihnen als konstante gemeinsameBestandteile aktuell enthalten sind. Nur darin besteht der Unterschied derontologischen und der psychologischen Betrachtungsweise, daß die ,Dinge‘ derScholastik das im Denken abgebildete Seiende bedeuten, während dieGegenstände, von denen hier die Rede ist, nicht mehr sein wollen alsVorstellungsinhalte.“ (SuF, 14)

Er kritisiert den britischen Empirismus auch später in PsF wiederholt an diesem Punkt,

besonders unter Verwendung der Bezeichnung psychologischer Empirismus oder

Sensualismus (vgl. PsF III, 338 ff.; auch EP II, Sechstes Buch). Eine kurze Darstellung der

Ansichten des britischen Empirismus in Bezug auf ‚general ideas‘ (allgemeine

Vorstellungen)162 wird verdeutlichen, worin Cassirers Motivation zur Kritik begründet

liegt.

Worauf John Locke in seinem Werk An Essay concerning Human Understanding abzielt,

161 Vgl. Hume (1748/1993), p. 25.162 Die Lockesche ‚idea‘ wird gewöhnlich ins Deutsche als ‚Vorstellung‘ und manchmal auch als ‚Idee‘

übersetzt.

63

schildert er mit folgenden Worten: „[...] being my Purpose to enquire into the Original,

Certainty, and Extent of humane Knowledge; together, with the Grounds and Degrees of

Belief, Opinion and Assent“.163 Dabei definiert er das Wort ‚idea‘ als „whatsoever is the

Object of the Understanding when a Man thinks“,164 was bedeutet, dass unsere Kenntnis

von physischen Dingen oder Materie aus ‚ideas‘ besteht. Aber seine ‚idea‘ schließt, wie er

selbst anführt, die ‚Sinnesempfindung‘ (sensation) und die ‚Sinnesbilder‘ (sensory images)

ein.165

Bei der Erklärung der ‚ideas‘ unterschied Locke zwischen primären und sekundären

Qualitäten. Ein Körper kann primäre Qualitäten, wie zum Beispiel Größe, Gestalt und

Bewegung besitzen, und nur die primären Qualitäten gehören den physischen Dingen selbst

an. Diese primären Qualitäten gleichen den primären Qualitäten von ‚ideas‘. Die

sekundären Qualitäten, wie zum Beispiel Farbe, Geruch und Geräusch, sind dagegen

abhängig von unseren Sinnesorganen und daher nur im Geist (mind) existierend.166 Locke

versucht auch mit dem Beispiel des Begriffs ‚allgemeines Dreieck‘ das Problem der

‚general ideas‘ zu verdeutlichen. Demnach kann die ‚idea‘ kein besonderes Merkmal des

einzelnen Dreiecks, wie zum Beispiel rechtwinklig oder schiefwinklig, tragen, sondern nur

all die Gesamtheit von Dreiecken.

George Berkeley hat gegen Lockes Konzept ‚abstrakter allgemeiner Vorstellungen‘ unter

anderem den Einwand erhoben, dass man die Vorstellung von außer-mentalen Objekten

nicht formen kann:

163 Vgl. Locke (1690/1979), p. 43.164 Locke (1690/1979), p. 47.165 Vgl. Robinson, Berkeley (1734/1999), Introduction, p. xii: „The term ‘idea’ as coined by Locke and

used by Berkeley does not have its normal sense — a fact much remarked upon by Locke’scontemporaries. We think of ideas as creatures of the intellect, as things that are thought: indeed ‘idea’is very close to ‘concept’. Locke, however, defined an idea as ‘whatever is the object of theunderstanding when a man thinks’ and included sensations and sensory images amongst ideas: indeed,not merely did he include them, they became the paradigm ideas, for ideas are treated as sensory, orquasi-sensory, images. Traditional Aristotelian and scholastic philosophy had distinguished between twokinds of objects of mental life. On the one hand, there are forms or species, which are universals, and soappropriate for intellect and thought: these are, roughly, what we would call ‘concepts’. On the otherhand, there are phantasms, which are the objects for sensory perception, and are particular sensoryimages or sense-data. Locke’s adoption of the term ‘idea’ for all mental objects signalled hisdetermination to assimilate these two groups — the intellectual and the sensory — to each other, and tomake the sensory the model for both.“

166 Vgl. Locke (1690/1979), pp. 134-137. „That the Ideas of primary Qualities of Bodies, areResemblances of them, and their Patterns do really exist in the Bodies themselves; but the Ideas,produced in us by these Secondary Qualities, have no resemblance of them at all.“ (p. 137); vgl. auchRobinson, Berkeley (1734/1999), Introduction, p. xi: „But the secondary qualities are a vital componentof the world as we experience it. It follows that the world of experience is very different from the worldas science discovers it really to be. And not merely are they different qualitatively, but they are locatedin different realms. Because the things of which we are immediately aware really do possess secondaryqualities, and because secondary qualities exist only ‘in the mind’, then what we are aware of are ‘ideasin the mind’, not objects in the external world.“

64

„Berkeley [...] was determined to hold on to the ideas that we are directly awareof the physical world itself, whilst accepting that what we are aware of must bemind-dependent ideas. He was, therefore, forced to conclude that the physicalworld consists essentially of ideas in our minds — that its esse is percipi: formaterial objects, to be is to be perceived.“167

Bei Berkeley sind alle allgemeinen Vorstellungen individuelle Vorstellungen, die jeweils

mit einem Namen verknüpft sind, der eine umfassende Bedeutung besitzt und ähnliche

Vorstellungen hervorruft. Die folgende Erklärung von Howard Robinson verdeutlicht recht

anschaulich den Unterschied zwischen Locke und Berkeley:

„Locke tried to solve the problem of generality by invoking abstract generalideas, which, sometimes at least, he treats as abstract general images. So theidea of triangle is an image which is, at the same time, every specific kind oftriangle — isosceles, rectangle, scalene, etc. — and none in particular. Berkeleyhas no difficulty showing that there is no sense in the idea of such an image.His alternative theory is that a thoroughly particular image becomes general byrepresenting or standing for some class of images.“168

Auch David Hume ist der Ansicht, dass „all unsere Vorstellungen oder schwächeren

Auffassungen [...] Abbilder unserer Eindrücke oder lebhafteren Auffassungen“ sind.169 In

seinem Werk A Treatise of Human Nature schildert er zunächst die Ansicht Berkeleys zur

allgemeinen Vorstellung wie folgt:

„A very material question has been started concerning abstract or generalideas, whether they be general or particular in the mind’s conception of them.A great philosopher [Dr. Berkeley] has disputed the receiv’d opinion in thisparticular, and has asserted, that all general ideas are nothing but particularones, annexed to a certain term, which gives them a more extensivesignification, and makes them recall upon occasion other individuals, which aresimilar to them.“170

Man könne, so Hume weiter, die allgemeine Vorstellung als diejenige auffassen, die

entweder alle Einzelheiten oder überhaupt keine Einzelheiten enthalte.171 Er vertritt die

erstere Meinung und versucht dabei zu beweisen, dass man nicht eine allgemeine

167 Robinson, Berkeley (1734/1999), Introduction, pp. xiii f.168 Robinson, Berkeley (1734/1999), Introduction, p. xxviii.169 Hume (1748/1993), S.19.170 Hume (1739/1978), Book I, Section VII, Of abstract ideas, p. 17. 171 Vgl. Hume (1739/1978), p. 18: „The abstract idea of a man represents men of all sizes and all qualities;

which ’tis concluded it cannot do, but either by representing at once all possible sizes and all possiblequalities, or by representing no particular one at all.“

65

Vorstellung ohne die eines bestimmten Grades, zum Beispiel der Größe oder Qualität

haben kann:

„first, by proving, that ’tis utterly impossible to conceive any quantity orquality, without forming a precise notion of its degrees: And secondly byshowing, that tho’ the capacity of the mind be not infinite, yet we can at onceform a notion of all possible degrees of quantity and quality, in such a mannerat least, as, however imperfect, may serve all the purposes of reflexion andconversation.“172

Cassirer anerkennt später in PsF im Zusammenhang mit der Symbolfunktion Berkeleys

‚Repräsentationsfunktion‘, wobei er besonders hervorhebt, dass dieser die Allgemeinheit

der „repräsentativen Funktion“ bestehen ließ, als er sich gegen die Lockesche allgemeine

Vorstellung richtete (vgl. PsF III, 339 ff.; EP II, 297 ff. ):

„Berkeley glaubt durch seine Kritik den Begriff an seiner Wurzel getroffen zuhaben ― aber denkt man diese Kritik zu Ende, so ergibt sich vielmehr ein fürsein Verständnis und für seine Würdigung höchst fruchtbares positivesMoment. Denn nicht der Begriff als solcher ist es, dem hier der Lebensfadenabgeschnitten wird ― sondern was durch einen scharfen Schnitt beseitigt wird,ist vielmehr die Verbindung, in welcher er sich bisher, kraft einerjahrhundertealten logischen und psychologischen Tradition, mit der»Allgemeinvorstellung«, mit der »general idea« befand. Diese letztere wirdentschlossen beseitigt, wird als innerlich-widerspruchloses Gebilde erkannt.Die »allgemeine« Idee, das B i ld eines Dreiecks, das weder rechtwinklig nochspitzwinklig noch stumpfwinklig, und das zudem dies alles zugleich sein soll,ist eine leere Erdichtung. Aber indem Berkeley diese Erdichtung bestreitet, hater damit, gegen seine eigene Grundabsicht, vielmehr erst für eine andere undtiefere Auffassung des Begriffs den Boden bereitet. Denn was auch er bei allerBekämpfung der allgemeinen V ors t e l l ung bestehen läßt, ist dieAllgemeinheit der r ep rä se n t a t i ve n Funk t ion .“ (PsF III, 339 f.)

Cassirer richtet schon im ersten Band seines Werkes Das Erkenntnisproblem in der

Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit seine Aufmerksamkeit auf den Begriff der

Repräsentation und hebt nun in SuF die Wichtigkeit der Funktion der Repräsentation

besonders hervor (vgl. SuF, 377). Die besondere Betonung und Kommentierung von

Berkeleys Repräsentation enthält nach Martina Plümacher bereits den Kern von Cassirers

Repräsentationstheorie,173 wie man sie beispielsweise in PsF findet.

Wie die Kritik am psychologischen Empirismus zeigt, bezieht sich für Cassirer der Streit

172 Hume (1739/1978), p. 18. 173 Plümacher (2004), S. 267.

66

zwischen Nominalismus und Realismus auch nur auf die Frage nach der metaphysischen

Wirklichkeit der Begriffe, „während die Frage nach ihrer gültigen logischen Def i n i t i on

außer Betracht bleibt“ (SuF, 11). Beide Seiten kommen nämlich stillschweigend überein,

dass „der Begriff als universale Gattung, als gemeinsamer Bestandteil in einer Reihe

gleichartiger oder ähnlicher Einzeldinge aufzufassen ist“ (ibd.):

„In den Handbüchern der formalen Logik bekundet sich diese Ansicht darin,daß hier in der Regel die Verhältnisse oder Beziehungen zu den‚außerwesentlichen‘ Merkmalen eines Begriffs gerechnet werden, die somit inseiner Definition ohne Schaden fortbleiben können. Hier tritt bereits einemethodische Sonderung von eingreifender Bedeutung hervor: je nach demverschiedenen Wertverhältnis, das zwischen Di ngbe gr i f f undR el a t i ons beg r i f f angenommen wird, unterscheiden sich [...] die beidentyp i s che n Ha up t f o r men der Log ik , die insbesondere in der modernenwissenschaftlichen Entwicklung einander gegenüberstehen.“ ( SuF, 10 f.)

Cassirer verdeutlicht im Aufsatz Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik

(1913) diesen Standpunkt der Begriffsbildung. Die Aufgabe der Erkenntniskritik, also die

Betrachtungsmethode der Erkenntnistheorie der kritischen Philosophie, besteht darin, „von

der Einheit des allgemeinen Objektbegriffs, der auf der Einheit des Bewusstseins ruht, auf

die Mannigfaltigkeit der notwendigen und hinreichenden Bedingungen zurückzugehen, die

ihn konstituieren“ und das Ganze der Erkenntnis in systematischer Einheit darzustellen (ET

I, 18). Die kritische Erkenntnistheorie soll daher den Sinn des Gegenstandsbegriffs

entwickeln und ihn in den Entgegensetzungen von Wahrheit und Falschheit, von

Notwendigkeit und Zufälligkeit deutlich machen. Von diesem Standpunkt aus schlägt

Cassirer vor, das Problem des aristotelischen Klassifikationsmodell in der traditionellen

Abstraktionstheorie durch die mathematischen Grundbegriffe, nämlich die Reihenbildung

mit ihrem Reihenbegriff und das Reihenprinzip abzulösen.

Die bis jetzt ausgeführten Einwände Cassirers gegen die Abstraktionstheorie können nach

Ihmig wie folgt zusammengefasst werden.174

1. Im Rahmen der traditionellen Abstraktionstheorie wird immer das Gegebensein einer

endlichen Anzahl von Dingen oder Inhalten vorausgesetzt.

2. Die Relation beschränkt sich auf die Ähnlichkeitsrelation.

3. Das Fortschreiten in der traditionellen Abstraktionstheorie bewegt sich hin zu Begriffen

von größerer Allgemeinheit im Weglassen von Merkmalen. Damit wird einerseits ein

völlig ‚leerer‘ Begriff als höchster Gattungsbegriff zum Zielpunkt jeder Begriffsbildung,

174 Ihmig (1993d), S. 181.

67

und „andererseits bleibt der Rückgang vom Allgemeinen zum Besonderen verstellt, da es

keine Möglichkeit gibt, den allgemeinen Begriff als Bestimmungsgrundlage des

besonderen Begriffs aufzufassen“.

4. In dieser Explikation der Begriffsbildung liegt ein Zirkel vor. Denn das gemeinsame

Merkmal, das verglichen werden solle, müsse schon vor der Vergleichung ausgewählt

werden und könne daher nicht als das Resultat dieser Vergleichung verstanden werden.

5. Bei der Auffassung des Begriffs als ein allgemeines Merkmal ist die Gefahr groß, dass

Begriffe und verglichene Dinge auf die gleiche Stufe gestellt werden und Begriffe auf diese

Weise als ein Teil der Wirklichkeit selbst angesehen werden können.

Cassirer leugnet aber ‚Dinge‘ in der anschaulichen Welt nicht, er hält selbst die Dinge für

unentbehrlich (vgl. ET I, 18). Was er lediglich ablehnt ist, dass man den Begriff nur als

Abbild von Dingen und mithin als den Begriff für die ganze Wirklichkeit auffasst. Wie

bereits erwähnt, ist es die Aufgabe der kritischen Erkenntnistheorie, den Sinn des

Gegenstandsbegriffs zu entwickeln und ihn in aller Relation deutlich zu machen:

„In diesem Sinne [im Sinne der Aufgabe der Erkenntniskritik] löst sichdasjenige, was die Erkenntnis ihren »Gegenstand« nennt, in ein Gewebe vonRelationen auf, die durch oberste Regeln und Prinzipien in sich selbstzusammengehalten werden. Und was hier im allgemeinen gilt, das bewährt sichweiterhin an den speziellen Dingbegriffen, mit denen die besonderenWissenschaften, wie auch die gewöhnliche Anschauung, operieren. Auch dieseBegriffe sind als Haltpunkte und erste Ansatzpunkte unentbehrlich: aber sobaldman ihren Sinn näher analysiert, erkennt man, daß in ihnen nicht irgendeinAbsolutum »jenseits« der logischen Erkenntnisformen gemeint ist, sonderneine Funktionsbeziehung innerhalb dieser Formen und kraft ihrer zumAusdruck gebracht werden soll.“ (ET I, 18)

Es geht Cassirer letztlich darum, den Dingbegriff als Relationsbegriff zu fassen und ihn als

Begriff der ‚funktionalen Beziehung‘ mit Hilfe der ‚Relationslogik‘ aufzufassen.

2.1.2. Die Reihenbildung und der Funktionsbegriff

Die mathematischen Begriffe unterscheiden sich von den empirischen, die lediglich die

Nachbildung irgendwelcher tatsächlicher Züge in der gegebenen Wirklichkeit der Dinge

sein wollen. Nach Cassirer ist es Ziel der mathematischen Begriffe, die Mannigfaltigkeit,

die den Gegenstand der Betrachtung bildet, erst zu schaffen, indem aus einem einfachen

68

Akt der Setzung durch fortschreitende Synthese eine systematische Verknüpfung von

Denkgebilden hervorgebracht wird. So tritt eine freie Produktion bestimmter Relations-

Zusammenhänge der Abstraktion gegenüber.

Der Akt der Identifikation in der traditionellen Abstraktionstheorie ist nur dann wirksam,

wenn die Ähnlichkeit der Dinge als solche erfasst und beurteilt wird, sonst bleiben das

Wahrnehmungsbild und ein neuer Eindruck so lange gleichgültig nebeneinander bestehen,

wie beide Elemente nicht als ähnlich erkannt sind. Der Mangel der traditionellen

Abstraktionstheorie besteht somit in dieser Einseitigkeit, mit der sie aus der Fülle der

möglichen Prinzipien lediglich das Prinzip der Ähnlichkeit herausgreift, statt das Prinzip

als wechselseitige logische Zuordnung anzusehen.

Gegenüber dieser traditionellen Abstraktionstheorie hebt Cassirer den Funktionsbegriff

oder Reihenbegriff hervor. Er ist der Auffassung, dass der Mangel des

Reziprozitätsgesetzes von Inhalt und Umfang der traditionellen Abstraktionstheorie durch

die Logik des mathematischen Funktionsbegriffs aufgehoben werden kann und „alle

Begriffsbildung an eine bestimmte For m de r R e ihenb i ldung gebunden ist“ (SuF, 19).

Damit wird der Reihenbegriff mit dem Funktionsbegriff gleichgestellt. Eine präzise

Definition des Funktionsbegriffs bleibt Cassirer zunächst schuldig, er merkt aber zur

‚Funktion‘ Folgendes an:

„Die Funktion F(a,b), F(b,c) ... die die Art der Abhängigkeit zwischen denaufeinanderfolgenden Gliedern festsetzt, ist augenscheinlich nicht selbst alsGlied der Reihe aufzeigbar, die ihr gemäß entsteht und sich entwickelt. DieEinheit des Begriffsinhalts kann somit aus den besonderen Elementen desUmfangs nur in der Weise ,abstrahiert‘ werden, daß wir uns an ihnen derspezifischen Regel, durch die sie in Beziehung stehen, bewußt werden: nichtaber derart, daß wir diese Regel au s ihnen, durch bloße Summierung oderFortlassung von Teilen zusammensetzen.“ (SuF, 21 f.)

Den Reihenbegriff erklärt er wie folgt:

„Wir gehen von einer Reihe a α1 β1, a α2 β2, a α3 β3 ... nicht unmittelbar zu ihremgemeinsamen B es t a nd t e i l a über, sondern denken uns das Ganze derEinzelglieder α durch einen veränderlichen Ausdruck x, das Ganze der Gliederβ durch einen veränderlichen Ausdruck y gegeben. Auf diese Weise fassen wirdas Gesamtsystem in einem Ausdruck a x y... zusammen, der durch stetigeAbwandlung in die konkrete Allheit der Reihenglieder übergeführt werdenkann und uns daher den Aufbau und die logische Gliederung des Inbegriffsvollgültig darstellt.“ (SuF, 29)

69

Somit kann man festhalten, dass Cassirer die Form der Reihenbildung analog zu den

mathematischen Reihen und deren Regeln beziehungsweise Prinzipien der Reihenbildung

darstellt. Dabei ist für Cassirer wichtig, dass das Gesetz beziehungsweise das bestehende

Reihenprinzip die Glieder zuordnet. Dadurch soll der Einzelwert der Glieder nicht verloren

gehen, und die neu gesetzten oder zugeordneten Glieder selbst bestimmen wiederum das

Reihenprinzip mit. Somit entsteht eine Korrelation zwischen dem Reihenprinzip und den

Reihengliedern. Im Gegensatz zur traditionellen Abstraktionstheorie, die einseitig nur aus

dem Prinzip der Ähnlichkeit den Gattungsbegriff bildet, erläutert er die Vorgehensweise

der Reihenbildung mit folgenden Worten:

Es „wird sich zeigen, daß eine Reihe von Inhalten, um begrifflich erfaßt undgeordnet zu heißen, nach den verschiedensten Gesichtspunkten abgestuft seinkann: sofern nur der leitende Gesichtspunkt selbst in seiner qualitativenEigenart, im Aufbau der Reihe unverändert festgehalten ist. So können wiretwa neben Ähnlichkeitsreihen, in deren einzelnen Inhalten ein gemeinsamerBestandteil gleichförmig wiederkehrt, Reihen setzen, in denen zwischen jedemGlied und dem darauf folgenden ein bestimmter Grad des U n te r s ch i e de sobwaltet; so können wir die Glieder nach Gleichheit oder Ungleichheit, nachZahl und Größe, nach räumlichen und zeitlichen Beziehungen oder nach ihrerkausalen Abhängigkeit geordnet denken. Entscheidend ist in jedem Fallelediglich die N ot wend igke i t s - R e l a t i on , die damit geschaffen wird, undfür die der Begriff nur der Ausdruck und die Hülle ist, nicht dieGattungsvor s t e l l ung , die sich unter besonderen Umständen nebenhereinstellen mag, die aber in die Definition nicht als wirksamer Bestandteileingeht.“ (SuF, 20)

Die Reihenordnung soll sich „als Raum- und Zeitordnung, als Größen- und Zahlordnung,

als Ordnung der wechselseitigen dynamischen Verknüpfung der Ereignisse“ darstellen.

Und in dieser Reihenordnung liegt das Moment, „was den »realen« empirischen Inhalt von

dem bloß »subjektiven« flüchtigen und wechselnden Eindruck unterscheidet“. Das Problem

des Begriffs der Existenz kann daher nur dann bewältigt werden, „wenn in einer

allgemeinen Theorie der »Reihenbegriffe« die Grundlage für das Verständis seiner

einzelnen konstitutiven Momente gewonnen worden ist“ (ET I, 18 f.).

Man kann somit das Reihenprinzip als allgemeines Gesetz der Zuordnung ansehen:

„Die Verknüpfung der Glieder wird in jedem Falle durch irgendein allgemeinesGese t z de r Z uor dnung geschaffen, kraft dessen eine durchgängige Regelder Abfolge festgestellt wird. Was den Elementen der Reihe a, b, c ... ihrenZusammenhalt verleiht, ist nicht selbst ein neues Element, das mit ihnensachlich verschmolzen wäre, sondern es ist die Regel des Fortschritts, die alsein und dieselbe festgehalten wird, gleichviel an welchen Gliedern sie sich

70

darstellt.“ (SuF, 21)

Was Cassirer in der Theorie der Abstraktion als Hindernis ansieht, ist der Umstand, dass

die traditionelle Abstraktionstheorie „die Inhalte, aus welchen der Begriff sich entwickeln

soll, selbst nicht als unve r bundene Besonde rhe i t e n voraussetzt, sondern sie bereits

stillschweigend in der Form einer geordneten Mannigfaltigkeit denkt“ (SuF, 22). Das heißt,

dass der ‚Begriff‘ nicht abgeleitet, sondern vorweggenommen ist, „denn indem wir einer

Mannigfaltigkeit eine Ordnung und einen Zusammenhang ihrer Elemente zusprechen,

haben wir ihn, wenn nicht in seiner fertigen Gestalt, so doch in seiner grundlegenden

Funktion bereits vorausgesetzt“ (ibd.). Das ‚Gegebene‘ sei damit lediglich beschrieben,

und gemäß einem bestimmten begrifflichen Gegensatz beurteilt und geformt.

Cassirers Analyse der traditionellen Abstraktionstheorie macht deutlich, dass der Vergleich

der Inhalte in der traditionellen Abstraktionstheorie ein vager und vieldeutiger Ausdruck

ist. Für ihn sind es verschiedene kategoriale Funktionen, die in der traditionellen

Abstraktionstheorie unter einem bloßen Sammelnamen vereinigt sind. Die kategorialen

Akte, die man durch den Begriff des Ganzen und des Teils, des Dinges und seiner

Eigenschaften bezeichnet, stehen nicht isoliert, sondern gehören einem System logischer

Kategorien an. Daher könnte man versuchen, zunächst einen Gesamtplan dieses Systems in

einer allgemeinen logischen Theorie der Relationen zu erstellen und danach seine

Einzelheiten zu bestimmen. Es ist aber nicht möglich, unter dem eingeschränkten

Gesichtspunkt bestimmter Beziehungen, wie bei der traditionellen Abstraktionstheorie mit

ihrer Ähnlichkeitsrelation, einen Überblick über das Ganze möglicher Weisen der

Verknüpfung zu gewinnen.

Der Begriff tritt für Cassirer nicht bloß der sinnlichen Wirklichkeit gegenüber, sondern

bildet einen Teil dieser Wirklichkeit selbst. Die Begriffe der exakten mathematischen

Wissenschaft stehen in dieser Hinsicht mit den Begriffen der beschreibenden

Wissenschaften auf gleicher Stufe. Der Begriff soll nur nicht als Nachbildung einer

dinglich vorhandenen Existenz, nicht als Aggregat von Einzelvorstellungen, sondern eher

als gedankliche Schöpfung verstanden werden (vgl. EP I, 3). Der wissenschaftliche Begriff

muss derjenige sein, der „an Stelle der ursprünglichen Unbestimmtheit und Vieldeutigkeit

des Vorstellungsinhalts eine scharfe und eindeutige Bes t i mmung setzt“ (SuF, 7). Wenn

die Aufgabe, die der logischen Theorie gegenüber einem bestimmten Begriff zukommt,

darin bestehen sollte, die Funktionen in ihrer Eigentümlichkeit darzulegen und ihre

formalen Grundmomente zu entwickeln, dann bedeutet dies, dass die traditionelle

71

Abstraktionstheorie diese Aufgabe verdunkelt.

Der ‚echte‘ Begriff bei Cassirer bedeutet daher, dass der Begriff die Eigentümlichkeiten

und Besonderheiten der Inhalte nicht nur nicht achtlos lässt, sondern auch versucht, „das

Auftreten und den Zusammenhang dieser Besonderheiten als no twe nd ig zu erweisen.

Was er gibt, ist eine universelle R ege l für die Verknüpfung des Besonderen selbst“ (SuF,

25). Somit soll sich der allgemeine Begriff zugleich als der inhaltsreichere erweisen175:

„wer ihn [den allgemeinen Begriff] besitzt, der vermag aus ihm allemathematischen Verhältnisse, die an dem besonderen Problem auftreten,abzuleiten, während er anderseits dieses Problem nicht isoliert, sondern inkontinuierlicher Verknüpfung mit anderen, also in seiner tieferensystematischen Bedeutung erfaßt. Die Einzelfälle sind nicht von derBetrachtung ausgeschieden, sondern als völlig bestimmte S tu f en imallgemeinen Prozeß der Veränderung fixiert und festgehalten.“ (SuF, 25)

Hier geht es nicht um die Allgemeinheit eines Vorstellungsbildes, sondern die

Allgemeingültigkeit eines Reihenprinzips. Man schafft für die Glieder der Mannigfaltigkeit

eine eindeutige Beziehung, indem man sie durch ein durchgreifendes Gesetz verbunden

denkt. Unter diesem Gesichtspunkt tritt die Logik des mathematischen Funktionsbegriffs

der Logik des Gattungsbegriffs gegenüber, die unter der Herrschaft des Substanzbegriffs

steht.

Cassirers Analyse kommt zu dem Ergebnis, dass der Funktionsbegriff das Allgemeine und

zugleich das Besondere des Begriffs darstellt. Er hebt in diesem Zusammenhang die

Hegelsche ‚konkrete Allgemeinheit‘ hervor, die der ‚abstrakten Allgemeinheit‘ des

Begriffs gegenübergestellt wird. Abstrakte Allgemeinheit komme der Gattung zu, sofern

sie, an und für sich gedacht, alle Artunterschiede fallen lasse. Konkrete Allgemeinheit

komme dagegen dem Gesamtbegriff zu, „der das Besondere aller Arten in sich aufnimmt

und es nach einer Regel entwickelt“ (SuF, 26). Cassirer sucht diese konkrete Allgemeinheit

in seiner Begriffstheorie sowohl in SuF als auch in PsF zu bestimmen. Er lehnt sich in

diesem Zusammenhang besonders an Lotze an, der gegen das Abstraktionsverfahren

Einwände erhebt und dabei das erste Allgemeine vom zweiten Allgemeinen unterscheidet

(vgl. 3.3.5).

Das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem soll nach Cassirer unter der Korrelation

betrachtet werden. Das Allgemeine und Besondere sollen unter einer gegenseitig

175 Vgl. Seidengart (1995a) 199 f.: „So ist der Reichtum der Individuen nicht verloren, also nichts von denindividuellen Werten oder vom Besonderen: der mathematische Begriff führt zu einem konkretenAllgemeinen. Dieses konkrete Allgemeine ist nichts anderes als das Gesetz der Variation der Größen.“

72

bedingenden Beziehung stehen, so dass das Allgemeine das Besondere enthält und der

Erkenntnisgrund des Besonderen sein wird und das Besondere zugleich allgemeine

Bestimmungen enthält und auf das Allgemeine hinweist.176 Darüber hinaus ist er der

Ansicht, dass Inhalt und Umfang eines Begriffs verschiedenen Dimensionen angehören:

„Der I n h a l t des Begriffs läßt sich in die Elemente des U m f a n g s nichtauflösen, weil beide nicht in einer Linie liegen, sondern prinzipiellverschiedenen Dimensionen angehören. Die Bedeutung des G e s e t z e s , dasdie Einzelglieder verknüpft, ist durch die Aufzählung noch so vieler Fälle desGesetzes nicht zu erschöpfen; denn bei dieser Aufzählung fiele gerade daserzeugende P r i n z i p fort, das die einzelnen Glieder zu einem funktionalenInbegriff verknüpfbar macht.“ (SuF, 33)

Die Reihenform, die die Glieder einer Mannigfaltigkeit verknüpft, lässt sich nicht in der

Art eines einzelnen a oder b oder c denken. Wenn man die Relation in der Reihenform von

a b c ... kenne, so könne man sie durch Reflexion herauslösen und zum gesonderten

Gegenstand des Denkens machen. Es sei dagegen unmöglich die Eigenart der

verknüpfenden Relation zu gewinnen, indem man diese Form von a b c ... als bloßes

Beisammen von a, b, c in der Vorstellung betrachte. So bestimmt die Logik der Relationen

die gesamte Wirklichkeitserkenntnis. Das Sein besteht ausschließlich in der logischen

Bestimmtheit, die nur in einem synthetischen Akt der Definitionen ihren Ausdruck findet.

Cassirers Rückgriff auf die Mathematik und die mathematische Naturwissenschaft bei der

Rechtfertigung seiner Theoriebildung steht, wie man deutlich merkt, unter dem Einfluss

der Marburger Schule.

Im mathematischen Funktionsbegriff, der durch die Zeichen aufgezeigt wird, ist also die

Funktion selbst nicht als Glied der Reihe aufzeigbar, man muss die Regel der Funktion

mitdenken. Das heißt, mit der Logik des mathematischen Funktionsbegriffs ist ein

Gesetzesbegriff des Denkens gemeint, anders formuliert, eine Denktätigkeit. Diese Form

der Logik findet nach Cassirer nicht nur in der Mathematik, sondern auch in der modernen

Naturerkenntnis ihre Anwendung, die wesentlich eine mathematische Naturwissenschaft

ist. Denn „der Funktionsbegriff enthält in sich zugleich das allgemeine Schema und das

Vorbild, nach welchem der moderne Naturbegriff in seiner fortschreitenden

176 Vgl. Ihmig (1993d), S. 185 f.; vgl. auch den Korrelationsbegriff von Natorp in Allgemeine Psychologie1912. Die Korrelation von Subjektivem und Objektivem ist als lebendiger Prozess zu denken, in demvon dem vordergründig Subjektiven zum Subjektiven im Vollsinn, zur „konkreten T o t a l i t ä t d e sE r l e b t e n “ (S. 70) fortgegangen wird — hier wird deutlich, dass die Korrelation von Allgemeinem undBesonderem auf die Subjektivität zielt, dies ist bei Cassirer wohl in PsF intendiert, aber im SinneCohens, nicht Natorps übernommen worden.

73

geschichtlichen Entwicklung sich gestaltet hat“ (SuF, 27).

Beim sensualistischen Empirismus mit seiner Psychologie der Abstraktion geht der

logische Gehalt der Begriffsform schlicht auf die Reproduktion der einmal gegebenen

Vorstellungsinhalte zurück. Innerhalb der Naturwissenschaften angewandt, wird der

Begriff zur Kopie des Gegebenen. Die Gültigkeit des physikalischen Begriffs soll dagegen

nicht auf seinem Gehalt an direkt aufzeigbaren ‚Daseinselementen‘ beruhen, sondern auf

der ‚Verknüpfung‘: „Der e inze l e ne Begriff kann daher niemals für sich allein an der

Erfahrung gemessen und beglaubigt werden, sondern er erhält diese Bestätigung stets nur

als Glied eines theoretischen Gesamtkomplexes.“ (SuF, 194; vgl. 2.2.3, 90)177 Die

Betrachtung der physikalischen Grundbegriffe bestätigt und erweitert diese Auffassung der

mathematischen Begriffsbildung, die durch das Verfahren der Reihenbildung zeigt, dass

sich die Einheit des Begriffs „nicht in einem festen Bestand an Merkmalen“ bekundet,

„sondern in der Regel, durch welche die bloße Verschiedenheit als eine gesetzliche

Abfolge von Elementen dargestellt“ wird. (SuF, 196) Alle diese Begriffe fassen das

‚Gegebene‘ in Reihen und weisen ihm innerhalb dieser Reihen seine feste Stelle an: „Der

wissenschaftliche Versuch leistet diese letzte endgültige Fixierung; aber damit sie möglich

ist, müssen die Reihenprinzipien selbst, müssen die Ges i ch t s punk te , unter denen die

Vergleichung und Zuordnung der Elemente erfolgt, theoretisch festgestellt und begründet

sein.“ (SuF, 196) Das einzelne Ding muss dann für den Physiker einen Inbegriff

physikalischer Konstanten bedeuten, denn „außerhalb dieser Konstanten besitzt er keine

Möglichkeit und keine Handhabe, die Besonderheit eines Objekts zu bezeichnen“ (ibd.).

In der theoretischen Erkenntnis muss man den Gegenstand des Begriffs nicht in der

anschaulichen sinnlichen Welt suchen. Der Begriff, der aus den Gegenständen der

empirischen Welt gewonnen wird, kann niemals eine exakte Korrespondenz in denselben

Gegenständen finden. Die Geschichte der traditionellen formalen Logik zeigt aber nach

Cassirer, dass sie diesen Fehler wiederholt. Die Irrungen in der logischen und

erkenntnistheoretischen Theorie über das Wesen des Begriffs gehen nach Cassirer darauf

zurück, dass man ihn nicht als reinen Gesichtspunkt, sondern als ein sichtbares Ding, als

ein Etwas, annahm. Die Nominalisten, die gegen den Begriffsrealismus waren, behandelten

die Sprache, das Wort oder den Laut, als eine sekundäre Art des Daseins. Die Materialisten

und Spiritualisten, die Realisten und Norminalisten haben immer wieder den Fehler

gemacht, in irgendeine Sphäre des Seins zurückzugreifen, wenn sie den Sinn des Begriffs

festzustellen suchten.

177 Vgl. Duhem (1906/1998), S. 245.

74

2.2. Die Bedeutung des Funktionsbegriffs

2.2.1. Der Funktionsbegriff und der Zahlbegriff

Geschichtlich betrachtet ist es umstritten, wann der Funktionsbegriff ursprünglich

eingeführt wurde, und es gibt diesbezüglich sehr unterschiedliche Meinungen. Eine von

diesen geht davon aus, dass er seinen Ursprung in der Mathematik der alten Griechen hat,

und eine andere traut ihn sogar den babylonischen Mathematikern mit „Instinkt für

Funktionaltät“ zu.178

Die Entwicklung der Idee der Funktion bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts kann nach A. P.

Youschkevitsch in drei Perioden unterteilt werden:

„(1) Antiquity, the stage in which the study of particular cases of dependencesbetween two quantities had not yet isolated general notions of variablequantities and functions. (2) The Middle Ages, the stage in which, in theEuropean sciences of the 14th century, these general notions were first definitelyexpressed both in geometrical and mechanical forms, but in which, as also inantiquity, each concrete case of dependence between two quantities wasdefined by a verbal description, or by a graph rather than by formula. (3) TheModern Period, the stage in which, beginning at the end of the 16th century,and, especially, during the 17th century, analytical expressions of functionsbegan to prevail, the class of analytic functions generally expressed by sums ofinfinite power series soon becoming the main class used.“179

Da sich die Interpretation der Funktion als analytischer Ausdruck bis zur Mitte des 18.

Jahrhunderts als inadäquat erwies, wurde eine neue, allgemeine Definition eingeführt.

Diese später universell in der mathematischen Analysis akzeptierte Definition eröffnete in

der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts enorme Möglichkeiten für die Entwicklung einer

Theorie der Funktionen. Die allgemein akzeptierte Definition lautet: „a function y of the

variable x, y = f (x), is a relation between pairs of elements of two number sets, X and Y,

such that to each element x from the first set X one and only one element y from the second

set Y is assigned according to some definite rule“.180 Jedoch offenbarten sich auch logische

Schwierigkeiten, die dazu führten, dass im 20. Jahrhundert die Essenz des

Funktionsbegriffs grundlegend überdacht wurde. Der Streit zwischen den verschiedenen

Standpunkten ist nicht abgeschlossen. Sicher ist aber, dass das Wort ‚Funktion‘ erstmals in

178 Youschkevitch (1976/77), S. 38. 179 Youschkevitch (1976/77), S. 39.180 Youschkevitch (1976/77), S. 39.

75

Leibniz’ Manuskript genannt wurde, das im August des Jahres 1673 erschienen ist.181 Das

lateinische Wort für Funktion hat in dem Fall aber nicht ganz den heutigen mathematischen

Sinn, sondern steht für „Verrichtung“, „die ein Glied eines Organismus oder ein Teil einer

Maschine zu leisten hat, seine Aufgabe, Stellung oder Wirkungsweise“.182

Der Funktionsbegriff bei Leibniz steht nach Cassirer mit dem Wahrheitsbegriff in engem

Zusammenhang. Die Wandlung des Wahrheitsbegriffs in der Geschichte der Philosophie,

von dem dogmatischen wie dem skeptischen Wahrheitsbegriff zum idealistischen

Wahrheitsbegriff, zeigt, dass die Wahrheit der Erkenntnis nicht „an irgendwelchen

transzendenten Objekten“ gemessen wird, sondern umgekehrt „die Bedeutung des

Gegenstandsbegriffs auf der Bedeutung des Wahrheitsbegriffs“ gründet. „Die ‚Wahrheit‘

der Erkenntnis wandelt sich aus einem bloßen Bildausdruck zum reinen

Funktionsausdruck“ (ZER, 54). Diese Wendung wird nach Cassirer zuerst bei Leibniz in

aller Klarheit vollzogen, wenngleich der Leibnizsche neue Grundgedanke in der Fassung

des Metaphysischen, in der Sprache des monadologischen Weltbildes erscheint:

„Jede Monade ist mit all den Inhalten, die sie in sich faßt, eine völliggeschlossene Welt, die kein äußeres Sein abbildet oder widerspiegelt, sondernlediglich nach eigenem Gesetz das Ganze ihrer Vorstellungsinhalte umfaßt undregelt; aber alle diese verschiedenen individuellen Welten drückennichtsdestoweniger ein gemeinsames Universum und eine gemeinsameWahrheit aus. Diese Gemeinsamkeit aber kommt nicht dadurch zustande, daßalle diese verschiedenen Weltbilder sich zueinander wie die Kopien einesgemeinsamen ‚Originals‘ verhalten, sondern daß sie in ihren innerenBeziehungen und in der allgemeinen Form ihres Aufbaus einander funktionalentsprechen.“ (ZER, 54 f.)183

Charakteristisch ist für die Leibnizische Lehre, so Cassirer, dass Leibniz „den älteren

Seinsbegriff durch den Funktionsbegriff zu verdrängen“ versuchte und dies, in

Anknüpfung an die früheren Auffassungen, in geschichtlicher Kontinuität durchführte:

„Der Substanzgedanke, der bisher als die festeste philosophische Stütze derdinglichen Ansicht des Universums galt, wird nicht bekämpft, sondernaufgenommen und in sich selbst aufgeklärt und umgebildet. Was unter demBegriff des Dinges der eigentlichen logischen Absicht nach gesucht war, das

181 Vgl. Youschkevitch (1976/77), S. 56; vgl. auch Leibniz, Mathematische Schriften Bd. 3, S. 251. Leibnizverwendet functio erstmals in der Schrift Methodus tangentium inversa, seu de functionibus (datiertAugust 1673).

182 Youschkevitch (1976/77), S. 56: Aus einem Zitat von D. Mahnke, Neue Einblicke in dieEntdeckungsgeschichte der höheren Analysis (1925, S. 47).

183 Cassirer ist der Ansicht, dass dieser Leibnizische Wahrheitsbegriff von Kant aufgenommen und vondiesem zu seiner eigenen Fassung des kritischen Gegenstandsbegriffs entwickelt wurde, vgl. ZER, S. 55.

76

kann, [...] nur durch die Identität der Funktion wahrhaft und befriedigendbestimmt werden.“ (LS, 539)

Die Funktion als Begriff wird auch in Kants Kritik der reinen Vernunft gebraucht. Dort

heißt es:

„Nun können wir, unabhängig von der Sinnlichkeit, keiner Anschauungteilhaftig werden. Also ist der Verstand kein Vermögen der Anschauung. Esgibt aber, außer der Anschauung, keine andere Art, zu erkennen, als durchBegriffe. Also ist die Erkenntnis eines jeden, wenigstens des menschlichen,Verstandes eine Erkenntnis durch Begriffe, nicht intuitiv, sonderen diskursiv.Alle Anschauungen, als sinnlich, beruhen auf Affektionen, die Begriffe also aufFunktionen. Ich verstehe aber unter Funktion die Einheit der Handlung,verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu ordnen.“184

Um Missverständnisse, resultierend aus den verschiedenen Bedeutungen in der Geschichte

des Funktionsbegriffs, zu vermeiden, sollte man den Funktionsbegriff, der in Cassirers

Begriffstheorie in SuF Verwendung findet, genauer betrachten. Das Problem dabei ist, dass

Cassirer den Funktionsbegriff nicht explizit definiert. So bleibt zunächst der Zugang zu

seinem genauen Funktionsbegriff verschlossen, und es können vorerst nur Vermutungen

diesbezüglich angestellt werden, die auf seinen Hinweisen basieren. Er stellt in seiner

Theorie des Begriffs den Reihenbegriff, der mit der Form der Reihenbildung

zusammenhängt, dem Funktionsbegriff gleich und verwendet die beiden Begriffe ohne

große Unterschiede.

Zur Intention seines Werkes SuF merkt er an:

„Was ich zu bestreiten suchte, war nicht die Fas sung , in der die Lehre vomBegriff, als eine einzelne Theorie, in dieser Logik auftritt — es war vielmehrdie Problemstellung und die Aufgabe, es war das konstitutive ,Prinzip‘ ebendieser Logik selbst. ,Untersuchungen über die Grundfragen derEr kenn tn i s k r i t i k ‘: so lautet der Untertitel, den ich meinem Buche gegebenhabe. Damit sollte von Anfang an ausgedrückt werden, daß hier keineswegsallein von der ,Form‘ des Begriffs, sondern von seinem Erkenntniswert, vonseinem objektiven ,Sinn‘ und seiner gegenständlichen ‚Geltung‘ die Rede seinsollte.“ ( ZTB, 131)

184 Kant (W1990), S. 109 f. KrV, A 68/ B 93; vgl. Schulthess (1981), S. 233. Schulthess ist der Meinung,dass Kant den mathematischen Begriff der Funktion auch für die Philosophie fruchtbar machte. DenFunktionsbegriff von Kant interpretiert er wie folgt: „In der KrV [Kritik der reinen Vernunft] wird derFunktionsbegriff einerseits als Begriff der Theorie der Erkenntnisvermögen, also in alter Tradition,gebraucht, andererseits wird der mathematische Sinn nahtlos in die Theorie der Funktions desVerstandes eingebaut [...], die so nicht mehr psychologische, sondern transzendentale Theorie ist.“

77

Damit wird deutlich, dass der Funktionsbegriff oder Reihenbegriff, den Cassirer statt des

Gattungsbegriffs als Alternative vorschlägt, diese Forderung seiner Erkenntniskritik

erfüllen muss, das heißt, dass der Funktionsbegriff oder Reihenbegriff den Erkenntniswert,

den objektiven Sinn und die gegenständliche Geltung umfassen muss.

Der Funktionsbegriff in der Begriffstheorie Cassirers ist, wie bereits erwähnt, in erster

Linie der mathematische Funktionsbegriff. Er spricht aber nicht ausschließlich vom

Funktionsbegriff, sondern auch von der Logik des mathematischen Funktionsbegriffs. Das

heißt, dass nicht nur der mathematische Funktionsbegriff selbst, sondern auch der logische

Gehalt dieses Funktionsbegriffs von Bedeutung sind. Der rein rationale Charakter der

mathematischen Begriffe, die Grundsätze und die Einheit des Systems innerhalb der

Mathematik besitzen aus Cassirers erkenntniskritischer Sicht heraus ‚Erkenntniswert‘.

Daher meint er, dass das Reihenprinzip, das die Glieder einer Reihe zuordnet und setzt,

nicht von Anfang an feststeht, sondern zugleich auf den durch die Setzung der Glieder

jeweils neu entstehenden Umständen weiter aufgebaut werden muss. Diese Ansicht beruht

auf der Logik des mathematischen Funktionsbegriffs. Somit ist für die Begriffstheorie

Cassirers die Gesetzmäßigkeit des mathematischen Begriffs oder des Funktionsbegriffs

entscheidend. Die Gesetzmäßigkeit des Funktionsbegriffs und der Wahrheitswert der

Funktion bereiten den Weg zur Objektivität der Erkenntnis.

Es gibt Untersuchungen, die zu dem Schluss gelangen, dass Cassirers Funktionsbegriff

stark an die Definitionen der Zahlen von Richard Dedekind (1831-1916) angelehnt ist.185

Ryckman weist darauf hin, dass Funktion bei Cassirer Relation und Koordination bedeutet

und dies auf Dedekind beruht. „For Cassirer functionality had no other meaning than that

of relation and the mutual coordination of one thing to another. This had been clearly

exhibited by Dedekind, who sought to ground all of arithmetic upon »the sole operation of

relation and mutual coordination of contents«.“186 Auf die Definitionen, die Dedekind

1887 in seiner Schrift Was sind und was sollen die Zahlen? aufgestellt hat, weist Cassirer

selbst an mehreren Stellen hin (SuF, 46 ff., 50; KmM, 7, 13, 15, 22; EP IV, 74, 76), um die

derzeitige Tendenz der mathematischen Entwicklung hervorzuheben.187

185 Vgl. Ihmig (1997a), S. 268; vgl. auch Ryckman (1991).186 Ryckman (1991), S. 63.187 Cassirer zitiert Dedekind, Was sind und was sollen die Zahlen? (2. Auflage, Braunschweig 1893, S.

VIII), SuF, S. 46: „Verfolgt man genau, was wir bei dem Zählen der Menge oder Anzahl von Dingentun, so wird man auf die Betrachtung der Fähigkeit des Geistes geführt, Dinge auf Dinge zu beziehen,einem Ding ein Ding entsprechen zu lassen, oder ein Ding durch ein Ding abzubilden, ohne welcheFähigkeit überhaupt kein Denken möglich ist. Auf dieser einzigen, auch sonst ganz unentbehrlichenGrundlage muß [...] die gesamte Wissenschaft der Zahlen errichtet werden.“; auch SuF, S. 50, Dedekind(1893) § 6, S. 21: „Wenn man bei der Betrachtung eines einfach unendlichen, durch eine Abbildung φgeordneten Systems N von der besonderen Beschaffenheit der Elemente gänzlich absieht, lediglich ihreUnterscheidbarkeit festhält und nur die Beziehungen auffaßt, in die sie durch die ordnende Abbildung φ

78

Dedekinds Ausgangspunkt ist jedoch die traditionelle formale Logik, die eine Mehrheit

von Dingen und das Vermögen des Geistes, sie abzubilden, voraussetzt. Sein Verdienst sei

es, dass die überlieferten Bezeichnungen, zum Beispiel ‚Dinge‘ und ‚Abbildung‘ einen

neuen Gehalt und eine neue Bedeutung gewonnen haben. Die Dinge werden nicht als

selbständige Existenzen vor jeder Beziehung als vorhanden vorausgesetzt, sondern sie

erhalten nur als Gesamtes Bestand. „Sie sind R e l a t i ons t e r me , die niemals losgelöst,

sondern nur in idealer Gemeinschaft miteinander ‚gegeben‘ sein können.“ (SuF, 47) Durch

Dedekind erfahren nach Cassirer nicht nur der Dingbegriff sondern auch die ‚Abbildung‘

eine charakteristische Wandlung. So interpretiert er Dedekinds Abbildung als die

„gedankliche Zuor dnung“, durch die die verschiedenartigen Elemente zu einer

systematischen Einheit verknüpft werden können, und die „,Abbildung‘ schafft kein neues

Ding, sondern eine neue notwendige O rdnung zwischen Denkschritten und

Denkgegenständen“ (ibd.). Diese gedankliche Zuordnung tritt im Funktionsbegriff deutlich

hervor und wird in der Entwicklung der Zahlbegriffe am deutlichsten gezeigt. „Denn eben

weil die Zahl das S che ma der Ordnung und Reihung überhaupt darstellt, sieht sich das

Denken immer wieder auf sie zurückgewiesen, sobald es den Inha l t des Seins als

geordneten zu erfassen sucht“ ( PsF III, 408).

Weitere Hinweise finden sich im zweiten Kapitel von SuF Die Zahlbegriffe, auf die sich

Cassirer als bestes Beispiel für die Gestaltung der reinen ,Funktionalbegriffe‘ seiner

Begriffstheorie stützt. Diese Gestaltung der Zahlbegriffe ist für seine Begriffstheorie von

großer Bedeutung.

In diesem Kapitel stellt er die Entwicklungsgeschichte des Begriffs der Zahlen innerhalb

der Mathematik dar und weist dabei auf die allgemeine Bedeutung der Funktion hin. Der

Zahlbegriff nimmt später in PsF an Bedeutung zu, sofern die Frage nach Form und Materie,

nach dem metaphysischen Dualismus gestellt wird. In PsF wird der Zahlbegriff als Vorbild

der reinen Form des Begriffs betrachtet, und dieses Charakteristikum der Zahlen in Bezug

auf den anschaulichen Gegenstand kann als bestes Beispiel für Cassirers

‚Bedeutungsfunktion‘ bezeichnet werden (vgl. 3.3). Der Begriff der Zahl steht für ihn unter

den Grundbegriffen der reinen Wissenschaft an erster Stelle und ist der „getreueste

Ausdruck der rationalen Methodik“ (SuF, 35) in der exakten Wissenschaft überhaupt. Die

zueinander gesetzt sind, so heißen diese Elemente n a t ü r l i c h e Z a h l e n oder O r d i n a l z a h l e n oderauch schlechthin Z a h l e n und das Grundelement 1 heißt die G r u n d z a h l der Z a h l e n r e i h e N. InRücksicht auf diese Befreiung der Elemente von jedem anderen Inhalt (Abstraktion) kann man dieZahlen mit Recht eine freie Schöpfung des menschlichen Geistes nennen. Die Beziehungen oderGesetze, welche [...] in allen geordneten einfach unendlichen Systemen immer dieselben sind, wie auchdie den einzelnen Elementen zufällig gegebenen Namen lauten mögen [...], bilden den nächstenGegenstand der W i s s e n s c h a f t v o n d e n Z a h l e n oder der A r i t h m e t i k . “

79

prinzipiellen Gegensätze in der Grundauffassung der Erkenntnis spiegeln sich daher im

Zahlbegriff unmittelbar wider.

Um dies zu verdeutlichen, führt Cassirer John Stuart Mills empirischen Standpunkt der

Mathematik an. Um sein arithmetisches Grundprinzip zu wahren, deutet Mill die

mathematischen Begriffe und Wahrheiten nur als Ausdruck der physischen Tatbestände,

das heißt, er versucht durch die Erfahrung des Zählens und Messens das Ganze der

Erkenntnis zu fassen.188 Er ist der Ansicht, dass die Synthesis des Zählens an physischen

Objekten durchgeführt werden kann. Dies bedeutet aber, dass der logische Unterschied von

Zahlen begrenzt und an die psychologische Unterscheidungsfähigkeit gebunden ist. Diese

Ansicht versagt nach Cassirer aber gerade deshalb, weil alle arithmetischen Urteile der

Theorie Mills nach auf physische Gegenstände zurückgehen und in ihrer Geltung an die

physischen Gegenstände geknüpft bleiben. Man muss dagegen „die logische Struktur der

reinen Zahlenlehre mit aller Energie und Schärfe von der Mill’schen Arithmetik der

‚Kieselsteine und Pfeffernüsse‘ absondern“ (SuF, 37).189 Um Mills sensualistischen

empirischen Standpunkt deutlich darzustellen, zitiert Cassirer an dieser Stelle Gottlob

Freges Kritik an Mills Theorie:

„Es wäre in der Tat wunderbar, wenn eine von äußeren Dingen abstrahierteEigenschaft auf Ereignisse, auf Vorstellungen, auf Begriffe ohne Änderung desSinnes übertragen werden könnte. [...] Es ist ungereimt, daß an Unsinnlichemvorkomme, was seiner Natur nach sinnlich ist. Wenn wir eine blaue Flächesehen, so haben wir einen eigentümlichen Eindruck, der dem Worte »blau«entspricht; und diesen erkennen wir wieder, wenn wir eine andere blaue Flächeerblicken. Wollten wir annehmen, daß in derselben Weise beim Anblick einesDreiecks etwas Sinnliches dem Worte »drei« entspräche, so müßten wir diesauch in drei Begriffen wiederfinden; etwas Unsinnliches würde etwasSinnliches an sich haben. [...] Man kann wohl zugeben, daß dem Worte»dreieckig« eine Art sinnlicher Eindrücke entspreche, aber man muß dabei diesWort als Ganzes nehmen. Die Drei darin sehen wir nicht unmittelbar; sondernwir sehen etwas, woran eine geistige Tätigkeit anknüpfen kann, welche zueinem Urteile führt, in dem die Zahl 3 vorkommt.“190

Die wissenschaftliche Arithmetik bei Frege wird durch die Forderung, den Zahlbegriff aus

rein logischen Prämissen abzuleiten, charakterisiert.188 Vgl. SuF, S. 16 f.; Cassirer verweist hierfür auf J. S. Mill, A Sytem of Logic. 7th ed. London 1868, Book

II, Chap. 5 und Book III, Chap. 24.189 Vgl. Frege (1884/1987), S. 21. Anmerkung des Herausgebers, J. Schulte: „Bei Mill ist nur von

Kieselsteinen die Rede, während Frege es liebt, zusätzlich »Pfeffernüsse« und »Pfefferkuchen« ins Spielzu bringen.“ Dies wird wieder von Ludwig Wittgenstein als „Pfeffernußstandpunkt“ zitiert. vgl.Wittgenstein: Philosophische Bemerkungen. Werkausgabe, Bd. 2, Frankfurt a. M., 1984, S. 127.

190 Frege (1884/1987), S. 54; vgl. SuF, S. 38 f. Cassirer zitiert aus Frege, Die Grundlagen der Arithmetik.Breslau 1884, S. 31 f.

80

Cassirers Untersuchung der Zahlbegriffe verdeutlicht seinen Standpunkt, den er bezüglich

der Begriffstheorie einnimmt; auch hierbei kritisiert er die Abstraktionstheorie innerhalb

der mathematischen Begriffsbildung. In den verschiedenen Deutungen des Zahlbegriffs in

der Entwicklung der Mathematik wiederholt sich für Cassirer der allgemeine Kampf

zwischen der Logik der Gattungsbegriffe und der Logik der Relationsbegriffe.

Die moderne Entwicklung des Klassenbegriffs erscheint Cassirer bedeutsam für die

Relationslogik seiner Begriffstheorie. Der Klassenbegriff entstand bei dem Versuch, den

Zahlbegriff in rein ‚logische Konstanten‘ aufzulösen. Cassirer erkennt an, dass die Logik

der Relation in der Theorie des Klassenbegriffs am deutlichsten hervortritt, kritisiert aber

gleichzeitig, dass die Formung des Begriffs innerhalb dieser Theorie auf der traditionellen

Abstraktionstheorie beruht:

„Die Analysis der Zahl schien erst dann abgeschlossen, wenn es gelungen war,allen Sondergehalt der Zahl aus der a l l geme i nen Funk t i on de sBegr i f f s überhaupt herzuleiten: — begriffliche Formung aber bedeutetewiederum nach der herrschenden logischen Grundüberzeugung nichts anderesals die Zusammenfassung der Gegenstände in Arten und Gattungen vermögeder Subsumption unter generelle Merkmale.“ (SuF, 57)

Betrachtet man den Zahlbegriff nicht als ideelles Ganzes, sondern als Begriff dieser oder

jener bestimmten Zahl, wie in der Theorie des Klassenbegriffs, so hat man es bei ihm nicht

mit einem logischen Allgemeinbegriff, sondern mit einem Individualbegriff zu tun. Es

handele sich bei dieser Theorie der Klassen um die Fixierung einer eindeutig bestimmten

Stelle innerhalb eines Gesamtsystems: „Es gibt nur e ine Zwei, nur e ine Vier und beiden

kommen bestimmte mathematische Eigenschaften und Merkmale zu, die sie mit keinem

anderen Gegenstand teilen.“ (SuF, 58) Wenn die einzelnen Zahlen in der traditionellen

formalen Logik als gegebene, als bekannte vorausgesetzt werden und auf Grund dieser

Bekanntschaft über ihre Gleichheit oder Ungleichheit entschieden wird, so gilt für die

Theorie der Klassen das umgekehrte Verfahren: „Das V er hä l t n i s , das in der Gleichung

ausgesagt wird, ist das allein Bekannte; während die E l emen t e , die dieses Verhältnis

eingehen, in ihrer Bedeutung zunächst noch unbestimmt sind und erst kraft der Gleichung

allmählich bestimmbar werden.“ (SuF, 59 f.)191 Es ist das Charakteristische der Auffassung

191 Vgl. SuF, S. 58: „Um zu bestimmen, was die Zahl ihrem reinen Wesen nach ‚ist‘, suchen wir nicht sieselbst unmittelbar in inhaltlich einfachere Bestandteile zu zerlegen, sondern fragen zunächst, was dieG l e i c h h e i t v o n Z a h l e n bedeutet. Sobald einmal festgestellt ist, unter welchen Bedingungen wirzwei Mengen hinsichtlich ihrer Zahl als g l e i c h w e r t i g betrachten, ist damit zugleich mittelbar dieEigenart des Merkmals bestimmt, das wir in beiden als identisch annehmen. Das Kriterium für dieGleichzahligkeit zweier Mengen aber besteht darin, daß es möglich ist, eine bestimmte Relation

81

des Klassenbegriffs, „daß sie dasjenige, was in der gewöhnlichen Ansicht ledglich als das

Kr i t e r i um der Anzahlgleichheit erscheint, als das eigentlich konstitutive Merkmal

heraushebt, auf dem aller Inha l t des Zahlbegriffs selbst beruht“ (SuF, 59).

Hier zeigt sich für Cassirer eine aller mathematischen Begriffsbildung zugrunde liegende

methodische Tendenz, dass „das ‚Gebilde‘ [...] seinen gesamten Bestand aus den

Relationen erhalten“ soll, „die es erfüllt“ (SuF, 60). Die Theorie der Klassen zeigt

gegenüber der Theorie der empirischen Anschauung vom Wesen der Zahl, dass sie auf die

eigentliche Funktion hinweist, die der Zahl im wirklichen Ganzen der Erkenntnis

zukommt: „Das ,Wieviel‘ der Elemente im gewöhnlichen Sinne läßt sich durch keine

logische Umdeutung in eine bloße Aussage über das ,Gleichviel‘ verwandeln; es bleibt als

selbständige Frage und Aufgabe der Erkenntnis zurück.“ (SuF, 62)

Die Verdienste Russells und Freges seien, dass sie die Zahl nicht als eine Eigenschaft an

physischen Dingen, sondern als Aussage über eine bestimmte Beschaffenheit von Klassen

haben erscheinen lassen. Dies ist für Cassirer unbestreitbar, dennoch lehnt er es aber ab,

diesem Klassenbegriff den rein begrifflichen Charakter der Zahl zuzuschreiben, weil in

diesem Klassenbegriff Dingbegriffe und Funktionsbegriffe auf eine Stufe gestellt sind:

„Die Zahl erscheint alsdann nicht als der Ausdruck der Grundbedingung, die die Setzung

jeglicher Mehrheit erst ermöglicht, sondern als ein Merkmal, das an der gegebenen

Mehrheit der Klassen haftet und sich aus ihr durch Vergleichung absondern läßt.“ (SuF, 69

f.) So wiederholt sich für Cassirer der Grundmangel aller Abstraktionstheorien:

Was „als rein kategorialer Ges i ch t spunk t die Begriffsbildung leitet undbeherrscht, das sucht man irgendwie als i nha l t l i c hen B es t and t e i l in denverglichenen Objekten selbst wiederzufinden. [...] Die Theorie erweist sichzuletzt als der subtile und konsequent durchgeführte Versuch, mit demallgemeinen Schematismus der Gattungsbegriffe ein Problem zu bewältigen,das seiner Bedeutung und seinem Umfang nach einem neuen Gebiete angehörtund einen anderen Begriff der Erkenntnis voraussetzt.“ (SuF, 70)

Cassirer hebt daher gegenüber dem Grundmangel der Abstraktionstheorie die Bedeutung

der Imaginärzahl von Carl Friedrich Gauß (1777-1855) hervor. In der Imaginärzahl wird

die Rolle der Relationslogik besonders deutlich, und der dingliche Gehalt der Imaginärzahl

nimmt mit der ersten Verallgemeinerung und Weiterführung des Zahlbegriffs ab:

anzugeben, durch welche sich die Glieder der beiden Mengen einander w e c h s e l s e i t i g e i n d e u t i gz u o r d n e n l a s s e n . Kraft dieses Verfahrens der Zuordnung stiften wir unter den unendlich vielenmöglichen Klassen von Gegenständen bestimmte Z u s a m me n g e h ö r i g k e i t e n , indem wir Gruppen,die sich auf diese Weise miteinander verknüpfen lassen, zu je einem Gesamtkomplex vereinigen.“

82

„Der Begriff und die Bezeichnung der ,imaginären‘ Zahl ist der Ausdruck einesGedankens, der seinem ersten Ansatz nach bereits in jeder der neuen Zahlartenwirksam ist und der ihr das charakteristische Gepräge gibt. Es sind Urteile undAussagen über ‚N ic h t -Wi rk l i ches ‘ , die hier dennoch einen bestimmten,unentbehrlichen E r kenn tn i s wer t für sich in Anspruch nehmen.“ (SuF, 71)

Der Sinn dieser erweiterten Zahlbegriffe lässt sich nach Cassirer nicht fassen, wenn man

das, was sie bedeuten, an Substanzen aufzeigen will. Um den Sinn zu enthüllen, muss man

in den Zahlbegriffen den Ausdruck reiner Beziehungen sehen, „durch welche die

Verhältnisse in einer konstruktiv erschaffenen Reihe geregelt werden“:

„Eine negative S ubs t anz , die zugleich Sein und Nichtsein bedeuten müßte,wäre eine contradictio in adjecto; eine negative B ez i ehung ist nur dasnotwendige logische Korrelat des Relationsbegriffs überhaupt, da jede Relationvon A zu B sich zugleich als eine solche von B zu A darstellen undaussprechen läßt.“ (SuF, 72 f.)

Als Beispiel hierfür führt Cassirer den logischen Leitgedanken der Deduktion in der

Dedekindschen Erklärung an, in der die irrationalen Zahlen als ‚Schnitte‘ bezeichnet

werden. Die Zahl in der Theorie der Schnitte besitzt nach ihrer ursprünglichen Erklärung

keine spezifisch-inhaltlichen Merkmale, sondern ist lediglich der allgemeinste Ausdruck

der Ordnungs- und Reihenform überhaupt. Die Schnitte ‚sind‘ Zahlen, denn sie bilden in

sich eine streng gegliederte Mannigfaltigkeit, in der die relative Stellung der einzelnen

Elemente nach einer begrifflichen Regel feststeht (vgl. SuF, 75).

Aus der Betrachtung der verschiedenen Zahlbegriffe ergibt sich für Cassirer ein

übergreifender Gesichtspunkt, nämlich den Begriff als Funktion anzusehen:

„Der Gedanke, die Zahl aus der s ucces s i ve n Add i t i on von E inhe i t enentstehen zu lassen und in dieser Operation ihre eigentliche begrifflicheWesenheit zu begründen, muß jetzt aufgegeben werden. Ein derartigesVerfahren enthält zwar e in Prinzip, geordnete Inbegriffe hervorgehen zulassen, aber keineswegs da s Prinzip der Erschaffung solcher Inbegriffeschlechthin. Die Einführung des Irrationalen ist zuletzt nichts anderes als derallgemeine Ausdruck dieses Gedankens: sie gibt der Zahl die ganze Freiheitund Weite einer Methode der Ordnungsbildung überhaupt wieder, ohne sie aufirgendeine inhaltlich bestimmte E inze l r e l a t i on zu beschränken, kraft derensich Glieder in geregelter Folge setzen und entwickeln lassen. Das begriffliche ,Sein‘ der Einzelzahl geht hierbei immer reiner und deutlicher in ihreeigentümliche begriffliche Funk t i on auf“ (SuF, 79 f.).

Somit kommt man zu dem Schluss, dass Cassirer durch die Darstellung der Zahlentheorien

83

versucht, den Substanzbegriff neu zu bestimmen und ihn als Funktionsbegriff zu erklären.

In der Methode der ‚Zahlwissenschaft‘ wird, wie gezeigt, nicht das ‚Was‘ der Elemente in

ihr, sondern das ‚Wie‘ des Zusammenhangs, in dem die Elemente miteinander stehen,

berücksichtigt. Dieses Verfahren ist für die gesamte Begriffsbildung der Mathematik von

großer Bedeutung, und Cassirers Absicht ist es, zu zeigen, wie dieses Verfahren für die

Begriffsbildung fruchtbar sein kann.

2.2.2. Der Funktionsbegriff und die Relationslogik

Der Subtitel des ersten Teils von SuF Dingbegriffe und Relationsbegriffe lässt auch

vermuten, dass sein Funktionsbegriff mit dem Relationsbegriff gleichgestellt wird. Darüber

hinaus ist erwiesen, dass in der Geschichte der Mathematik Funktion zugleich Relation

bedeutet.192

Die allgemeine Logik der Relation ist überhaupt die Voraussetzung für die Ableitung des

Zahlbegriffs. Casssirer hebt in diesem Zusammenhang die bestimmten Klassen von

Relationen in der Russellschen Logik hervor, und für ihn tritt die Logik der Relation vor

allem in der Theorie des Klassenbegriffs deutlich zutage.

Russell ist der Ansicht, dass sich ‚Funktion‘ in ihrer allgemeinen Form nicht von

‚Relation‘ unterscheidet. Das Wesen der Funktion erläutert er wie folgt:

„If x has a certain relation to y, I shall call x the referent, and y the relatum,with regard to the relation in question. If now x be defined as belonging tosome class contained in the domain of the relation, then the relation defines yas a function of x. That is to say, an independent variable is constituted by acollection of terms, each of which can be referent in regard to a certain relation.Then each of these terms has one or more relata, and any one of these is acertain function of its referent, the function being defined by the relation.“193

Cassirer betont die Relationslogik bei Russell auch besonders deshalb, weil die Klassen der

Relationen eine bestimmte Ordnung einschließen (vgl. KmM, 6), denn Relation heißt bei

Russell, dass sie nicht lediglich durch ihre beiden Termini, wie zum Beispiel durch Paare

von Elementen (x, y) oder (u, v) definiert zu denken ist.

In Russells The Principles of Mathematics (1903) werden die Klassen der Relationen wie

folgt unterteilt: 192 Vgl. Schulthess (1981), S. 226; Russell (1903/1996), § 254 ,Functions‘ p. 263 f.193 Russell (1903/1996), p. 263.

84

„Relations may be divided into four classes, according as they do or do notpossess either of two attributes, transitiveness and symmetry. Relations suchthat xRy always implies yRx are called symmetrical; relations such that xRy,yRz together always imply xRz are called transitive. Relations which do notpossess the first property I shall call not symmetrical; relations which dopossess the opposite property, i.e. for which xRy always excludes yRx, I shallcall asymmetrical. Relations which do not possess the second property I shallcall not transitive; those which possess the property that xRy, yRz alwaysexclude xRz I shall call intransitive.“ 194

Dies besagt, dass die Ordnung an der Reihenrelation, durch die sie zustandekommt, haftet

und all ihre Bestimmtheit und Eigenart aus dieser Reihenrelation ableitbar ist. Es wird

letzten Endes eine transitive und asymmetrische Beziehung gefordert,195 um den Gliedern

eines Inbegriffs eine bestimmte Ordnung aufzuprägen, denn es ist bei der transitiven

asymmetrischen Relation nicht erlaubt, die beiden Glieder (x, y) umzukehren und an Stelle

der Beziehung (xRy) die andere (yRx) zu setzen:

„Der Begriff der Ordnung selbst aber ist nur eine besondere Art der Beziehung,sodass diese Definition das Moment, das sie zur Bestimmung bringen will,implicit bereits vorausetzen muss. Nicht die ,Klasse‘ ist somit der erste undursprüngliche Begriff; umgekehrt ist es die bestimmte Eigenart einerR e l a t i on , die es erst ermöglicht, feste Klassen zu setzen und abzugrenzen.“(KmM, 6)196

Damit kann man festhalten, dass der Relationsbegriff in Cassirers Begriffstheorie auch mit

der Ordnung verbunden ist.

Die Tendenz in der Entwicklung der Mathematik, die im vorherigen Abschnitt gezeigt

wurde, ist für Cassirer auch für die Entwicklung der Wissenschaft grundlegend. Das, was

ihm jedoch noch wichtiger erscheint, ist die Tendenz der Veränderung innerhalb der Logik.

Die Logik, die „bisher kaum irgend ein anderes Verhältnis, als die Subsumption eines

bestimmten Subjekts unter einen umfassenden Prädikatsbegriff betrachtete“ (KmM, 4),194 Russell (1903/1996), p. 218. Russell erklärt diese Fälle im übertragenen Sinne mit zwischen-

menschlichen Beziehungen (pp. 218 f.): „The relation brother or sister is symmetrical, and is transitiveif we allow that a man may be his own brother, and a woman her own sister. The relation brother is notsymmetrical, but is transitive. Half-brother or half-sister is symmetrical but not transitive. Spouse issymmetrical but intransitive; descendant is asymmetrical but transitive.[...] Finally, father is bothasymmetrical and intransitive.“

195 Vgl. Russell (1903/1996), p. 218. „We have now seen that all order depends upon transitiveasymmetrical relations.“

196 Cassirers Hinweis auf Russell (1903) § 27-28, vgl. Russell (1903/1996), pp. 23-25. Hier erkennt manauch deutlich, dass Cassirer die Logik der Relation für die Klassentheorie als entscheidend ansieht.Cassirer meint, in Russells Behandlung der mathematischen Prinzipienlehre tritt durch denRelationskalkül der logische Primat des Relationsbegriffs vor dem Klassenbegriff hervor; vgl. auch PsFIII, S. 343.

85

erfährt die Fortschritte der modernen Mathematik und wird zur allgemeinen Logik der

Relationen. Somit wird die Logik der Relation zum Fundament der Theorie der

Begriffsbildung und der Begriffslehre Cassirers:

„Betrachten wir nunmehr eine Reihe, die ein e r s t e s Glied besitzt und für dieein bestimmtes Gesetz des Fortschritts derart festgestellt ist, daß zu jedemGlied ein unmittelbar nachfolgendes gehört, mit dem es durch eine eindeutige,transitive und asymmetrische Beziehung verknüpft ist, die im Ganzen derReihe überall dieselbe bleibt, so haben wir in einer derartigen ,Progression‘bereits den eigentlichen Grundtypus aller Gegenstände erfaßt, mit denen dieArithmetik es zu tun hat. Alle Sätze der Arithmetik, alle Operationen, die siedefiniert, beziehen sich lediglich auf die allgemeinen Eigenschaften derProgressionen; sie gehen daher niemals unmittelbar auf ‚Dinge‘, sondern aufdie ordinalen Beziehungen, die zwischen den Elementen bestimmter Inbegriffeobwalten.“ (SuF, 49)

Der ganze Bestand der Zahlen beruht, wie im Anschnitt 2.2.1 gezeigt, auf den

Verhältnissen, die sie in sich selber aufweisen, nicht aber auf der Beziehung zu einer

sinnlich gegenständlichen Wirklichkeit. Dieses Charakteristikum der Zahlen stellt, wie

bereits erwähnt, ein ideales Vorbild für Cassirers Begriffstheorie dar.

2.2.3. Der Funktionsbegriff als Gesetzesbegriff

Cassirers Funktionsbegriff lehnt sich, wie gezeigt, sowohl an die Definition der Zahlen von

Dedekind, da er die Dedekindsche Abbildung als Zuordnung interpretiert, als auch an die

Russellsche Definition der Relation an. Auch seine Ansicht zum Verhältnis von Begriff

und Gegenstand orientiert sich am Zahlbegriff, denn der Begriff soll, wie seine Kritik am

Begriffsrealismus zeigt, sich von der anschaulichen empirischen Wirklichkeit abheben. Der

Versuch, den gedanklich gewonnenen Begriff wieder mit dem empirischen anschaulichen

Gegenstand zu vergleichen, um eventuelle Übereinstimmung zu finden, soll ein Ende

haben.

Er stellt fest, wenn ein System von Bedingungen gegeben ist, das sich in verschiedenen

Inhalten erfüllen kann, — dafür muss sich der Begriff vom sinnlich Empirischen abheben

— dann kann diese Systemform als Invariante festgehalten und ihre Gesetze können

deduktiv entwickelt werden. Dies bedeutet, dass der Funktionsbegriff sowohl für die

Zuordnung als auch für die Gesetzmäßigkeit steht.

86

Der sachliche Zusammenhang „zwischen dem Begriff des Begriffs und dem Begriff des

Gesetzes“ bei Cassirer hat nach Ihmig zwei Wurzeln.197 Einen Anhaltspunkt finde man

darin, dass Cassirer die Kategorien oder reinen Verstandesbegriffe Kants in ihrer

Bedeutung als Invarianten hervorhebe; diese Bedeutung ergibt sich daraus, dass Kategorien

„Regeln der Synthesis des Mannigfaltigen“198 darstellen, die als objektive Regeln zugleich

Gesetze sind. Die zweite Wurzel der Verbindung von Begriff und Gesetz finde sich in der

Entwicklung des neuzeitlichen Naturbegriffs, der wesentlich von der Möglichkeit der

Mathematisierung der Natur geprägt sei. Denn in der Neuzeit, so Ihmig, habe sich die

Einsicht gefestigt, dass die Begriffe der Mathematik und der mathematischen

Naturwissenschaften entscheidend dazu beigetragen hätten, die gesetzmäßige Einheit der

Natur zu sichern.

Die Grundbegriffe der Mathematik sind, wie gezeigt, für Cassirer das leitende Prinzip für

die kritische Philosophie und bieten zugleich die Methodik für die Wissenschaften. Die

mathematische Begriffsbildung wird durch das Verfahren der Reihenbildung bestimmt,

wobei das Reihenprinzip festgestellt wird und dann das so gewonnene Reihenprinzip die

verschiedenen Glieder gegenseitig bestimmt. Trotz des wissenschaftlichen experimentellen

Versuches, der die endgültige Fixierung des einheitlichen Begriffs leistet, muss das

Reihenprinzip auch als ein Gesichtspunkt in der Begriffsbildung funktionieren und dadurch

theoretisch festgestellt und begründet sein (vgl. SuF, 196). Diesen Gesichtspunkt kann man

im Sinne von ‚Richtung‘ verstehen. Der wissenschaftlichen Erfahrung soll die Änderung

der begrifflichen Beziehung in der Reihenbildung vorbehalten sein. Man braucht aber, wie

in der Mathematik, nicht all die Änderungen wirklich zu vollziehen und tatsächlich zu

durchlaufen, um die Unabhängigkeit einer begrifflichen Beziehung von bestimmten

Änderungen festzustellen. Es genügt, die ‚Richtung‘ der Änderung ins Auge zu fassen, um

die Entscheidung zu treffen. Die Bedeutung dieser Richtung erläutert Cassirer wie folgt:

„Das Ziel der kritischen Analyse wäre erreicht, wenn es gelänge, auf dieseWeise199 das letzte Gemeinsame aller möglichen Formen der wissen-schaftlichen Erfahrung herauszustellen, d.h. diejenigen Momente begrifflich zufixieren, die sich im Fortschritt von Theorie zu Theorie erhalten, weil sie dieBedingungen jedweder Theorie sind. Dieses Ziel mag auf keiner gegebenen

197 Ihmig (1997a), S. 264.198 Ihmig (1997a), S. 264.199 Gemeint ist wie „der S i n n bestimmter Erfahrungsfunktionen von einem Wechsel in dem materialen

Inhalt, in welchem sie sich ausprägen, prinzipiell nicht betroffen wird: wie z. B. die Geltung einerräumlich-zeitlichen Abhängigkeit der Elemente des Geschehens überhaupt, die sich im a l l g e m e i n e nK a u s a l g e s e t z ausspricht, von jeder Änderung in den b e s o n d e r e n Kausalsätzen unberührt bleibt“(SuF, S. 356 f.).

87

Stufe des Wissens vollständig erreicht sein: als Fo r de rung bleibt esnichtsdestoweniger bestehen und bestimmt in der stetigen Entfaltung undEntwicklung der Erfahrungssysteme selbst eine feste Richtung.“ (SuF, 357)

An dieser Stelle sieht man auch, dass Cassirer das Reihenprinzip beziehungsweise das

Gesetz nicht für absolut hält, was daran liegt, dass er die Erkenntnis der Wissenschaft als

immerwährenden Prozessgang betrachtet. Es gibt für ihn weder ein absolutes Sein, noch

ein absolutes Wissen. Das Gesetz, das Prinzip soll daher in einer Theorie der

wissenschaftlichen Erfahrungssysteme als Gesichtspunkt, als Richtung funktionieren. So

stellt er auch in PsF die Forderung auf, dass der Begriff eine bestimmte Richtung und eine

bestimmte Norm des discursus aufstellen und den Gesichtspunkt angeben soll.200

Auch später hebt Cassirer im Werk Determinismus und Indeterminismus in der modernen

Physik von 1937 den Funktionsbegriff als unentbehrliches ‚Instrument‘ hervor. Er führt in

diesem Werk vier Typen von Aussagen ein, nämlich Maßaussagen, Gesetzes-Aussagen,

Prinzipien-Aussagen sowie den allgemeinen Kausalsatz als allgemeinen Typ von

Aussagen, die die Stufen des Fortgangs innerhalb des wissenschaftlichen

Erfahrungssystems bilden.201 Die Maßaussagen sind die Grundtypen physikalischer

Aussagen und bilden daher die erste Objektivitätsstufe, die „einen gewissen einzelnen

Zahlwert an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit“ konstatiert.202 Die

Gesetzes-Aussagen sind durch die Behauptung der exakten Beziehung zwischen

verschiedenen Gruppen von Maßaussagen charakterisiert:

„Die Gesetzes-Aussagen sind [...] der einzige und der allein-zulässige Weg, umdas Einzelne an das Ganze anzuschliessen und das Ganze mit dem Einzelnenzusammenzuschliessen und so jene ‚Harmonie‘ zwischen ihnen herzustellen,die das eigentliche Ziel aller Naturerkenntnis bildet.“ (DuI, 48)

Der mathematische Funktionsbegriff ist ein wichtiges Mittel, um diese Beziehung

zwischen verschiedenen Gruppen von Aussagen, besonders innerhalb von Gesetzes-

Aussagen, zum Ausdruck zu bringen:

200 Vgl. PsF III, S. 349: „Und der Begriff tut nichts anders, als daß er diese gestaltenden Momente für sichherausstellt und daß er sie für den Gedanken f i x i e r t . Er stellt irgendeine bestimmte Richtung und einebestimmte Norm des »discursus« auf: er gibt den »Gesichtspunkt« an, unter dem eine Mannigfaltigkeitvon Inhalten, mögen sie nun der Wahrnehmung, der Anschauung oder dem reinen Denken angehören,gefaßt und vermöge dessen sie »zusammengesehen« werden.“

201 Vgl. auch Ihmig (2001), S. 85 f.202 Ihmig (2001), S. 84.

88

„Mit ihm [Funktionsbegriff] ist eine universelle Form gegeben, in die ständigneuer Inhalt einströmen kann, ohne sie zu sprengen — ja ohne sie auch nur inihren wesentlichen Zügen zu verändern. Bei Galilei sind es Fallräume undFallzeiten, bei Kepler sind es Abstände und Geschwindigkeiten, bei Huyghenssind es Länge und Schwingungsdauer des Pendels, bei Boyle, Mariotte, GayLussac ist es das Volumen, der Druck, die Temperatur eines idealen Gases, wasdurch diese Form erfasst und in seiner gegenseitigen Beziehung bestimmtwird.“ (DuI, 48)203

Das Ziel der höheren Stufe von Prinzipien-Aussagen, die Aussagen der dritten Stufe, wäre

erreicht, wenn die „letzten l og i s che n Inva r i an t en “ ( SuF, 357) gefunden werden.

Diese drei Aussagen stehen jeweils für ‚Tatsachen‘ ‚Gesetze‘ und ‚Prinzipien‘, die nach

Cassirer als Dreischritte der wissenschaftlichen Entwicklung bezeichnet werden können. Er

charakterisiert in rein formaler und methodischer Hinsicht die Maßaussagen als

‚individuell‘, die Gesetzesaussagen als ‚generell‘ und die Prinzipien-Aussagen als

‚universell‘ (DuI, 68). Und zu der vierten Stufe, dem allgemeinen Kausalsatz gelangt man,

so Cassirer, nur durch einen ‚Sprung‘204. Der Kausalsatz ist für ihn im üblichen Sinne des

Wortes kein ‚Naturgesetz‘. In dieser Hinsicht stimmt er der Meinung Ernst Machs zu,

„dass es in der Natur keine Ursache und keine Wirkung gebe, da die Natur nur e inma l da

sei, und nicht in ihr, sondern nur in unserem schematischen Nachbilden jene »gleichen

Fälle« bestehen, auf die wir hinweisen, indem wir sagen, dass unter gleichen Umständen

gleiche Erfolge eintreten.“ (DuI, 73)205 Somit versteht Cassirer die Kausalität nicht als

Naturaussage, nicht als eine Aussage über die Welt der ‚absoluten Dinge‘, sondern als

‚transzendentale‘ Aussage, „die sich nicht sowohl auf Gegenstände als vielmehr auf unsere

Erkenntnis von Gegenständen überhaupt bezieht.“ (DuI, 73)

Bei seinem wissenschaftlichen Erfahrungssystem lehnt sich Cassirer nach Ihmig an Kants

Idee eines Systems der Erfahrung an, „das eine Einheit besonderer Prinzipien der

Einzelwissenschaften mit allgemeinen erkenntnistheoretischen Grundbegriffen be-

inhaltet“.206 Sein Ausgangspunkt unterscheidet sich jedoch von Kants. Denn Cassirer geht

nicht „von einem feststehenden Kanon von Kategorien“ aus, sondern „er betrachtet

203 Vgl. Ihmig (2001). S. 85. Mit dem Funktionsbegriff ist nach Ihmig „eine allgemeine Form gegeben, dieauf ganz unterschiedliche Inhalte anwendbar ist“

204 Vgl. Cassirer, DuI, S. 71 f.: „[...] bleibt der Unterschied zwischen noch so allgemeinen Prinzipien-Aussagen und dem Kausalsatz selbst unverwischbar. Auch das Energieprinzip, so sehr es sich in seinerAllgemeinheit bewährt hat, ist und bleibt ein »besonderes Naturgesetz«, dessen Negation keineswegs derAufhebung des »Kausalsatzes überhaupt« gleichkäme. Zu dem letzteren können wir daher, auch von derEbene der universellen Prinzipien aus, immer nur durch einen »Sprung« gelangen“.

205 Cassirer verweist hier auf Machs Die ökonomische Natur der physikalischen Forschung,Populärwissenschaftliche Vorlesungen, 2. Aufl. 1892, S. 221.

206 Ihmig (2001), S. 98.

89

vielmehr die Gewinnung ‚letzter Invarianten‘ als eine in der Entwicklung der

Wissenschaften selbst angelegte Möglichkeit“.207 Daraus folgert Ihmig, dass nicht allein die

Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit des ‚Faktums‘ der Wissenschaften, sondern

auch „die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Entwicklung der

Wissenschaften mit dem Systemgedanken Cassirers in engem sachlichen Zusammenhang

steht“.208

Cassirers Verständnis einer kontinuierlichen Wissenschaftsentwicklung findet schon seinen

Ausdruck im ersten Band von Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und

Wissenschaft in der neueren Zeit, in welchem er vorzugsweise Philosophen der

Renaissance vorstellt, die er als Wegbereiter der neuzeitlichen Naturwissenschaften

einstuft. Auch im vierten Kapitel Die naturwissenschaftliche Begriffsbildung von SuF wird

dieses erneut erkennbar, wenn er neben der Entwicklung der Physik und Mechanik auch

die Entwicklung der Chemie im 19. Jahrhundert behandelt.209 Cassirer hat nach Ihmig bei

der Kontinuitätsfrage in der Entwicklung der Naturwissenschaften, besonders die

physikalischen Theorien von Duhems Kontinuitätshypothese rezipiert.210

Ihmig stellt die Frage in den Mittelpunkt, wie sich bei Cassirer unter der funktionalen

Erkenntnisauffassung das Verhältnis von Kontinuität und Veränderung innerhalb der

Wissenschaftsentwicklung zeigt.211

Bei Duhem impliziert ‚Experiment‘ schon eine ‚theoretische Interpretation‘: „Ein

physikalisches Experiment ist nicht einfach die Beobachtung einer Erscheinung, es ist

außerdem die theoretische Interpretation derselben.“212 Er ist der Ansicht, dass „das von

den Geometern verwendete ad-absurdum-Führen“ nicht auf die Überprüfung einer

physikalischen Hypothese übertragbar ist, und dass das „experimentum crucis“ in der

207 Ihmig (2001), S. 98.208 Ihmig (2001), S. 98.209 Vgl. Ihmig (2001), S. 99. Ihmig fasst den Standpunkt von Cassirers Wissenschaftsgeschichtsschreibung

oder Wissenschaftshistoriographie in zwei Punkten zusammen: „Zum einen hat er [Cassirer] großenWert darauf gelegt, Anachronismen zu vermeiden und die Eigentümlichkeiten jeder Entwicklungsstufeim Lichte ihres zeitgenössischen Umfeldes herauszuarbeiten. [...] Zum anderen kam es ihm aber auchdarauf an, mögliche Zusammenhänge aufzuzeigen und auf übergreifende Entwicklungen aufmerksam zumachen. Dazu war es nötig, einen Gesichtspunkt auszuwählen, hinsichtlich dessen sich solcheZusammenhänge begreiflich machen lassen. Um dabei Anachronismen zu vermeiden, mußte dieserGesichtspunkt sowohl aus einer Analyse der wissenschaftlichen Werke beispielsweise des 17.Jahrhunderts als auch aus der Betrachtung moderner Arbeiten entwickelt werden können. In diesemSinne kommt den übergreifenden Gesichtspunkten, unter denen die Ereignisse und Werke derWissenschaftsgeschichte betrachtet werden, eine ordnende, systematisierende Funktion zu.“

210 Ihmig (2001), S. 103: „Es gibt kaum ein größeres Werk von Cassirer, in dem im Zusammenhang mit derErörterung wissenschaftsphilosophischer Probleme nicht ein Hinweis auf Duhem erfolgt. Imallgemeinen bringt Cassirer bei solchen Anlässen seine grundsätzliche Zustimmung zu Duhems Thesenzum Ausdruck. In der Tat sind die Gemeinsamkeiten der Auffassungen beider kaum zu übersehen.“

211 Vgl. Ihmig (2001), Kap.II. Cassirers Konzeption der Wissenschaftsentwicklung, besonders Kap. II, 2.Cassirer und Duhems Kontinuitätshypothese, S. 102-126.

212 Duhem (1906/1998), S. 188.

90

Physik unmöglich ist213:

„Der experimentelle Widerspruch ermöglicht es uns nicht — wie das von denGeometern verwendete ad-absurdum-Führen — eine physikalische Hypothesein eine unbestreitbare Wahrheit zu verwandeln. Um ihr diese zu ermöglichen,müßte man alle verschiedenen Hypothesen aufzählen, die bei einer bestimmtenGruppe von Erscheinungen auftreten können. Der Physiker ist nun niemalssicher, alle denkbaren Annahmen erschöpft zu haben“.214

Es fehlt die Sicherheit, dass es, sofern man beispielsweise neun von zehn bestehenden

Hypothesen mittels eines experimentum crucis ausgeschlossen hat, nicht noch weitere

gäbe, die man hätte ebenfalls ausschließen müssen. Aus Duhems Analyse des Verhältnisses

von Experiment, Gesetz und Theorie ergibt sich eine ‚holistische‘ Auffassung der

Wissenschaft, die später durch Willard Van Orman Quine als „Duhem-Quine-These“

bekannt geworden ist.215 Duhems holistische Auffassung zeigt sich deutlich in seiner

folgenden Erläuterung:

„Ein Pysiker will die Unrichtigkeit eines Lehrsatzes beweisen. Um aus diesemLehrsatz eine zu erwartende Erscheinung abzuleiten, um das Experiment, daszeigen soll, ob diese Erscheinung eintritt oder nicht, anzuordnen, um dieResultate dieses Experimentes zu interpretieren und um zu konstatieren, ob dieerwartete Erscheinung aufgetreten sei, kann er sich nicht auf die Anwendungdes in Frage stehenden Lehrsatzes beschränken. Er wendet noch eine ganzeGruppe von Theorien an, die von ihm nicht in Frage gestellt sind. DasAuftreten oder Nichtauftreten der Erscheinung, das die Debatte entscheidensoll, ergibt sich nicht aus dem strittigen Lehrsatz allein, sondern aus derVerbindung desselben mit dieser ganzen Gruppe von Theorien. Wenn dieerwartete Erscheinung nicht auftritt, wird nicht nur der einzige strittigeLehrsatz widerlegt, sondern das ganze theoretische Gerüst, von dem derPhysiker Gebrauch gemacht hat. Das Experiment lehrt uns bloß, daß unter allenLehrsätzen, die dazu gedient haben, die Erscheinung vorauszusagen und zukonstatieren, daß sie nicht auftritt, mindestens einer ein Irrtum sei. Aber wodieser Irrtum liegt, sagt es uns nicht.“ 216

213 Vgl. Duhem (1906/1998), S 249-253; Mittelstraß (EPW 1995), Bd. 1, S. 624: Experimentum crucis geht„terminologisch auf das »Novum organum scientiarum« (1620) F. Bacons [zurück] (wo unter Hinweiseauf Wegkreuze an sich trennenden Wegen von ›instantiae crucis‹ gesprochen wird)“.

214 Duhem (1906/1998), S. 252 f.215 Vgl. Duhem (1906/1998), Einleitung, S. XXVI. Nachdem Willard Van Orman Quine 1951 sich in

seinem Aufsatz Two Dogmas of Empiricism (in Philosophical Review, 60 (1), pp. 20-43, auch in Froma Logical Point of View, 1953) an Duhems holistischer These orientierend eine Attacke gegen eines derHauptdogmen des logischen Empirismus vortrug, schloss sich daran eine überaus lebhafte Diskussionan, die bis heute nicht zum Erliegen gekommen ist.

216 Duhem (1906/1998), S. 245; vgl. auch Duhem (1906/1998), Einleitung (von Lothar Schäfer), S. XXVIf.: „Die experimentelle Überprüfung einer bestimmten Hypothese ist nur dadurch möglich, daß von einerganzen Gruppe weiterer Gesetze — letztlich der gesamten Theorie — Gebrauch gemacht wird. Solltedas Experiment negativ ausfallen, richtet sich mithin der Widerspruch nicht gegen diese einzelneHypothese, sondern gegen das gesamte theoretische Gefüge, das bei der Überprüfung in Anspruch

91

Bei den Voraussetzungen, die Duhems Kontinuitätshypothese zugrunde liegen, spielt,

neben dieser holistischen Auffassung, der Gedanke des Ziels der physikalischen Theorien

noch eine wichtige Rolle. Das Ziel der physikalischen Theorien besteht in einer

„naturgemäßen Klassifikation“ der Phänomene.217 Dieses Ziel muss jedoch „als Resultat

eines Konvergenzprozesses begriffen werden, in dessen Verlauf eine stetige Annäherung

an die Realität erfolgt“.218 Darüber hinaus unterscheidet Duhem zwischen einem

‚beschreibenden‘ und einem ‚erklärenden‘ Teil einer Theorie:

„Wenn man eine der von den Physikern geschaffenen Theorien, die diewahrnehmbaren Erscheinungen erklären wollen, analysiert, erkennt mangewöhnlich bald, daß diese Theorie aus zwei wesentlich verschiedenen Teilenbesteht: der eine ist der einfach beschreibende, der die Gesetzmäßigkeitenklassifizieren will, der andere ist der erklärende, der unter den Erscheinungendie Realität zu erfassen sucht.“ 219

Der beschreibende Teil ist für die theoretische Physik entscheidend. Er „entwickelt sich auf

eigene Rechnung durch die eigentlichen und selbständigen Methoden der theoretischen

Physik“220 und soll die Kontinuität der Entwicklung gewährleisten.

Vor diesem Hintergrund fasst Ihmig die Thesen, die Duhem und Cassirer übereinstimmend

vertreten haben, in acht Punkten zusammen221 und hegt dabei die Vermutung, dass die

genommen werden mußte. Allenfalls das Ganze einer physikalischen Theorie muß falsch genanntwerden. Kein Experiment kann jedoch zeigen, an welcher Stelle des Systems der Fehler steckt. Also istdie an das experimentum crucis seit Bacons Tagen gebundene Hoffnung, auf diese Weise alternativeHypothesen eliminieren zu können, preiszugeben: ein Entscheidungsexperiment zwischenkonkurrierenden Hypothesen ist unmöglich.“

217 Ihmig (2001), S. 104. Ihmig führt diese naturgemäßen Klassifikation bei Duhem ausführlich an, vgl.Ihmig (2001), S.111-119.

218 Ihmig (2001), S. 104: Der Konvergenzprozeß impliziert nach Ihmig zwei Momente: „Zum einen istdamit eine systematische Vereinheitlichung verknüpft, die die Prognosefähigkeit der Theorien erhöht.Zum anderen unterscheidet er [Duhem] zwischen einem ‚beschreibenden‘ und einem ‚erklärenden‘ Teileiner Theorie, wobei der beschreibende Teil wegen seiner Unabhängigkeit von metaphysischenVoraussetzungen geeignet sei, von der ihr nachfolgenden Theorie übernommen zu werden und auf dieseWeise zur Kontinuität der Entwicklung beizutragen.“

219 Duhem (1906/1998), S. 37.220 Duhem (1906/1998), S. 37.221 Ihmig (2001), S. 103: „Erstens: Ein rein induktivistisches Verständnis physikalischer Theorien ist

unzureichend. Theoriebildung impliziert stets ein schöpferisch-kreatives Moment, das sich nicht auseinem ‚gegebenen‘ Datenmaterial unmittelbar ableiten läßt. Zweitens: Theorien sind symbolischeKonstrukte, die ihren Ursprung der schöpferischen Tätigkeit des menschlichen Geistes verdanken.Drittens: Die Feststellung experimenteller Befunde kann nicht unabhängig von Voraussetzungenerfolgen, die durch solche Konstrukte vorgegeben sind. Es gibt keine feste Grenze, die es erlaubte,zwischen ‚reiner Theorie‘ auf der einen und ‚reinen Beobachtungsdaten‘ auf der anderen Seite zuunterscheiden. Viertens: Eine empirische Überprüfung isolierter Hypothesen, Prinzipien oder Sätze einerTheorie ist nicht möglich. Der Erfahrungsbezug von Theorien ist nur auf holistische Weise herzustellen.Fünftens: Es gibt keinen kontinuierlichen Übergang von der Alltagserfahrung zur wissenschaftlichenErfahrung, wie etwa Mach oder Popper angenommen haben. Zwischen beidem besteht eine prinzipielleKluft. Sechstens: Der Kern jeder physikalischen Theorie besteht in ihrer mathematischen Struktur. Sieliefert die Prinzipien der ‚Einheit des Mannigfaltigen‘, die eine Reihe beobachtbarer Phänomene zu

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Übereinstimmung, auf der die Ähnlichkeit der Auffassungen der beiden beruht, besonders

darin begründet ist, dass „es sich bei physikalischen Theorien um symbolische Konstrukte

des menschlichen Geistes handelt, die kein unmittelbares Korrelat in der Realität

besitzen“.222

Cassirers Rezeption von Duhems Kontinuitätshypothese ist nach Ihmig am meisten durch

den Gedanken geprägt, dass „der Fortschritt in den Wissenschaften auf eine wachsende

Vereinheitlichung und Prognosefähigkeit der Theorien hinausläuft“, den Cassirer positiv

aufgreift und in die Sprache seines wissenschaftlichen Erfahrungssystems „übersetzt“.223 Er

lehnt jedoch ab, dass Duhem in seiner Theoriebildung eine Wirklichkeit voraussetzt, die

sich von den begrifflichen Voraussetzungen unterscheidet und mit dessen

Konvergenzkonzept verbunden ist. Er lehnt auch die Annahme Duhems ab, dass lediglich

der beschreibende Teil einer Theorie die Kontinuität der Entwicklung gewährleistet. Die

Auffassung der Begriffstheorie Cassirers besagt, dass die Beziehung zwischen

Allgemeinem und Besonderem oder zwischen Reihenprinzip und Reihenglied als

Korrelation zu verstehen ist, und dass der Einzelwert der Glieder trotz der weiteren

Begriffsbildung oder Reihenbildung nicht verloren gehen soll. Dies lässt auch verständlich

werden, warum Cassirer einerseits auf den Systemcharakter jeder einzelnen Wissenschaft

hinweist und andererseits von einem „System der Wissenschaften insgesamt im Sinne

eines Systems der wissenschaftlichen Erfahrung“ spricht.224 Dieser letzte Gedanke beruht,

wie bereits erwähnt, auf Kants transzendentalphilosophischem ‚System der Erfahrung‘,225

obschon sich Cassirers erkenntnistheoretischer Standpunkt von der Kantischen

Transzendentalphilosophie unterscheidet. Daraus ergibt sich nach Ihmig für Cassirer das

Problem, dass die Bedingungen der Möglichkeit der wissenschaftlichen Erfahrung

„einerseits als Voraussetzung der Wissenschaften angesehen werden [müssten] und

andererseits als das Resultat von deren Entwicklung“.226 Somit drängt sich die Frage auf,

einer Einheit verknüpfen. Siebtens: Wissenschaftliche Prinzipien und Begriffe bilden keine Tatsachenab, sondern sie sind ihrem Wesen nach (kontrafaktische) ‚Grenzbegriffe‘. Die vermittels dieserPrinzipien formulierten Aussagen und Gesetze beziehen sich nicht unmittelbar aufWahrnehmungsgegebenheiten, sondern auf deren ‚ideale Grenzen‘. Achtens: Zum tieferen Verständniseiner Theorie und ihrer grundlegenden Prinzipien ist die Kenntnis ihrer Geschichte unabdingbar.Wissenschaftstheorie ohne Wissenschaftsgeschichte ist ‚leer‘.“

222 Ihmig (2001), S. 103 f.223 Ihmig (2001), S. 105.224 Ihmig (2001), S. 122.225 Vgl. Ihmig (2001), S. 122: „Das, was ein System der Erfahrung nach Kant ausmacht, ist die Verbindung

von Einheitsprinzipien (oder: Prinzipien der Synthesis) unterschiedlicher Allgemeinheitsgrade, wobeinur die ‚höchsten‘ dieser Prinzipien, sofern sie konstitutiv für Gegenstände überhaupt sind, a priorizugrunde gelegt werden können, während die besonderen Gesetze unter diesen höchsten Prinzipien zwarauch eine Hierarchie bilden, aber nicht a priori, sondern nur mit Hilfe der Erfahrung gefunden werdenkönnen.“

226 Ihmig (2001), S. 124.

93

wie die Bedingungen der Möglichkeit der wissenschaftlichen Erfahrung diese Forderung

erfüllen können? Ihmig erläutert, dass hier zwei Gesichtspunkte zu unterscheiden sind:

„Die Bedingung sollen zwar für Erfahrung Gültigkeit, nicht aber ihrenUrsprung in der Erfahrung haben. Sie als das Resultat wissenschaftlicherEntwicklung zu betrachten, bedeutet zunächst nur, daß sich ihre Gültigkeit fürErfahrungsinhalte im Laufe der Entwicklung immer deutlicher gezeigt hat. Daßim Zuge dieses Nachweises der Bezug auf Empirie auch eine Rolle spielt,bedeutet aber noch nicht schon, daß die Begriffe (Prinzipien, Gesetze,Hypothesen) ihren Ursprung derart in der Erfahrung haben, daß sie induktiv auseiner Reihe von empirischen Befunden abgeleitet oder abstrahiert wordenwären.“227

Ihmig ist der Meinung, dass das System der Erfahrung bei Cassirer als ein System der

wissenschaftlichen Begriffe und damit die Entwicklung dieses Systems als

Begriffsentwicklung aufgefasst werden kann. Um seinen Aspekt verständlicher zu machen,

erläutert er, was einen wissenschaftlichen Begriff Cassirers Meinung nach auszeichnet. Der

wissenschaftliche Begriff bei Cassirer sei eine Vorstellung des menschlichen Geistes,

vermöge derer eine vorgegebene, ungeordnete Mannigfaltigkeit in eine erkenntnismäßige

Abhängigkeit oder Ordnung gebracht werde.228 Ihmig erkennt hierbei, dass sich bei

Cassirer folgende vier Gesichtspunkte verbinden: Erstens, der Gesetzescharakter

wissenschaftlicher Begriffe, die zu einer ‚Umformung‘ des einheitlichen Objekts der

wissenschaftlichen Betrachtung hinführen, ist durch die Umformung selbst mit der

Objektivierung verknüpft. Der zweite Gesichtspunkt ist eben diese Objektivierung, die „die

Einordnung von etwas Einzelnem, Isoliertem [...] in einen übergreifenden Zusammenhang“

beinhaltet.229 Drittens, Begriffe werden in dieser Weise als ‚Prinzipien‘ der Synthesis des

Mannigfaltigen aufgefasst und gehören einer anderen Ebene an. Viertens, die

Ordnungsprinzipien sind etwas, „das gegenüber dem stetigen Wandel des Mannigfaltigen,

worauf sie bezogen sind, konstant und unveränderlich bleibt. [...] Wissenschaftliche

Begriffe sind unter diesem Aspekt ein gutes Beispiel für das, was Cassirer Invarianten der

Erfahrung nennt“.230 Somit besteht die Leistung wissenschaftlicher Begriffe weder darin,

„daß sie Abkürzungen oder Zeichen für eine Summe von Einzeltatsachen darstellen, noch

daß sie irgendwelchen vorausgesetzten Objekten Merkmale oder Eigenschaften

zusprechen“.231 Sie seien vielmehr Ausdruck bestimmter Gesetzmäßigkeiten und227 Ihmig (2001), S. 124 f.228 Ihmig (2001), S. 127.229 Ihmig (2001), S. 127.230 Ihmig (2001), S. 128.231 Ihmig (2001), S. 128.

94

Strukturen, deren Gültigkeit für einen Gegenstandsbereich angenommen werde. Ihmig

stellt fest, dass Cassirer unter diesen Voraussetzungen bei seinen Analysen der

Wissenschaftsentwicklung die Entwicklung der Begriffe in den Vordergrund stellt.

Cassirers Gedanke der kontinuierlichen Wissenschaftsentwicklung ist nach Ihmig durch die

drei allgemeinen Charakteristika, nämlich Begriffsentwicklung, Verallgemeinerung und

Objektivierung gekennzeichnet, wobei Cassirers Interpretation der mathematischen

Naturwissenschaften als eines Prozesses der Begriffsentwicklung bestimmend ist.232 Wenn

man sich aber Cassirers übergreifenden Gesichtspunkt des Funktionsbegriffs

vergegenwärtigt und den Funktionsbegriff als Ordnungs- und Gesetzesbegriff versteht,

kann man zu dem Schluss kommen, dass der Funktionsbegriff all diese Charakteriska

umfasst.

Cassirer selbst spricht aber auch von der Logik dieses Funktionsbegriffs und davon, dass

die Funktion selbst nicht als Glied der Reihe aufzeigbar ist (vgl. SuF, 21). Dies impliziert,

dass die Funktion gleichbedeutend mit der „Funktion des Denkens“ (KmM, 33) und der

des „Logischen in uns“ (ZER, 27) oder ‚Tun‘ des Geistes ist.233

Der Funktionsbegriff in der Begriffsbildung muss zugleich als Gesetzesbegriff nun der

Forderung der Cassirerschen Erkenntniskritik genügen können. Die Frage nach der Geltung

und Anwendung des Begriffs war Cassirers Ausgangspunkt in der Kritik an der

aristotelischen Logik. In seiner Untersuchung über die Begriffstheorie innerhalb der

kritischen Erkenntnistheorie geht es um den Erkenntniswert des Begriffs, seinen objektiven

Sinn und seine gegenständliche Geltung. Der Funktionsbegriff muss das Kriterium für den

‚echten‘ Begriff Cassirers erfüllen können.

Die gegenständliche Geltung muss auch auf den einzelnen Gegenstand bezogen werden,

weil die Gegenstände der einzelnen Wissenschaften verschieden sind. Hier stellt sich die

Frage, was Cassirer unter Gegenstand versteht und was sein Gegenstandsbegriff bedeutet.

Der Gegenstand der verschiedenen Wissenschaften ist, vom erkenntnistheoretischen

Gesichtspunkt aus betrachtet, kein Feststehendes und an sich Gegebenes. Der Gegenstand

der Mathematik ist ein anderer als der der Physik. Weil Cassirer sich für seine

Begriffstheorie auf den mathematischen Funktionsbegriff stützt, ist das Gegenstands-

232 Vgl. Ihmig (2001), S. 130: „[...] beinhaltet die Auffassung der Wissenschaftsentwicklung alsBegriffsentwicklung das Charakteristikum einer besonderen Form der Verallgemeinerung. Zweitensbeinhaltet die Deutung von Grundbegriffen der mathematischen Naturwissenschaften als Gesetzen einweiteres Charakteristikum, nämlich das der Objektivierung.“

233 Vgl. Cassirers Interpretation der Ideen Platons, 1.4.1; vgl. auch Frege (1884/1987), § 88, S. 120. Fregespricht im Zusammenhang mit der Stetigkeit der Funktion auch von organischen Verbindungen derBestimmungen: „Dasselbe gilt auch von den wirklich fruchtbaren Definitionen in der Mathematik, z.B.der Stetigkeit einer Funktion. Wir haben da nicht eine Reihe beigeordneter Merkmale, sondern eineinnigere, ich möchte sagen organische Verbindung der Bestimmungen.“

95

problem insofern wichtig, wenn man der Frage nachgeht, „wie der Übergang vom

mathematischen Gegenstand zum physikalisch-realen Objekt zu denken“ ist.234 Der Inhalt

des besonderen Gebiets der Erkenntnis bestimmt sich durch die charakteristische Urteils-

und Frageform, von der die Erkenntnis ausgeht. Man sieht hier, dass die Frage nach der

gegenständlichen Geltung erst dann beantwortet werden kann, wenn man zuerst die Frage,

was man unter Gegenstand versteht, beantwortet hat. Die Frage nach dem Gegenstand wird

daher mit der Begriffstheorie in PsF zusammen behandelt, da Cassirer im Kapitel Begriff

und Gegenstand im dritten Band von PsF das Gegenstandsproblem ausführlich darstellt.

Das Verhältnis von Begriff und Gegenstand bildet ein Hauptproblem der Erkenntniskritik

Cassirers, wobei er sich wohl an den Kantischen Gegenstandesgedanken anlehnt, aber auch

Kritik an der Kantischen transzendentalen Deduktion, besonders bezüglich der

‚synthetischen Einheit der Apperzeption‘ übt. Denn Anschauung heißt bei Cassirer nur

„irgendwie geordnete Anschauung“ und auch Wahrnehmung ist „nicht vereinzelt, sondern

nur als ein Ganzes geordneter Wahrnehmung“ zu sehen (ET I, 25). Cassirer versucht in PsF

das überlieferte Problem der Übereinstimmung von Begriff und Gegenstand durch die neu

definierte ‚Einheit der Apperzeption‘, das heißt, durch seinen Korrelationsgedanken

aufzulösen.235

Es stellt sich darüber hinaus die Frage, ob der Funktionsbegriff für die Begriffsbildung bei

allen Wissenschaften gilt. Wie gewinnt man die gegenständliche Geltung des Begriffs

innerhalb der Geisteswissenschaften? Die hier entstehende Frage war Cassirer bewusst,

und er sah die Notwendigkeit der Erweiterung seiner Begriffstheorie (vgl. PsF III, Vorrede,

V). Er meint, dass der mathematische Funktionsbegriff sich auf die mathematischen

Naturwissenschaften beschränken muss. Daher sucht er in PsF mit Hilfe des

Symbolbegriffs die allgemeine Form des Begriffs überhaupt.

2.3. Kritik an Cassirers Begriffstheorie in Substanzbegriff und Funktionsbegriff

In diesem Abschnitt wird auf die Kritiken an Cassirers Begriffstheorie in SuF seitens

Richard Hönigswald und Gerard Heymans eingegangen, wobei der Versuch unternommen

wird, die sich aus den kritischen Bemerkungen der beiden Autoren ergebenden

Hauptprobleme zu analysieren und zu bewerten. Anschließend wird Cassirers Replik auf

Heymans skizziert, wobei auch der erkenntniskritische Standpunkt Cassirers deutlich234 Lembeck (1994), S. 102.235 Vgl. PsF III, Dritter Teil, Kap. II. Begriff und Gegenstand; auch KmM.

96

werden soll.

2.3.1. Kritik Hönigswalds: Subsumption oder Reihenbildung?

Hönigswald fasst in seiner Rezension236 von SuF zunächst zusammen, was der Begriff als

solcher im philosophischen Kritizismus237 — gemeint ist die Marburger Schule —

bedeutet.

Der Begriff des philosophischen Systems hat nach Hönigswald durch den philosophischen

Kritizismus einen tiefgehenden Bedeutungswandel erfahren. Ein philosophisches System

zu entwickeln heißt für den Vertreter des philosophischen Kritizismus, dass die

Bedingungen möglicher Erkenntnis überhaupt in der Mannigfaltigkeit der Wissenschaften

aufgewiesen und gerechtfertigt werden können:

„Das kritische System der Erkenntnis ist das System der wissenschaftlichenMethoden; es ist, weil sich im Begr i f f allein die logischen Forderungen zurGeltung bringen, die mit dem Tatbestande der Methode gegeben sind, eineUntersuchung über die Tatsache und über die Gründe der Mannigfaltigkeit, inwelcher der B eg r i f f die Vielgestaltigkeit wissenschaftlicher Methoden oder,was dasselbe bedeutet, das System der Wissenschaften repräsentiert. Dask r i t i s c he System der Philosophie ist das System der wissenschaftlichenBegriffsbildung.“238

Damit wird deutlich, warum Cassirers Theorie der Begriffsbildung im Mittelpunkt der

Erkenntniskritik steht.

Hönigswalds Kritik an Cassirers Theorie der Begriffsbildung entwickelt sich hauptsächlich

aus dem Versuch heraus, Antworten auf zwei sich selbst gestellte Fragen zu finden.239

Seine erste Frage ist darauf gerichtet, ob das Verhältnis zwischen der Subsumption und der

Reihenbildung, wie es Cassirer auffasst, sich wirklich im Prinzip als Gegensatz darstellt.

Die zweite Frage beschäftigt sich damit, ob man das mathematische Reihenprinzip und

Reihenglied ohne weiteres auf die Naturwissenschaft anwenden kann, denn die Relation

zwischen Reihenglied und Reihenprinzip ist für Hönigswald in der Mathematik und in der

Naturwissenschaft oder Naturforschung völlig verschieden.

236 Hönigswald (1912a): Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Kritische Betrachtungen zu Ernst Cassirersgleichnamigen Werk.

237 Die Bezeichnungen ‚philosophischer Kritizismus‘, ‚kritische Philosophie‘ und ‚kritischer Idealismus‘sind gleich bedeutend.

238 Hönigswald (1912a), S. 2822.239 Vgl. Bermes (1997), S. 202 ff. Bermes geht kurz auf die Kritik Hönigswalds an Cassirers SuF ein.

97

Die Subsumption und die Reihenbildung bedeuten nach Hönigswald keineswegs

Gegensätze, wenn man sie unter dem Gesichtspunkt des Begriffs der Erkenntnis

hinsichtlich ihres Verhältnisses zum Moment der allgemeinen Gültigkeit betrachtet.

Cassirer habe versucht, so Hönigswald, am grundsätzlichen Auseinandertreten der Begriffe

‚Abstraktion‘ und ‚Subsumption‘ festzuhalten, damit die Subsumption aus den

Erwägungen über die wissenschaftliche Begriffsbildung herausgehalten wird. Eine

‚abstraktive‘ Naturwissenschaft sei unter dem Gesichtpunkt der scharf erfassten

Forderungen des Erkenntnisbegriffs unmöglich, eine nicht subsumierende aber sei

undenkbar, „wenn sonst die Erfüllung einer im »Obersatz« gestellten Bedingung mi t zu

dem methodischen Bestande naturwissenschaftlicher Forschung gehören soll“.240

Die aristotelische Tradition rechnete nicht mit der Vielgestaltigkeit der Bedingungen,

welchen der Begriff selbst unterliegt, sondern ihr

„galt der Begriff als das logische Symbol jener metaphysischen Beziehung, diesie zwischen Individuum und Klasse statuiert hatte. Es ist die Beziehung, in derfür sie die »Realität« der Welt ungeschmälert zum Ausdruck kommt. Nur weilund sofern der Begriff den Bedingungen jener Beziehung genügt, gilt er ihr alsdas Mittel der Erkenntnis.“241

Das Schema der Subsumption ist für den Aristotelismus die eigentliche Form der

Wissenschaft, und das Schema der Abstraktion ist für die aristotelische Tradition der

logische Weg der Erkenntnis der Klassenbildung und der Begriffsentwicklung. Die

Aufgabe der modernen Wissenschaftstheorie sei demgegenüber deutlich umschrieben:

„Nur in Beziehung auf die Mannigfaltigkeit möglicher Methoden kann ihr derGedanke zum Problem werden, daß es dennoch e ine Gesetzlichkeit sei, derenBedingungen die gesamte Begriffsbildung der Wissenschaft beherrschen; nurindem sie die Vielgestaltigkeit wissenschaftlicher Methoden bejaht, vermag siedie durchgängige Einheit der Funktion des Begriffs in aller Wissenschaft zuerfassen und deren System unter dem Gesichtspunkte solcher Einheit zuüberschauen.“242

Die Subsumption braucht sich für Hönigswald keineswegs auf Abstraktion zu gründen,

auch wenn die Abstraktion bei ihrem Vollzug als erkenntnispsychologisch bedeutsames

Element in Betracht kommen sollte. Die Subsumption muss aber seiner Meinung nach den

240 Hönigswald (1912a), S. 2887.241 Hönigswald (1912a), S. 2823.242 Hönigswald (1912a), S. 2824.

98

strengsten Erkenntnisforderungen genügen können:

„Der Träger des Gedankens der Wissenschaftlichkeit überhaupt ist der Begriffder Ge l tung . In diesem Begriff aber ist neben dem Gedanken derUnabhängigkeit e ine r Beziehung von gewissen anderen auch der jenerspezifischen Abhäng igke i t , wie sie in der Verhältnisbezeichnung »Geltungfür« ihren sprachlichen Ausdruck findet, enthalten. Genau die gleicheVerhältnisbezeichnung aber entspricht auch der Beziehung der Subsumtion.Insofern muß auch die S ubsumt i on den strengsten Erkenntnisforderungengenügen können.“243

Hönigswald behauptet daher, dass der Begriff der Reihe den Begriff der Subsumption nicht

ausschließen darf und der Reihenbegriff diesen „im Rahmen seiner eigenen Bedingungen

ausdrücklich zur Geltung bringen“ muss. Darüber hinaus müsste die Beziehung der

Subsumption „als eine spezifische Determination der Reihengesetzlichkeit“ erfasst

werden.244 Er ist der Ansicht, dass die moderne Logik der Relation gewiss nicht in einer

absoluten Opposition zur aristotelischen Syllogistik verharren kann, da diese am Aufbau

der wissenschaftlichen Methodik entscheidend mitwirkt. Die aristotelische Logik müsse,

aus den Fesseln der Abstraktionstheorie befreit, ein Element im Rahmen einer Logik der

Relation werden, das heißt, die Logik der Relation müsse den Foderungen, die der Begriff

der Subsumption stelle, in vollem Umfang genügen. Erst wenn diese Bedingung erfüllt ist,

wäre nach Hönigswald eine wirkliche Logik des naturwissenschaftlichen Experiments

möglich:

Sie „erst würde auch das Moment der »Denkfremdheit« der »Tatsache«, dessenBeseitigung eine der entschiedensten Forderungen Cassirers darstellt, wirklichüberwinden. Solange der logische Tatbestand der Subsumtion aus einer Theorieder wissenschaftlichen Begriffsbildung ausgeschlossen bleibt, so lange bleibtauch die Kluft zwischen »Wirklichkeit« und »Erkenntnis« auf dem Boden derMethodenlehre unüberbrückt.“245

Die Beziehung der Subsumption gehört nach Hönigswald somit zu den gedanklichen

Formen, die im System der Logik ihre vollgültige Vertretung finden. Denn sie sei es, „in

der sich die allgemeine Geltung einer Voraussetzung im Sinne der Forderungen des

‚Tatsächlichen‘ determiniert“.246 Alle ‚Anwendung‘ von Naturgesetzlichkeiten bedeute im

einfacheren oder komplexeren Sinne des Wortes Subsumption.

243 Hönigswald (1912a), S. 2886. 244 Hönigswald (1912a), S. 2887. 245 Hönigswald (1912a), S. 2888.246 Hönigswald (1912a), S. 2888.

99

Diese Behauptung Hönigswalds soll zwar geprüft werden, aber wie die Beziehung der

Subsumption die Geltung des Begriffs in Anspruch nehmen kann, das heißt, was alle

Anwendung von Naturgesetzlichkeit im Sinne von Subsumption bedeuten soll, darüber

spricht er nicht. Es mag sein, dass Cassirer, wie Hönigswald behauptet, versucht hat, am

grundsätzlichen Auseinandertreten der Begriffe Abstraktion und Subsumption festzuhalten

und damit die Subsumption aus den Erwägungen über die wissenschaftliche

Begriffsbildung herauszuhalten. Das, was Hönigswald in seiner ganzen Kritik anführt, ist

das Problem der Anwendung von allgemeinen naturwissenschaftlichen Gesetzen auf

empirische Beobachtungen. Dieses Problem ist aber allgemein als ein solches der

Voraussetzung der Naturwissenschaft anzusehen. Wenn es bei Hönigswald um das

Problem der Voraussetzungen der Naturwissenschaften geht, kann an dieser Stelle auf den

vorigen Abschnitt ‚Funktionsbegriff als Gesetzesbegriff‘ hingewiesen werden, in dem

Cassirers Ansicht diesbezüglich erörtert wurde.

Um die Problematik der Geltung des Begriffs in der Subsumption zu verdeutlichen, soll im

Folgenden kurz auf den aristotelischen Syllogismus eingegangen werden.

Ein Syllogismus im Sinne von Aristoteles ist ein Argument mit drei Teilen, Obersatz,

Untersatz und Schlusssatz. Es gibt zahlreiche Syllogismen, von denen einzelne auch

Namen besitzen. Eines der bekanntesten Beispiele hierfür ist der Modus ‚Barbara‘: „All

men are mortal, Socrates is a man, therefore Socrates is mortal“ oder „all men are mortal,

all Greeks are men, therefore all Greeks are mortal“. Aristoteles machte zwischen diesen

beiden Formen keinen Unterschied, was nach Russell ein Fehler von ihm war.247 ‚Barbara‘

bildet zusammen mit den Formen ‚Celarent‘ („No fishes are rational, all sharks are fishes,

therefore no sharks are rational.“) ‚Darii‘ („All men are rational, some animals are men,

therefore some animals are rational.“) und ‚Ferio‘ („No Greeks are black, some men are

Greeks, therefore some men are not black.“) die erste Aristotelische Figur.248 Dieser fügte

Aristoteles noch eine zweite und dritte Figur hinzu, die aber, genauso wie die später durch

Galenus hinzugefügte vierte Figur, an dieser Stelle nicht erläutert werden.249

Zu den formalen Defekten im Syllogismus merkt Russell anhand der Beispielsätze ‚alle

Griechen sind Menschen‘ und ‚Sokrates ist ein Mensch‘, zwischen denen Aristoteles selbst

keinen Unterschied macht, Folgendes an: Eine Aussage ‚alle Griechen sind Menschen‘

wird im Allgemeinen dahingehend interpretiert, dass sie impliziert, es gibt Griechen, und

ohne diese Implikation sind manche der Aristotelischen Syllogismen nicht valid. ‚Alle

247 Russell (1945a), p. 206 f. 248 Russell (1945a), p. 207.249 Vgl. Russell (1945a), p. 207; vgl. auch Lotze (1843/1989), Logik, Buch 1, S. 109.

100

Griechen sind Menschen‘ ist dann valid, wenn es Griechen gibt. Daher muss man nach

Russell diese Aussage in zwei Sätze, ‚Es gibt Griechen‘ und ‚Wenn irgendwas Grieche ist,

dann ist es ein Mensch‘ unterteilen, wobei der letzte Satz aber rein hypothetisch ist und

nicht impliziert, dass es Griechen gibt.250 Die Aussage ‚alle Griechen sind Menschen‘ ist,

wie oben gezeigt, viel komplexer in ihrer Form als die Aussage ‚Sokrates ist ein Mensch‘.

Der Satz ‚Sokrates ist ein Mensch‘ hat nach Russell Sokrates zum Subjekt, aber der Satz

‚alle Griechen sind Menschen‘ hat nicht ‚alle Griechen‘ zum Subjekt, denn dieser Satz

besagt nichts über ‚alle Griechen‘ genauso wenig die Aussage ‚es gibt Griechen‘.

Ein weiterer Fehler bei Aristoteles sei der Gedanke, dass ein Prädikat von einem Prädikat

das Prädikat des echten Subjekts sein kann. Zur Veranschaulichung zieht Russell hierfür

den Satz ‚Socrates is Greek, all Greeks are human‘ heran. Aristoteles denke, dass ‚human‘

auch das Prädikat von ‚Greek‘ sei, während ‚Greek‘ das Prädikat von ‚Socrates‘ und somit

wiederum ‚human‘ das Prädikat von ‚Socrates‘ sei. Bei genauerer Betrachtung dieses

Satzes komme man aber zu dem Schluss, dass ‚human‘ nicht das Prädikat von ‚Greek‘

sei.251 Russell betont hier, dass die Unterscheidung zwischen Namen und Prädikaten oder

zwischen Allgemeinen und Besonderen in der Sprache der Metaphysik verschwommen ist.

Der Aristotelische Syllogismus wird auch nach Lotze als „jede Verknüpfung zweier

Urtheile zur Erzeugung eines gültigen dritten, das nicht in der bloßen Summirung jener

beiden besteht“ verstanden.252 Diese Erzeugung von dritten ist aber nur möglich, wenn

beide Prämissen (Obersatz, Untersatz) einen gemeinsamen Bestandteil, den Mittelbegriff

(M) enthalten, welchen die eine mit dem Subjekt (S), die andere mit dem Prädikat (P) in

Beziehung setzt. Durch diese Vermittlung können die beiden Begriffe S und P in der

Konklusion zu einem Urteil von der Form, S ist P, zusammentreten, und der Mittelbegriff,

der zu seiner Erzeugung gedient hat, verschwindet wieder. Man kann nach Lotze die vier

250 Vgl, Russell (1945a), p. 208.251 Bei Russell sind ‚Namen‘ ähnlich den Individuen oder Einzelnen. ‚Name‘ ist ein einfaches Symbol, das

ein Individuum bezeichnet oder auf dieses hinweist (vgl. Gross, 1970, pp. 78 f.). Nach Russell sollenauch Namen die Beschreibung nicht abkürzen und keinen Sinn haben (also nur ‚Bedeutung‘ haben). Soist ‚Walter Scott‘ zum Beispiel nach Russell kein Name, da bei ‚Walter Scott‘ die Beschreibungabgekürzt ist (vgl. Kripke, 1986, p. 27, fn. 4). ‚Socrates‘ im Satz ‚Socrates is Greek‘ ist in diesem Sinnkein Name. Der Satz ‚Socrates is Greek‘ besagt nicht, wer oder was ‚Socrates‘ ist. Es muss mindestensein Mensch existieren, der ‚Socrates‘ heißt und Grieche ist, dann ist der Satz wahr. Es können aber auchmehrere Menschen ‚Socrates‘ heißen, die nicht Griechen sind. ‚Socrates‘ kann der Name eines Hundesoder einer Katze sein. Damit ist die Schlussfolgerung ‚Socrates is human‘ schon falsch. Man kannaußerdem das Prädikat im generellen Satz nicht für das Prädikat eines partikulären Satzes ohne weiteresverwenden. Darüber hinaus unterscheidet Russell durch ‚denoting‘ zwischen ‚concept of class‘ und‚class-concept‘. Demnach sind ‚all Greeks‘ ‚concept of class‘ und eine Klasse. ‚Greek‘ ist nur ein ‚class-concept‘, denn ‚Greek‘ denotes Nichts. Das Prädikat ‚human‘ von ‚all Greeks‘ kann somit nicht, wieAristoteles denkt, als Prädikat von ‚Greek‘ gedacht werden. Vgl. 3.3.4 (S. 156 f.); Russell (1903/1996),p. 19, 53, 67; auch Russell (1905); Die Diskussion gegen Russells Meinung in Bezug auf ‚Name‘ vgl.Kripke (1986).

252 Lotze (1843/1989), Logik, Bd.1, S. 108.

101

verschiedenen Figuren des Syllogismus wie folgt zusammenfassen253:

I II III IV Obersatz MP PM MP PMUntersatz SM SM MS MSSchluss SP SP SP SP

Lotze bezeichnet den Schluss bei Aristoteles als ‚Schluss durch Subsumption‘ und stellt

die Wahrheitsfrage bezüglich der Form des Syllogismus. Zu der Aussage „alle Menschen

sind sterblich, Cajus ist ein Mensch, also ist Cajus sterblich“ fragt Lotze, wo die Wahrheit

des Obersatzes und Untersatzes bleibe254:

„In der That, wo bliebe die Wahrheit des Obersatzes: alle Menschen seiensterblich, wenn es in Bezug auf Cajus noch nicht gewiß wäre, daß er an dieserEigenschaft Theil hat? Und wo bliebe die Wahrheit des Untersatzes, daß Cajusein Mensch sei, wenn es noch zweifelhaft wäre, ob er außer andernEigenschaften des Menschen auch die der Sterblichkeit hat, die ja der Obersatzals allgemeines Merkmal jedes Menschen aufführt?“ 255

Die beiden Prämissen sind nur unter Voraussetzung der Wahrheit des Schlusssatzes richtig,

anstatt die Wahrheit des Schlusssatzes durch die für sich feststehende Wahrheit der

Prämissen zu beweisen. Dieser doppelte Zyklus scheint, so Lotze, jede logische Leistung

des Syllogismus unmöglich zu machen.

In seinen weiteren Ausführungen versucht Lotze zu veranschaulichen, welche Folgen es

haben würde, den Obersatz ‚MP‘ als ein analytisches Urteil, als ein synthetisches Urteil

oder als ein hypothetisches Urteil zu betrachten. Wenn man sich einen Obersatz ‚MP‘ als

ein analytisches Urteil vorstellt, so ergibt sich für diesen Folgendes:

„P sei ein festes Merkmal, ohne welches sich überhaupt der Inhalt des BegriffsM nicht vollständig denken lasse, so steht allerdings dann die Allgemein-gültigkeit des Obersatzes für sich fest; aber der Untersatz kann dann ein S nichtdem M unterordnen, ohne dem S dies unentbehrliche P bereits zuzuschreiben,also den Schlußsatz vorauszusetzen, der diese Behauptung erst aussprechensollte.“256

253 Lotze (1843/1989), Logik, Bd.1, S. 109; vgl. Menne (1991), S. 119-122. 254 Lotze (1843/1989), Logik, Bd.1, S. 122.255 Lotze (1843/1989), Logik, Bd.1, S. 122.256 Lotze (1843/1989), Logik, Bd.1, S. 122.

102

Nennt man als Beispiel den Obersatz ‚alle Körper sind schwer‘; er kann im Untersatz die

Luft nicht einen Körper nennen, ohne mitzudenken, was der Schlusssatz besagen soll, dass

auch die Luft schwer ist.257 Das heißt im Allgemeinen: „der Grundsatz der Subsumption

verlangt, daß das untergeordnete Einzelne die Merkmale seines Allgemeinen theile; aber

umgekehrt läßt sich nichts einem Allgemeinen unterordnen, ohne bereits die Merkmale zu

haben, die dieses ihm vorschreibt“.258

Wenn man sich aber den Obersatz ‚MP‘ als ein synthetisches Urteil von allgemeiner

Geltung denke, dann hieße es, der Inhalt des Begriffs ‚M‘ würde sich vollständig fassen

lassen,

„ohne in ihm P mitgedacht zu haben, aber eine Gewißheit von irgend welchemUrsprung lehrte uns zugleich, daß überall mit diesem M auch P verbunden sei.Darauf würde der Untersatz an S nur die Merkmale nachzuweisen haben, durchdie es ein M ist, und nun erst der Schlußsatz das noch nicht mitgedachte Phinzufügen, welches dem S um seiner Unterordnung unter M willen gebührt.Im wirklichen Gebrauche der Subsumptionsschlüsse macht man dieseVoraussetzungen immer.“259

Wenn man sich dann den Obersatz hypothetisch vorstellt:

„Dann reicht es hin, im Untersatz S dem M allein unterzuordnen, um imSchlußsatz zu folgern, daß auch S, wenn die gleiche Bedingung x einwirkt, dasMerkmal P zeigen müsse. Und auf diese Form laufen in der That die meisten inder Wissenschaft wirksamen Anwendungen der Syllogismen zurück; sie zeigenfast alle, daß S, weil es eine Art von M ist unter der Bedingung x imAllgemeinen dieselbe Wirkung P entfalten oder erfahren werde, die wir an Mkennen.“260

Wie Lotze angeführt hat, ist bei einem analytischen Obersatz der Untersatz fragwürdig und

bei einem synthetischen Obersatz wird dessen Allgemeingültigkeit selbst in Frage gestellt,

denn die Allgemeingültigkeit der Sterblichkeit der Menschen kann nur unter

Voraussetzung der Richtigkeit des Schlusssatzes bestehen. Sie wird hinfällig, wenn es

einen Cajus gibt, der nicht stirbt. Wie oben angeführt, erkennt Lotze an, dass der

hypothetische Obersatz nur unter bestimmten Bedingungen die Anwendung der

Syllogismen261 auf die Wissenschaft zulässt. Der hypothetische Satz bleibt eben

257 Vgl. Lotze (1843/1989), Logik, Bd.1, S. 122 f. 258 Lotze (1843/1989), Logik, Bd.1, S. 123.259 Lotze (1843/1989), Logik, Bd.1, S. 123.260 Lotze (1843/1989), Logik, Bd.1, S. 123.261 Darüber hinaus ist noch der divisive Induktionsschluss zu nennen vgl. Bonsiepen (1999), Fries’ Logik,

103

hypothetisch und kann keine Allgemeingültigkeit besitzen.

Wie die bis jetzt angeführten Probleme des Subsumptionsschlusses zeigen, ist es

fragwürdig, ob die Subsumption allein, wie Hönigswald meint, die Bedingung der Geltung

für die Wissenschaft erfüllen kann. Das Problem der Abstraktion, wie ‚Schluss durch

Subsumption‘ ist, dass man nur einen inhaltsleeren Gattungsbegriff gewinnt, der, wie

Cassirer in SuF bewiesen hat, die Bedingung der Geltung der gegenständlichen Erkenntnis

in der modernen Naturwissenschaft nicht erfüllen kann. An dieser Stelle soll nochmals

darauf hingewiesen werden, dass Lotze die Subsumption in der Abstraktion strickt ablehnt

und von der „geistlosen Subsumption“ spricht.262 Cassirer spricht in SuF nicht über die

Subsumption. Er hat mit der Ablehnung der Abstraktionstheorie einen ihrer wesentlichen

Bestandteile (Subsumption) nicht als notwendiges Moment erkannt. Wenn er dennoch, wie

Hönigswald behauptet, die Subsumption als Gegensatz zur Reihenbildung dargestellt hätte,

dann hätte es sich bei ihr wahrscheinlich um die Subsumption im oben angeführten Sinne

gehandelt, die von Lotze abgelehnt wurde.

An der mathematischen naturwissenschaftlichen Begriffsbildung kritisiert Hönigswald,

dass Cassirer dazu neige, „überall die logische Form des mathematischen Denkens mit den

Bedingungen aller wissenschaftlichen Erkenntnis überhaupt zu identifizieren.“263

Hönigswald ist der Ansicht, dass die charakteristische Relation zwischen Reihenglied und

Reihenprinzip in der Mathematik und in der Naturforschung völlig verschieden ist,264 denn

der Stellenwert des Einzelnen bietet in der Naturwissenschaft keine erschöpfende logische

Charakteristik dieses Einzelnen wie in der Mathematik:

„Es gibt kein »Einzelnes« im Rahmen naturwissenschaftlicher Erfahrung, dassich aus der fortgesetzten Anwendung eines in einer ursprünglichen Setzungfixierten Prinzips »erzeugen« ließe, wie denn auch die »Wiederholbarkeit« [...]ein Merkmal lediglich der mathematischen Erkenntnis darstellt.“265

Hönigswald sieht daher angesichts dieser Verhältnisse zwei Möglichkeiten: Entweder es

erfahre der Begriff der Reihe als Ausdruck der besonderen Struktur naturwissenschaftlicher

Erkenntnis eine der mathematischen gegenüber durchgreifende Veränderung, oder aber es

werde der spezifische Begriff der ‚Gegebenheit‘ naturwissenschaftlicher Reihenglieder von

besonders S. 201.262 Vgl. Lotze (1843/1989), Logik, Bd.1, S. 53.263 Hönigswald (1912a), S. 2891.264 Vgl. Hönigswald (1912c), Vorwort. Hönigswalds Standpunkt ist der, dass die Erkenntnistheorie in allen

Beziehungen weder mathematisch noch naturwissenschaftlich ist. 265 Hönigswald (1912a), S. 2891 f.

104

vornherein schon in den Ausgangspunkt der Reihe hineinverlegt. In beiden Fällen handele

es sich beim Verhältnis zwischen mathematischer und naturwissenschaftlicher Reihe nicht

mehr um ein Verhältnis der Identität, sondern im äussersten Fall um das einer gewissen

Analogie.266 Innerhalb der Mathematik erschaffen nach Hönigswald „die Reihenprinzipien

vollkommen in sich geschlossene und gegenständlich bestimmte Systeme von

Beziehungen, »ein Gefüge idealer Gegenstände«“. Den Reihenprinzipien der

naturwissenschaftlichen Erfahrung gelingt dieses jedoch nicht. Dies liegt darin begründet,

dass das Reihenprinzip, welches in der Mathematik allein als die Quelle und die Gewähr

der Einheit eines mathematischen Gegenstandes angesehen wird, in der

naturwissenschaftlichen Erfahrung nur „in Beziehung auf das Moment der »Gegebenheit«

von Reihenelementen Sinn und Bedeutung“ hat. Es steht zu ihnen in der Beziehung

wechselseitiger Determination: „Es gibt kein System gegenständlich gültiger Beziehungen,

das, gleich der Mathematik, völlig unabhängig von dem Gegebenheitswert der

Erfahrungselemente nur durch die Ka tego r i e n möglich würde.“267 Auch wenn durch die

auf Kategorien bezogenen Anschauungsformen von Raum und Zeit ein gemeinsames Feld

zwischen der Mathematik und der Naturwissenschaft als Voraussetzung der Erfahrung

geschaffen wird, so ist es gerade eine solche Gemeinsamkeit, die „das Unterscheidende nur

noch deutlicher hervortreten läßt und zu verdoppelter Vorsicht bei der Übertragung

mathematischer Gesichtspunkte auf die Erörterung der Prinzipien der Erfahrung

ermahnt“.268 Somit behauptet Hönigswald, dass eine nähere Analyse des Gesamtproblems

letztlich das gänzliche Versagen des Reihengedankens offenbaren würde. Gleichzeitig aber

würden auch die prinzipiellen Schranken, die sich für die von Cassirer in SuF vertretene

Position aus der logischen Tatsache einer Mannigfaltigkeit von Wissenschaften ergeben,

deutlich erkennbar werden:

„Gerade weil den Voraussetzungen des Cassirerschen Werkes das gewaltigemethodologische Problem eines Systems der Wissenschaften, sofern es dasProblem ihrer Mannigfaltigkeit bedeutet, fremd ist, wird man unter demGesichtspunkt jener Voraussetzungen nur allzu leicht Gefahr laufen, zuübersehen, daß die Schwierigkeiten des Problems von Form und Inhalt derErkenntnis nicht erst da beginnen, wo der materiale Faktor, wie in Biologieoder Geschichte, in handgreiflicher Selbständigkeit hervortritt; daß sievielmehr schon mit der primärsten Differenzierung des Geltungsgedankensüberhaupt einsetzen. Schon dem gege nse i t i gen Unterschied dermathematischen Reihenprinzipien liegt eine Gliederung nach eigenartigen

266 Hönigswald (1912a), S. 2892.267 Hönigswald (1912a), S. 2892.268 Hönigswald (1912a), S. 2893.

105

mat e r i a l en Gesichtspunkten zugrunde.“ 269

Man sollte an dieser Stelle anmerken, dass Cassirer selbst versuchte, nicht ein Verhältnis

der Indentität zwischen mathematischer und naturwissenschaftlicher Reihe aufzustellen,

sondern eine Analogie, die die Funktion der mathematischen Reihe auf die Ebene der

Naturwissenschaft, der Funktion des Begriffs in der Naturwissenschaft stellt. Darüber

hinaus sollte man es nicht versäumen, darauf hinzuweisen, dass Cassirer selbst den

methodischen Unterschied zwischen der Mathematik und der Naturwissenschaft erkannt

hat:

„Die mathematischen Konstruktionsbegriffe mögen innerhalb ihres engerenBereichs fruchtbar und unentbehrlich sein: aber es fehlt ihnen, wie es scheint,ein wesentliches Moment, um als Beispiel für den ganzen Umkreis derlogischen Aufgaben, um als Typus für die Beschaffenheit des Begr i f f sübe r haup t zu dienen. Denn so sehr die Logik sich im ‚Formalen‘ beschränkt,so ist dennoch in ihr der Zusammenhang mit den Problemen des Seins nirgendsabgebrochen. Die Struktur und Verfassung des Seins ist es, die der Begriff, diedas logisch gültige Urteil und Schlußverfahren treffen wollen.“ ( SuF, 148)

Im Aufsatz Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik (1913) entgegnet Cassirer

der Kritik Hönigswalds aber nur am Rande und betrachtet dessen Auffassung der

Erkenntnistheorie kritisch.270 Cassirers Kritikpunkt in diesem Aufsatz ist, dass Hönigswald

den Gegensatz von Form und Materie in der dualistischen Wendung nimmt. Hönigswald,

so Cassirer, habe zu zeigen versucht, dass sich der allgemeine Gedanke der objektiven

Gültigkeit von den spezifischen Besonderungen scheiden lässt, um so das allgemeine

erkenntnistheoretische Problem vom Problem der Methodologie zu sondern. Für

Hönigswald sei die Einheit des Objektgedankens so entscheidend, dass an ihr bei aller

Besonderung durchweg als oberster Maßstab festgehalten werde. Sein Hauptgedanke ist

das einheitliche wissenschaftliche Objekt bei aller Differenzierung der Methoden der

verschiedenen Wissenschaften. Dieser Objektgedanke soll nach Hönigswald als letztes

Geltungsprinzip durch „das Medium der an ihm orientierten Methoden deren Objekt“

schaffen (ET I, 23). Dies bedeutet für Cassirer, dass die Einzelmethoden am Gegenstand

orientiert werden sollen. Wenn aber nach Hönigswald von einem Dasein der Wirklichkeit

nur im Hinblick auf den Objektgedanken gesprochen werden kann, bedeutet dies für

269 Hönigswald (1912a), S. 2894.270 Cassirers Kritik richtet sich hauptsächlich auf die Erkenntnistheorie Hönigswalds in Zur

Wissenschaftstheorie und -systematik (1912) und Beiträge zur Erkenntnistheorie und Methodenlehre(1906). Cassirer schrieb zu dieser Schrift eine Rezension. In: Kant-Studien,14 (1909), S. 91-98.

106

Cassirer, dass Hönigswald den Anspruch jeder Einzelwissenschaft bestreitet, „die

»Wirklichkeit« als feststehendes, vor aller methodologischen Besinnung gegebenes Datum

wiederzugeben“ (ET I, 24). Bei jeder Einzeldisziplin muss also, das, „was für sie als

wirklich gilt“, durch den besonderen methodischen Gesichtspunkt bestimmt werden.

Cassirer betont an dieser Stelle seine Ansicht zur naturwissenschaftlichen Begriffsbildung

gegenüber der Kritik Hönigswalds wie folgt:

„Die Einheit »des« Begriffs, d.h. der Begriffsfunktion als solcher solltegegenüber allen Besonderungen, die diese Funktion nachträglich durch dieAnwendung auf bestimmte Einzel-Probleme erfährt, herausgestellt und betontwerden. Daß, nachdem einmal das leitende Prinzip gewonnen, dieses Prinzipweitere Unterschiede und Determinationen zuläßt und fordert, sollte nichtbestritten werden: die mathematische und naturwissenschaftliche Begriffs-bildung wurde lediglich als Paradigma des allgemeinen »Reihenbegriffs«,nicht aber als erschöpfender Ausdruck seiner Leistung und Bedeutungangesehen. Wie weit die Grundauffassung des Begriffs, die hierdurchbezeichnet ist, sich über die Grenzen der Mathematik und Physik hinausbewährt und welche näheren Bestimmungen und Modifikationen sie hierbeierfährt, vermöchte nur ihre Durchführung durch die speziellen Problemgebietezu zeigen.“ (ET I, 26, Fußnote 16)

Hönigwalds Ansicht, es müsse eine Differenzierung innerhalb der wissenschaftlichen

Begriffsbildung geben, ist großenteils plausibel, aber wenn man seine kritischen Aussagen

vor dem Hintergrund des Cassirerschen Werkes analysiert, dann kommt man zu dem

Schluss, dass Hönigswald Cassirer bei manchen Kritikpunkten missverstanden hat (vgl. 97,

99, 105). Cassirer betont also die gemeinsame funktionale Betrachtungsweise; auf die

Forderung Hönigswalds, die Subsumption ― von den Fesseln der aristotelischen

Abstraktionstheorie befreit ― in die funktionale Reihenbildung als Element einzubeziehen,

geht er nicht direkt ein.

Darüber hinaus hinterlässt die Kritik Hönigswalds einige offene Fragen. Er meint zum

Beispiel, dass „die charakteristische Relation zwischen Reihenglied und Reihenprinzip [...]

in Mathematik und in Naturforschung völlig verschieden“ sei,271 womit er letzlich

einräumt, das Reihenglied und Reihenprinzip in der Naturforschung zu dulden. Nur die

Beantwortung der Fragen, was Reihenglied und Reihenprinzip in der Naturforschung sind

und wie diese außerhalb des Gebiets der Mathematik funktionieren, bleibt er schuldig, da

er es versäumt zu erklären, was die charakteristische Relation zwischen Reihenglied und

Reihenprinzip innerhalb der Naturwissenschaft eigentlich ist.

271 Hönigswald (1912a), S. 2891; vgl. SuF, S. 153.

107

2.3.2. Kritik von Heymans: Gattungsbegriffe und ‚Merkmalslehre‘

Wie Hönigswald in seiner Kritik die Subsumption in der Begriffsbildung gegen die

Reihenbildung verteidigt, so kritisiert Heymans in seinem Aufsatz Zur Cassirerschen

Reform der Begriffslehre die Begriffstheorie Cassirers, indem er die traditionelle Logik

verteidigt.272 Er meint, dass Cassirer zu Unrecht behauptet, die Aristotelische Logik setze

die Aristotelische Metaphysik voraus oder hänge irgendwie von derselben ab.

Heymans widerspricht der Behauptung Cassirers, dass die Begriffe der alten Logik speziell

auf „das kategoriale Grundverhältnis des Dinges zu seinen Eigenschaften“ eingerichtet sind

und für andere, besonders für relative Bestimmungen nur in mehr oder weniger

gewaltsamer Weise Raum schaffen können.273 Wenn das Band zwischen der traditionellen

Begriffslehre und der Aristotelischen Metaphysik ein so enges wäre, wie Cassirer in SuF

darstelle, dann hätten sich alle traditionellen Begriffslehren in Bezug auf die wesentlichen

‚Bedingungen‘ und ‚Voraussetzungen‘ ihrer Anschauungen gründlich und durchgängig

geirrt. Dies sei nicht der Fall gewesen. Da Cassirer glaube, dass die traditionelle

Begriffslehre nur auf das Verhältnis zwischen einem Ding und seinen Eigenschaften

eingestellt sei, habe er den Begriff zwangsläufig als eine Summe oder Gruppe von

Merkmalen definiert, wobei er diese Merkmale nur als ‚konstante Einzelmerkmale‘ und

‚feste Eigenschaften‘ gedacht habe.

Nach Heymans können die Merkmale, die sich auf Relationen, als solche, die sich auf

Qualitäten beziehen, ohne Problem zur Begriffsbestimmung verwendet werden.274

Merkmale bilden den Inhalt des Begriffs, „und der Begriff selbst läßt sich a l s e i ne i m

De nken zus a mme nge fa ß t e Gr uppe von Me rkma l en“ bestimmen.275 Selbst

Aristoteles habe schon in seiner Kategorienlehre Aussagen über Beziehungen, räumliche

und zeitliche Bestimmungen, sowie Wirken und Leiden neben den Aussagen über Dinge

und Eigenschaften zugelassen.276 Die traditionelle Begriffslehre kann nach Heymans auch

hinreichend die Erfordernis der logischen Reihenbildung Cassirers entgegennehmen.

Heymans Interpretation zufolge beinhaltet die Erläuterung der Reihenbildung Cassirers

(SuF, 29; 2.1.2) nur „die Forderung, in die Begriffe nicht nur dasjenige, was an ihren

Exemplaren stets zu sehen ist (a), sondern auch die gesetzlichen Verhältnisse (x, y), nach

272 Heymans (1928).273 Heymans (1928), S. 111.274 Heymans (1928), S. 111 f.275 Heymans (1928), S. 109.276 Heymans (1928), S. 112; vgl. Aristoteles (1995), Bd. 1, Kategorien, S. 28. „Das Wirken und Leiden und

die anderen Kategorien“; vgl. auch Aristoteles Werke (AA), Bd. 1/ I, S. 29 f. „das Tun und das Leiden“.

108

welchen unter bestimmten Bedingungen daran etwas (α, β) zusehen sein würde,

aufzunehmen“.277 Er meint, dass die alte Begriffslehre aber auch diese Forderung erfüllen

kann und glaubt fest daran, dass die alte Merkmalslehre in der Lage ist, auch diesen Fall zu

bewältigen. Dafür kommt es aber darauf an, dass in der alten Merkmalslehre nicht nur für

„r e l a t i ve Mer kma le , sondern auch für R e l a t i onen zw i s chen oder i n de n

M er kma l en“ Raum geschaffen wird.278 Da letzteres auch für ihn ein Schwieriges

Unterfangen darstellt, wendet er sich zunächst der Frage nach Inhalt und Umfang eines

Begriffs zu:

„Wie verhält es sich z. B. mit dem Begriff: ‚Kenner aller europäischenSprachen‘, von dem bekanntlich behauptet wurde, daß er sich der Regel vomumgekehrten Verhältnis zwischen Inhalt und Umfang nicht mehr fügt, indemdie Hinzufügung des Wortes ‚lebenden‘ zwischen ‚aller‘ und ‚europäischen‘,also scheinbar eine Vermehrung des Inhaltes, auch eine Vermehrung desUmfangs mit sich führt?“279

Die Forderung, die er im Zuge der Beantwortung dieser Frage aufstellt, lautet: man soll

„nicht jede einzelne im Begriff auftretende Vorstellung für ein selbständiges Merkmal

halten, sondern überall bloß nach den Bedingungen fragen, denen ein Gegenstand genügen

muß, um mit dem betreffenden Namen benannt zu werden; so viele solche Bedingungen es

gibt, so viele Merkmale hat der Begriff“.280 Damit wird deutlich, dass von Heymans’

Standpunkt aus gesehen, die Cassirersche Auseinandersetzung mit den Merkmalen, eine

fruchtlose, wenn nicht gar sinnlose Unternehmung darstellt.

An der obengenannten Forderung Heymans ist unverkennbar, dass er den Gegenstand mit

dem Namen verknüpft und Bedingungen für die Begriffsbestimmung zugleich Merkmale

sind. Das kann aber einerseits in den Nominalismus führen, und andererseits dahin, dass

die Bedingungen für die Begriffsbildung und -bestimmung nur tatsächlich vorhandene

Merkmale sein dürfen. Wenn dies der Fall wäre, dann würde der Stand der Wissenschaft

auf den von Aristoteles zurückgesetzt.

Gegen Cassirers Meinung, dass die Theorie der Abstraktion willkürlich aus allen

möglichen Beziehungen die Ähnlichkeitsbeziehung herausgreift und die anderen

vernachlässigt, wendet Heymans ein, dass „die herkömmliche Begriffslehre nicht eine

277 Heymans (1928), S. 113. Also etwa im „Begriff des Eisens nicht nur seine Farbe und Schwere, sondernauch die magnetischen und chemischen Gesetze, welche sein Verhalten unter verschiedenartigenEinwirkungen bestimmen.“

278 Heymans (1928), S. 113.279 Heymans (1928), S. 113.280 Heymans (1928), S. 114.

109

Theorie der Abstraktion zu heißen verdient, wenn darunter eine solche verstanden wird,

nach welcher die Begriffe überall ein mehreren Gegenständen Gemeinsames in sich

zusammenfassen sollten“.281 Die Gattungsbegriffe, „welche tatsächlich eine Mehrheit

gleichartiger Gegenstände unter sich befassen“,282 spielen seiner Meinung nach eine große

Rolle und allein deshalb kann nicht von einem willkürlichen Vorzug und Herausgreifen der

Ähnlichkeitsbeziehung die Rede sein, da

„a l l e B ez i ehungen , s oba l d s i e beg r i f f s mäß i g da r ges t e l l twer den , no t we nd ig d i e Tende nz haben , Ähn l i chke i t s be -z i ehungen neben s i ch he rvo r t r e t en z u l a s s e n . Das folgt ohneweiteres aus der Natur des Begriffs als einer scharfbestimmten, also nur einebeschränkte Anzahl von Merkmalen umfassenden Vorstellung“.283

Heymans betont, dass er in der Ablehnung der assoziationistischen Theorie der

Begriffsbildung sowie der assoziationistischen Psychologie durchaus mit Cassirer

einverstanden sei und des weiteren sicher nicht der Ansicht sei, dass Logik und

Psychologie sich so fremd gegenüberstehen sollten:

„ic h kann abs o lu t n i c h t e i n s ehen , i nw ie fe r n d i e l og i scheBegr i f f s l eh r e übe r d i e F r age , w i e Beg r i f f e p sycho log i s c hen t s t e hen , i rgend e t was vo ra us z use t ze n haben s o l l t e . Für dieLogik ist ein Begriff nichts weiter als eine scharfbestimmte Gruppe vonMerkmalen; und sie kann unbedenklich jeden psychischen Prozeß, welcher zurBildung einer solchen scharfbestimmten Gruppe von Merkmalen führt, als einemögliche Entstehungsweise von Begriffen zulassen. Und so hat es dieherkömmliche Logik auch tatsächlich gemacht.“284

Seiner Meinung nach können „unter die Gattungsbegriffe jener herkömmlichen

Begriffslehre, ebensowohl die konstruierten wie die abstrahierten Begriffe untergebracht

werden“.285 Heymans ist außerdem der Ansicht, dass man sich an die alte Logik halten

sollte. Denn die Wissenschaft braucht nun einmal, ebenso wie empirische Begriffe, auch

281 Heymans (1928), S. 116.282 Heymans (1928), S. 116.283 Heymans (1928), S. 117.284 Heymans (1928), S. 115.285 Heymans (1928), S. 117 f.: „Der alten Unterscheidung von abstrahierten und konstruierten

(,analytischen‘ und ,synthetischen‘) Begriffen wird die neue von Gattungs- und mathematischenFunktionsbegriffen einfach superponiert [...], und nicht eingesehen, daß unter die Gattungsbegriffe jenerherkömmlichen Begriffslehre ebensowohl die konstruierten wie die abstrahierten Begriffe untergebrachtwerden können, demzufolge denn die von Cassirer [...] angegebenen ,Hauptsätze der (alten)Begriffslehre‘, welche sich auf Gattung und Art, Abstraktion und Determination, Inhalt und Umfang derBegriffe beziehen, für diese wie für jene durchaus die gleiche Gültigkeit besitzen.“

110

empirische Klassifikationen. So kommt er bezüglich Cassirers Begriffslogik zu dem

Schluss, dass in dieser keine Ersetzung der alten Logik durch eine Neue stattgefunden hat;

was zudem von Heymans auch nicht als nötig erachtet wurde. Man kann an dieser Stelle

nur auf die Kritik von Russell und von Lotze am Aristotelischen Syllogismus hinweisen

und darüber nachdenken, wie sich die Logik selbst seit Ende des 19. Jahrhunderts

entwickelt hat.

Heymans geht in seiner Kritik auch auf den Begriff ‚Reihe‘ ein. Das Reihenprinzip und die

Reihenform in der Cassirerschen Terminologie entspricht für Heymans im Grunde

genommen dem ‚Gesetz‘, und damit können seiner Meinung nach die alten

‚Anwendungsfälle des Gesetzes‘ als ‚Reihenglieder‘ bezeichnet werden. Darüber hinaus

stellt er auch die Frage, ob die Reihenprinzipen Begriffe oder Urteile sind;286 eine Frage auf

die er bei Cassirer keine genaue Antwort findet. Für Heymans ist aber gerade die

Beantwortung dieser Frage für die Logik wichtig, denn man hat im Urteil nicht nur mit

einer Verbindung von Vorstellungen oder Begriffen, sondern mit einer Beurteilung des

Erkenntniswertes dieser Verbindung zu tun. So sind Urteile und Begriffe dadurch

voneinander zu unterscheiden, dass „im Urteil etwas behauptet wird, im Begriff aber

nicht“.287 Die beiden können durcheinander laufen, sofern Cassirer die Begriffe aus

allgemeinen Regeln aufbauen will:

„Wenn die Reihenprinzipien Urteile sind, so gehören sie eben in dieBegriffslehre nicht hinein, wenn aber Begriffe, so lassen sich daraus [...] bloßanalytische Urteile ableiten und sind sie also für die Wissenschaft unfruchtbar.Dagegen liegt für die herkömmliche Logik die Sache sehr einfach: die Gesetzesind allgemeine Urteile, und die besonderen Fälle, welche nach diesenGesetzen möglich sind, lassen sich in Reihen von Begriffen ordnen.“ 288

Heymans hat, wie man sehr leicht bemerkt, dabei übersehen, dass Cassirers Kritik gerade

darauf gerichtet ist herauszufinden, wie man zu diesen Gesetzen beziehungsweise

Prinzipien gelangen kann. Es scheint, dass Heymans einfach das Gesetz als allgemeines

Urteil annimmt und nicht, wie bei Cassirer geschehen, die Bildung oder Formung des

Gesetzes beziehungsweise des Prinzips selbst in Frage stellt. Für Cassirer stehen, wie

bereits erwähnt, das Reihenglied und das Reihenprinzip in der Begriffsbildung in einer

Korrelation. Das heißt, das Reihenprinzip steht nicht als etwas Absolutes, als feststehendes

‚Gesetz‘, sondern es wird mit und durch die Setzung des Reihenbegriffs zusammen

286 Heymans (1928), S. 126.287 Heymans (1928), S. 126.288 Heymans (1928), S. 126.

111

aufgebaut. Will man die obengenannte Frage von Heymans beantworten, dann bedeutet das

Reihenprinzip bei Cassirer das Gesetz der Zuordnung.

Man kann das Reihenprinzip bei Cassirer als „Er z eugungspr i nz i p “ ( KmM, 25) und

auch mit Ihmig als ein System von Axiomen beziehungsweise Bedingungen verstehen. Die

Begriffsbildung selbst ist bei Cassirer ein Prozess, ein dynamischer Werdegang.289 Die

allgemeinen Reihenprinzipien bei Cassirer haben ihren Ursprung im Verstand und sind

nicht etwa aus einer Vielzahl von Einzelbeispielen abstrahiert. Eine Mannigfaltigkeit von

Einzelinhalten wird durch diese Reihenprinzipien, Formprinzipien, konstituiert und zu

einer Einheit zusammengeschlossen.290

Bei der Kritik Heymans ist auch auffällig, dass seine Vorgehensweise und manche seiner

Beispiele an der sprachanalytischen Betrachtungsweise orientiert sind. So fordert er zum

Beispiel, dass Cassirer, um der Verwirrung vorzubeugen, für den neuen Inhalt ein neues

Wort hätte suchen sollen.

2.3.3. Cassirers Replik auf Heymans: Bedeutungsfunktion

Cassirer entgegnet im Aufsatz Zur Theorie des Begriffs der Kritik Heymans. Er geht in

diesem Aufsatz jedoch nicht direkt auf einzelne Kritikpunkte Heymans ein, sondern gibt

allgemein seinen Grundgedanken zur Begriffslehre wieder und hebt seinen Standpunkt und

seine Ansicht zur Theorie der logisch-wissenschaftlichen Begriffsbildung hervor. Auch

gerade deshalb ist dieser Aufsatz im Hinblick auf die Weiterentwicklung seiner

Begriffstheorie seit SuF von großer Bedeutung. Der Aufsatz, der im Jahre 1928 erschien,

also ein Jahr vor der Veröffentlichung seines dritten Bandes der PsF und fast 18 Jahre nach

SuF, zeigt deutlich die Wandlung von Cassirers Gedanken (vgl. ZTB, 129). Man kann

feststellen, dass in diesem Aufsatz seine Gedanken zur Begriffstheorie mehr oder weniger

vollständig dargelegt sind. Sehr deutlich merkt man auch, dass das Gebiet seiner

Fragestellung zur Begriffstheorie erweitert wurde, ohne dass sich sein grundsätzlicher

Standpunkt verändert hätte.

289 Ihmig (1993d), S. 186: „Der Zahlbegriff ist für Cassirer der Prototyp des wissenschaftlichen Begriffsüberhaupt, sofern in ihm das Prinzip der Reihenbildung in seiner reinsten Form zum Ausdruck kommt.Den einfachsten Fall stellt hier die Reihe der natürlichen Zahlen dar. Sie besitzt einerseits einallgemeines Erzeugungsprinzip, das den Fortgang von einer Zahl zur nächsten regelt und welcheszugleich mit einem System von Axiomen bzw. Bedingungen verknüpft ist, das die Beziehungen dereinzelnen Zahlen untereinander bestimmt. In diesem Fall ist das allgemeine Prinzip derBestimmungsgrund des Besonderen oder Einzelnen.“

290 Vgl. Ihmig (1993d), S. 187.

112

Cassirer war sich bewusst, dass seine Bestimmung des Funktionsbegriffs für die

Wissenschaft außerhalb der Naturwissenschaft nicht ohne Einschränkung anwendbar war.

Denn er hatte verstanden, dass „keineswegs [...] mehr von der besonderen Form der

mathematischen und der mathematisch-physikalischen Begriffe ein Rückschluß auf die

allgemeine Form des ,Begriffs überhaupt‘ versucht werden [darf]“ (ZTB, 130). Er erläutert

in diesem Aufsatz auch, was er in PsF darzustellen versucht und betont seinen

Korrelationsgedanken von Allgemeinem und Besonderem:

„das ,Allgemeine‘, das ich suche und fordere, soll das Besondere, das sich ihmunterordnet, nicht nur ,umgreifen‘, sondern auch ,begreifen‘; es soll fürdasselbe nicht nur die Einheit eines bloßen Schemas und einer Schablone,sondern die Einheit des ‚Grundes‘ darstellen. Eine Allgemeinheit d i e s e r Artaber ist niemals zu gewinnen, wenn man von der leeren ,Form‘ des Denkensausgeht und sie zu isolieren strebt: sie kann nur durch die Betrachtung desgegens t änd l i chen Sinnes und der gegenständlichen Bindungen desDenkens gewonnen werden. Eine wahrhafte ‚allgemeine‘ Logik kann sichdaher nur auf einer ,transzendentalen‘ Logik, d. h. auf einer Logik der Denk-Gegenstände erheben. Ihre Struktur, ihre Beschaffenheit, ihre wechselseitigeBeziehung und ihre notwendige Verknüpfung gilt es zu erforschen. Auf dieseund keine andere Aufgabe zielten auch die Darlegungen in meiner Schrift‚Substanzbegriff und Funktionsbegriff‘ wesentlich ab.“ (ZTB, 130 f.)

Damit wird deutlich, dass die Begriffstheorie in PsF zugleich eine „kritische Revision“ von

SuF beinhaltet (ZTB, 130). Man kann auf der Basis dieser Erörterung mindestens zwei

Punkte festhalten: Zum einen bildet, wie bereits erwähnt, das Verhältnis von Allgemeinem

und Besonderem den Mittelpunkt seiner Begriffstheorie. Zum anderen kann man die

Begriffslogik bei Cassirer als eine ‚im weitesten Sinne‘ transzendentale Logik ansehen.291

Cassirers Logik des Begriffs bezeichnet man auch als eine „Logik der gegenständlichen

Erkenntnis“ (KmM, 44)292 beziehungsweise als „Erkenntnislogik“.293 Cassirer entgegnet

von diesem Standpunkt aus der Kritik Heymans’ und betont die Erweiterung seiner

Begriffstheorie in PsF:

,,Aber dieser Versuch einer kritischen Revision [PsF III] hat mich freilich demStandpunkt, auf dem Heymans steht, nicht genähert. Denn noch weit enger, als

291 Vgl. Ihmig (1997a), S. 263. 292 KmM, S. 44: „was die kritische Philosophie sucht und was sie fordern muss, ist eine Logik der

gegenständlichen Erkenntnis“.293 Ihmig (1997a), S. 263. Ihmig merkt an, dass die Cassirersche Begriffslogik eine „im weitesten Sinne

transzendentale Logik“ ist, weil sich die Begriffslogik nicht nur auf die Form, sondern auch auf dieInhalte der Erkenntnis bezieht. Das sei der Grund dafür, warum man „von Cassirers Logik desFunktionsbegriffs vielleicht besser als von einer ›Logik der gegenständlichen Erkenntnis‹ oder einer›Erkenntnislogik‹ spricht, weil sie nicht von allen Erkenntnisinhalten abstrahiert“.

113

es in der früheren Darstellung der Fall war, erscheint jetzt für mich das logischeProblem des Begriffs mit dem allgemeinen Bedeu t ungs pr ob l e mverknüpft. Nur im Rahmen einer systematischen ,Bedeutungslehre‘ läßt sichwie mir scheint, die Lehre vom Begriff zureichend begründen und vollständigaufbauen.“ (ZTB, 130)

Was er in SuF zu bestreiten suche, so Cassirer, sei nicht die Fassung, in der die Lehre vom

Begriff als eine einzelne Theorie in der Logik auftrete, sondern die Problemstellung und

die Aufgabe dieser Logik und ihres konstitutiven Prinzips. Dies bedeutet, dass es bei

Cassirer nicht nur um die Form des Begriffs geht, sondern auch um den Erkenntniswert,

den objektiven Sinn und die gegenständliche Geltung des Begriffs. Cassirer erkennt an,

dass diese Objektivität sich weder auf die „‘idealen‘ mathematischen Gegenstände, noch

auf das Gebiet der ‚Natur‘, der ‚physischen‘ Dinge und Ereignisse einschränken läßt“, und

dass „sie überall dort statt hat, wo überhaupt ein Ganzes, eine ‚Welt‘, ein geistiger,

Kosmos‘ sich aufbaut und nach bestimmten Gesetzen gestaltet“ (ZTB, 131). Aber von

dieser Anerkennung führe für ihn kein Weg zur klassischen formalen Logik zurück. Wenn

die formale Logik, der Kantischen Definition nach, ihre Eigenart darin hätte, dass sie „von

allen Objekten der Erkenntnis und ihrem Unterschiede abstrahiert“,294 so stelle sich seine

philosophische Theorie des Begriffs die diametral-entgegengesetzte Aufgabe.

„Sie [die philosophische Theorie des Begriffs] sieht von dieserMannigfaltigkeit der gegenständlichen Struktur nicht ab, sondern sie will sievielmehr in ihrem ganzen Umfang erst sichtbar machen. Sie strebt nicht zueinem Formal-Allgemeinen j en s e i t [ s ] der Unterschiede der Gegenstands-struktur, sondern sie will die immanente Bedeutung, die innere Gliederungeben dieser Differenzen selbst aufweisen. Nur von dieser ihrer universellenGrundabsicht aus lassen sich auch alle einzelnen Aufstellungen über den‚Begriff‘ und seine logische Funktion verstehen.“ (ZTB, 131)

Dies ist der leitende Gedanke in der Begriffstheorie Cassirers. Die Frage lautet nun, was

die ‚immanente Bedeutung‘ ist und wie die Differenzen der Gegenstandsstruktur innerlich

gegliedert sind. Die systematische Grundfrage der Begriffstheorie ist für ihn die Frage, was

der Begriff für den Aufbau der Erkenntnis bedeutet und leistet. Eine Antwort auf diese

Fragen lässt sich in der Begriffstheorie in PsF finden, worauf im Kapitel 3 eingegangen

wird.

Cassirer will aber die Behauptung Heymans nicht bestreiten, dass Begriffe der

verschiedensten Art, ‚Dingbegriffe‘ wie ‚Relationsbegriffe‘, ‚abstrahierte‘ wie

294 ZTB, S. 131; vgl. Kant, KrV, Vorrede zur zweiten Auflage, B IX und B 79.

114

‚konstruierte‘ Begriffe, in das herkömmliche logische Schema des Begriffs untergebracht

werden können.295 Was er bestreitet, sei, dass „diese Möglichkeit der nachträglichen

Einordnung irgend etwas für den eigentlichen ‚Ursprung‘ dieser Begriffe, für den Grund

ihrer spezifischen Gültigkeit besagt“ (ZTB, 133). Zur Definition des Begriffs von

Heymans, „für die Logik ist ein Begriff nichts weiter als eine scharfbestimmte Gruppe von

Merkmalen“,296 meint Cassirer, dass dieser glaube, den Begriff ganz im Sinne der

traditionellen Logik zur Genüge geklärt und erklärt zu haben. Aber er habe dabei nicht die

Frage gestellt, „was unter den ,Merkmalen‘ selbst zu verstehen [sei] und wie ,Merkmale‘

überhaupt gewonnen und gegen einander abgegrenzt werden können“ (ZTB, 133 f.).

Kritisch bemerkt Cassirer, dass bei Heymans die traditionelle formale Logik überall mit der

Gegebenheit der Merkmale beginnt, anstatt mit ihr zu enden:

„Dadurch kommt in die Behandlung der formalen Logik gewissermaßen einMoment des ,naiven Realismus‘ hinein, das fortan ihren ganzen Aufbaubeherrscht und bestimmt. Nach dem ,Ursprung‘ der Merkmale selbst wird nichtgefragt: ihn hat nicht die Logik, sondern ihn hat die gegebene Welt der ,Dinge‘oder aber die gegebene Welt der ,Eindrücke‘ zu verantworten.“ (ZTB, 134 f.)

Cassirer verweist diesbezüglich noch auf den dritten Band der PsF, in dem sich der

Unterschied zwischen Heymans Auffassung und seiner eigenen am deutlichsten zu

enthüllen scheint.

295 Vgl. 2.3.2 ; Heymans (1928) S. 117 f.296 Heymans (1928), S. 115.

115

3. Die Theorie des Begriffs in Philosophie der symbolischen Formen

Die Theorie des Begriffs in PsF ist, wie bereits erwähnt, eine kritische Revision von SuF.

Cassirers Problemstellung in der Begriffstheorie in SuF lässt sich folglich auch in PsF

wiederfinden. In PsF wird jedoch nicht nur versucht, den Sinn des Gegenstandes zu klären,

um damit die Einheit des allgemeinen Objektbegriffs zu bilden, sondern auch die Regel der

allgemeinen Erkenntnisfunktion gesucht, die die Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit zu

einer in sich geschlossenen geistigen Aktion zusammenfassen soll. Die Erkenntnis ist daher

wesentlich auf „die Einfügung des Besonderen in eine universelle Gesetzes- und

Ordnungsform“ (PsF I, 8) gerichtet und bleibt als Mittel, ein Individuelles zu einem

Allgemeingültigen zu erheben.297

Cassirer bezeichnet in PsF die Sprache, die theoretische Erkenntnis, den Mythos, die Kunst

und die Religion als symbolische Formen, die er auch als innere geistige Formen und

geistige Kulturformen bezeichnet. Geistige Kultur bedeutet für ihn, dass der Inhalt der

Kultur nicht Einzelinhalt ist. Dies bedeutet wiederum, dass der Inhalt der Kultur in einem

allgemeinen Formprinzip, das heißt, dem allgemeinen Prinzip der Symbolfunktion

gegründet ist und eine ursprüngliche Tat des Geistes zur Voraussetzung hat: Denn der

„Inhalt des Kulturbegriffs läßt sich von den Grundformen und Grundrichtungen des

geistigen Produzierens nicht loslösen: das ,Sein‘ ist hier nirgends anders als im ,Tun‘

erfaßbar.“ (PsF I, 11) Man kann vorwegnehmen, dass es in der PsF um dieses allgemeine

Formprinzip geht, sofern die Fragestellung auf die symbolischen Formen und auf die

allgemeine Form des Begriffs gerichtet ist.

Die Sprache, der Mythos und die wissenschaftliche Erkenntnis gehören zu diesen

symbolischen Formen, aber sie stehen jeweils in verschiedenen Dimensionen und sollen

nach Cassirer genauso wie jede andere symbolische Form stets ihre Besonderheit behalten.

Die Dimensionen werden nach den verschiedenen Funktionen des Zeichengebrauches und

des Symbols in die Dimension der Ausdrucksfunktion, die der Darstellungsfunktion und

die der Bedeutungsfunktion unterteilt, die jeweils für den Mythos, die Sprache und die

wissenschaftliche Erkenntnis stehen. Die Theorie des Begriffs in PsF wird in der

297 Cassirer führt hier das Programm Cohens weiter, vom Faktum der Wissenschaft ausgehend das Apriorider Erkenntnis zu formulieren, vgl. Cohen (1871/1918), S. 108. Die PsF ist allerdings noch weitergefasst, nämlich als Lehre von der Einheit des Kulturbewusstseins im Sinne der von Cohen projektiertenAbschlusswissenschaft, vgl. Zeidler (2001), S. 141 f.; in PsF verwirklichte Cassirer Plümacher zufolgeden Plan Natorps, „spezifische Prinzipien und Formen auch der nicht wissenschaftlichenErkenntnisformen zu entschlüsseln. Dem Mythos widmete er [Cassirer] sich z. B. in dererkenntniskritischen Absicht zu zeigen, daß Wahrnehmungen und Kategorisierungen der ‚natürlichenWelt‘ weniger festgelegt sind als sie gemeinhin erscheinen.“ Plümacher (2004), S. 243.

116

Dimension der Bedeutungsfunktion, also in der wissenschaftlichen Erkenntnis aufgebaut.

Die Ausdrucksfunktion und die Darstellungsfunktion, die für die Ausdruckswelt und die

anschauliche Welt stehen, gehören in der Begriffstheorie dem Bereich des natürlichen

Weltbegriffs an (vgl. 3.3).

Sobald man die Vorgehensweise von Cassirer, wie er die Sprache, den Mythos und die

Wissenschaft unter den symbolischen Formen fasst, versteht, gewinnt man Indizien dafür,

dass er mit dem Begriff der symbolischen Form eine Allgemeinheit des Begriffs, oder

anders formuliert das allgemeine Prinzip, das die drei symbolischen Formen umfassen soll,

aufzustellen versucht. Darüber hinaus bemüht er sich, ebenfalls mit dem Begriff ‚Symbol‘

zu zeigen, wie sich sinnliche Symbole in intellektuelle Symbole umwandeln. In seiner

Begriffstheorie sind ‚Symbole‘ Begriffe; insbesondere die wissenschaftlichen Begriffe

versteht er als intellektuelle Symbole.

Die Ansicht Cassirers, die wissenschaftlichen Begriffe als Symbole zu sehen, war schon in

seinem frühen Werk zu vernehmen. „Die Begriffe der Wissenschaft erschienen jetzt nicht

mehr als Nachahmungen dinglicher Existenzen, sondern als Symbole für die Ordnungen

und funktionalen Verknüpfungen innerhalb des Wirklichen“ (EP I, 3). In der PsF formuliert

er: „Die Grundbegriffe jeder Wissenschaft, die Mittel, mit denen sie ihre Fragen stellt und

ihre Lösungen formuliert, erscheinen nicht mehr als passive Abbilder eines gegebenen

Seins, sondern als selbstgeschaffene intellektuelle Symbole “ (PsF I, 5).

Er beabsichtigt in PsF, einerseits die Formlehre mit Hilfe der Symbolik oder der ‚Symbole‘

und andererseits die Bedeutungslehre mit Hilfe der Semiotik oder der Zeichen aufzubauen.

Die Art und Weise seiner Darstellung der Zeichen lassen aber keine klaren Rückschlüsse

darauf zu, wie die Semiotik mit der Symbolik zusammenkommen soll und löst daher Kritik

aus, die durchaus ihre Berechtigung hat.298

Cassirer verwendet je nach dem Gebrauch des Zeichens mehrere Ausdrücke für Zeichen,

die mit seiner Bedeutungslehre zusammenhängen. Zum Beispiel sollen die „sinnlichen

Zeichen“ (PsF I, 19) aus dem Bereich der Ausdrucksfunktion im Bereich der

Bedeutungsfunktion zu reinen „Bedeutungszeichen“ (PsF III, 334) werden, die auch

„Begriffszeichen“ (PsF I, 20) genannt werden. Das Zeichen wird im Bereich der

Darstellungsfunktion „Wortzeichen“ (PsF III, 388) oder „Sprachzeichen“ (PsF I, 20)

genannt,299 das sonst im gewöhnlichen Sinne Sprache oder Lautsprache genannt werden

298 Vgl. Heusden (2003); Wildgen (2003).299 Der Ausdruck ‚Wortzeichen‘ wird schon in SuF verwendet, vgl. SuF, S. 25: „Das Ideal des

w i s s e n s c h a f t l i c h e n Begriffs tritt hier der schematischen Gattungsvorstellung, die ihren Ausdruckim bloßen sprachlichen W o r t z e i c h e n findet, gegenüber.“

117

kann. Die sinnlichen Zeichen und Wortzeichen im Bereich des natürlichen Weltbegriffs

werden im Bereich des wissenschaftlichen Weltbegriffs zu Begriffszeichen oder reinen

Bedeutungszeichen, die „alles bloß-Ausdrucksmäßige, ja alles anschaulich-Repräsentative

von sich abgestreift“ haben (PsF III, 334). Die reinen Bedeutungszeichen sind

wissenschaftliche Begriffe und zugleich intellektuelle Symbole. Der Funktionsbegriff und

das intellektuelle Symbol haben an diesem Punkt gemeinsam, dass sich beide von der

sinnlich-empirischen Wirklichkeit abheben.

Cassirers Standpunkt gegenüber dem Begriffsrealismus in SuF wird in PsF durch die

Konkretisierung des Symbolbegriffs noch gefestigt. Neben dem Problem des Verhältnisses

von Allgemeinem und Besonderem beziehungsweise Inhalt und Umfang des Begriffs bildet

für ihn auch das Verhältnis von Form und Materie eine weitere Problemstellung der

Begriffstheorie.

Die Frage nach Form und Materie innerhalb der Erkenntnistheorie ist seiner Ansicht nach

ein altes Problem, dass sich auf Parmenides zurückführen lässt.300 Bei ihm waren der

Gedanke und der Gegenstand eins. Der Satz der Identität von Denken und Sein bei

Parmenides erfährt in der Geschichte der Philosophie eine Veränderung im inhaltlichen

Sinn, aber die Form ist unverändert geblieben. Berkeleys esse est percipi heißt für Cassirer

auch nur, dass man den Gegenstand statt des Denkens als bloße Wirklichkeit der Empirie

erfasst (vgl. PsF III, 339). Man soll jetzt den Gegenstand im Unterschied zu Berkeley durch

die symbolische Deutung und Bedeutung begreifen.

Bei dem Versuch, das Problem von Form und Materie und dessen Dualismus in der

Metaphysik aufzuheben, lehnt sich Cassirer wieder an den Zahlbegriff an. Die Wichtigkeit

des Zahlbegriffs und ihre Bedeutung für die Begriffsbildung hat er schon in seinem Werk

SuF erkannt (vgl. 2.2.1), in dem er den Zahlbegriff als bestes Beipiel für den

Funktionsbegriff anführt. Auch in PsF zieht er als Beispiel die Entstehung der griechischen

Mathematik heran, um zu zeigen, wo die Problemstellung seiner Begriffstheorie liegt. Die

Zahl in der pythagoreischen Schule stand nach Cassirer einerseits noch in einer mythischen

Bindung, andererseits in einer reinen anschaulichen Bindung. In der Anfangsphase der

Entwicklung wurde sie als Anzahl der Menge gedacht und an räumliche Bestimmungen

gebunden, das heißt, sie war ebensowohl geometrischer wie arithmetischer Natur. Als aber

die logische Natur der Zahl erkannt wurde, kam es zur Grundlegung einer reinen

Wissenschaft der Zahl. Das bedeutet, die Zahl sonderte sich von der anschaulichen

Wirklichkeit ab und wurde zum Zahlbegriff. Sie ist nun nicht mehr ein physisches Ding

300 Vgl. PsF III, Einleitung, 1. Materie und Form der Erkenntnis.

118

oder nach der Analogie irgendwelcher empirischer Objekte bestimmbar, sondern „ihr

[kommt] doch eine Form der Erkenntnis zu, die von der sinnlichen Wahrnehmung oder

Anschauung klar geschieden ist“ (PsF III, 332). Dieses Verhältnis von

„E n t s t o f f l i c hung der Zeichen“ (PsF III, 388) oder „Ab l ös ba r ke i t des Zeichens von

den Dingen“ (ibd.) ist für die wissenschaftliche Begriffsbildung Cassirers entscheidend.

Auf die Zeichenfunktion selbst wird im Abschnitt 3.4 näher eingegangen.

Cassirer sucht in seiner Begriffstheorie schließlich eine allgemeine Form des Begriffs,

nämlich den Symbolbegriff, der sowohl die Kulturwissenschaft als auch die

Naturwissenschaft umfassen sollte. Daher ist er der Meinung, dass man, um ein komplexes

und doch differenziertes Ganzes von Denk- und Erkenntnisformen zu finden, von der

Dimension des wissenschaftlichen Weltbegriffs in die des natürlichen Weltbegriffs

zurückgehen muss (vgl. PsF III, 347 f.). Was dies bedeutet, soll durch die Untersuchung

seiner Begriffstheorie verdeutlicht werden.

Die Wahrnehmung ist für Cassirer eine Grundfunktion, die mit der Denktätigkeit

zusammen die Form der Erkenntnis gestaltet. Diese Funktion der Wahrnehmung in der

Erkenntnis hat er bereits in SuF hervorgehoben (vgl. SuF, 453 f.; 1.3.2).

Die Wahrnehmung in der Wissenschaft oder der theoretischen Erkenntnnis bedeutet für

Cassirer eine Grundfunktion, einen Urteilsakt, in dem ein Einzelinhalt als Teil eines

Ganzen, einer festen Ordnung, erfasst wird. Die sinnliche Wahrnehmung ist niemals bloße

sinnliche Rezeptivität, sondern ihr liegt der ‚Aktus der Spontaneität‘ zugrunde. Die von

Cassirer bezüglich der Wahrnehmungsfunktion gewonnene Einsicht, dass die

Wahrnehmung von Anfang an als ein Akt des Urteils zu betrachten ist, unterscheidet sich

von der Auffassung Kants. Man kann sagen, Cassirer versucht durch eine Erweiterung des

Gebiets der transzendentalen Einheit der Apperzeption das Kantische Problem der

Schematismuslehre zu überwinden. Das heißt, dass die Einheit der Apperzeption, mit

Cassirerschen Worten gesprochen, nicht nur auf das Gebiet des wissenschaftlichen

Weltbegriffs, sondern auch auf das Gebiet des natürlichen Weltbegriffs von Anfang an

bezogen sein muss (vgl. PsF III, 347 f.). Die Beziehung des Bewusstseins zum Gegenstand

wird in PsF als symbolische Relation erkannt, wobei zu betonen ist, dass die

Symbolfunktion schon in der Wahrnehmung aktiv sein soll. Daher nehmen Anschauung

und Wahrnehmung in seiner Begriffstheorie in PsF einen wichtigen Platz ein und heben

damit auch die symbolische Funktion des Bewusstseins hervor. Auf das Verhältnis

zwischen Symbolfunktion und Wahrnehmung wird im Abschnitt 3.5 eingegangen.

In den folgenden Abschnitten werden die oben genannten Problemstellungen der

119

Begriffstheorie näher behandelt, und es soll der Versuch unternommen werden,

herauszufinden, welche Bedeutung die Symbolfunktion für die Begriffstheorie Cassirers

besitzt und inwiefern die intellektuellen Symbole mit seinem früheren Funktionsbegriff in

gedanklicher Verbindung stehen. Darüber hinaus muss bezüglich der Zeichenfunktion, die

eng mit dem Bedeutungsproblem verbunden ist, geklärt werden, was zum Beispiel unter

den reinen Bedeutungszeichen in seiner Begriffstheorie verstanden wird. Dabei soll auch

deutlich werden, was seine Begriffstheorie eigentlich ausmacht. Wie bereits in der

Einleitung erwähnt, soll damit auch eine Antwort auf die Frage gefunden werden, ob

Cassirers Philosophie der symbolischen Formen einen Bruch mit seiner Erkenntnistheorie

und Wissenschaftsphilosophie oder eine Erweiterung derselben bedeutet. Wie bereits im

Kapitel 2 angekündigt, muss man in diesem Zusammenhang auch den Gegenstandsbegriff

bei Cassirer näher betrachten, denn dieser Begriff bildet sowohl in SuF als auch in PsF den

Mittelpunkt seiner Begriffstheorie.

3.1. Wissenschaftliche Erkenntnis als symbolische Form

Cassirer stellt in PsF, gestützt auf seine kritische Betrachtungsweise, den Mythos, die

Sprache und die wissenschaftliche Erkenntnis als symbolische Formen dar. Die Theorie

des Begriffs wird dann auf der symbolischen Form der theoretischen oder

wissenschaftlichen Erkenntnis, die der Dimension der reinen Bedeutung angehört,

aufgebaut. Bevor man auf die Theorie des Begriffs eingeht, sollte man jedoch zunächst

versuchen zu verstehen, was die symbolische Form der wissenschaftlichen Erkenntnis

bedeutet.

Cassirer macht zunächst deutlich, was die Aufgabe der philosophischen Erkenntniskritik

ist:

„Sie muß den Weg, den die besonderen Wissenschaften im einzelnenbeschreiten, im ganzen verfolgen und im ganzen überblicken. Sie muß dieFrage stellen, ob die intellektuellen Symbole, unter denen die besonderenDisziplinen die Wirklichkeit betrachten und beschreiben, als ein einfachesNebeneinander zu denken sind, oder ob sie sich als verschiedene Äußerungenein und derselben geistigen Grundfunktion verstehen lassen.“ (PsF I, 8)

Eine positive Beantwortung des zweiten Teils der Frage soll als Voraussetzung für die

philosophische Erkenntniskritik dienen, so dass sich das Aufstellen der allgemeinen

120

Bedingungen dieser Funktion und die Klarlegung des Prinzips, von dem diese Funktion

beherrscht wird, als weitere Aufgabe ergibt:

„Statt mit der dogmatischen Metaphysik nach der absoluten Einheit derSubstanz zu fragen, in die alles besondere Dasein zurückgehen soll, wird jetztnach einer Regel gefragt, die die konkrete Mannigfaltigkeit undVerschiedenheit der Erkenntnisfunktionen beherrscht und die sie, ohne sieaufzuheben und zu zerstören, zu einem einheitlichen Tun, zu einer in sichgeschlossenen geistigen Aktion zusammenfaßt.“ (PsF I, 8)

Cassirer will in PsF ‚Erkenntnis‘ in erweitertem Sinne verstehen. Das Ziel aller Erkenntnis

ist, „die Vielheit der Erscheinungen der Einheit des ,Satzes vom Grunde‘ zu unterwerfen.

Das Einzelne soll nicht a l s einzelnes stehen bleiben, sondern es soll sich einem

Zusammenhang einreihen“, das heißt, die Erkenntnis ist wesentlich auf „die Einfügung des

Besonderen in eine universelle Gesetzes- und Ordnungsform“ gerichtet (PsF I, 8). Neben

dieser Form der intellektuellen Synthesis, der theoretischen Erkenntnis also, stehen andere

geistige Formen mit anderen Gestaltungsweisen, wie zum Beispiel Mythos, Sprache und

Kunst. Sie erreichen auch Allgemeingültigkeit, jedoch auf anderen Wegen als dem Weg

des logischen Begriffs und des logischen Gesetzes:

„Jede echte geistige Grundfunktion hat mit der Erkenntnis den einenentscheidenden Zug gemeinsam, daß ihr eine ursprünglich-bildende, nicht bloßeine nachbildende Kraft innewohnt. Sie drückt nicht bloß passiv einVorhandenes aus, sondern sie schließt eine selbständige Energie des Geistes insich, durch die das schlichte Dasein der Erscheinung eine bestimmte‚Bedeutung‘, einen eigentümlichen ideellen Gehalt empfängt. Dies gilt für dieKunst, wie es für die Erkenntnis gilt; für den Mythos wie für die Religion.“(PsF I, 9)

In PsF kommen von den verschiedenen symbolischen Formen jedoch nur drei, der Mythos,

die Sprache und die theoretische Erkenntnis in Betracht, die für Cassirer repräsentativ für

das Erfassen, Verstehen und Begreifen unserer geistigen Tätigkeit oder Denkformen

erscheinen (vgl. ZLS, 210). Unter diesen drei symbolischen Formen wird jedoch die

‚innere Form‘ der Sprache, die für ihn nichts anderes als eine eigentümliche gedankliche

Gesetzlichkeit bedeutet,301 für die symbolischen Formen Mythos und wissenschaftliche

301 Cassirer: Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt, in STS, S. 125: „Wir müssen, um dieSprache zu verstehen, nicht bei ihren Gebilden stehen bleiben, sondern dem inneren Gesetz des Bildensnachspüren ― wir dürfen sie nicht als ein Fertiges und Erzeugtes, sondern wir müssen sie als eineErzeugung, als eine sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes betrachten.“

121

Erkenntnis vorausgesetzt (vgl. PsF I, 12).302 Dies zeigt sich deutlich, wenn der Aufbau der

inneren Bindung zwischen der Form der Sprache und der Form, unter der die anschauliche

Wirklichkeit erfasst wird, durch dieselben Etappen von der Ausdrucksfunktion über die

Darstellungsfunktion bis hin zu der Bedeutungsfunktion hindurchgeführt wird. Damit ist

gemeint, dass man durch die Funktion der Repräsentation und Rekognition eine innere

Bindung zwischen Sprache und ‚Außenwelt‘ aufbaut: „Je genauer wir die besonderen

Wege verfolgen, die die allgemeine Grundfunktion der ,Repräsentation‘ und der

‚Rekognition‘ geht, um so klarer wird für uns ihr Wesen und ihre spezifische Einheit

heraustreten“ (PsF III, 136). So ist die Sprache eine symbolische Form einer Dimension mit

Darstellungsfunktion. Cassirer betrachtet die Sprache auch selbst als Ausdruck, so dass sie

im Bereich der Ausdrucksfunktion eine mimische Funktion, in dem der

Darstellungsfunktion eine analogische und in dem der Bedeutungsfunktion eine

symbolische Funktion besitzt.

Neben dieser inneren Sprachform dient auch das ,mythische Denken‘ als Fundament für

die weitere geistige Entwicklung in der Erkenntnis. Cassirer ist der Ansicht, dass der

Mythos eine entscheidende Bedeutung besitzt, „wenn man sich die Genesis der

Grundformen der geistigen Kultur aus dem mythischen Bewußtsein vor Augen hält“.

Zudem geht er davon aus, dass keine der symbolischen Formen „von Anfang an ein

selbständiges Sein und eine eigene klar abgegrenzte Gestalt“ besitzt, „sondern jede [...] uns

gleichsam verkleidet und eingehüllt in irgendeine Gestalt des Mythos entgegen“ tritt (PsF

II, IX). Der Mythos ist eine Welt der Bilder, die vom Zeichengebrauch her der Dimension

der Ausdrucksfunktion angehört. In dieser Dimension, die Dimension der ‚Urphänomene

des Ausdrucks‘, gibt es keine Differenz von ‚Bild‘ und ‚Sache‘, von ‚Zeichen‘ und

‚Bezeichnetem‘ (PsF III, 109). Es gibt hier auch keine klare Unterscheidung zwischen

Subjekt und Objekt:

„Alle seine [des Mythos] Gebilde bewegen sich vielmehr in einer einzigenSeins-Ebene, in der sie ihr völliges Genüge finden. Hier gibt es weder Kernnoch Schale; hier gibt es keine Ding-Substanz, die als beständiges undbeharrendes Etwas den wechselnden und flüchtigen Erscheinungen, den bloßen

302 Vgl. Sandkühler/Pätzold (Hg.) (2003), S. 30: „Cassirer hat die Sprache als wichtiges, auch für dieErkenntnistheorie zentrales Problemfeld etwa seit 1916 ernstgenommen und eine Sprachphilosophie inder Tradition von Leibniz, Herder, Hamann und Humboldt konzipiert.“ „In dem Sprache gewidmetenersten Band der Philosophie symbolischer Formen rezipiert Cassirer ausgiebig die neueren Ergebnisseder typologisch vergleichenden Sprachforschung und ordnet sie in eine Humboldtsche Gesamtsicht ein.Ebenso integrativ verfährt Cassirer mit Bühlers Sprachtheorie und dem europäischen Strukturalismus,den er als eine Aktualisierung des Humboldtschen Programms versteht.“; vgl. auch Orth (1988), S. 57:„Sprache erweist sich so in Cassirers Humbolt-Interpretation als eine »Arbeit des Geistes«, eine»Energie« im Sinne einer inneren Form, aus der sich ihre Leistungen wie aus einem Prinzip entwickeln.“

122

‚Akzidenzen‘ zugrunde liegt.“ (PsF III, 79)

Die Sprache ist eine Welt, die sich als „Selbstwelt und Dingwelt“303 darstellt, und wie

bereits erwähnt, der Dimension der Darstellungsfunktion angehört. Die Funktion der

Darstellung tritt hervor, „wo es gelingt, einen sinnlich anschaulichen Inhalt, statt in seiner

Gegenwart, in seiner einfachen ‚Präsenz‘ aufzugehen, als Darstellung, als ‚Repräsentation‘

eines anderen zu nehmen“ (PsF III, 131). Und in diesem Bereich wird jeder sinnliche

Eindruck als Symbol erfasst, während im Bereich der Ausdrucksfunktion die

‚Ausdruckswahrnehmung‘ noch in dem ‚Präsenten‘, das heißt, in dem gegebenen Eindruck,

gefangen ist. Der Fortgang des Bewusstseins von der Ausdrucksfunktion zur

Darstellungsfunktion erreicht somit eine „neue Höhenlage des Bewußtseins“ (PsF III, 131).

Die theoretische Erkenntnis stellt sich eine „Welt als Ordnungsgefüge“304 vor und gehört

der Dimension der Bedeutungsfunktion an, worauf in diesem Kapitel näher eingegangen

wird.

Cassirer bezeichnet sowohl den Mythos und die Kunst als auch die Sprache und die

Wissenschaft als „Prägungen zum Sein“:

„Und so ist es überall die Freiheit des geistigen Tuns, durch die sich das Chaosder sinnlichen Eindrücke erst lichtet und durch die es für uns erst feste Gestaltanzunehmen beginnt. Nur indem wir dem fließenden Eindruck, in irgendeinerRichtung der Zeichengebung, b i l de nd gegenübertreten, gewinnt er für unsForm und Dauer. Diese Wandlung zur Gestalt vollzieht sich in derWissenschaft und in der Sprache, in der Kunst und im Mythos in verschiedenerWeise und nach verschiedenen Bildungsprinzipien: aber sie alle stimmen darinüberein, daß dasjenige, was schließlich als Produkt ihres Tuns vor uns hintritt,in keinem Zuge mehr dem bloßen Ma t e r i a l gleicht, von dem sie anfänglichausgegangen waren. So unterscheidet sich in der Grundfunktion derZeichengebung überhaupt und in ihren verschiedenen Richtungen erst wahrhaftdas geistige vom sinnlichen Bewußtsein. Hier erst tritt an die Stelle derpassiven Hingegebenheit an irgendein äußeres Dasein eine selbständigePrägung, die wir ihm geben, und durch die es für uns in verschiedeneWirklichkeitsbereiche und Wirklichkeitsformen auseinandertritt. Der Mythosund die Kunst, die Sprache und die Wissenschaft sind in diesem SinnePrägungen z um Sein: sie sind nicht einfache Abbilder einer vorhandenenWirklichkeit, sondern sie stellen die großen Richtlinien der geistigenBewegung, des ideellen Prozesses dar, in dem sich für uns das Wirkliche alsEines und Vieles konstituiert, — als eine Mannigfaltigkeit von Gestaltungen,die doch zuletzt durch eine Einheit der Bedeutung zusammengehalten werden.“(PsF I, 43)

303 Bermes (1997), S. 161.304 Bermes (1997), S. 161.

123

Wirft man die Frage auf, was die symbolische Form ist, so wird man feststellen, dass es

sich zum einen um eine sehr komplexe Frage handelt, die zum anderen auch in PsF nicht

eindeutig beantwortet wird. Cassirer verwendet in PsF Ausdrücke wie „selbständige

Energie des Geistes“ (PsF I, 9), „Aktivität des Geistes“ (PsF I, 21), „Tun des Geistes“ (PsF

I, 11) und „Freiheit des geistigen Tuns“ (PsF I, 43), um die symbolische Form zu

charakterisieren, eine klare Definition bleibt er aber schuldig. Er versuchte jedoch bereits

in seinem Vortrag Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaft

(1921)305 eine Definition der symbolischen Form zu geben306: „Unter einer symbolischen

Form soll jede Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger

Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen

innerlich zugeeignet wird.“307 Auf der Basis dieser Definition kann man zunächst

festhalten, dass die symbolische Form als symbolische Formung oder Handlung308

beziehungsweise geistige Tätigkeit verstanden wird:

„Wir sahen, daß die wesentliche und eigentümliche Leistung jedersymbolischen Form — der Sprachform wie der mythischen Form oder derreinen Erkenntnisform — nicht darin besteht, ein gegebenes Material vonEindrücken, das in sich schon eine feste Bestimmtheit, eine gegebene Qualitätund Struktur besitzt, einfach aufzunehmen, um ihm sodann eine andere, aus dereigenen Energie des Bewußtseins stammende Form gleichsam von außen heraufzupfropfen, sondern daß die charakteristische Leistung des Geistes schonweit früher einsetzt.“ (PsF II, 117)

Nach Cassirer soll allen symbolischen Formen ein allgemeines Prinzip zugrunde liegen,

das als Ganzes die Verschiedenheit der möglichen Anwendungen der Formen umfasst und

den allgemeinen Charakter der symbolischen Formen heraushebt. Er will dabei aber die

prinzipiellen Unterschiede der einzelnen symbolischen Formen, die zwischen all den

mannigfachen Anwendungsformen des Symbolbegriffs bestehen, nicht leugnen und nicht

in Einem schematisieren:

„Im Gegenteil: durch die Herausarbeitung und Abgrenzung der drei»Dimensionen« — der Dimension des »Ausdrucks«, der »Darstellung« und der»Bedeutung« — sollte für diese Unterscheidung der Grund gelegt, sollte eineArt von methodischem Gerüst für sie geschaffen werden. Aber die volle

305 Dieser wurde im Jahre 1921 im Rahmen der Vorträge der Bibliothek Warburg gehalten. 306 Vgl. Ihmig (1993d), S. 179. Ihmig ist der Meinung, dass es sich hierbei um den einzigen ihm bekannten

expliziten Definitionsversuch seitens Cassirer handelt.307 BsF, S. 175; vgl. auch BsF, S. 177.308 Vgl. Kaegi (1995), S. 75: „[...] symbolische Formen stellen geistige Energien dar, also Handlungen bzw.

Tätigkeit, die sich auf [...] sinnliche Zeichen richten.“

124

Anerkennung der spezifischen Differenzen zwingt uns, so viel ich sehe, nichtdazu, das »genus proximum« fallen zu lassen und aufzugeben. Soaußerordentlich groß die Spannweite der Bedeutung ist, die das Symbolischeumschließt: die Einheit seines Begriffs bricht darum nicht auseinander.“309

Daher fordert seine kritische Betrachtungsweise in PsF, die auf Kants Begriff des

Analytisch-Allgemeinen beruht,310 „eine Mehrheit verschiedener ‚Dimensionen‘ der

Betrachtung“ (PsF I, 29), um den Mythos, die Sprache und die theoretische Erkenntnis

unter den symbolischen Formen zusammenzubringen:

„Sie [die kritische Betrachtung] stellt das Problem einer Einheit, die vonAnfang an auf Einfachheit verzichtet. Die verschiedenen Weisen der geistigenFormung werden als solche anerkannt, ohne daß der Versuch gemacht wird, sieeiner einzigen, einfach-fortschreitenden Reihe einzuordnen. Und dort wird,gerade in einer solchen Ansicht, auf einen Zusammenhang der Einzelformenunter sich keineswegs verzichtet, sondern es wird vielmehr umgekehrt derGedanke des Systems dadurch noch verschärft, daß an Stelle des Begriffs eineseinfachen Systems der Begriff eines komplexen Systems tritt.“ (PsF I, 29)

Jede symbolische Form soll einer besonderen Ebene, die Cassirer auch als Dimension oder

Sphäre bezeichnet, zugeteilt werden, in der sie sich auswirken und ihre spezifische

Eigenart völlig unabhängig entfalten kann. In der Gesamtheit dieser ideellen

Wirkungsweisen aller Formen sollen zugleich bestimmte Analogien, bestimmte typische

Verhaltungsweisen hervortreten, die sich als solche herausheben und beschreiben lassen

(vgl. PsF I, 29).311 Zudem hebt Cassirer hervor, dass das, was durch den Begriff der

symbolischen Form bezeichnet werden soll, ein Allgemeineres ist:

„Es handelt sich darum, den symbolischen Ausdruck, d.h. den Ausdruck eines‚Geistigen‘ durch sinnliche ,Zeichen‘ und ,Bilder‘, in seiner weitestenBedeutung zu nehmen; es handelt sich um die Frage, ob dieser Ausdrucksformbei aller Verschiedenheit ihrer möglichen Anwendungen ein Prinzip zugrundeliegt, das sie als ein in sich geschlossenes und einheitliches Grundverfahrenkennzeichnet. Nicht also was das Symbol in irgendeiner be s onde r en Sphäre,was es in der Kunst, im Mythos, in der Sprache bedeutet und leistet, soll hiergefragt werden; sondern vielmehr wie weit die Sprache als Ganzes , der

309 ,Schlußwort‘ der Diskussion über den Vortrag Cassirers Das Symbolproblem und seine Stellung imSystem der Philosophie [SP]. SP, S. 321.

310 Kants Kritik der Urteilskraft, § 77; vgl. 1.5 (S. 54 f.). 311 Marx (1975), S. 309: „Innerhalb des ‚komplexen Systems‘ der verschiedenen Formen oder

Formungsweisen verhalten die spezifisch verschiedenen Weisen sich notwendig zueinander alsEinschränkungen des Geltungsbereiches oder Anwendungsfeldes und jede einzelne Formungsweiseerscheint im Rahmen des nicht logisch intergrierten komplexen Gesamtsystems der Formen alsbeschränkt.“

125

Mythos als G anzes , die Kunst als G anze s den allgemeinen Charaktersymbolischer Gestaltung in sich tragen.“ (BsF, 174)

Damit wird deutlicher, dass Cassirer durch den Begriff der symbolischen Form die

allgemeine Form des Begriffs, den allgemeinen Charakter symbolischer Gestaltung

aufzustellen versucht (vgl. PsF III, 334). Er sucht andererseits aber auch die Ordnung und

Verknüpfung zwischen den einzelnen symbolischen Formungen des Geistes innerhalb der

symbolischen Formen. Der Mythos und die wissenschaftliche Erkenntnis unterscheiden

sich demnach bei der Betrachtung und Deutung des ‚Wirklichen‘ in ihrer Modalität, das

heißt, in ihrer Form des Raumbewusstseins und nicht durch die Qualität der Kategorien

voneinander (vgl. PsF I, 29 ff.). Daher sind die beiden nicht ‚prinzipiell‘, sondern nur

‚graduell‘ unterschieden (vgl. PsF II, 46). Auf diese Unterscheidung, die auf der

symbolischen Relation des Bewusstseins beruht, wird im nächsten Abschnitt näher

eingegangen.

Als Cassirer in seinem Vortrag Das Symbolproblem und seine Stellung im System der

Philosophie im Jahre 1927 das Symbolproblem erneut aufgreift, hat es den Anschein, als

behandele er das Problem präziser als in seinem vorherigen Vortrag, da er nun auch

erläutert, was das ‚Symbolische‘ bedeutet. Der Begriff des Symbolischen wurzelt seiner

Meinung nach in der religiösen Sphäre. Erst in der spekulativen Ästhetik entstehe das

Problem des Begriffs und des Symbolischen. Bei der spekulativen Ästhetik handele es sich

um die Bestimmung des Verhältnisses der Sinnenwelt zur intelligiblen Welt und um die

des Verhältnisses von Erscheinung und Idee. In diesem Verhältnis von Erscheinung und

Idee sieht Cassirer die ursprüngliche und grundlegende Polarität des Seins selbst, und er

verschafft damit dem Symbolischen eine ganz spezifische Funktion innerhalb seiner

Symboltheorie:

„Das Symbolische gehört niemals dem ,Diesseits‘ oder ,Jenseits‘, dem Gebietder ‚Immanenz‘ oder ,Transzendenz‘ an: sondern sein Wert besteht eben darin,daß es diese Gegensätze, die einer metaphysischen Zweiweltentheorieentstammen, überwindet. Es ist nicht das Eine oder das Andere, sondern esstellt das ,Eine im Anderen‘ und das ‚Andere im Einen‘ dar.“ (PsF III, 447)

Somit kann man festhalten, dass Cassirer in PsF auch versucht, das Problem des

metaphysischen Dualismus durch das Symbolische zu überwinden, während er in SuF

dieses Problem durch den Funktionsbegriff zu lösen versucht hatte.

Die symbolischen Formen können, wie oben angeführt, als Ausdruck der selbständigen

126

Energie des Geistes verstanden werden, wobei Cassirer von den ‚geistigen Formen‘ spricht.

Dies ermöglicht, die symbolischen Formen als geistige Formung durch die „symbolische

Funktion des Bewußtseins“ zu verstehen (PsF I, 46). Cassirer begründet hierfür die

„philosophische Systematik des Geistes“, die das rein immanente Verhältnis der Formen

zueinander voraussetzt (PsF I, 14).

Die dogmatischen Systeme der Metaphysik stehen nach Cassirer in den Konflikten

innerhalb der Philosophie meistens als Gegensätze, die, ohne selbst über diese Konflikte

hinauszugehen, die Erwartung und Forderung der Philosophie nicht erfüllen können. Er

interpretiert diese dogmatischen Systeme der Metaphysik als metaphysische ‚Hypostasen‘

des bestimmten logischen oder ästhetischen oder religiösen Prinzips: „Je mehr sie [die

dogmatischen Systeme der Metaphysik] sich in die abstrakte Allgemeinheit dieses Prinzips

einschließen, um so mehr schließen sie sich damit gegen einzelne Seiten der geistigen

Kultur und gegen die konkrete Totalität ihrer Formen ab.“ (PsF I, 14) Um dieser Gefahr zu

entgehen, muss die kritisch-philosophische Betrachtung einen Standpunkt finden,

„der es ermöglichte, das Ganze derselben mit einem Blicke zu umfassen undder in diesem Blicke doch nichts anderes sichtbar zu machen versuchte, als dasrein immanente Verhältnis, das alle diese Formen zueinander, nicht dasVerhältnis, das sie zu einem äußeren, ‚transzendenten‘ Sein oder Prinzip haben.Dann erstünde eine philosophische Systematik des Geistes, in der jedebesondere Form ihren Sinn rein durch die S t e l l e , an der sie steht, erhaltenwürde, in der ihr Gehalt und ihre Bedeutung durch den Reichtum und dieEigenart der Beziehungen und Verflechtungen bezeichnet würde, in welchensie mit anderen geistigen Energien und schließlich mit deren Allheit steht.“(PsF I, 14)312

Man kann hier vermuten, dass Cassirer unter dem rein immanenten Verhältnis einerseits

das Verhältnis zwischen dem allgemeinen Formprinzip und den einzelnen symbolischen

Formen versteht und andererseits das Verhältnis meint, in dem, wie oben zitiert, alle diese

symbolischen Formen zueinander stehen sollen. Er setzt dabei ‚jede Energie des Geistes‘

sowie die symbolische Funktion des Bewusstseins voraus. Das allgemeine Formprinzip

lässt sich somit zwar als die „produktive Fähigkeit des menschlichen Geistes“ verstehen313,

aber daraus ist das spezifische Prinzip der einzelnen symbolischen Formen nicht

herzuleiten.314

312 Man sieht hier, dass Cassirer sein ‚System des Geistes‘ an Hegels Phänomenologie des Geistesanknüpft, vgl. Hegel (SA), Bd. 3, Phänomenologie des Geistes, S. 15; vgl. Cassirer, PsF II, S. X; PsFIII, S. VI, 92; EP III, S. 310-328 (zu Hegels Phänomenologie des Geistes).

313 Marx (1975), S. 307.314 Marx (1975), S. 309. Marx erkennt ein Dilemma von Cassirers Symbolsystem und die Notwendigkeit

seiner Vorgehensweise: „Das Dilemma, das im Zusammenhang einer so angelegten Symboltheorie

127

Für Cassirer hat es seit Descartes, der jedoch das Bewusstsein im Ausdruck der cogitatio

letztlich auf das reine Denken reduzierte, Ansätze und Versuche zu einer derartigen

‚Systematik des Geistes‘ gegeben. Cassirer hebt auch hervor, dass Hegel in seinem Werk

Phänomenologie des Geistes die Forderung, „das Ganze des Geistes als konkr e t e s

Ganze zu denken, also nicht bei seinem einfachen Begriff stehen zu bleiben, sondern ihn in

die Gesamtheit seiner Manifestationen zu entwickeln“ (PsF I, 15), mit Nachdruck gestellt

hat. In ihrem Streben danach, diese Forderung zu erfüllen, laufe die Mannigfaltigkeit der

geistigen Formen letztlich in eine höchste logische Spitze aus. Erst in ihrem Ende finde sie

ihre vollendete ‚Wahrheit‘ und Wesenheit. Jedoch untersteht sie ihrer Struktur nach dem

„Gesetz der dialektischen Methode“ (ibd.), obwohl sie ihrem Inhalt nach reich und

vielgestaltig ist:

„Der Geist beschließt alle Bewegung seines Gestaltens im absoluten Wissen,indem er hier das reine Element seines Daseins, den Begriff, gewinnt. [...]Somit scheint auch hier von allen geistigen Formen nur der Form desLogischen, der Form des Begriffs und der Erkenntnis eine echte und wahrhafteA ut onomi e zu gebühren.“ (PsF I, 15)

Als Gegenbild und Widerspiel der dialektischen Methode kann man an ein rein

empirisches Verfahren anschließen, doch damit steht man vor dem Dilemma, dass

einerseits die logische Einheit gefordert wird und andererseits die spezifische Vielfalt

betont werden muss. Ein Ausweg aus diesem methodischen Dilemma liegt nach Cassirer in

der Betrachtungsweise, „die dasjenige, was die tranzendentale Kritik für die reine

Er kenn t n i s leistet, auf die Al l he i t der geistigen Formen überträgt“ (PsF I, 17), und

dies greift auf Cohens Einheit des Bewusstseins zurück.

Cassirer betont in Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie, dass

in den einzelnen Formwelten, trotz ihres verschiedenen Prinzips und ihrer Struktur, „eine

bestimmte Richtung des Aufbaus, eine Weise des Fortgangs von den elementaren Gestalten

zu den komplexeren Gestalten“ besteht (SP, 301). Dies führt zu dem Gedanken, dass er die

symbolischen Formen der Dimension der Ausdrucksfunktion und der Darstellungsfunktion,

also den Mythos und die Sprache als elementare Formen gelten lässt, die wiederum dementsteht, versucht Cassirer aufzufangen, gleichsam zu neutralisieren, durch subtile Analysen derwechselseitigen Einflüsse verschiedener Symbolsysteme aufeinander. Die Einbeziehung der gesamtenKulturentwicklung in die Beschreibung der die Wissenschaften fundierenden Grundlagen ist gewißebenso wenig illegitim wie eine Analyse des Einflusses der exakten Wissenschaft und, in ihrer Folge,der Technik auf die Struktur der menschlichen Selbstverständigung in Moral, Religion oder anderenObjektivationsformen des Geistes. Ebenso gewiß aber wird man Grundlegungsfragen nichtausschließlich im Zusammenhang einer allgemeinen Kulturtheorie stellen dürfen, wenn man überhauptauf Lösungen ausgerichtet ist.“; vgl. auch PsF III, S. 18.

128

Aufbau der symbolischen Form der wissenschaftlichen Erkenntnis dienen sollten. Dass die

drei symbolischen Formen nicht auf einer Ebene liegen, erläutert er in der Vorrede des

dritten Bandes der PsF:

„Der Schicht der begrifflichen, der »diskursiven« Erkenntnis werden jetzt jeneanderen geistige Schichten, die die Analyse der Sprache und des Mythosaufgedeckt hat, unterbreitet und unterbaut: und im ständigen Hinblick undRückblick auf diesen Unterbau wird die Eigenart, die Gliederung undArchitektonik des »Oberbaus« der Wissenschaft zu bestimmen gesucht. Sozieht die ,Philosophie der symbolischen Formen‘ das Weltbild der exaktenErkenntnis wiederum in ihren Problemkreis ein — aber sie nähert sich ihmjetzt auf einem anderen Wege und erblickt es demgemäß unter einerveränderten Perspektive. Statt es lediglich in seinem Bes t and zu betrachten,sucht sie es in seinen notwendigen gedanklichen Ver mi t t e l ungen zuerfassen. Von dem relativen »Ende«, das der Gedanke hier erreicht hat, fragt sienach der Mitte und den Anfängen zurück, um durch diese Rückschau ebendieses Ende selbst als das, was es ist und bedeutet, zu verstehen.“ ( PsF III, VI )

Die symbolische Form der wissenschaftlichen Erkenntnis wird aus einer anderen

Perspektive, das heißt, durch ständige ‚Rückschau‘ betrachtet, womit Rückschauen auf die

Dimension der Sprache und die des Mythos gemeint sind. Die Philosophie der

symbolischen Formen sucht das Weltbild der exakten Erkenntnis in seiner notwendigen

gedanklichen Vermittlung zu erfassen, denn die ursprünglich-bildende Kraft liegt in der

selbständigen Energie des Geistes. Dies ist im Grunde als das allgemeine Formprinzip zu

bezeichnen, in dem die Welt stufenweise objektiviert wird und durch die sich die

selbständige Energie des Geistes in einer höheren oder komplexeren symbolischen Form

entfaltet.

Diesen Gedanken vom Aufbau der symbolischen Formen findet man auch in seiner

Begriffstheorie im dritten Band von PsF. In der Phänomenologie der Erkenntnis werden

Begriffe von der Sphäre der Ausdrucksfunktion aus über die der Darstellungsfunktion bis

hin zur Sphäre der Bedeutungsfunktion stufenweise ‚objektiviert‘. Die Gegenstandswelt

wird mit Hilfe der Funktionen des Symbols und Zeichens aufgebaut und dadurch gewinnt

sie auch ihre Objektivität. In der Phänomenologie der Erkenntnis wird im Bereich der

Ausdrucksfunktion das Leib-Seele-Problem behandelt und im Bereich der

Darstellungsfunktion das Problem der Repräsentation315 zum Aufbau der anschaulichen

Welt. Im Bereich der Bedeutungsfunktion geht es um den Aufbau der wissenschaftlichen

Erkenntnis und die damit verbundene Theorie des Begriffs, in der auch die Frage nach dem315 Auf das Repräsentationsproblem wird im Abschnitt 3.5 im Zusammenhang mit der symbolischen

Prägnanz näher eingegangen.

129

Wesen des Gegenstands hervortritt. Die drei Dimensionen der symbolischen Formen

dienen der Begriffsbildung als drei Objektivitätsstufen. Der Begriff haftet im Bereich des

Mythos nur dem Bild an, im Bereich der Darstellungsfunktion wird er durch die Sprache

nur ‚schematisiert‘ und wird letztlich im Bereich der Bedeutungsfunktion, der

wissenschaftlichen Erkenntnis, mittels der reinen Bedeutungszeichen zur echten

symbolischen Form.

Cassirer unterscheidet, wie bereits erwähnt, in der Theorie des Begriffs den natürlichen

Weltbegriff vom wissenschaftlichen Weltbegriff. Die Dimensionen der Ausdrucksfunktion

und der Darstellungsfunktion gehören jetzt der Sphäre des natürlichen Weltbegriffs an und

die Bedeutungsfunktion gehört der Sphäre des wissenschaftlichen Weltbegriffs an. In der

Begriffstheorie steht das allgemeine Bedeutungsproblem, also die Frage danach, wie das

Zeichen in der Dimension der wissenschaftlichen Erkenntnis zum Begriffszeichen und

damit zum reinen Bedeutungszeichen werden kann, im Mittelpunkt.

In PsF ist Cassirer der Meinung, im Rahmen einer systematischen ‚Bedeutungslehre‘ ließe

sich die Lehre vom Begriff zureichend begründen und vollständig aufbauen (vgl. 2.3.3).

Um dies deutlich zu zeigen, grenzt er den natürlichen Weltbegriff vom wissenschaftlichen

Weltbegriff ab. Dies bedeutet aber nicht, dass die beiden voneinander getrennt werden

sollen, sondern dass der wissenschaftliche Weltbegriff vielmehr auf dem Boden des

natürlichen Weltbegriffs aufgebaut wird. Dies kann man als eine Leistung der

Begriffstheorie in PsF hervorheben.

Wie sich schon bei der Bedeutung des Funktionsbegriffs in SuF gezeigt hat, so ist auch der

Gesetzesbegriff in PsF im Zusammenhang mit dem Begriff der Objektivität ein

Kernbegriff. Gesetze und ‚ideelle Zuordnung‘ scheinen für Cassirer das Leitmotiv zu sein,

das in der theoretischen Erkenntnis eine hervorgehobene Rolle spielt, und hierfür wird das

höchste Tun des Geistes oder die Aktivität des Geistes verlangt:

„Wie Platon gesagt hat, daß für den rechnenden Astronomen die Sternbildernichts an sich selbst bedeuten, sondern daß sie ihm nur als »Paradeigma«dienen, an dem er sich die rein mathematische Natur der Bewegung, an dem ersich das zeitlose ideelle Wesen des »Schnelleren« und des »Langsameren« zumBewußtsein bringt — so wird dem mathematischen Geiste der Linienzug zunichts anderem, als zum anschaulichen Repräsentanten eines bestimmtenFunktionsverlaufs. Er erfaßt an seiner unmittelbar gegebenen Ges t a l t einEtwas, was sich der Anschauung als solcher schlechthin entzieht — er sieht inihm das Bild eines Gese t ze s , einer Form der ideellen Zuo r dnung , die dasletzte Fundament für alles mathematische Denken ist. Und auch hier ist es dasGanz e der anschaulichen Gestalt, nicht etwa nur ein Teil oder Bruchstück vonihr, das unter diesen spezifischen »Gesichtspunkt« gestellt und ihm gemäß mit

130

einem bestimmten Sinngehalt durchdrungen wird.“ (SP, 300)

Dieser Gedanke geht sicherlich wiederum auf seinen Funktionsbegriff zurück. Als

charakteristische Leistung des Geistes kann man festhalten, dass die symbolische Form

geistige symbolische Formung bedeutet und diese damit dem Begriff der Funktion in SuF

gleicht, aber die Funktion in SuF bedeutet nicht nur die mathematische Funktion, sondern

im Grunde genommen die Funktion des Denkens oder des Geistes.

3.2. Wissenschaftliches und mythisches Bewusstsein

Cassirer fasst in PsF das Verhältnis zwischen Bewusstsein und Gegenstand als eine

symbolische Relation auf: „Der Gegenstand ist weder draußen noch drinnen, weder jenseits

noch diesseits: — denn das Verhältnis zu ihm ist keine ontisch-reale, sondern eine

s ymbo l i s che Re l a t i on . “ (PsF III, 370) Die Prinzipien der theoretischen Formen

können nach Cassirer nicht an bloß sinnlichen Gegenständen, sondern nur an einer

bestimmten Ordnung von Gegenständen, von objektiven Gebilden der Anschauung,

aufgewiesen werden. Die „Beziehung der Vorstellung auf ihren Gegenstand“ (PsF III, 380)

bedeutet für ihn letztlich ihre Einordnung „in einen übergreifenden systematischen

Gesamtzusammenhang, in welchem ihr eine eindeutig bestimmte Stelle zugewiesen wird.

Die Erfassung, die bloße Apprehension des Einzelnen, erfolgt somit, in dieser Form des

Denkens, bereits sub specie des Gesetzesbegriffs“ (PsF II, 42).

Nach Auffassung der kritischen Philosophie ist der Gegenstand dem Bewusstsein nicht als

etwas Fertiges gegeben, sondern es wird ein selbständiger spontaner Akt des Bewusstseins,

der Beziehung der Vorstellung auf den Gegenstand vorausgesetzt. Der Gegenstand wird

durch die synthetische Einheit konstituiert und ist „das Ergebnis einer Formung, die sich

kraft der Grundmittel des Bewußtseins, kraft der Bedingungen der Anschauung und des

reinen Denkens vollzieht“ (PsF II, 39). Mit dem Gegenstandsbegriff, auf den im Abschnitt

3.3.3 näher eingegangen wird, beabsichtigt Cassirer das Gegenstandsbewusstsein, von

welchem Kant ausgegangen ist, zu erweitern oder neu zu definieren:

„Sie [die Philosophie der symbolischen Formen] sucht die Kategorien desGegenstandsbewußtseins nicht nur in der theoretisch-intellektuellen Sphäre auf,sondern sie geht davon aus, daß derartige Kategorien überall dort wirksam seinmüssen, wo überhaupt aus dem Chaos der Eindrücke ein Kosmos, ein

131

charakteristisches und typisches ‚Weltbild‘ sich formt. Jedes solche Weltbildist nur möglich durch eigenartige Akte der Objektivierung, der Umprägung derbloßen ‚Eindrücke‘ zu in sich bestimmten und gestalteten ,Vorstellungen‘.“(PsF II, 39)

Hierfür werden zunächst „Qualität“ und „Modalität“ (PsF I, 29) der Formen des

Bewusstseins vorausgesetzt. Unter der ,Qualität‘ einer bestimmten Beziehung solle die

besondere Verknüpfungsart verstanden werden, kraft deren sie innerhalb des

Bewusstseinsganzen Reihen schaffe, die einem speziellen Gesetz der Zuordnung ihrer

Glieder unterstünden:

„So bildet etwa das ,Beisammen‘ gegenüber dem ,Nacheinander‘, die Form dersimultanen gegenüber der der sukzessiven Verknüpfung eine solcheselbständige Qualität. Nun kann aber andererseits ein und dieselbeBeziehungsform auch dadurch eine innere Wandlung erfahren, daß sieinnerhalb eines anderen For mzus a mmenha ngs steht. Jede einzelneBeziehung gehört — unbeschadet ihrer Besonderheit — immer zugleich einemSinnganz en an, das selbst wieder seine eigene ‚Natur‘, sein in sichgeschlossenes Formgesetz besitzt.“ (PsF I, 29)

So haben es die Modi, das Beisammen und das Nacheinander, in den verschiedenen

Dimensionen mit verschiedenem Sinn zu tun. Zeit, die Cassirer als allgemeine Relation

bezeichnet, ist genauso ein Element in der theoretisch-wissenschaftlichen Erkenntnis, wie

sie ein wesentliches Moment im ästhetischen Bewusstsein ausmacht.316 Die Form des

Raumbewusstseins ist jedoch unterschiedlich, da die räumlichen Formen, wie zum Beispiel

gewisse Komplexe von Linien und Figuren, im künstlerischen Gebilde anders als in der

Geometrie als Zeichnung aufgefasst werden und dadurch auch einen ganz anderen Sinn

erhalten. Cassirer unterscheidet somit die Einheit des Raumes, die man im ästhetischen

Schauen, zum Beispiel in der Malerei aufbaut, von der Einheit der bestimmten

geometrischen Lehrsätze oder der Axiomatik. Daher ist er, wie bereits im Abschnitt 3.1

erwähnt, der Ansicht, dass sich das mythische und das wissenschaftliche Bewusstsein nur

in ihrer Modalität und damit nur ‚graduell‘ unterscheiden.

Im Mythos gibt es nicht die strenge Trennung zwischen der Welt der ‚Wahrheit‘ und der

des ‚Scheins‘, aber es herrscht auch das ‚Objektive‘ im Mythos als eine Welt der reinen

Gestalten. Im Mythos fehlt es an der „dialektischen Bewegung des Denkens“, und so ist er

letztlich nur durch „die bloße Hingabe an den Eindruck selbst und an seine jeweilige

‚Präsenz‘“ gekennzeichnet (PsF II, 47). Daher gibt es im Bewusstsein des Mythos „keine

316 Über das Zeitbewusstsein vgl. Stipp (2003), besonders Teil II; vgl. auch Nuzzo (1996).

132

verschiedenen Realitätsstufen, keine gegeneinander abgegrenzten Grade objektiver

Gewißheit“ (PsF II, 47 f.), und im Bewusstsein des Mythos fehlt es auch an jener festen

„Grenzscheide zwischen dem bloß ,Vorgestellten‘ und der ‚wirklichen‘ Wahrnehmung,

zwischen Wunsch und Erfüllung, zwischen Bild und Sache“ (PsF II, 48). Cassirer

bezeichnet daher den Raum des Mythos als „Strukturraum“ und den der reinen Mathematik

als „Funktionsraum“ (PsF II, 110).

Die Wissenschaft ist ein System von Gesetzen, und das bedeutet für Cassirer ein System

von Beziehungen oder Korrelationen und Funktionen. Die Beziehung des räumlichen

Ganzen zum räumlichen Teil wird im Raum der reinen Erkenntnis rein funktionell gedacht.

Das Ganze des Raumes baut sich aus den Elementen, als konstitutiven Bedingungen, auf,

indem das Ganze aus den Elementen genetisch, nach einer bestimmten Regel erwächst:

„Die Linie wird aus dem Punkt, die Fläche aus der Linie, der Körper aus derFläche ‚erzeugt‘, indem das Denken das eine Gebilde aus dem anderen nacheinem bestimmten Gesetz hervorgehen läßt. Die komplexen räumlichenGestalten werden begriffen in ihrer ,genetischen Definition‘, die die Art undRegel dieses Hervorgehens ausdrückt.“ (PsF II, 110)

Im Gegensatz zu diesem Funktionsraum entsteht im Raum des Mythos ein Strukturraum, in

dem das Ganze aus den Elementen nicht genetisch erwächst, sondern als „ein rein

statisches Verhältnis des Innenseins und Innewohnens“ entsteht (PsF II, 110). Man findet

trotz der Fortsetzung der Teilung in jedem Teil die Form, die Struktur des Ganzen wieder:

„Diese Form wird also nicht, wie in der mathematischen Analysis des Raumes,in homogene und somit gestaltlose Elemente zerschlagen, sondern sie beharrt,unbeschadet jeder Teilung und unberührt von ihr, in sich selbst. Die gesamteRaumwelt und mit ihr der Kosmos überhaupt, erscheint nach einembestimmten M ode l l gebaut, das sich uns bald in vergrößertem, bald inverkleinertem Maßstabe darstellen kann, das aber stets im Größten wie imKleinsten dasselbe bleibt. Aller Zusa mmenha ng im mythischen Raumberuht zuletzt auf dieser ursprünglichen Iden t i t ä t ; er geht nicht auf dieGleichartigkeit des Wirkens, auf ein dynamisches Gesetz, sondern auf eineursprüngliche Gleichheit des Wesens zurück.“ (PsF II, 110 f.)

Vergleicht man gemäß dieser Unterscheidung von Formen des Raumbewusstseins die

empirisch wissenschaftliche Erkenntnis mit dem Mythos, so zeigt sich nach Cassirer, wie

bereits erwähnt, dass der Gegensatz zwischen den beiden nicht auf den verschiedenen

Kategorien beruht, die in der Betrachtung und Deutung des Wirklichen verwendet werden,

sondern dass beide sich in ihrer Modalität unterscheiden.

133

Cassirer erkennt somit eine Analogie zwischen Wissenschaft und Mythos:

„Die Verknüpfungsweisen, die beide gebrauchen, um dem sinnlich-Mannigfaltigen die Form der Einheit zu geben, [...] zeigen eine durchgehendeAnalogie und Entsprechung. Es sind dieselben allgemeinsten ,Formen‘ derAnschauung und des Denkens, die die Einheit des Bewußtseins als solche, unddie somit ebensowohl die Einheit des mythischen wie die des reinenErkenntnisbewußtseins konstituieren. In dieser Hinsicht läßt sich sagen, daßjede dieser Formen, ehe sie ihre bestimmte logische Gestalt und Prägung erhält,ein mythisches Vorstadium durchlaufen haben muß.“ (PsF II, 78)

Damit wird deutlich, dass es sich hierbei um eine Art Aufbauprogramm innerhalb der PsF

handelt. Dies wiederum bedeutet, dass die wissenschaftliche ‚Objektivierung‘ nicht erst im

Bereich der Wissenschaft beginnt, sondern bereits mit dem mythischen Vorstadium des

Bewusstseins, und somit sich das mythische Bewusstsein über die verschiedenen Etappen

hinweg — von der Sphäre der Ausdrucksfunktion über die der Darstellungsfunktion bis zur

Sphäre der Bedeutungsfunktion — zum reinen Erkenntnisbewusstsein umwandelt.

Neben dieser räumlichen und zeitlichen Einheit des Bewusstseins gibt es auch die Form

der ‚gegenständlichen‘ Verknüpfung. Damit ist gemeint, dass, sofern sich ein Inbegriff

bestimmter Eigenschaften zum Ganzen mit mannigfachen und wechselnden Merkmalen

zusammenschließt, dem Zusammenschluss bereits eine Verknüpfung des räumlichen und

zeitlichen Bewusstseins vorausgegangen sein muss. Das empirische Wahrnehmungs-

bewusstsein, das sich noch nicht zum Erkenntnisbewusstsein der abstrakten Wissenschaft

entwickelt hat, enthält nach Cassirer implizit jene „Scheidungen und Trennungen“ (PsF II,

46), die in demselben Bewusstsein später in expliziter logischer Form hervortreten sollen.

Hierfür kann man als Beispiel das Raumbewusstsein anführen:

„Die Verhältnisse des Mit- und Beieinander, des Aus- und Nebeneinander imRaume sind als solche mit den ‚einfachen‘ Empfindungen, mit der sinnlichen‚Materie‘, die sich im Raume ordnet, keineswegs schlechthin mitgegeben,sondern sie sind ein höchst komplexes, durch und durch mi t t e lba re sErgebnis des Erfahrungsdenkens.“ (PsF II, 40).

Es gilt aber auch für andere Ordnungsformen, auf denen der ‚Gegenstand der Erfahrung‘

beruht und durch die er konstituiert wird, denn jede Wahrnehmung schließt eine bestimmte

Norm und einen Maßstab der Objektivität ein. Die Wahrnehmung ist somit überhaupt ein

Prozess der Auswahl und der Unterscheidung, den das Bewusstsein der Masse der

Eindrücke gegenüber vollzieht (vgl. 3.5.2.1; 4.3). Durch die Selektion des Bewusstseins

134

dem Stoff der Wahrnehmung gegenüber wird es überhaupt möglich, „ihm eine bestimmte

Form und somit einen bestimmten ‚Gegenstand‘ zu geben“ (PsF II, 46). Cassirer stellt

daher fest:

„Das Gegenstandsbewußtsein der Wahrnehmung und das der wissen-schaftlichen Erfahrung unterscheidet sich somit nicht prinzipiell, sondern nurgraduell — sofern die Geltungsunterschiede, die in jedem bereits vorhandenund wirksam sind, in diesem in die Form der E r kenn t n i s erhoben, d.h. imBegriff und Urteil fixiert sind.“ (PsF II, 46 f.)317

Während es sich in SuF bei der Funktion des Bewusstseins hauptsächlich um die

Relationen in der Begriffsbildung handelt, wird in PsF gezeigt, dass die ‚Urform‘ allen

Bewusstseins in der Wahrnehmung liegt, die zunächst als mythisches Bewusstsein auftritt

und daher das wissenschaftliche Bewusstsein ein ‚mythisches Vorstadium‘ durchlaufen

muss.318

Es gibt verschiedene Betrachtungsmethoden des Raumproblems, aber für Cassirer ist das

Ergebnis stets gleich, ganz gleich ob das Ergebnis aus der ‚transzendentalen‘ oder der

physiologisch-psychologischen Betrachtung heraus entsteht. Die räumliche Ordnung der

Wahrnehmungswelt geht nämlich auf Akte der Identifizierung, der Unterscheidung, der

Vergleichung und Zuordnung zurück, „die ihrer Grundform nach rein intellektuelle Akte

sind“ (PsF II, 41). Die Eindrücke werden kraft solcher Akte gegliedert und verschiedenen

Bedeutungsschichten zugewiesen, wodurch „als anschaulicher Reflex dieser theoretischen

Bedeutungsschichtung, die Gliederung ,im‘ Raume“ entsteht (PsF II, 41). Diese

verschiedenen ‚Schichtungen‘ der Eindrücke sind nur möglich, wenn unserer

physiologischen Wahrnehmung ein allgemeines Prinzip, ein durchgehend gebrauchter

Maßstab zugrunde liegt. Die naive Behauptung konstanter Dinge und Eigenschaften löst

sich für die kritische Betrachtung in der Gewissheit gleichbleibender Maß- und

Zahlverhältnisse auf, und das Sein der Erfahrungsobjekte konstituiert sich durch solche

Verhältnisse:

„Der Übergang von der Welt des unmittelbaren Sinneseindrucks zurvermittelten Welt der anschaulichen, insbesondere der räumlichen‚Vorstellung‘ beruht darauf, daß sich in der fließend immer gleichen Reihe derEindrücke die konstanten Verhältnisse, in denen sie stehen und nach welchensie wiederkehren, allmählich als ein selbständiges herausheben und sich eben

317 Cassirer verweist hier selbst für die nähere Begründung auf das Werk SuF.318 Vgl. Cassirer: Die Begriffsform im mythischen Denken [BmD]; vgl. auch die Hervorhebung des

Mythosbegriffs durch Krois (1979).

135

hierdurch von den von Moment zu Moment wechselnden, schlechthinunbeständigen Sinnesinhalten charakteristisch unterscheiden. Diese konstantenVerhältnisse bilden nun das feste Gefüge und gleichsam das feste Gerüst der‚Objektivität‘.“ (PsF II, 41; vgl. 4.3)

Der einzelne Sinneseindruck wird nicht einfach als Gegebenes hingenommen, „sondern es

wird an ihn die Frage gestellt, wieweit er sich im Ganzen der Erfahrung bewähren und

gegenüber diesem Ganzen behaupten werde“ (PsF II, 42). Wenn er dieser kritischen Probe

standhält, wird er in die Wirklichkeit der objektiven Bestimmtheit aufgenommen. Diese

Probe, diese Bewährung aber bedeutet für das Erfahrungsdenken und -wissen kein Ende,

sondern sie muss immer von neuem einsetzen.

Die Elemente oder das Besondere besitzen somit in der Einheit der Gesamterfahrung keine

absolute Bedeutung. Gerade deshalb wird bei Cassirer die Ordnung, oder anders formuliert,

die Ordnung des Allgemeinen gebraucht, die die Gesetzlichkeit der Erscheinungen

überhaupt ist. Dies bedeutet wiederum, dass „im theoretischen Aufbau des

Zusammenhangs der Erfahrungswelt, alles Besondere mittelbar oder unmittelbar auf ein

Allgemeines bezogen und an ihm gemessen“ werden muss (PsF II, 42). Das Einzelne muss

als ein Sonderfall eines allgemeinen Gesetzes oder eines Inbegriffs, eines Systems

allgemeiner Gesetze gedacht werden. Bei jedem Einzelnen muss die Form des Ganzen

mitgedacht und als ein ‚Repräsentant‘ dieser Gesamtform angesehen werden. Die objektive

Bedeutung eines Erfahrungselements hängt jetzt nicht mehr von der Sinnlichkeit ab,

„sondern von der Klarheit, mit der sich in ihm die Form, die Gesetztlichkeit des Ganzen

ausdrückt und reflektiert“ (PsF II, 45). Diese Form aber baut sich in einem stetigen

Stufengang auf, und daher entsteht eine Differenzierung und Abstufung der ,empirischen

Wahrheit‘ des Objekts selbst. Der bloße Sinnesschein sondert sich von der empirischen

Wahrheit des Objekts, das aber „erst im Fortgang der Theorie, im Fortgang des

wissenschaftlichen Gesetzesdenkens zu erringen ist“. Diese Wahrheit trägt daher keinen

absoluten, sondern einen relativen Charakter, „denn sie steht und fällt mit dem allgemeinen

Bedingungszusammenhang, in dem allein sie erreichtbar ist, und mit den Voraussetzungen,

den ‚Hypothesen‘, auf denen dieser Bedingungszusammenhang beruht“ (PsF II, 45). Das

Konstante grenzt sich gegen das Veränderliche, das Objektive gegen das Subjektive, die

Wahrheit gegen den Schein ab, „und in dieser Bewegung erst stellt sich nun für das

Denken die Gewißheit des Empirischen – stellt sich sein eigentlicher logischer Charakter

dar.“ (ibd.) So wird das positive Sein des empirischen Objekts durch eine doppelte

Negation gewonnen, das heißt, durch seine Abgrenzung gegen das ,Absolute‘ und gegen

136

den Sinnenschein: „Es ist Objekt der ‚Erscheinung‘, aber diese ist nicht ,Schein‘, sofern sie

in notwendigen Gesetzen der Erkenntnis gegr ünde t , — sofern sie ein , phaenomenon

bene fundatum ‘ ist“ (ibd.).

Die ‚naive‘ Stufe des Erfahrungsbewusstseins, in der ein Zustand reiner Unmittelbarkeit

des Gegenstandes angenommen wird, ist kein Faktum, sondern eine theoretische

Konstruktion, die im Grunde ein Grenzbegriff ist, den die erkenntniskritische Reflexion

sich geschaffen hat. Der allgemeine Begriff der Objektivität soll auf einem fortschreitenden

Akt der Sonderung der Erfahrungselemente, auf einer kritischen Arbeit des Geistes

beruhen.

Die logische Form des Erfahrungsdenkens tritt im Aufbau der Wissenschaft deutlich

heraus, wenn man das Erfahrungsdenken insbesondere in der Grundlegung einer exakten

Wissenschaft der Natur betrachtet. Für die Grundlegung der exakten Wissenschaft ist auch

die Funktion der Empfindung und Wahrnehmung unentbehrlich: Denn die „Funktion der

einfachen Empfindung und Wahrnehmung ,verbindet‘ sich hier nicht nur mit den

intellektuellen Grundfunktionen des Begreifens, des Urteilens und Schließens, sondern sie

i s t selbst schon eine solche Grundfunktion — sie enthält implizit, was dort in bewußter

Formung und in selbständiger Gestaltung heraustritt.“ (PsF I, 280) Der Grundgedanke

Cassirers in SuF — die Untrennbarkeit von Wahrnehmung und Urteil — wird an dieser

Stelle bekräftigt und erfährt eine Erweiterung: Das, was in höchster Vollendung wie zum

Beispiel im wissenschaftlichen Gegenstandsbewusstsein geleistet wird, soll schon im

einfachen Akt des empirischen Urteils der Wahrnehmung angelegt sein. Denn die Welt der

Wahrnehmung ist kein Einfaches, selbstverständlich Gegebenes, sondern sie ist durch

gewisse theoretische Grundakte erfasst, ,apprehendiert‘ und bestimmt. Die Verhältnisse im

Raume, die des Mit- und Beieinander, des Aus- und Nebeneinander sind „mit den

‚einfachen‘ Empfindungen, mit der sinnlichen ,Materie‘, die sich im Raume ordnet,

keineswegs schlechthin mitgegeben, sondern sie sind ein höchst komplexes, durch und

durch mi t t e lba r e s Ergebnis des Erfahrungsdenkens“ (PsF II, 40). Wenn man eine

bestimmte Größe, Lage und Entfernung den Dingen im Raume zuspricht, so stellt man

damit „die sinnlichen Daten in einen Relations- und Systemzusammenhang“ (ibd.), und

dieser erweist sich zuletzt als nichts anderes als ein reiner Urteilszusammenhang.

137

3.3. Die Begriffsbildung in der wissenschaftlichen Erkenntnis

3.3.1. Der natürliche Weltbegriff und seine Grenze

Cassirer leitet das Kapitel Zur Theorie des Begriffs im dritten Teil des dritten Band der PsF

mit dem Satz ein: „Wenn wir das Gebiet, in dem unsere bisherige Betrachtung sich bewegt

hat, mit einem einheitlichen Gesamtnamen zu benennen suchen, so können wir es als den

Bereich des ‚na t ü r l i chen W el tbeg r i f f s ‘ bezeichnen.“ (PsF III, 329) Daraus ergibt

sich, dass die Ausdrucksfunktion, die Cassirer als ersten Teil des dritten Bandes für die

Ausdruckswelt, und die Darstellungsfunktion, die er als zweiten Teil für die anschauliche

Welt eingeführt hat, in der Begriffstheorie für den Bereich des natürlichen Weltbegriffs

stehen. Cassirer ändert im systematischen Teil des dritten Bandes die Reihenfolge der drei

Bände der PsF dergestalt, dass zunächst die Ausdrucksfunktion (Mythos) und danach die

Darstellungsfunktion (Sprache) sowie die Bedeutungsfunktion (Wissenschaft) abgehandelt

wird. Letztere gehört dabei dem Bereich des wissenschaftlichen Weltbegriffs an.319

Der Bereich des natürlichen Weltbegriffs weist nach Cassirer zwar „eine ganz bestimmte

theoretische Struktur“ und „eine gedankliche Formung und Fügung“ auf, aber die

allgemeinen Regeln dieser Formung sind noch an inhaltliche Besonderungen gebunden.

Die Reflexion und die rekonstruktive Analyse richten sich noch nicht auf die „Funk t i on

der Form als solche“, sondern nur auf die besondere Leistung derselben in der Sphäre der

Ausdrucks- und Darstellungsfunktion (PsF III, 329). Die Prinzipien können auch „nur an

einer bestimmten Ordnung von »Gegenständen«, von objektiven Gebilden der Anschauung

aufgewiesen werden“ (ibd.), und die theoretische Form lässt sich auf dieser Stufe der

Betrachtung nur an ihrem ‚Produkt‘ sichtbar machen. Der Gedanke gestaltet hier ein

bestimmtes Bild der Objektivität, aber er bleibt eben diesem Bild, das aus seinem eigenem

Grunde stammt, verhaftet. Das ist die Welt des ‚Du‘ und die Welt des ‚Es‘: „Das Ich

ergreift in der Form des schlichten Ausdruckserlebnisses oder in der Form des

Wahrnehmumgserlebnisses das Dasein der fremden Subjekte und das Dasein von

‚Gegenständen außer uns‘ — und es ruht und verharrt in diesem Dasein und seiner

konkreten Anschauung.“ (PsF III, 330)

Man kann den Bereich des natürlichen Weltbegriffs auch dahingehend verstehen, dass in

319 Vgl. Peters (1983) S. 143, auch S. 121: „Sprache und Mythos fallen für Cassirer in die Phase des‚natürlichen Weltbegriffs‘, die von der Phase der wissenschaftlichen Begriffsbildung durch die logischeWahrheit grundsätzlich unterschieden ist. In der Welt des ,Ausdrucks‘ und der ,natürlichen Sprache‘werden durch Namen Entitäten bezeichnet, aber erst in der ,Bedeutungsfunktion‘ gibt es im engerenSinne ,Begriffe‘, die Wahrheitswerte besitzen.“

138

ihm der Begriff in Verbindung zur Außenwelt oder zum Dasein von ,Gegenständen außer

uns‘ steht. Es ist der Bereich, in dem sich die Frage auf die Wirklichkeit, aber noch nicht

nach der Wahrheit richtet. Daher sind es das Dasein von ‚Gegenständen außer uns‘ und die

‚konkrete Anschauung‘, die diese Wirklichkeit ausmachen. Der Begriff steht ‚noch‘ vor der

Dimension der wissenschaftlichen Erkenntnis, das heißt, er ist noch der sinnlich

anschaulichen Welt verhaftet. Das Vertrauen in die Wirklichkeit der Dinge erfährt, wie

Cassirer es ausdrückt, eine „Erschütterung“ (PsF III, 330), wenn die Wahrheitsfrage gestellt

wird. Der Begriff soll letztlich über die Grenze dieses natürlichen Weltbegriffs

hinausgehen.

Die Grenze zwischen dem natürlichen Weltbegriff und dem wissenschaftlichen Weltbegriff

ist in den erkenntnistheoretischen Betrachtungsweisen innerhalb der Philosophie zu

suchen. Nach Cassirer gibt es zwei Haupttypen der Betrachtungsweise in der

Erkenntnistheorie, der eine richtet den Anfang der theoretischen Fragestellung auf die

Wahrheit und der andere auf die Wirklichkeit (vgl. Einleitung, 3 f.). Er will, wie bereits

erwähnt, zwar die Grenze des natürlichen Weltbegriffs ziehen, aber diesen nicht vom

wissenschaftlichen Weltbegriff trennen, sondern den wissenschaftlichen Weltbegriff auf

dem Fundament des natürlichen Weltbegriffs aufbauen. Denn das Gegenstandsbewusstsein

ist zwischen Mythos und Wissenschaft nur in seinem Modus unterschieden, und trotz der

unklaren Scheidung des Subjekts und Objekts im Mythos, also in der Ausdrucksfunktion,

ist ihm doch eine eigene und eigentümliche Weise der Anschauung und Wahrnehmung von

Wirklichem gegeben, die unter anderen Bedingungen steht als in der Wissenschaft.

Cassirer hat diese Grenze des natürlichen Weltbegriffs bereits im ersten Band von PsF

ausführlich erläutert, dort heißt sie Grenze der sprachlichen Begriffsbildung oder auch

Grenze der Darstellungsfunktion. Auf die Grenze der sprachlichen Begriffsbildung soll im

Abschnitt 3.4 im Zusammenhang mit der Funktion der Zeichen näher eingegangen werden.

Die Schöpfung der Sprachworte enthält die Grundform des Denkens, die Form der

Objektivierung. Bei dieser Art der Objektivierung aber geht es nur darum, den Inhalt für

die Erkenntnis zu fixeren und ihn für das Bewusstsein als „ein sich selbst Gleiches und

Wiederkehrendes“ zu kennzeichen (PsF I, 253). Das Problem der Abstraktion wird hier mit

der Grenze der sprachlichen Begriffsbildung verknüpft, denn die Abstraktion bringt nach

Cassirer die Frage nach der Begriffsform nur dadurch zur Lösung, dass sie auf die

Sprachform rekurriert, wodurch das Problem aber nur in ein anderes Gebiet

zurückgeschoben wird: „Der Prozeß der Abstraktion kann sich nur an solchen Inhalten

vollziehen, die in sich schon irgendwie bestimmt und bezeichnet, die sprachlich und

139

gedanklich gegliedert sind.“ (PsF I, 251) Die sprachliche Begriffsbildung unterscheidet

sich im Grunde genommen von der logischen Form der Begriffsbildung dadurch, dass die

bloße Form der „Reflexion“ der sprachlichen Begriffsbildung überall mit bestimmten

„dyna mi schen Motiven“ durchsetzt ist, insofern sie ihre Antriebe auch aus der Welt des

Tuns empfängt. (PsF I, 257):

„Die Logik pflegt die eigentliche Geburtsstätte des Begriffs erst dort zu finden,wo durch bestimmte intellektuelle Operationen, insbesondere durch dasVerfahren der ‚Definition‘ nach genus proximum und differentia specifica, einescharfe Abgrenzung des Bedeutungsgehalts des Wortes und eine eindeutigeFixierung desselben erreicht wird. Aber um zum letzten Ursprung des Begriffszu gelangen, muß das Denken in eine noch tiefere Schicht zurückdringen, mußes die Motive der Verknüpfung und Trennung aufsuchen, die sich im Prozeßder Wortbildung selbst wirksam erweisen, und die für die Unterordnung desgesamten Vorstellungsmaterials unter bestimmte sprachliche Klassenbegriffeentscheidend sind.“ (PsF I, 251)

Die Anschauungen von Raum, Zeit und Zahl sind im Bereich der Ausdrucksfunktion, in

der mythischen Bilderwelt, aneinander gebunden, das heißt, das Vermessen von Räumen

ist auf das Messen der Zeit übertragen worden.320 Die Spezifikation des geometrischen

Raumes, wie zum Beispiel ‚Stetigkeit‘ oder ‚Gleichförmigkeit‘, fehlen dem mythischen

Raum. In diesem Raum herrscht nur das konkrete Beisammen. Und die Zahl in der

Ausdrucksfunktion muss stets als Anzahl einer konkreten Menge gedacht werden, das

heißt, sie dient nur zu ‚bildlichen‘ Mehrheitsbildungen.321 Es scheint im Mythos das

Allgemeine in Eigennamen, die die Ausdrucksfunktion kennzeichnen, gebunden zu sein.322

Im Bereich der Darstellungsfunktion, also der Sprache, kann sich nur durch die

Vermittlung der Anschauungen von Raum, Zeit und Zahl „die Gestaltung der Eindrücke zu

Vorstellungen“ vollziehen:

„Der Schritt von der Welt der Empfindung zu der der ‚reinen Anschauung‘,

320 Vgl. PsF II, S. 132: „Es ist ein und dieselbe konkrete Grundanschauung, es ist der Wechsel von Lichtund Dunkel, von Tag und Nacht, worauf die primäre Anschauung des Raumes wie die primäreGliederung der Zeit beruht. Und ebenso beherrscht das gleiche Schema der Orientation, der gleiche,zunächst rein gefühlte Unterschied der Himmelsgegenden und Himmelsrichtungen, die Teilung desRaumes wie die der Zeit in bestimmte einzelne Abschnitte. Wie die einfachsten Raumverhältnisse, wielinks und rechts, vorwärts und rückwärts sich dadurch sondern, daß durch den Lauf des Tagesgestirnseine Grundlinie, die Ost-West-Linie bestimmt und diese sodann senkrecht durch eine zweite, durch dieNord-Süd-Linie geschnitten wird, so geht auch alle Auffassung zeitlicher Abschnitte auf dieseScheidung und Kreuzung zurück.“

321 Vgl. Peters (1983), S. 128: „Am Schema der Zahl gilt zu beachten, daß in der Ausdrucksfunktionniemals Zahlbegriffe, sondern ausschließlich ,bildliche‘ Mehrheitsbildungen ausgedrückt werden.“

322 Vgl. Peters (1983), S. 129.

140

den die Erkenntniskritik als ein notwendiges Moment im Aufbau derErkenntnis, als eine Bindung des reinen Ichbegriffs, wie des reinenGegenstandsbegriffs aufweist, hat daher in der Sprache sein genauesGegenbild. Es sind auch hier die ‚Formen der Anschauung‘, in deren Aufbausich die Art und Richtung der in der Sprache waltenden geistigen Synthesiszunächst bekundet, und nur durch das Medium dieser Formen hindurch, nurdurch die Vermittlung der Anschauungen von R aum , Ze i t und Zah l vermagdie Sprache ihre wesentlich logische Leistung: die Gestaltung der Eindrücke zuVorstellungen zu vollziehen.“ (PsF I, 149 f.)

Die Anschauungen von Raum, Zeit und Zahl sind im Bereich der Darstellungsfunktion

Mittel der Kennzeichnung von Gegenständen, und „diese Kennzeichnungen entstehen mit

Hilfe der sprachlichen Schemata von ‚Raum‘, ‚Zeit‘ und Zahlen. Daher stellen ‚Raum‘ und

‚Zeit‘ hier keine ‚Formen der Sinnlichkeit‘ und also der Gegenstände dar, sondern

ausschließlich Formen der ‚Vorstellung‘ von Gegenständen“.323

Das Kapitel ‚von dem Schematismus der reinen Verstandesbegriffe‘ in der Kritk der reinen

Vernunft handelt von der Anwendung der Kategorien auf Anschauungen. Kant fordere, so

Cassirer, um die Anwendung der reinen Verstandesbegriffe auf die sinnlichen

Anschauungen zu ermöglichen, ein Drittes, in welchem beide, obwohl sie an sich völlig

ungleichartig sind, übereinkommen müssen und diese Vermittlung finde im

‚tanszendentalen Schema‘, das einerseits intellektuell, andererseits sinnlich ist, statt. In

dieser Hinsicht unterscheide er das ‚Schema‘ vom bloßen ‚Bild‘. Dieses Schema beruht

aber für Cassirer schlechthin auf dem ‚Sprachbewusstsein‘:

„Ein solches ‚Schema‘, auf das sie alle intellektuellen Vorstellungen beziehenmuß, um sie dadurch sinnlich faßbar und darstellbar zu machen, besitzt dieSprache in ihren Benennungen für räumliche Inhalte und Verhältnisse. Es ist,als würden alle gedanklichen und ideellen Beziehungen dem Sprachbewußtseinerst dadurch faßbar, daß sie [sic! es] sie auf den Raum projiziert und in ihmanalogisch ‚abbildet‘. An den Verhältnissen des Beisammen, des Neben- undAuseinander gewinnt es erst das Mittel zur Darstellung derverschiedenartigsten qualitativen Zusammenhänge, Abhängigkeiten undGegensätze.“ (PsF I, 152)

Aus diesem Zitat ist festzuhalten, dass Cassirer das Schema oder die Schematisierung im

Kantischen Sinn zu dem Bereich der Darstellungsfunktion rechnet, in dem der Begriff noch

mit seiner sprachlichen Abbildung, also mit der Darstellung der sinnlich-empirischen

Außenwelt zu tun hat. An dieser Stelle wird nicht weiter auf die Probleme der

323 Peters (1983), S. 135.

141

Schematismuslehre Kants eingegangen, dies wird aber im Zusammenhang mit den

Ausführungen zu Cassirers symbolischer Formung, die das Problem des Schematismus

zum Ausgangspunkt besitzt, im Abschnitt 3.5 nachgeholt.

Im Vergleich zum Mythos kommt im Bereich der Sprache oder Lautsprache als weitere

Bedingung das Moment der „A b lös bar ke i t des Zeichens von den Dingen“ oder der

„E n t s t o f f l i c hung der Zeichen“ (PsF III, 388) hinzu:

„Die »Namen«, deren sich die menschliche Sprache bedient, sind kein Te i l derSache mehr, auf die sie hinweisen: sie hängen nicht als reale Eigenschaften, als»Akzidentien« an ihr, sondern gehören einem selbständigen, rein ideellenGebiet an. Beides zusammengehalten: Der Schritt von der Stoffprobe zumechten Zeichen und die prinzipielle A b lös bar ke i t des Zeichens von denDingen, für die es als Zeichen fungiert, macht erst die Besonderheit und dencharakteristischen Sinn und Wert der menschlichen Sprache aus.324 Und ebendiese beiden Momente sind es nun auch, auf denen der weitere Fortgang: derFortgang von den »Wortzeichen« der Sprache zu den reinen »Begriffszeichen«der theoretischen Wissenschaft wesentlich beruht. In dieser letzteren istvollendet, was in den ersteren begonnen und angelegt war.“ (PsF III, 388)

Die sinnlichen Zeichen und Wortzeichen im Bereich des natürlichen Weltbegriffs bilden in

weitester Ausbildung die Sprachbegriffe, die nach Cassirer keine ‚echten‘ Begriffe sind.

Hierin liegt nun auch die Grenze der sprachlichen Begriffsbildung.

Die Zahl oder das Zahlzeichen wird erst im Bereich der Bedeutungsfunktion zum

Zahlbegriff, das heißt, Begriffe können im Bereich der Bedeutungsfunktion vollständig

gebildet werden. Dies besagt aber auch, dass Cassirer erst in diesem Bereich

wissenschaftliche Begriffe zulässt. Hierfür ist die Entstehung der griechischen Mathematik

das beste Beispiel, denn sie zeigt, wie sich die Zahl von der anschaulichen Wirklichkeit

absondert. Die Entstofflichung von Zeichen oder die Ablösbarkeit des Zeichens von den

Dingen sind die Schlüsselworte für die Kennzeichnung der Begriffe der reinen Bedeutung

im Bereich der wissenschaftlichen Erkenntnis, und damit zieht Cassirer die Grenze

zwischen dem natürlichen und dem wissenschaftlichen Weltbegriff.

324 Cassirer verweist hier auf Karl Bühler, Die Krise der Psychologie. Jena 1927, S. 51 ff.; vgl. auch Peters(1983), S. 131. Peters schildert, dass Cassirer „zur Unterscheidung von Begriff und Gegenstand imallgemeinen und von ,Sinn‘ und ‚Bedeutung‘ an Eigennamen eine gewisse Hilfestellung in demBegriffspaar von ,Zeichen‘ und ,Stoff‘ von Ernst [sic! Karl] Bühler gesucht “ hat.

142

3.3.2. Die Begriffsbildung in der wissenschaftlichen Erkenntnis

Eine definitorische Erklärung Cassirers über die Wissenschaft lautet:

„Die Wissenschaft muß, sobald sie zur kritischen Einsicht in ihr eigenesVerfahren gelangt ist, sobald sie dasselbe nicht nur übt, sondern auch begreift,jeden Versuch abwehren, eine Gleichheit oder Ähnlichkeit zwischen i h r enGegenständen und denen der »unmittelbaren« Wahrnehmung oder Anschauungherzustellen. Sie erkennt, daß die einen sich zwar durchgängig auf die andernbeziehen, aber daß sie sich niemals auf sie zurückführen lassen. Denn jedesolche Rückführung würde gerade die spezifische Leistung deswissenschaftlichen Denkens rückgängig machen — würde das Begreifen derWelt und des Weltzusammenhanges in eine bloße Verdoppelung desgegebenen verwandeln.“ ( PsF III, 373)

Diese Ansicht Cassirers ist eigentlich entscheidend für seine ganze Begriffstheorie. Seine

Theorie der wissenschaftliche Begriffsbildung und damit verbundene kritische Äußerungen

gegen zum Beispiel den sensualistischen Empirismus können in diesem Punkt vereinigt

werden.

Die wissenschaftliche Begriffsbildung beginnt nicht erst im Bereich der

Bedeutungsfunktion, sondern bereits im Bereich der Ausdrucks- und der

Darstellungsfunktion, wo die Anschauung, die Empfindung und die Vorstellung „Zeugen

der Wirklichkeit“ (PsF III, 330) sind. Wie oben gezeigt, ist die Begriffsbildung ein Prozess,

in dessen Verlauf das ‚Denken‘ und ‚Sein‘ beziehungsweise das Bewusstsein und der

Gegenstand zwar ständig miteinander konfrontiert werden, aber erst unter der

symbolischen Beziehung des Denkens zur Begriffsbildung gelangen.

Cassirer ist hierbei von der Auffassung der primären Aufgabe des wissenschaftlichen

Begriffs ausgegangen, die lautet, dass der Begriff „eine Regel der Bestimmung aufstellt,

die sich am Anschaulichen zu bewähren und im Kreise des Anschaulichen zu erfüllen hat“

(PsF III, 330). Er ist der Ansicht, wenn die Regel der Bestimmung für die Welt der

Anschauung gelten soll, kann die Regel nicht einfach als bloßer Bestand wie eine Kopie

der Welt der Anschauung angehören, sondern sie muss der Welt der Anschauung

gegenüber „ein Eigenartiges und Selbständiges“ bedeuten (PsF III, 331), obschon man den

Sinn des Begriffs in der Anfangsphase nur an der Materie des Anschaulichen bekunden

und bezeugen kann. Damit kann man festhalten, dass Cassirer wie in SuF weiterhin in PsF

die Abbildungstheorie strikt ablehnt.

Wie bereits erwähnt, sind Empfindung, Vorstellung und Anschauung ‚Zeugen‘ der

143

Wirklichkeit und sie werden als nächste Stufe vor ein neues ‚Forum‘, das des Begriffs und

des reinen Denkens gefordert. Dieses Forum gehört nach Cassirer den Anfängen jeder

wissenschaftlichen Weltbetrachtung an, denn der Gedanke begnügt sich nicht damit, das

Gegebene in der Wahrnehmung oder Anschauung einfach in Sprache zu übersetzen,

sondern er vollzieht hier „eine charakteristische Formveränderung, eine geistige

Umprägung“ (PsF III, 330). Die Regel der Bestimmung, die der wissenschaftliche Begriff

aufstellt, soll hier nicht einfach ‚gesetzt‘ werden, sondern sie wird in dieser Setzung als

eine ‚universelle Denkleistung‘ erfasst und als solche durchschaut, und dadurch wird eine

neue Form des Durchblicks, der geistigen Perspektive erschaffen. Die Theorie kann, so

Cassirer, nur dadurch Wirklichkeitsnähe erreichen, dass „sie eine bestimmte Distanz

zwischen sich und die Wirklichkeit setzt“:

„Die Gestalten, innerhalb deren das natürliche Weltbild verharrt und kraftderen es seine Formung gewinnt, bilden sich erst vermöge diesereigentümlichen Distanzierung zu streng theoretischen Begriffen um.“ (PsF III,332)

Die erste Leistung des Begriffs besteht folglich darin, dass er die Momente, auf denen die

anschauliche Wirklichkeit beruht, erfasst und diese zugleich in ihrer spezifischen

Bedeutung erkennt.325 In der Übergangsphase, also von der ‚Wirklichkeit‘ zur ‚Wahrheit‘,

tauchen für Cassirer Probleme auf, da hier der endgültige Bruch mit dem bloßen Dasein

und seiner Unmittelbarkeit vollzogen wird. In dieser Phase ist ein anderes kritisches

Verhältnis an die Stelle des ‚naiven‘ Verhältnisses zwischen Begriff und Anschauung

innerhalb des natürlichen Weltbegriffs getreten. Folglich werde jetzt nach einem

universellen Maßsystem gefragt:

„Die Erkenntnis löst die reinen Beziehungen aus der Verflechtung mit derkonkreten und individuell-bestimmten »Wirklichkeit« der Dinge heraus, um siesich rein als solche in der Allgemeinheit ihrer »Form«, in der Weise ihresBeziehungs-C har ak t e r s zu vergegenwärtigen. Es genügt ihr nicht mehr, dasSein selber in den verschiedenen Richtungen des beziehentlichen Denkens zudurchmessen, sondern sie fordert und sie erschafft sich für diesen Prozeß auchein universelles Maßsystem. Dieses System ist es, das im Fortgang destheoretischen Denkens immer fester gegründet und immer umfassendergestaltet wird.“ (PsF III, 332 f.)

325 Cassirer verweist hier auf Platon, PsF III, S. 332: „Die Beziehungen, die im anschaulichen Daseinimplizit, in der Form bloßer Mit-Gegebenheit, gesetzt wird [sic! werden], werden von ihm [Platon]entfaltet; sie werden losgelöst und in dem reinen An-Sich ihrer Geltung [...] hingestellt.“

144

Dieses universelle System wird dann im Fortgang der theoretischen oder

wissenschaftlichen Erkenntnis mit der Wahrheitsfrage immer enger verbunden sein. Somit

wird deutlich, dass bei Cassirer der Bereich des natürlichen Weltbegriffs, in den Sphären

der Ausdrucks- und Darstellungsfunktion, mit der Wirklichkeitsfrage und der Bereich des

wissenschaftlichen Weltbegriffs, in der Sphäre der Bedeutungsfunktion, mit der

Wahrheitsfrage verknüpft ist. Er meint, die Wahrheitsfrage scheine in der ersten Stufe nur

einzelne Teile der Wirklichkeit, nicht sie selbst als Ganzes betreffen zu können. Die

‚Realität‘ beginnt auch erst innerhalb dieses Ganzen sich vom Schein klar zu sondern: „Er

[der Wahrheitsbegriff] begnügt sich nicht damit, einzelne Inha l t e des ‚natürlichen

Weltbegriffs‘ in Frage zu stellen, sondern er greift seine S ubs t anz , seine Gesamtform

selbst an.“ (PsF III, 330) Denn der theoretische Begriff ist kein Spiegel, der die Welt der

Gegenstände überschaut und deren Ordnung widerspiegelt. Die Synopsis des

Mannigfaltigen muss „durch eigene und selbständige Tätigkeiten des Denkens, gemäß den

in ihm selber liegenden Normen und Kriterien, hergestellt werden“ (PsF III, 333). Die

Bestimmung der Wahrheit ist somit ein Grund- und Leitziel aller Begriffsbildung, und alle

„besonderen Setzungen, alle einzelnen Begriffsstrukturen, sollen sich zuletzt einem

einheitlichen allbefassenden Denkzusammenhang einfügen“. Diese Aufgabe ist dann

erfüllbar, wenn sich der Gedanke „ein neues Organ “ (PsF III, 333), das heißt, ein neues

Zeichen erschafft.326 Der Gedanke muss damit von den Gestaltungen der Welt der

Anschauung in ein ‚Reich der Symbole‘ übergehen, das er frei und selbständig errichtet. Er

entwirft jetzt „konstruktiv die Schemata, an denen und auf welche hin er die Gesamtheit

s e i ne r Welt orientiert“ (PsF III, 333). Nach Cassirer bedürfen diese Schemata eines

Haltes und einer Stütze, aber sie entnehmen sie nicht der empirischen Dingwelt, sondern

sie schaffen sie sich selbst:

„Dem System der Beziehungen und der begrifflichen Bedeutungen wird einInbegriff von Ze i c hen unterlegt, der so beschaffen ist, daß sich an ihm derZusammenhang der zwischen den einzelnen Elementen jenes Systemsobwaltet, übersehen und ablesen läßt.“ (PsF III, 333 f.)

Hier erscheint für Cassirer eines der idealen Ziele erreicht zu sein, denen das Denken

zustrebt, das heißt,

„daß jeder Verknüpfung, unter den Inhalten, auf die es sich richtet, eine326 Vgl. PsF I, S. 18: „Das Zeichen ist keine bloß zufällige Hülle des Gedankens, sondern sein notwendiges

und wesentliches Organ.”

145

Verknüpfung, eine bestimmte Operation in den Zeichen entspricht. Der»Scientia generalis« tritt die Forderung der »Characteristica generalis« zurSeite.“ (PsF III, 334)

Was Cassirer mit Characteristica generalis meint, lässt sich mit Hilfe seiner Erläuterungen

besser verstehen:

„Wenn er [Leibniz] also eine Grundwissenschaft von Charakteren oder Zeichenerstrebt, so muß man von vornherein annehmen, daß ihm diese nur insoweitBedeutung haben, als sie wissenschaftliche Methoden und damitgegenständliche Beziehungen darstellen. ,Jeder Operation in den Charakterenentspricht eine bestimmte Aussage in den Gegenständen‘ [...]. Die Charakteresollen wesentlich die Ausdrücke der möglichen gedanklichen Relationenzwischen Inhalten sein – vor allem der Grundrelationen der Mathematik. DieForderung, die Begriffe nicht vorauszusetzen, sondern sie aus der allgemeinenCharakteristik abzuleiten, wird damit verständlich. Sie bezeichnet dieErkenntnis, die bereits in anderem Zusammenhange gewonnen wurde: daßnämlich der Begriff nicht etwas Absolutes für sich ist, sondern nur einAusdruck, in dem wir die Möglichkeit logischer Relationen antizipieren.Während der Begriff für die gewöhnliche Auffassung eine Art abgeschlossenerlogischer Existenz besitzt, zu dem die Relation nachträglich als etwasÄußerliches hinzutritt, ist er für Leibniz zum Inbegriff möglicher Beziehungengeworden – von Beziehungen übrigens, die nicht gegeben, sondern durch dieErkenntnis erst zu gewinnen sind. Die Grundrelationen nun, aus denen dieBegriffe erschaffen werden, zu isolieren und systematisch darzustellen: dies istdie eigentliche, sachlogische Aufgabe der allgemeinen Charakteristik.“ (LS,135 f.)327

In dieser Charakteristik setze sich die Arbeit der Sprache328 fort, aber sie trete zugleich in

327 Die Erläuterungen von Cassirer zeigen, dass sein Gedanke zum Teil unter dem Einfluss von Leibnizsteht. vgl. auch LS, S. 110: „Die Auffassung der Definition als bloß sprachlicher Konvention ist in ersterLinie durch den Gedanken nahegelegt, daß insbesondere die mathematische Erkenntnis für den exaktenAusdruck der Theoreme und Beweise auf die Entwicklung eines festen Systems von Zeichen angewiesenist. Es ist bekannt, von welcher Bedeutung dieser Gedanke in dem Entwurf der allgemeinenCharakteristik für Leibniz geworden ist. Alles Denken, in so abstrakter Reinheit es sich auch darstellenmag, bedarf zu seiner Anwendung des sinnlichen Materials bestimmter Charaktere, an das es daher auchseinem Ursprung und seiner Geltung nach gebunden zu sein scheint.“; vgl. Ferrari (1988b); vgl. auchMittelstraß (EPW 1995), scientia generalis , Bd. 3, S. 741 f.

328 In dieser Phase tritt die Sprache in eine neue logische Dimension ein, das heißt, sie ist als Ausdruck derlogischen Beziehungsformen in die vierten Phase eingetreten. Cassirer hat die Sprache auch als eineStufenfolge betrachtet: 1. Die erste Stufe der Sprache: in der Phase des sinnlichen Ausdrucks ist dieUnterscheidung zwischen Mimik, Pantomimik, Gestik, Interjektion grundlegend. 2. In der Phase desanschaulichen Ausdrucks wird sprachlich die räumliche und zeitliche Gegenstandwelt aufgebaut. 3. DieSprache als Ausdruck des begrifflichen Denkens: gegen nominalistische Inanspruchnahme der Sprache.4. Die Sprache als Ausdruck der logischen Beziehungsformen. „Es ist zu erwarten, daß auch in derSprache sich dieselbe unlösliche Korrelation der geistigen Mittel, mit denen sie ihre Welt aufbaut,bewähren wird, daß auch hier jedes ihrer besonderen Motive schon die Allgemeinheit ihrer Form unddas spezifische G a n z e dieser Form in sich schließen wird. Und dies bewährt sich in der Tat darin, daßnicht das einfache Wort, sondern der S a t z das eigentliche und ursprüngliche Elemente allerSprachbildung ist.“ (PsF I, S. 280).

146

eine neue logische Dimension ein:

„Denn die Zeichen der Charakteristik haben alles bloß-Ausdrucksmäßige, allesanschaulich-Repräsentative von sich abgestreift. Sie sind zu reinen»Bedeutungszeichen« geworden. Damit stellt sich eine neue Weise des»objektiven« Sinnbezugs dar, die sich von jener Art der ,Beziehung auf denGegenstand‘, wie sie in der Wahrnehmung oder in der empirischenAnschauung besteht, spezifisch unterscheidet.“ (PsF III, 334)

Die Momente dieses Unterschieds zu erfassen muss die erste Aufgabe der Analyse der

Begriffsfunktion sein:

„In jedem Begriff, wie immer er im einzelnen beschaffen sein mag, lebt undherrscht gewissermaßen ein einheitlicher Erkenntniswille, dessen Richtung undTendenz es als solche zu ermitteln und zu verstehen gilt. Erst wenn das Wesendieser a l l ge me i ne n Form des Begriffs geklärt und wenn es von der Eigenartder wahrnehmenden und der anschauenden Erkenntnis scharf abgehoben ist,läßt sich der Fortgang zu den besonderen Aufgaben vollziehen, läßt sich vomGanzen der Begriffsfunktion zu ihren einzelnen Auswirkungen und Aus-gestaltungen übergehen.“ (PsF III, 334)

Deutlicher als an anderer Stelle wird hier, dass Cassirer die allgemeine Form des Begriffs

und den Begriff als Begriffsfunktion aufzustellen versucht.

Er zieht, wie oben gezeigt, die Grenze zwischen dem natürlichen Weltbegriff und dem

wissenschaftlichen Weltbegriff darin, dass dieser reine Bedeutung besitzt, denn er hat bloß

Ausdrucksmäßiges, alles anschaulich Repräsentative von sich abgestreift. Das heißt, dass

der wissenschaftliche Begriff vom Bereich der Ausdrucksfunktion aus über den der

Darstellungsfunktion bis in den Bereich der Bedeutungsfunktion hinein ohne Bruch

aufgebaut wird. Empfindung, Vorstellung und Anschauung sind Zeugen der Wirklichkeit

und die logischen Begriffe und das reine Denken sind Mittel des Weges zur Wahrheit. Um

den Weg zur Wahrheit erschaffen zu können, muss der Gedanke von der Gestaltung der

Welt der Anschauung in das ‚Reich der Symbole‘ übergehen. So werden die sinnlichen

Symbole zu intellektuellen Symbolen, und Wortzeichen werden zu Begriffszeichen. Die

reinen Bedeutungszeichen sind wissenschaftliche Begriffe und zugleich intellektuelle

Symbole. Der Funktionsbegriff und das intellektuelle Symbol haben an diesem Punkt

gemeinsam, dass sich beide von der sinnlich-empirischen Wirklichkeit abheben. Damit

wird auch deutlich, welche Bedeutung Cassirer an dieser Stelle der Funktion des Denkens

oder der Tätigkeit des Geistes zukommen lässt.

147

3.3.3. Gegenstand als funktionale Einheit

Die Funktion der Wahrnehmung und Anschauung, der Cassirer eine spezifische Bedeutung

verleiht, wird für den Aufbau der Theorie des Begriffs in PsF unentbehrlich, und dies ist im

Vergleich zu SuF deutlich erkennbar.329 Es werden daher in diesem Abschnitt Cassirers

Grundansicht der Anschauung und das damit verbundene Gegenstandsproblem kurz

dargestellt.

Cassirer betont in seinem Aufsatz Zur Logik des Symbolbegriffs, was er dem Sensualismus

und was er jeder reinen Erfahrungsphilosophie unbedingt zugebe, sei der Satz, dass

„Begriffe ohne Anschauungen leer sind“.330 Bedenkt man, dass Cassirer die ‚Psychologie

der Abstraktion‘ des sensualistischen Empirismus strikt ablehnt, ist es bemerkenswert, dass

er an dieser Stelle nun die Rolle der Anschauung, in Form der ‚konkreten‘ Anschauung,

hervorhebt:

„Aus konkreten Anschauungen baut sich die Welt des Mythischen, derReligion, die Welt der Kunst und die der theoretischen Erkenntnis auf. Die‚Philosophie der symbolischen Formen‘ gibt daher zu, daß auch all das, waswir in irgend einem Sinne ‘geistig‘ nennen, seine konkrete Erfüllungschließlich in einem Sinnlichen finden muß, daß es nur an ihm und mit ihmerscheinen kann. Sie leugnet nicht, sondern sie betont vielmehr, daß es eineWelt des Gesehenen, Gehörten, Getasteten, eine Welt optischer, akustischer,haptischer Phaenomene gibt, an der und mittelst welcher aller ,Sinn‘, alles, waswir Erfassen, Verstehen, Anschauen, Begreifen nennen, sich alleinmanifestieren kann.“ (ZLS, 210)

Die Form der anschaulichen Wirklichkeit baut sich aus den einzelnen Momenten dadurch

auf, dass zwischen den Momenten ein Verhältnis der „Mitsetzung“ stattfindet (PsF III,

334). Unter Mitsetzung wird hier verstanden, dass das einzelne Moment als ein nicht

Isoliertes auf die Gesamtheit der Erfahrungsinhalte hinweist und sich mit ihnen zu

bestimmten Sinnganzheiten zusammenschließt. Die einzelnen Erfahrungen ‚weben‘ sich in

dieser Weise ‚zum Ganzen‘.331

329 Vgl. PsF III, Vorrede, S. VIII, Kap. II vom ersten Teil und Kap.VI vom zweiten Teil; auch Zur Logikder Kulturwissenschaften [ZLK], S. 63.

330 ZLS, S. 210; bei Kant (W1990), S. 98. KrV, B 75/A 51 heißt es: „Gedanken ohne Inhalt sind leer,Anschauungen ohne Begriffe sind blind“.

331 Vgl. PsF III, S. 335: „Jeder Einzelinhalt muß, um räumlich bestimmt zu werden, am Ganzen gemessen,muß auf bestimmte typische Raumgestaltungen bezogen und ihnen gemäß gedeutet werden. Man kannschon diese Deutungen, wie sie in der Zeichensprache der sinnlichen Wahrnehmung sich vollziehen, alsprimäre Leistungen des »Begriffs« ansehen. Denn in der Tat enthalten sie bereits e i n Moment, das ganzin der Richtung auf den Begriff und auf seine eigentlich-grundlegende Leistung liegt. Sie ordnen dasEinzelne und Besondere einem bestimmten »Inbegriff« ein und sie sehen in ihm die Darstellung ebendieses Inbegriffs selbst. Je weiter die anschauliche Erkenntnis auf diesem Wege fortschreitet, um so

148

Cassirer hebt im Zusammenhang mit der konkreten Anschauung die Wahrnehmungstheorie

von Helmholtz hervor. Der Helmholtzschen Auffassung zufolge liegt die Leistung des

logischen Begriffs darin, dass er die gesetzliche Ordnung, die schon in der Erscheinung

selbst liegt, fixiert. Cassirer interpretiert die bloß anschauliche ‚Vorstellung‘332 bei

Helmholtz als eine, die die Rolle eines aus sinnlichen Anschauungsbildern

zusammengefassten Begriffs spielt, der „nicht notwendig durch in Worten ausdrückbare

Definitionen, wie sie der Geometer sich konstruieren könnte, sondern nur durch die

‚lebendige Vorstellung des Gesetzes‘, nach dem die mannigfachen perspektivischen Bilder

eben dieses körperlichen Dinges einander folgen, zusammengehalten wird“ (PsF III, 336).

Die anschauliche Vorstellung ist somit als ‚lebendige Vorstellung des Gesetzes‘

anzusehen, und so muss die Vorstellung von einem individuellen Objekt schon als ein

Begriff bezeichnet werden. Dies heißt wiederum für Cassirer, dass „die Begriffsfunktion

mitten in den Wahrnehmungsprozeß selbst verlegt“ ist. Dies sei eine anderweitige

Auffassung, die „dem gewöhnlichen Sprachgebrauch der traditionellen Logik nicht

entspricht“ (PsF III, 336).

Cassirer ist jedoch der Ansicht, dass der Begriff in seinem spezifisch-logischen Charakter

von den ‚anschaulichen Begriffen‘, die Anschauungsbilder sind, unterschieden werden

muss. Denn die Bedeutung des Begriffs soll nicht mehr an einem anschaulichen Substrat

haften, sondern „sie wird als solche in einem bestimmten R e la t i onsge f üge , innerhalb

eines Systems von »Urteilen« und »Wahrheiten«, gedacht“. (PsF III, 372) Die

Gegenstandsbildung fasst für Cassirer zunächst das objektive Sein als ein anschauliches

Sein, als ein solches, das die Grundordnung der Anschauung ist. Die wissenschaftliche

Erkenntnis schreitet dadurch fort, dass sie für sich das Band zwischen dem Begriff und der

Anschauung lockert, das heißt, der Begriff ist nicht mehr an die Wirklichkeit der Dinge

gebunden, sondern er wird zur freien Konstruktion des ,Möglichen‘. Die reine Theorie ist

mehr gewinnt jeder ihrer Sonderinhalte die Kraft, die Totalität der übrigen zu vertreten und sie mittelbar»sichtig« zu machen. Faßt man diese Vertretung als bestimmend und charakteristisch für dieBegriffsfunktion ü b e r h a u p t auf, so kann kein Zweifel sein, daß schon die Welt der Wahrnehmungund die der räumlich-zeitlichen Anschauung diese Funktion nirgends entbehren kann.“

332 Vgl. Schiemann (1997), S. 265. Helmholtz versteht unter Vorstellung nicht eine begrifflich verfassteErkenntnis, sondern das „Erinnerungsbild von Gesichtsobjecten, welches von keinen gegenwärtigensinnlichen Empfindungen begleitet ist“ (Schiemann zitiert hier Helmholtz, Handbuch derPhysiologischen Optik, 1856/1860/1867, S. 435); vgl. auch Schiemann (1997), S. 269. DerVerwendungszusammenhang des Vorstellungsbegriffs, „in dem von der Gesetzmässigkeit der Zeitfolgeund den ,Gesetzen unseres Denkens‘ die Rede ist“, verweist aber auch auf die wissenschaftlicheErkenntnis; vgl. Schiemann (1997), S. 273. Die wissenschaftliche Erkenntnis und alltäglicheWahrnehmung sind bei Helmholtz nicht scharf voneinander unterschieden. Man soll aber beide nichteins setzen, denn „Gesetze“ sind bei Helmholtz „mathematisch darzustellende Zeitverhältnisse, diezwischen kausalverknüpften Ereignissen bestehen, sich eindeutig erfassen lassen, keinerVersinnbildlichung bedürfen und als empirische Aussagen weiterhin deutlich von substantiellenUrsachen, den materiellen Elementen und den zwischen ihnen wirkenden Kräften, unterschieden sind.“

149

möglich, wenn das reine Denken sich von der Anschauung loslöst und „zu Gebilden

fortgeht, die prinzipiell unanschaulicher Natur sind“ (PsF III, 372). Damit wird deutlich,

dass Cassirer die Rolle der konkreten Anschauung nur im Bereich der

Darstellungsfunktion, in der er von Darstellungssinn spricht, als Unentbehrliches

hervorhebt. Denn der ‚Sinn‘ des anschaulichen Begriffs soll sich innerhalb des logisch-

wissenschaftlichen Begriffs in reine ‚Bedeutung‘ umwandeln. Dies geschieht durch die

Entstofflichung der Zeichen, und damit werden sie zu reinen Bedeutungszeichen. (vgl.

3.3.1; 3.3.2)

Das Anschauungsproblem entsteht nach Cassirer gewöhnlich, weil man die Grenze

zwischen Anschauung und Begriff in der Weise zieht, „daß man die Anschauung als

»unmittelbare« Beziehung auf den Gegenstand nimmt und von ihr das mittelbare

»diskursive« Verfahren des Begriffs unterscheidet“ (PsF III, 337 f.). Er selbst will bereits

die Anschauung als diskursiv ansehen, denn sie bleibt nicht beim Einzelnen stehen,

sondern strebt nach einer Totalität, die dadurch erreicht wird, dass sie eine

Mannigfaltigkeit von Elementen durchläuft, um sie zuletzt in einem Blick zu versammeln.

Wenn Anschauung so verstanden wird, dann stellt der Begriff „gegenüber dieser Form der

anschaulichen Synthesis eine neue und höhere Potenz des »Diskursiven« auf“ (PsF III,

338 ). Folglich behauptet Cassirer:

„Die Anschauung geh t bestimmte Wege der Verknüpfung – und hierin bestehtihre reine Form und ihr Schematismus. Der Begriff jedoch greift nicht nur indem Sinne über sie hinaus, daß er von diesen Wegen w e i ß , sondern daß erselbst sie w e i s t : e r be sch r e i t e t nicht nur einen schon angebauten, schonbekannten Weg, sondern er hilft ihn be re i t en .“ (PsF III, 338)

Somit ist der Begriff eine „Funktion der Bahnung selbst“ (ibd.), denn er folgt nicht den

festen, schon bekannten Richtlinien.

Die traditionelle formale Logik sucht für Cassirer die Allgemeinheit in den

hervorstehenden Merkmalen, und daher entspricht die Allgemeinheit nur dem von ‚vielen

Gemeinsamen‘. Diese Allgemeinheit wird aber in der traditionellen formalen Logik als die

notwendige Bedingung des Begriffs angesehen. Wenn man unter dem Begriff mit Kant die

Einheit der Regel verstehe, unter der eine Mannigfaltigkeit von Inhalten

zusammengehalten und in sich selbst verknüpft werde, dann werde deutlich, dass schon der

Aufbau der Wahrnehmungs- oder Anschauungswelt einer Einheit nicht entbehren könne.

Denn durch die Einheit der Regel tritt zum einen innerhalb der Anschauung ein bestimmtes

150

Gebilde heraus, zum anderen werden in der Anschauung feste Zugehörigkeiten geschaffen.

Entscheidend ist dabei, dass die Erscheinungen eine gemeinschaftliche Funktion erfüllen,

will heißen, dass „sie auf einen bestimmten Zielpunkt ge r i ch t e t sind und auf ihn

hinweisen“ (PsF III, 337). Die Form dieses Hinweisens ist jedoch in der sinnlich-

anschaulichen Welt von dem, wie wir es in der Welt des logischen Begriffs vorfinden,

verschieden: „Denn der Hinweis, der in der Wahrnehmung oder Anschauung nur geüb t

wird: er soll im Begriff gewuß t werden. Diese neue Art der Bewuß t he i t ist es, die den

Begriff, als Gebilde des reinen Denkens, erst wahrhaft konstituiert.“ (ibd.) Auch die Inhalte

der Wahrnehmung und die der reinen Anschauung können ohne eine charakteristische

Form der Bestimmung und einen Gesichtspunkt nicht gedacht werden. Dabei soll der Blick

der Wahrnehmung oder Anschauung auf den miteinander verglichenen oder einander

zugeordneten Elementen selbst ruhen, nicht aber auf der Art, auf dem Modus ihrer

Zuordnung. Erst der logische Begriff ist es, der diesen Modus der Zuordnung selbst

heraushebt. Damit befindet man sich im eigentlichen Bereich des Denkens, wo die

spezifische Art der Reflexion geübt wird. Diese Reflexion tritt ein, wo der logische Begriff

jene Umwendung vollzieht, „kraft deren das Ich sich von den Objekten, die in einer Sicht

stehen und vermöge ihrer erfaßt werden, der Weise des Sehens, dem Charakter der Sicht

selbst zuwendet“ (ibd.). Hieraus ergibt sich zum einen die „prägnante“ Bedeutung, „die

dem Begriff innerhalb des Problems der »symbolischen Formung« zukommt “ (ibd.), und

zum anderen, dass das Problem selbst in eine andere logische Dimension eintritt.

Cassirers Korrelationsgedanke tritt auch im Verhältnis zwischen Anschauung und Verstand

hervor. Diese sollen wie ein ineinander verwobenes Symbolnetz, logisch korrelativ333

funktionieren, wodurch die Invarianten der Wahrnehmung beziehungsweise die

perzeptorische Konstanz hervorgehoben werden können (vgl. 4.3). Cassirer erkennt, wie

bereits erwähnt, die Leistung des Begriffs schon in der Wahrnehmungs- und der

333 Vgl. SuF, S. 108 f. Cassirer unterscheidet angelehnt an Poncelet drei verschiedene Grundformen desVerfahrens der Korrelation: „Wir können eine bestimmte Figur, die wir als Ausgangspunkt wählen, ineine andere überführen, indem wir alle ihre einzelnen Teile sowie deren wechselseitige Ordnungfesthalten, so daß der Unterschied also ausschließlich in der a b s o l u t e n G r ö ß e derBestimmungsstücke besteht. In diesem Falle werden wir von einer d i r e k t e n Korrelation sprechenkönnen, während für den Fall, daß die O r d n u n g der einzelnen Teile sich in der abgeleiteten Figurvertauscht oder umkehrt, nur von einer ‚indirekten‘ Korrelation gesprochen werden soll. Schließlichaber — und dies ist methodisch der interessanteste und wichtigste Fall — kann die Umformung auch inder Weise vor sich gehen, daß gewisse Elemente, die in der anfänglichen Gestalt als reale Bestandteileaufweisbar waren, im Verlauf des Gesamtprozesses völlig verschwinden. Betrachten wir etwa einenKreis und eine Gerade, die ihn schneidet, so können wir dieses geometrische System durch stetigeVerschiebungen derart umgestalten, daß die Gerade zuletzt ganz außerhalb des Kreises fällt und somitdie Schnittpunkte, sowie die ihnen entsprechende Richtung der Radien durch imaginäre Werteauszudrücken sind. Die Zuordnung der abgeleiteten Figur zur ursprünglichen verknüpft jetzt nicht mehrtatsächlich vorhandene und für sich aufzeigbare, sondern lediglich gedachte Elemente; sie hat sich ineine rein i d e a l e K o r r e l a t i o n aufgelöst.“

151

Anschauungswelt an und macht diese zu einem Ausgangspunkt in seiner Begriffstheorie:

„Das, was wir die symbolische Formung der Wahrnehmungs- und derAnschauungswelt nannten, [setzt] keineswegs erst beim »abstrakten« Begriff,geschweige erst bei einer der höchsten Ausprägungen desselben, beim exakt-wissenschaftlichen Begriff ein [...]. Wir mußten, um die Art dieser Formungund ihre Grundrichtung zu verstehen, den Punkt der Frage weit tiefer ansetzen:wir mußten aus den Dimensionen des wissenschaftlichen Weltbegriffs in diedes ‚natürlichen Weltbegriffs‘ zurückgehen.“ (PsF III, 347 f.)

Auch an anderen Stelle (vgl. ZLK, 63) äußert er, dass man, um den Unterschied zwischen

Naturwissenschaft und Kulturwissenschaft mit Schärfe bezeichnen zu können, von der

Begriffsstruktur auf die Wahrnehmungsstruktur zurückgehen muss.

In SuF bildeten Geltung und Anwendbarkeit des Begriffs die Kriterien für die traditionelle

formale Logik, wobei es um den Begriff der Objektivität innerhalb der mathematischen

Naturwissenschaft ging. In PsF will Cassirer nun, wie bereits erwähnt, das Gebiet der

‚Logik der gegenständlichen Erkenntnis‘ bis in die Kulturwissenschaft erweitern, indem er

sie stufenweise mit der Funktion des Symbols und des Zeichens verknüpft. Um zur

objektiven Gültigkeit der Gegenstände zu gelangen, geht Cassirer von Kants

Unterscheidung zwischen Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteilen aus.334 Er betrachtet

jedoch diese Unterscheidung Kants nicht als die „endgültig systematische Lösung des

Objektivitätsproblems“ (EP II, 665). In PsF kritisiert er im Zusammenhang mit der

Symbolfunktion diese Unterscheidung und versucht darüber hinaus das kantische

Objektivitätsproblem der Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteile zu überwinden (vgl.

3.5.2).

Der Begriff des Gegenstands in der kritischen Philosophie setzt die Geltung allgemeiner

und notwendiger Regeln voraus. Cassirer legt bei seiner Kantinterpretation auf diesen

Zusammenhang großen Wert.335 Bei Kant sind Gegenstände mit Gegenständen der

Erfahrung gleichzusetzen, weil nur sie als solche objektiv erkannt werden können. Damit

etwas als Gegenstand der Erfahrung erkannt werden kann, ist es erforderlich, dass es

apriori unter gewissen allgemeinen und notwendigen Bedingungen steht. Diese

Bedingungen wiederum bilden auch die Voraussetzungen dafür, dass empirische Urteile

über Objekte der Erfahrung überhaupt möglich sind. Sie gestalten sich aus Regeln oder

Gesetzen apriori, welche die Notwendigkeit und Allgemeinheit der Verknüpfung von

334 Vgl. EP II, S. 664: „Der neue Sinn der Gegenständlichkeit, auf den die Frage abzielt, wird in dieserUnterscheidung der Bedeutung der Urteile gegründet.“

335 Vgl. Ihmig (1997a), S. 164.

152

Wahrnehmungen oder Vorstellungen möglich machen, und diese Notwendigkeit und

Allgemeinheit der Verknüpfung stellt dann die Objektivität des Verknüpften sicher.336

Cassirer sieht es als die eigentliche Leistung des Begriffs in Kants transzendentaler Logik

an, dass der Begriff nicht bloß als Abbild der sinnlich-anschaulichen Welt zu betrachten

ist. Der Begriff ist bei Kant „zu einer Voraussetzung der Erfahrung und damit zu einer

Bedingung der Möglichkeit ihrer Objekte“ geworden (PsF III, 367). Das Problem des

Verhältnisses von Begriff und Gegenstand hat nach Cassirer durch Kants Kritik der reinen

Vernunft einen prinzipiell veränderten methodischen Sinn erhalten. Diese Wandlung sei

dadurch möglich gewesen, dass Kant an diesem Problem den Übergang von der

‚allgemeinen‘ Logik zur ,transzendentalen‘ Logik vollzogen habe. Die Gegenstandsfrage

sei für Kant eine Geltungsfrage nach dem quid juris (vgl. PsF III, 367).

Durch die Rückbeziehung des Begriffs- und Gegenstandsproblems auf das Problem der

synthetischen Einheit bei Kant ist der Begriff nicht mehr als Gattungsbegriff, als

‚conceptus communis‘ zu sehen. Denn diesem fehle das charakteristische und

entscheidende Moment: er sei ein bloßer Ausdruck der analytischen, nicht der

synthetischen Einheit des Bewusstseins. Die ältere Metaphysik nehme die Einheit des

Dings als ‚substantielle‘ Einheit, und das Ding sei ihr dasjenige Identische, das im Wechsel

der Zustände beharrt. Es steht diesen Zuständen, den ‚Akzidentien‘, als ein Selbständiges,

für sich Seiendes gegenüber. Die transzendentale Logik verwandele diese analytische

Einheit des Dings in eine synthetische:

„Das Ding ist ihr nicht mehr ein sozusagen stofflicher Faden, an dem dieveränderlichen Bestimmungen aufgereiht werden: sondern es drückt sich inihm vielmehr das Verfahren, es drückt sich in ihm die Fo r m der Reihungselbst aus.“ (PsF III, 368)

Cassirer verweist hier auf folgende Stelle in der Kritik der reinen Vernunft:

„Wenn wir untersuchen, was denn die Bez i ehung auf e inenGegens t a nd unseren Vorstellungen für eine neue Beschaffenheit gebe, undwelches die Dignität sei, die sie dadurch erhalten, so finden wir, daß sie nichtsweiter tue, als die Verbindung der Vorstellungen auf eine gewisse Artnotwendig zu machen, und sie einer Regel zu unterwerfen; daß umgekehrt nurdadurch, daß eine gewisse Ordnung in dem Zeitverhältnisse unsererVorstellungen notwendig ist, ihnen objektive Bedeutung erteilet wird.“337

336 Vgl. Ihmig (1997b), S. 74. 337 Kant (W1990), S. 232 f., KrV, A 197/ B 242 f.

153

So bildet die objektive Bedeutung, nicht das Objekt als absolutes Objekt, das zentrale

Problem. Es wird jetzt nicht nach der ‚Beschaffenheit‘ des Gegenstandes, als eines ,Dings

an sich‘, sondern nach der ‚Möglichkeit der Beziehung auf einen Gegenstand‘ gefragt.

Diese Beziehung kommt aber nur dadurch zustande, dass die Erkenntnis die einzelne

Erscheinung in den ‚Kontext‘ der Erfahrung verwebt.

Der Begriff vereint die Einzeldaten der Erfahrung in ein Kontinuum, indem er die ,Regeln

der Zuordnung‘ zwischen ihnen schafft und so ist auch die Anschauung eine Regel der

Zugehörigkeit: „Was die Anschauung als eine besondere Gestalt mit irgendwelchen

räumlichen Kennzeichen und Eigenschaften erfaßt, das erscheint jetzt in der Analysis des

Denkens auf eine allgemeine Regel der Zugehörigkeit zurückgeführt.“ (PsF III, 354) Dies

gilt laut Cassirer nicht nur für die mathematischen Begriffe, sondern es stellt einen

‚Wesenzug‘ aller echten begrifflichen Strukturen dar. Daher interpretiert er die Fassung des

Gegenstandesgedankens Kants als „eine strenge und genaue Korrelation von »Begriff« und

»Gegenstand«“ (PsF III, 370), und meint, dass ein Begreifen des Gegenstands als

Grundbeziehung der Erkenntnis, als „ein rein ideelles Verhältnis, ein Verhältnis des

B ed i ngens“ verstanden werden muss:

„Der Begriff bezieht sich auf das Objekt, weil und sofern er die notwendigeund unerläßliche Voraussetzung der Objektivierung selbst ist: weil er jeneFunktion darstellt, für die allein es Gegenstände, für die es konstanteGrundeinheiten im Wandel der Erfahrung geben kann.“ (PsF III, 370)

Das Begriffsproblem und das Gegenstandsproblem sollen somit nicht parallel behandelt

werden, sondern sich auf einen Punkt, auf das „Grundphänomen der »Repräsentation«“

(PsF III, 371) konzentrieren.

Der Gegenstand der Erkenntnis erhält seine bestimmte Bedeutung dadurch, dass er auf eine

bestimmte Form, auf eine Funktion der Erkenntnis bezogen wird. Diese Funktion steht „im

Verhältnis der korrelativen Entsprechung und der korrelativen Ergänzung“. So gestaltet sie

den systematischen Zusammenhang und bestimmt die Zusammenfassung neu, „in der

allein die Erklärung und Begründung des »Gegenstandes« der Erkenntnis gefunden werden

kann“ (PsF III, 374). Daher herrscht im Bereich der Geltung des Gegenstandes eine andere

Komplexion und „ein anderes »Ineinander« der verschiedenen Geltungsmomente und

Geltungsmöglichkeiten, als es in der Ebene des bloßen »Seins« zu denken wäre“ (ibd.).

Das Problem des Verhältnisses zwischen Begriff und Gegenstand entsteht nach Cassirer

durch den Umstand, dass man den Versuch unternimmt, ein ,prinzipiell-unanschauliches‘

154

Verhältnis durch Analogien erklären zu wollen. Denn die ‚Beziehung der Vorstellung auf

ihren Gegenstand‘ wird durch die Eigenart und den spezifischen Sinn der „reinen

B edeu t ungskategorie“ (PsF III, 380) konstituiert und diese Beziehung zwischen

Vorstellung und Gegenstand lässt sich nicht dadurch verständlich machen, dass man ihr

irgendwelche Seinsbestimmungen, wie zum Beispiel Bestimmungen der Gleichheit oder

Ähnlichkeit zwischen Dingen, unterschiebt. Gegenstände sind in erster Linie als subjektive

Zusammenfassungen von Erscheinungen gefasst. Daher wird eine Objektivierung der

Gegenstände verlangt, was bedeutet, dass diese subjektiven Erscheinungen durch Begriffe

‚objektiviert‘ werden sollen. Der Gehalt der Wahrnehmung muss ‚transzendiert‘ werden,

was aber keineswegs mit einer ontischen Transzendenz verwechselt werden darf. Der

Übergang soll „ein Übergang im S inn , nicht im S e i n “ (PsF III, 377) sein. In dieser

symbolischen Beziehung muss man, statt „auf irgendwelche Eigenschaften gegebener

Dinge, statt auf das Bild einer schon vorhandenen Wirklichkeit“, auf die reinen

Bedingungen der ‚Setzbarkeit‘ einer Wirklichkeit zurückgehen. Der reine Begriff gehört zu

diesen Bedingungen, und daher „kann sich das Denken in ihm und kraft seiner auf Objekte

beziehen, kann es gegenständliche Bedeutung für sich in Anspruch nehmen“ (PsF III, 380).

Wenn der Gegenstand als ,einer‘ gedacht werden soll,338 so ist diese Einheit auch eine

„f unk t iona l e Einheit“ (PsF III, 375), die sich fortschreitend aufbaut:

„So geht z. B. die Einheit des »Dinges« niemals in einer einzelnen»Erscheinung«, etwa in einer besonderen räumlichen Ansicht von ihm, auf, —sondern sie ist erst durch die Totalität der möglichen Ansichten und durch dieRegel ihrer Verknüpfung bestimmbar. Jede einzelne Erscheinung»repräsentiert« das Ding, ohne jemals, als einzelne, mit ihm wahrhaftko inz i d i e re n zu können. In diesem Sinne gilt auch für den »kritischen«Idealismus, daß die bloße »Erscheinung« notwendig über sich selbsthinausweist, daß sie ,Erscheinung von Etwas‘ ist. Aber dieses Etwas bedeutetkein neues absolutum, kein ontisch-metaphysisches Sein.“ (PsF III, 381)

Man kann an dieser Stelle deutlich erkennen, dass diese Einsicht Cassirers wiederum auf

SuF zurückgeht. Wie schon dort, so wird auch hier weiterhin die Ordnung und die Regel

im Verhältnis des Allgemeinen und des Besonderen in der Begriffsbildung betont:

„Das Einzelne, Diskrete besteht selbst nur in Hinsicht auf den Zusammenhang,den es in irgendeiner Form des Allgemeinen, mag darunter nun die

338 Vgl. PsF III, S. 381: „Die Funktion »gilt« für die Einzelwerte, eben weil sie kein Einzelwert »ist« — undandererseits »sind« die Einzelwerte nur, sofern sie zueinander in der durch die Funktion ausgedrücktenVerknüpfung stehen.“

155

Allgemeinheit des »Begriffs« oder die des »Gegenstandes« verstanden werden,besitzt — und eben so kann das Allgemeine sich nur am Besonderenmanifestieren und sich nicht anders denn als Ordnung und Regel für dasBesondere beglaubigen und bewähren.“ (PsF III, 381)

So sieht Cassirer sich letztlich, „um die spezifische Gültigkeit des Begriffs und um den

Charakter der empirischen Gegenständlichkeit zu verstehen“, auf die Bedeutungsfunktion,

die „ohne in sich selbst irgendwie gespalten zu sein, sich doch aus prinzipiell-

verschiedenen Sinn-Momenten aufbaut“, zurückgewiesen (ibd.).

3.3.4. Die Korrelation des Allgemeinen und Besonderen

Cassirers Standpunkt gegenüber dem Begriffsrealismus in SuF bleibt auch in PsF

unverändert, wobei er in PsF zudem Kritik an der Begriffslehre des sensualistischen

Empirismus und an der Mathematisierung der Logik übt. Bei der Mathematisierung der

Logik sieht er besonders die Mengentheorie als mangelhaft an: denn sie strebt „den Inhalt

eines Begriffs von seinem Umfang her zu erfassen und ihn zuletzt durch eben diesen

Umfang zu ersetzen“ (PsF III, 341). In der mengentheoretischen Betrachtung definiere man

den Begriff im strengen Sinne als Inbegriff, „indem man ihn als eine »Klasse« von

Elementen nahm, die untereinander keine andere als eine rein ko l l e k t i ve Einheit bilden“

(PsF III, 342). Damit war nach Cassirer die ‚Homogenesierung‘ der Logik erreicht und

zugleich das wechselseitige Verhältnis und die wechselseitige Bestimmung der Begriffe

auf die Grundregeln eines allgemeinen Klassen-Kalküls zurückgeführt. Daher meint er,

dass die Theorie des Begriffs darauf zu achten hat, „daß sie die Form der Bestimmung

nicht mit den Inhalten verwechselt, die durch dasselbe erst bestimmbar werden: daß sich

ihr die beiden Sphären des Ge se t ze s und des Gese t z t e n nicht miteinander vermengen“

(PsF III, 351).

Bei seinen Einwänden gegen die Mathematisierung der Logik stützt sich Cassirer bezüglich

des Problems des Verhältnisses von Inhalt und Umfang des Begriffs auf Frege, der Ernst

Schröders Gebietekalkül339 mit folgenden Worten kritisiert: „In der Tat, halte ich dafür, daß

339 Vgl. Mittelstraß (EPW 1995), Bd. 3, S. 731: „In kritischem Anschluß an die von G. Boole begonnenealgebraische Kalkülisierung des logischen Schließens gilt Schröders Hauptbemühen der Algebra derLogik. In dieser Konzeption sollen logische Methoden durch algebraische substituiert werden. Diesgeschieht durch Ersetzung von Aussagen (›Urteilen‹) durch Gleichungen zwischen den Klassen [...] derin ihnen auftretenden Prädikatoren. Dabei werden auch die Nominatoren, d. h. Eigennamen undKennzeichnungen (›Individualbegriffe‹), als Klassen, und zwar als solche mit nur einem Elementaufgefaßt. In diesem Zusammenhang verwendet Schröder als einer der ersten die eben entstandene

156

der Begriff seinem Umfange logisch vorangeht und betrachte den Versuch als verfehlt, den

Umfang des Begriffs als Klasse nicht auf den Begriff, sondern auf die Einzeldinge zu

stützen. Auf diese Weise kommt man wohl zu einem Gebietekalkül, aber nicht zu einer

Logik.“340 Das Verhältnis von Logik und Mathematik wird bei Frege „nicht von seiten des

Klassenbegriffs, sondern von seiten des Funktionsbegriffs erfaßt und der Begriff seinem

Wesen nach selbst als Funktion verstanden und definiert“ (PsF III, 342).

In diesem Zusammenhang hebt Cassirer hervor, dass der Versuch der Mathematisierung

der Logik, also „den Inha l t des Begriffs von seinem U mfa ng aus verständlich zu

machen“ ( PsF III, 343), durch Russell nicht weiter aufrecht erhalten werden konnte. Denn

Russell unterscheidet „eine doppelte Definition der Klasse“, obschon er „den Begriff rein

als Klasse von Elementen“ bestimmt (PsF III, 343). Es gibt bei Russell zwei Wege zur

Bestimmung von Klassen. Der eine ist, dass man die Glieder einfach mit „Und“

miteinander verbindet, der andere, „indem man ein allgemeines Merkmal, eine Bedingung

angibt, der alle Glieder der Klasse genügen sollen“ (PsF III, 343). Diese letztere Erzeugung

der Klasse ist für Russell die Intension, jene die Extension.

In § 66 seiner Schrift The Principles of Mathematics schreibt Russell, dass seine ‚theory of

denoting‘ für die Überlegung der Intension unentbehrlich ist. Was er mit ‚denoting‘ meint,

erklärt er wie folgt:

„A concept denotes when, if it occurs in a proposition, the proposition is notabout the concept, but about a term connected in a certain peculiar way withthe concept. If I say ‘I met a man’, the proposition is not about a man: this is aconcept which does not walk the streets, but lives in the shadowy limbo of thelogic-books. What I met was a thing, not a concept, an actual man with a tailorand a bank-account or a public-house and a drunken wife.“341

Seine Erläuterung des Klassenbegriffs in § 67 beginnt er mit der Unterscheidung von

‚class-concept‘ und ‚concept of a class‘. Demzufolge ist man ein ‚class-concept‘, denn

‚man does not denote anything‘. Men sind ‚concept of a class‘, denn ‚men and all men do

denote‘, und „men (the object denoted by the concept men) are the class“.342 In § 68 folgt

dann die Definition der Klasse durch die Intension, für die er folgende vier Beispielsätze

Cantorsche Mengenlehre. Schröders mengentheoretische Auffassungen wurden von G. Frege einergrundlegenden Analyse und Kritik unterzogen.“

340 PsF III, S. 342; vgl. Frege, Kritische Beleuchtung einiger Punkte in E. Schröders Vorlesungen über dieAlgebra der Logik. In: Archiv für systematische Philosophie, I, 1895, S. 433-456, hier S. 455; auch inPatzig (1986b), S. 111 f.

341 Russell (1903/1996), Chap. V. Denoting, p. 53; vgl. auch Russell (1905).342 Russell (1903/1996), p. 67.

157

anführt: „Socrates is human“, „Socrates has humanity“, „Socrates is a man“, und „Socrates

is one among men“343. Davon enthält allein der letzte Satz (proposition) explizit die Klasse

als Bestand. Russell ist jedoch der Ansicht: „but every subject-predicate proposition gives

rise to the other three equivalent propositions, and thus every predicate (provided it can be

sometimes truly predicated) gives rise to a class. This is the genesis of classes from the

intensional standpoint.“344 Im Anschluss daran erklärt er die Definition der Klasse mittels

Extension, in der es letztlich heißt: ‚Brown and Jones‘ sind eine Klasse und ‚Brown‘ ist

allein eine Klasse. Cassirer interpretiert diese Erklärung von Klassen so, als habe bei

Russell die intensionale Logik den Vorrang vor der extensionalen erhalten345:

„Mehr und mehr ergibt sich in ihr [Russells Logik], daß die Definition durchdie Intension nicht nur einen subjektiven, sondern einen objektiven Wertvorzugbesitzt [...]. Denn es ist ersichtlich, daß man, ehe man daran geht, die Elementeeiner Klasse zusammenzufassen und sie extensiv durch Aufzählung anzugeben,eine Entscheidung darüber fällen muß, welche Elemente als der Klassez ugehö r ig zu betrachten sind: und diese Frage kann nicht anders als aufGrund des Klassenbegr i f f s , im »intensionalen« Sinne des Wortes,beantwortet werden.“ (PsF III, 344)

Somit erkennt Cassirer nicht nur Russells Annahme an, bei Gliedern innerhalb der Klasse

handele sich um Variablen, sondern folglich auch dessen Satzfunktion (propositional

343 Russell (1903/1996), p. 67.344 Russell (1903/1996), p. 67.345 Vgl. Burkamp (1927), S. 185: Russell hat nach Burkamp deshalb die intensionale Definition zugelassen,

„weil er allein so zu Klassen von transfiniter Individuenzahl kommen kann, wie er sie doch in der ausder Klassenlogik abgeleiteten Mathematik braucht (Principles of Mathematics, 1903, S. 66 und 69)“.Burkamp meint, dass Russell dabei in der Klasse nur die Menge sieht.

Das fundamentale Subjekt ist normalerweise das Individuum. Die Individuen sind, wenn sie existieren,zählbar. Sie bilden eine Klasse, die Russell ‚extensional‘ auffasst. Russell nutze nach Burkamp dieNötigung zur Beziehung des Begriffs auf Darunterfallendes durch die Variable für dieKlassenauffassung aus. Dadurch gewinne Russells Auffassung den Anschein der Angemessenheit an denSinn der Begriffslogik, „daß in jedem Begriff die Bestimmtheit der Funktion für Darunterfallendes liegt“(Buhrkamp, 1927, S. 186). Mit Russell könne man zur Not rechtfertigen, „daß die Aussage ,der Menschist sterblich‘ eine Aussage vom Begriffsindividuum ,Menschlichkeit‘ sei. Allerdings hat man da etwasunterschlagen, was zwar nicht für das Spezifische des einzelnen Begriffs, über den ausgesagt wird, wohlaber für den Begriff überhaupt wesentlich ist, nämlich den Bezug auf die Variable.“ (Buhrkamp, 1927,S. 187)

Um seine Interpretation zu untermauern, verweist Cassirer auf das von Russell und Whiteheadgemeinsam herausgegebene Werk Principia mathematica (Cambridge Ausgabe von 1910, II, S. 75). Ererklärt: „eine Extension sei ein unvollständiges Symbol, dessen Gebrauch erst durch die Beziehung zueiner Intension Sinn gewinne“ (PsF III, 345). Burkamp interpretiert dies ähnlich wie Cassirer: „Esscheint allerdings, als ob Whitehead-Russell später in den Principia mathematica den Klassenbegriffenger an die ‚intensionale‘ Abgrenzung binden“ (Buhrkamp, 1927, S. 187), wobei er dieselbe Stelle ausPrincipia mathematica zitiert, nur etwas vollständiger: „Unsere Klassentheorie erkennt an und versöhntdiese beiden offenbar einander entgegengesetzten Tatsachen, indem sie zeigt, daß eine Extension (diedasselbe wie eine Klasse ist) ein unvollständiges Symbol ist, dessen Gebrauch erst durch die Beziehungzu einer Intension Sinn gewinnt.“ (Buhrkamp, 1927, S. 187) Damit ist deutlich, „die Verknüpftheit mitdem Begriff soll nicht zerrissen und die Klasse nicht zu einem bloßen Aggregat, einer bloßen Menge,werden, wie es in der Auffassung der ,principles‘ bedenklich nahe lag“ (Buhrkamp, 1927, S. 187 f.).

158

function): Was die Klasse in sich selbst zusammenhält, das ist der Umstand, „daß alle in

ihr vereinigten Glieder als Variable einer bestimmten Satzfunktion [...] zu denken sind“

( PsF III, 345).346

Folglich erscheint Cassirers Ansicht nach diese Satzfunktion als der Kern des Begriffs,

„nicht aber der bloße Gedanke der Menge als eines reinen Kollektivums“ (PsF III, 345).

Eine Satzfunktion sei, nach der Definition von Russell, „eine Funktion, deren Werte

Urteile sind“ (ibd.). Die Satzfunktion interpretiert Cassirer als eine, die streng von einem

Urteil im gewöhnlichen logischen Sinne zu unterscheiden ist und ein generelles Schema

aufstellt, „das erst der Erfüllung mit bestimmten Werten bedarf, um den Charakter einer

Einzelaussage zu erhalten“ (ibd.). Er erkennt daher, dass innerhalb der Satzfunktion eine

strenge Korrelation, die Wechselbeziehung zwischen dem Allgemeinen und Besonderen,

erhalten bleibt. Während Russell erklärt, „A propositional function in general will be true

for some values of the variable and false for others“,347 ist Cassirer jedoch der Meinung,

dass der Satzfunktion selbst weder Wahrheit noch Falschheit zukommt: „Eine solche

Satzfunktion intendiert zwar eine bestimmte Bedeutung, aber sie erfüllt sie noch nicht: sie

gibt keine feste und fertige Antwort, sondern stellt nur die Richtung der Frage fest.“ (PsF

III, 357). Hier spürt man auch, dass ‚Richtung‘ für Cassirer im Prozess zur höheren

Objektivitätsstufe eine wichtige Rolle spielt.

Die Irrungen in der logischen und erkenntnistheoretischen Theorie über das Wesen des

Begriffs gehen nach Cassirer darauf zurück, dass man ihn nicht als reinen Gesichtspunkt,

sondern als ein sichtbares Ding, als ein Etwas annahm. Die Nominalisten, die gegen den

Begriffsrealismus waren, behandelten die Sprache, das Wort oder den Laut, als eine

sekundäre Art des Daseins. Die Materialisten und Spiritualisten, die Realisten und

Norminalisten haben immer wieder den Fehler gemacht, in irgendeine Sphäre des Seins

zurückzugreifen, wenn sie den Sinn des Begriffs festzustellen suchten. So ist Cassirer der

346 Es scheint, dass Russell selbst die Satzfunktion nur erklärt, nicht definiert haben will, vgl. Russell(1903/1996), pp. 19 f.: „We may explain (but not define) this notion as follows: x is a propositionalfunction if, for every value of x, x is a proposition, determinate when x is given. Thus ‘x is a man’ is apropositional function. In any proposition, however complicated, which contains no real variables, wemay imagine one of the terms, not a verb or adjective, to be replaced by other terms: instead of ‘Socratesis a man’ we may put ‘Plato is a man’, ‘the number 2 is a man’ and so on. Thus we get successivepropositions all agreeing except as to the one variable term. Putting x for the variable term, ‘x is a man’expresses the type of all such propositions.“; vgl. Gross (1970), p. 72: „A propositional function is anexpression with a blank space or a variable in it, such that when the blank space is filled in with, or thevariable substituted for, with the right sort of thing, the result is a true proposition. [...] Russell usespropositional functions with variables instead of blank spaces; that is, he uses them like mathematicalfunctions. ‘x is rational’ expresses nothing until the proper expression is substituted for x. ‘Apropositional function standing all alone may be taken to be a mere schema, a mere shell, an emptyreceptacle for meaning, not something already significant.’“ (Gross zitiert Russell, Introduction toMathematical Philosophy, 1919, p. 157)

347 Russell (1903/1996), p. 20.

159

Ansicht: „Wer daher den Begriff selbst beg re i fen will – der darf ihn nicht gleich einem

Gegenstand g re i fen wollen“ (PsF III, 350). Cassirer hebt daher in PsF Platon im

Zusammenhang mit seiner Ablehnung des aristotelischen Begriffsrealismus an mehreren

Stellen hervor (vgl. PsF III, 349 f., 356, 407, 455).

„Der Inbegriff des Sichtbaren erforderte, um sich als Ganzes, als Totalität einesanschaulichen Kosmos konstituieren zu können, bestimmte Grundformen der»Sicht« — die, wenn sie sich an den sichtbaren Gegenständen auf we i s enließen, doch in keiner Weise mit ihnen ve r we chs e l t werden, die nicht selbstals sichtbare O bje k t e genommen werden durften. Ohne die Beziehungen derEinheit und Andersheit, der Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit, der Gleichheitoder Verschiedenheit kann die Welt der Anschauung keine feste Gestaltgewinnen: aber eben diese Beziehungen selbst gehören hierbei nur insofernzum Bestand dieser Welt, als sie die B ed i ngungen für ihn, nicht aber einenTe i l von ihm ausmachen.“ (PsF III, 350 f.)

Dieses Verhältnis finde seine Bewährung und Bestätigung, wenn man zu höheren Stufen

des Denkens und Begreifens fortschreite. Die Welt der reinen ‚Bedeutung‘ aber bringt zur

Welt der ‚Darstellung‘ nichts prinzipiell Fremdes hinzu, denn das Gegenstandsbewusstsein

im Bereich des natürlichen Weltbegriffs und das in der wissenschaftlichen Erkenntnis sind

nur graduell, nicht prinzipiell unterschieden (vgl. 3.2, 134; PsF II, 46 f.).

Durch die Analyse der verschiedenen Auffassungen der Begriffstheorie überzeugt sich

Cassirer davon, dass das Problem des Begriffs auf das von ‚Einem im Vielen‘ zurückgeht.

Das übergreifende Eine ist für ihn eine Denkform der Einheit der Beziehung. Diese

Grundform der Beziehung beherrscht nach der Überzeugung Cassirers die Gesamtheit des

Erkennens und errichtet in Gedanken das ‚Mögliche‘, in dem der Begriff begründet werden

muss. So sollen sich ‚Begreifen‘ und ‚Beziehen‘ als Korrelata, als echte Wechselbegriffe

erweisen, und diese Korrelation soll als die reine Form des Gedankens, was auch immer

der Inhalt des Gedachten sein wird, unberührt bleiben.

Die Analyse der Wahrnehmung und die der anschaulichen Erkenntnis im Bereich der

Darstellungsfunktion zeigen, dass der Übergang von der ‚Präsenz‘ zur ‚Repräsentation‘

gefordert und innerhalb bestimmter Grenzen vollzogen ist. Aber die Begriffsfunktion soll

keinen Bruch in das Ganze der Erkenntnis bringen:

„sie führt nur eine Grundtendenz weiter, die sich schon in den ersten Stufen dersinnlichen Erkenntnis, des wahrnehmenden Wissens wirksam erwies. Und ineben dieser Weiterführung vollzieht sich nun erst die eigentliche Beglaubigungund Rechtfertigung dieser Tendenz.“ (PsF III, 359)

160

Die Funktion der Repräsentation bedeutet auch für Cassirer im Grunde genommen das

Meinen eines Allgemeinen im Einzelnen: „Der geistige Grundakt der »Repräsentation«,

des Meinens eines »Allgemeinen« im Einzelnen, kann niemals dadurch verstanden werden,

daß man ihn in Teile zerlegt und ihn gewissermaßen in diese zerbricht.“ (PsF III, 366) Das

Problem der Repräsentation wird im Abschnitt 3.5 im Zusammenhang mit der

symbolischen Prägnanz eingehender behandelt.

Der Begriff soll zuerst die gestaltenden Momente für sich herausstellen und diese Momente

für die Gedanken fixieren. Er stellt eine bestimmte Richtung und eine bestimmte Norm des

discursus auf, er gibt den ‚Gesichtspunkt‘ an, unter dem eine Mannigfaltigkeit von

Inhalten, gleich ob sie der Wahrnehmung, der Anschauung oder dem reinen Denken

angehören, gefasst und somit zusammengesehen wird. Wenn die Erkenntniskritik die

Einheit des Bewusstseins für das Erkennen überhaupt voraussetzt, so sieht Cassirer es als

eine Aufgabe der kritischen Philosophie an, darin die Einheit oder die konkrete

Allgemeinheit des Begriffs zu suchen, die durch Korrelation des Allgemeinen und des

Besonderen zu gewinnen ist. Der Begriff bedeutet für ihn, dass er „nicht sowohl ein

gebahnter Weg ist, in dem das Denken fortschreitet, als er vielmehr eine Methode, ein

Verfahren der B ahnung s e lb s t bildet“ ( PsF III, 356).

3.3.5. Das erste und zweite Allgemeine bei Lotze

Cassirer unterscheidet in Anlehnung an Hegel „abstrakte Allgemeinheit“ und „konkrete

Allgemeinheit“.348 Die Allgemeinheit des Gattungsbegriffs wird als abstrakte

Allgemeinheit bezeichnet: „Abstrakte Allgemeinheit kommt der Gattung zu, sofern sie, an

und für sich gedacht, alle Artunterschiede fallen läßt; konkrete Allgemeinheit dagegen dem

Gesamtbegriff, der das Besondere aller Arten in sich aufnimmt und es nach einer Regel

entwickelt.“ (SuF, 26) Er sieht in diesem Zusammenhang, wie schon im Kapitel 2 erwähnt,

die Zahlbegriffe und die mathematische Formel als beste Beispiele an. Dass der

Funktionsbegriff in SuF die konkrete Allgemeinheit darstellt, erklärt Cassirer mit

folgenden Worten: „Denn der Funktionsbegriff enthält in sich zugleich das allgemeine

Schema und das Vorbild, nach welchen der moderne Naturbegriff in seiner

348 Vgl. Hegel (SA), Bd. 6, Wissenschaft der Logik II, S. 295: „Der Begriff ist das Konkrete und Reichste“,Bd. 8, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I, § 164, S. 313: „Der Begriff ist dasschlechthin Konkrete“, Bd. 9, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften II, § 376, S. 537: „diekonkrete Allgemeinheit“.

161

fortschreitenden geschichtlichen Entwicklung sich gestaltet hat“ (SuF, 27). Diese

Erklärung kann man auch für die Rechtfertigung seines Funktionsbegriffs als

Allgemeinbegriff halten.349 Sein Gedanke der Allgemeinheit ist, wie bereits im Abschnitt

1.3 erwähnt, an Lotze angelehnt.350 Cassirer bezieht sich sowohl in SuF als auch in PsF auf

Lotzes Kritik an der Abstraktionstheorie und zitiert dessen Beispiele zum aristotelischen

Gattungsbegriffs, wobei Lotze das traditionelle Verfahren der Subsumption kritisiert und

das erste und zweite Allgemeine darstellt (vgl. SuF, 8, 27 f.; PsF I, 252-255; PsF III, 135).

In PsF hebt Cassirer im Rahmen seiner Kritik an der Rolle der allgemeinen Vorstellung in

der traditionellen Logik besonders Lotze hervor, da dieser unter den moderen Logikern das

Verhältnis der Formung der Eindrücke zu Vorstellungen am schärfsten erfaßt habe. Denn

die entscheidende Leistung des Begriffs ist nicht „die Vergleichung der Vorstellungen und

ihre Zusammenfassung nach Arten und Gattungen, sondern die Formung der Eindrücke zu

Vorstellungen“ (PsF I, 252).351

Im Folgenden soll das erste und zweite Allgemeine bei Lotze skizziert werden, um ihre

Bedeutung für die Cassirersche Theorie der Allgemeinheit zu verdeutlichen.

Für Lotze erfüllt die Allgemeinheit des Gattungsbegriffs eine notwendige aber keine

hinreichende Bedingung für Begriffe.352 Die gewöhnliche Abstraktionstheorie der

Weglassung der Merkmale ist nach Lotze im wirklichen Denken anders; Merkmale werden

nicht einfach weggelassen, sondern sie werden durch allgemeine Merkmale ersetzt:

„Man nennt Abstraction das Verfahren, nach welchem das Allgemeinegefunden wird, und zwar, wie man angibt, durch Weglassung dessen, was inden verglichenen Sonderbeispielen verschieden ist, und durch Summirungdessen, was ihnen gemeinsam zukommt. Ein Blick auf die wirkliche Praxis desDenkens bestätigt diese Angabe nicht. Gold Silber Kupfer und Blei sind anFarbe Glanz Gewicht und Dichtigkeit verschieden; aber ihr Allgemeines, daswir Metall nennen, finden wir nicht dadurch, daß wir bei ihrer Vergleichungdiese verschiedenen Merkmale ohne einen Ersatz einfach weglassen. [...] Inallen diesen Fällen entsteht mithin das Allgemeine nicht durch einfacheHinweglassung der verschiedenen Merkmale p1 und p2, q1 und q2, die in denverglichenen Einzelfällen vorkommen, sondern dadurch, daß an die Stelle derWeggelassenen die allgemeinen Merkmale P und Q eingesetzt werden, deren

349 Vgl. Ihmig (1997a), S. 258: Ihmig hat schon das Verhältnis vom Allgemeinen und Besonderen desBegriffs als Problemstellung in der Begriffstheorie Cassirers hervorgehoben. Er ist der Ansicht, dass dasVerhältnis von Allgemeinem und Besonderem das Bindeglied in sachlicher Hinsicht zwischen CassirersTheorie des Begriffs und seiner Theorie des Symbols sein kann vgl. Ihmig (1993d), S. 180.

350 Lotze (1843/1989).351 Vgl. auch PsF I, S. 252: „Seine [Lotzes] Lehre vom Begriff geht davon aus, daß die ursprünglichste

Denkhandlung nicht in der Verknüpfung zweier gegebener Vorstellungen bestehen könne, sondern daßdie logische Theorie hier noch einen Schritt weiter zurückzugehen habe.“

352 Vgl. Ihmig (1993d), S. 184.

162

Einzelarten p1, p2 und q1, q2 sind.“ 353

Die allgemeinen Merkmale P und Q sind nach Lotze das erste Allgemeine und diese

Merkmale fallen uns „ohne logische Arbeit lediglich als beobachtbare Erzeugnisse unseres

Vorstellungslebens“ zu, und „deswegen können sie nun als Bausteine für die Bildung des

zweiten Allgemeinen verwendet werden“, welches durch eine logische Arbeit erzeugt

wird.354 Die Vorstellung heißt bei Lotze das Vergegenständlichen der Empfindung. Lotze

will in Übereinstimmung mit „dem gewöhnlichen Sprachgefühl und nebenbei mit den alten

Bestimmungen des Aristoteles“ dasjenige Allgemeine, das noch ein Bild gewährt, eine Art

nennen, und die Allgemeinen, die eine Formel möglich machen, eine Gattung.355 Die

gewöhnliche Erklärung mit dem gewöhnlichen Sprachgefühl von Inhalt und Umfang lautet:

Inhalt des Begriffs S ist „die Summe der Einzelvorstellungen oder Merkmale a, b, c, d ...,

durch welche S vollständig gedacht und von jedem anderen Begriffe Σ unterschieden

wird“. Umfang ist „die Anzahl der Einzelbegriffe s1, s2, s3 ..., in deren jedem der Inhalt von

S, also die Merkmalgruppe a, b, c, d..., in irgendeiner ihrer möglichen Modificationen

enthalten ist“.356

In der Bildung des Allgemeinen des Begriffs aber kommt das Verhältnis von Inhalt und

Umfang in der traditionellen Abstraktion nur reziprok vor. Daher meint Lotze, von dem

wahren Allgemeinbegriff ließe sich behaupten, „daß sein Inhalt allemal ebenso reich, die

Summe seiner Merkmale ebenso groß ist, als die der Arten selbst“.357 Er will daher die

Gattung G, die allgemeine Merkmale A B C ... darstellt, durch F [A B C] ersetzen, und

nimmt an, jedes der Merkmale lasse Einzelformen, a1 a2 a3 ..., b1 b2 b3 ..., c1 c2 c3 ... zu. Die

Verbindungsform F soll sich dann in einem Spielraum veränderlicher Gestaltungen

bewegen.

Die Gliederungsweise F des Ganzen ändert sich von einem ihrer Einzelfälle zu einem

anderen. Die Gesamtzahl der Arten von G kann wie folgt formuliert werden: G = f (a1 B

C ) + φ (a2 B C ) ...+ ζ (A b1 C) + λ (A b2 C) ..... und die a1 a2, b1 b2 sind in diesem Falle die

artbildenden Unterschiede, differentiae specificae.358 Diese Merkmale des Begriffs sind

nicht gleichwertig miteinander koordniert, sondern sie beziehen sich aufeinander, schreiben

einander verschiedenartige Anlagerungen vor und determinieren sich wechselseitig so.

353 Lotze (1843/1989), Buch 1, S. 40; vgl. SuF, S. 28.354 Lotze (1843/1989), Buch 1, S. 41. 355 Vgl. Lotze (1843/1989), Buch 1, S. 49 f. 356 Lotze (1843/1989), Buch 1, S. 43.357 Lotze (1843/1989), Buch 1, S. 51.358 Vgl. Lotze (1843/1989), Buch 1, S. 52.

163

Lotze ist der Ansicht, dass das natürliche Denken nur in der Vergleichung von Einzelfällen

das Allgemeine findet. Dies erläutert er wie folgt: „Die Natur des Allgemeinen S, des

Metalls beherrscht die Natur seiner Arten, des Goldes und Kupfers, vollständig, und keine

Eigenschaft der letzteren entzieht sich ihrem bestimmenden Einfluss.“359 Gelb oder Rot

sind die Farben von Vielen, aber das Gelb und Rot des Goldes und Kupfers kommt

Metallen allein zu:

„dehnbar ist vieles, aber Größe und sonstige Eigenthümlichkeit derDehnbarkeit, wie sie Gold und Kupfer zeigen, ist nur bei Metallen erhört; nurdie Metallität endlich erklärt die Höhe des specifischen Gewichts. Ebensobestimmt das Allgemeine Thier jede Eigenschaft und jede Regung dessen, wasseine Art ist: das Thier bewegt sich anders wächst anders und ruht anders alsdie Pflanze und das Leblose. Versinnlichen wir das Allgemeine Metall durcheinen Kreis S, so liegt der kleinere Kreis s1 des Goldes völlig in Seingeschlossen; neben ihm, getrennt von ihm, aber ebenso ganz innerhalb desS, die Kreise s2 Kupfer, s3 Silber.“360

Er will dieses Verhältnis einer Unterordnung unter das maßgebende Allgemeine als

Subordination unter die Gattung bezeichnen und dagegen die Unterordnung des Goldes

unter das Gelb oder das Dehnbare als die Subsumption unter das Merkmal.361

Obschon Lotze behauptet, dass das zweite Allgemeine durch logische Arbeit erzeugt wird,

zweifelt er jedoch an der logischen Arbeit selbst. Denn die logische Arbeit kann auch nicht

deutlich machen, ob die Eindrücke Arten des Allgemeinen sind, oder „was eigentlich ein

Allgemeines und die Beziehung seines Besonderen zu ihm sagen will.“362 Daher betont er

bei der Bildung des zweiten Allgemeinen die Beziehungen von Denktätigkeiten. Er hebt

ausdrücklich hervor,

„daß auf der unmittelbaren Anschauung eines ersten Allgemeinen und auf derAnwendung irgend welcher Größenvorstellungen die Bildung dieses zweitenAllgemeinen in allen Fällen beruht, nicht blos da, wo die Merkmale, wie diedes Metalls, Farbe Glanz und Härte, sich ungezwungen als ruhendeEigenschaften des Bezeichneten fassen lassen, sondern auch da, wo sie, wieFortpflanzungs- und Bewegungsfähigkeit des Thieres, nur kurze adjectivischeBezeichnungen von Verhaltungsweisen sind, die wir vollständig nur durchvielfache Beziehungen zwischen mancherlei Beziehungspunkten denkenkönnen.“363

359 Lotze (1843/1989), Buch 1, S. 47; Ihmig (1993d), S. 184. 360 Lotze (1843/1989), Buch 1, S. 47 f.361 Vgl. Lotze (1843/1989), Buch 1, S. 48.362 Lotze (1843/1989), Buch 1, S. 42.363 Lotze (1843/1989), Buch 1, S. 42.

164

Zwei Beziehungspunkte werden nur durch die verschiedenen Größen oder Grade, wie zum

Beispiel der Farbe, des Dehnbaren etc., also durch die verschiedenen Modifikationen

verglichen, aber die Beziehung ist ein und dieselbe allgemeine Beziehung. So erzeugt für

Lotze der Vergleich der einzelnen Menschen ein allgemeines Bild, aber im Sinne der

naturgeschichtlichen Abbildungen; „oder in dem Sinne der Geometrie, die durch ein

gezeichnetes Dreieck, obgleich es immer nur ein einzelnes sein kann, neben dem es andere

gibt, doch alle diese andern, und zwar gleichfalls in anschaulicher Weise, mit vertritt.“364

So beinhaltet das Allgemeine S Metall die Verknüpfung gewisser Ordnungsschemata, die

ebenso in den besonderen Arten, s1 Gold oder s2 Kupfer erhalten bleiben. Somit kann das

Allgemeine einerseits als Erkenntnisgrund des Besonderen angesehen werden und

andererseits vertritt oder repräsentiert das Besondere das Allgemeine.365

Die Kritik an der traditionellen Abstraktionstheorie führt Lotze zu dem Ergebnis, dass er

statt der Subsumption die Subordination vorschlägt. Die Begriffspyramide des

Allgemeinbegriffs in der Abstraktion schließe mit einer einzigen Spitze, dem alles

umfassenden Begriff des Denkbaren.

Lotze ist der Ansicht, dass die Abstraktion auf der ‚geistlosen Subsumption‘ unter ein

Merkmal beruht, deren logischen Wert man kaum anerkennen kann. Unter das Merkmal

des Denkbaren fällt alles auf einmal und man kann sich daher die Mühe ersparen, zu

diesem Ergebnis durch eine pyramidale Stufenleiter empor zu steigen, zumal der Inhalt und

die Eigentümlichkeit des Gedachten in diesem Endglied völlig außer Betracht gelassen

werden:

„Folgen wir dagegen dem Verfahren der Subordination unter die Gattung undordnen wir das Mannigfache nur solchen Allgemeinheiten unter, welche denGedanken der allgemeinsten Regeln für die Eigenarten seiner Formung nochaufbewahren, so kommen wir nicht zu einem, sondern zu mehreren aufeinander nicht zurückführbaren Endbegriffen, in denen wir ohneUeberraschung dieselben Bedeutungen der Redetheile wiedererkennen“.366

Der logische Begriff ist nach Lotze eine Denkform, in der ihr Inhalt von irgendeinem

Standpunkt aus so aufgefasst wird, dass aus dieser Auffassung Folgerungen zu ziehen sind,

die an bestimmten Punkten wieder mit dem zusammentreffen, was aus diesem Inhalt selbst

fließt.367 Er will daher die gewöhnliche Erklärung des Begriffs von ‚Inhalt s‘, bei dem es

364 Lotze (1843/1989), Buch 1, S. 49.365 Vgl. Ihmig (1993d), S. 185.366 Lotze (1843/1989), Buch 1, S. 53 f.367 Vgl. Lotze (1843/1989), Buch 1, S. 45.

165

sich eigentlich um die singularen Begriffe handelt, anders formulieren: „Ich nenne jeden

zusammengesetzten Inhalt s dann begrifflich gefasst oder Begriff, wenn zu ihm ein

Allgemeines S mitgedacht wird, welches den bedingenden Grund für das Zusammensein

aller seiner Merkmale und für die Form ihrer Verknüpfung enthält“.368 ,Ein Allgemeines S

mitgedacht wird‘ bedeutet somit die Vorstellung von Inhalt s, „die durch Mitdenken des

allgemeinen S zum Begriff erhoben wird“.369

Es stellt sich hier die Frage, ob sich diese Theorie von Lotze rechtfertigen lässt; deren

Beantwortung soll aber nicht Bestandteil dieser Arbeit sein. Entscheidend ist, dass dieser

Allgemeinbegriff oder das zweite Allgemeine bei Lotze als konkrete Allgemeinheit

bezeichnet werden kann, die Cassirer sucht.

Cassirer ist der Ansicht, dass die primäre Aufgabe der Begriffsbildung nicht auf die

Aufgabe der traditionellen Logik, wie man gewöhnlich annimmt, auf „die Vorstellung zu

immer größerer A l lge me inhe i t “, sondern auf die wachsende Bestimmtheit gerichtet

sein muss: „Sofern vom Begriff ‚Allgemeinheit‘ verlangt wird, so ist sie doch nicht

Selbstzweck, sondern sie dient nur als Vehikel, um zum eigentlichen Ziel des Begriffs,

zum Ziel der Bestimmtheit zu gelangen.“ (PsF I, 252) So interpretiert er das erste

Allgemeine bei Lotze als „Schlüssel für das Verständnis der ursprünglichen Form der

Begriffsbildung“, die in der Sprache waltet (PsF I, 254). An anderer Stelle heißt es:

„Das ,erste Allgemeine ‘ gewinnt seine eigentliche Sicherung erst dadurch, daßes in der Sprache seinen Halt und seinen festen Niederschlag findet. Es istgleichsam eine neue Potenz und eine neue Dimension der Besinnung, zu dersich das Bewußtsein hier, unter Leitung der Sprache, erhebt. Das mannigfaltig-Verstreute sammelt sich nicht nur, sondern es tritt zu selbständigen undeigentümlichen Gebilden, zu Gebilden höherer Ordnung, zusammen.“ (PsF III,135)

Damit wird deutlich, dass das erste Allgemeine im Bereich des natürlichen Weltbegriffs,

nämlich in der sprachlichen Begriffsbildung dargestellt werden kann.370

368 Lotze (1843/1989), Buch 1, S. 44; vgl. Ihmig (1993d), S. 184.369 Lotze (1843/1989), Buch 1, S. 44; vgl. Funktionsbegriff bei Lotze, Lotze (1843/1989), Buch 1, S. 47.370 Vgl. Peters (1983), S. 109-115. In Peters’ Schrift Cassirer, Kant und Sprache dient als Ausgangspunkt

eine ‚neuartige‘ Bestimmung (die von Kuno Lorenz angedeutet worden ist) des Verhältnisses vonPsychologie und Sprache, und dabei ist der Terminus ‚Vorstellung‘ ein Schlüsselbegriff. Er schließt anCassirers Problemstellung der Aphasie (PsF III, Zweiter Teil, Kap.VI) an und betont, dass Cassirer dasProblem bei der Aphasie als eine ‚Symbolpathologie‘ erkennt: „Cassirer deutet die Symbolpathologieals ‚Verlust‘ der Schemata von Raum, Zeit und Zahl, so daß anläßlich der Aphasie als einer Sprach-Störung die Schemata stillschweigend nicht mehr ‚vermögenspsychologisch‘ sondern sprach-logischgedeutet werden.“ (Peters, 1983, S. 28). Damit meint Peters, dass Cassirer den Boden der Sprache alsMedium des ‚Vorstellens‘ betreten habe. Von diesem Gesichtspunkt aus interpretiert Peters Cassirers‚Erstes‘ und ‚Zweites‘ Allgemeine als Gegenstandsschema und Sprachschema. Seiner Ansicht nach wirdein Gegenstandsschema durch ‚Einzelinhalte‘ als Prae-Handlungen das ‚Erste‘ Allgemeine erfüllen, und

166

Von Cassirers Standpunkt aus gesehen, hat Lotzes Auffassung die Konsequenz, dass es

anstelle der zwei Leistungen des Begriffs nun zwei Formen des Allgemeinen gibt:

„statt die Forderung der Bestimmung, die der Begriff stellt, scharf undprinzipiell von der Forderung der Allgemeinheit abzutrennen, werden ihm[Lotze] die primären Bestimmtheiten, zu denen der Begriff hinführt, selbstwieder zu primären Allgemeinheiten, so daß es nun für ihn, statt zweicharakteristische Leistungen des Begriffs, vielmehr zwei Formen desAllgemeinen: ein ,erstes‘ und ein ,zweites‘ Allgemeine gibt.“ (PsF I, 255)

Cassirer betont aber dennoch, dass das erste und das zweite Allgemeine bei Lotze nur den

Namen miteinander gemein haben, sich jedoch in ihrer eigentümlichen logischen Struktur

deutlich voneinander unterscheiden. Denn das Verhältnis der Subsumption, das die

traditionelle Logik als konstitutive Beziehung ansehe, durch die das Allgemeine mit dem

Besonderen, die Gattung mit den Arten und Individuen zusammenhänge, sei auf die

Begriffe, die Lotze als das ‚erste Allgemeine‘ bezeichne, nicht anwendbar.

Wie bereits erwähnt, wird das zweite oder das charakteristische Allgemeine, jedoch im

Unterschied zu Lotze als Forderung des Begriffs, im Bereich des wissenschaftlichen

Weltbegriffs dargestellt. Diese Ansicht Cassirers hängt damit zusammen, dass das Zeichen

im Bereich des natürlichen Weltbegriffs, anders formuliert, im Bereich der

Ausdrucksfunktion und der Darstellungsfunktion, nur ,Sprachbegriffe‘ bilden kann. Wie

die Erörterung der Funktion des Zeichens zeigen wird, hat die sprachliche Begriffsbildung

in diesem Bereich ihre Grenze (vgl. 3.4.2) Die reinen Bedeutungszeichen im Bereich der

Bedeutungsfunktion oder die Begriffszeichen stehen im Cassirerschen Sinne für ‚Begriffe‘,

die wiederum intellektuelle Symbole sind, und in diesem Bereich kann das zweite oder

charakteristische Allgemeine dargestellt werden. Damit wird auch deutlicher, dass die

‚Entstofflichung‘ des Zeichens für die Begriffstheorie eine entscheidende Rolle spielt.

„‚anschauliche Vorstellungen‘ – als Zeichen – erfüllen ein Sprachschema oder einen ‚Begriff‘ als‚Zweites Allgemeines‘“ (Peters, 1983, S. 113). Hier stellt Peters das Sprachschema und den Begriff aufeine Ebene. In diesem Fall kann der Begriff, mit Cassirer gesprochen, ein Sprachbegriff oderWortzeichen in der Dimension der Darstellungsfunktion bedeuten (vgl. 3.5.1).

167

3.4. Zeichen als Bedeutungsträger

3.4.1. Zeichen im natürlichen Weltbegriff

Cassirer versucht, wie bereits erwähnt, in PsF durch die Funktion des Symbols und die des

Zeichens die Objektivität der Gegenstandswelt zu gewinnen. In seiner Begriffstheorie

wandelt sich das Zeichen vom Bereich der Ausdrucksfunktion aus über den Bereich der

Darstellungsfunktion bis hin zum Bereich der Bedeutungsfunktion, in dem es zum reinen

Bedeutungszeichen und zugleich Begriffszeichen wird. Diese Einsicht Cassirers bezüglich

der Zeichen kann man auch schon in SuF erkennen: „Innerhalb der metaphysischen Lehren

ist es die ‚Vorstellung‘, die auf den Gegenstand, der hinter ihr steht, hinweist. Das

‚Zeichen‘ ist somit hier von gänzlich anderer Natur, als das Bezeichnete und gehört einem

anderen Bereich des Seins an.“ (SuF, 373). An einer anderen Stelle heißt es:

„Um die Operation des Ausdrucks rein hervortreten zu lassen, muß der Inhalt,der als Zeichen dient, mehr und mehr seines Dingcharakters entkleidet werden;damit aber scheint zugleich die objektivirende Bede u tung , die ihmzugesprochen wird, ihren Halt und ihre beste Stütze zu verlieren. So droht dieTheorie der Repräsentation immer von neuem der Skepsis zu verfallen: dennwelche Gewißheit besteht dafür, daß das Symbo l des Seins, das wir inunseren Vorstellungen zu besitzen glauben, uns seine Gestalt unverfälschtwiedergibt, statt sie gerade in ihren wesentlichen Zügen zu entstellen?“ (SuF,376)

Man kann durchaus vorweg konstatieren, dass Cassirer bewusst versucht hat, in PsF die

Funktion des Zeichens als einen der Hauptpunkte seiner Begriffstheorie darzustellen. In der

folgenden Problembeschreibung wird deutlich, dass das Bedeutungsproblem mit der

Funktion des Zeichens eng verknüpft ist: „Denn unsere Frage sollte nicht auf das logische

Bedeutungsproblem, noch auf das erkenntniskritische Problem als solches gerichtet sein,

sondern beide nur in ihrer Beziehung zu einem Dritten, zum Problem des Zeichens und der

Bezeichnung, erfassen.“ (PsF III, 383) So bleibt zu klären, was das Zeichen im Bereich des

natürlichen Weltbegriffs und was das reine Bedeutungzeichen im Bereich des

wissenschaftlichen Weltbegriffs ausmacht.

Cassirer hat, wie bereits erwähnt, in PsF im Zusammenhang mit Zeichen mehrere

Ausdrücke verwendet, so zum Beispiel reine ‚Bedeutungszeichen‘, ‚Zeichensprache‘,

‚Wortzeichen‘, ‚Begriffszeichen‘, ‚sinnliche Zeichen‘ ‚symbolische Zeichen‘ und

‚Zahlzeichen‘. Damit ist zum einen unverkennbar, dass es sich hier um mehrere

168

verschiedene Zeichen handelt, zum anderen ist die Notwendigkeit gegeben, sich mit seiner

Zeichentheorie zu beschäfigen, um diese Benennungen des Zeichens genauer verstehen zu

können.

Cassirer erklärt die Konzeption seiner Zeichentheorie wie folgt:

„Der Gehalt des Geistes erschließt sich nur in seiner Äußerung; die ideelleForm wird erkannt nur an und in dem Inbegriff der sinnlichen Zeichen, derensie sich zu ihrem Ausdruck bedient. Gelänge es, einen systematischenÜberblick über die verschiedenen Richtungen dieser Art des Ausdrucks zugewinnen – gelänge es, ihre typischen und durchgängigen Züge, sowie derenbesondere Abstufungen und innere Unterschiede aufzuweisen, so wäre damitdas Ideal der ‚allgemeinen Charakteristik‘, wie Leibniz es für die Erkenntnisaufstellte, für das Ganze des geistigen Schaffens erfüllt.“ (PsF I, 18 f.)

Damit wird deutlich, dass er versucht, das Ideal der ‚allgemeinen Charakteristik‘ Leibniz’

zu erweitern, das heißt, dass er sie nicht erst im Bereich der wissenschaftlichen

Begriffsbildung, sondern bereits im Bereich des natürlichen Weltbegriffs einsetzen will.

„Denn zwischen dem Sinnlichen und Geistigen knüpft sich [...] eine neue Form der

Wechselbeziehung und der Korrelation.“ (PsF I, 19) Die ‚reine Funktion‘ des Geistigen

muss aber selbst im Sinnlichen ihre konkrete Erfüllung suchen und allein hier diese finden.

Damit kann auch der metaphysische Dualismus zwischen dem ‚Sinnlichen‘ und ‚Geistigen‘

überbrückt werden.

Es scheint für Cassirer bei seiner Zeichentheorie auch die Grundansicht Hilberts wichtig zu

sein,371 nach der die sinnlich-anschaulichen Zeichen den mathematischen Gegenstand

bilden und nicht die Zahlen oder Größen. So werden bei Hilbert die Zeichen selbst

Gegenstand der Zahlentheorie.372 Die sinnlich-anschaulichen Zeichen sollte man aber nach

Cassirer nicht vom Standpunkt des ‚Intuitionismus‘ aus betrachten, denn wenn man die

Voraussetzung von Hilberts System verstehe, schwinde die Annahme, Hilbert für einen

Intuitionisten zu halten. Cassirer interpretiert die Anschauung bei Hilbert auch als eine, die

eine aktive Rolle spielt, das heißt, dass sie eine Art des ‚Gebens‘, nicht eine Art der

371 Vgl. PsF III, Dritter Teil, Kap. IV, 3. Die Stellung des Zeichens in der Theorie der Mathematik; vgl.auch PsF III, S. 378. Cassirer hebt auch die Zeichentheorie Helmholtz’ hervor.

372 Cassirer zitiert Hilberts Neubegründung der Mathematik (Abh. aus dem Math. Seminar derHamburgischen Universität I, 1922, S. 162), hier PsF III, S. 443: „Indem ich diesen Standpunkteinnehme [...] sind mir, im genauen Gegensatz zu Frege und Dedekind, die Gegenstände derZahlentheorie die Zeichen selbst, deren Gestalt unabhängig von Ort und Zeit und von den besonderenBedingungen der Herstellung des Zeichens sowie von geringfügigen Unterschieden in der Ausführungsich von uns allgemein und sicher wiedererkennen läßt. Hierin liegt die feste philosophische Einstellung,die ich zur Begründung der reinen Mathematik, wie überhaupt zu allem wissenschaftlichen Denken,Verstehen und Mitteilen, für erforderlich halte: a m A n f a n g [...] i s t d a s Z e i c h e n . “ Diese Stellezitiert Cassirer auch in SP, S. 297.

169

‚Gegebenheit‘ ist. So kann man nach Cassirer die Zeichen bei Hilbert wie folgt verstehen:

„Zwar können auch die Zeichen in Hilberts symbolischer Mathematik nichtschlechthin als singuläre Dinge verstanden werden, die lediglich durch eineneinfachen Akt des Hinweisens, als ein »Dies« und »Das« [...] aufzeigbar sind.Denn sie können in gewissen Bestimmungen — z. B. nach dem Material, ausdem sie gebildet sind, nach ihrer Farbe, ihrer Größe usf. — in weitem Maßevariieren, ohne darum aufzuhören, »dieselben« Zeichen zu sein. An sichverschiedene sinnliche Inhalte können also als das »gleiche« Zeichenfungieren“. (PsF III, 444)

Dabei ist das mathematische Denken nicht darauf angewiesen, „den Zeichen irgendeine

abstrakte »Bedeutung« zu substituieren, sondern darauf, daß es sich an ihnen, als konkret-

anschaulichen Gebilden, festhält und sich vermittelst dieser Gebilde auf seinem Wege

orientiert“ (PsF III, 444 f.).

Vor diesem Hintergrund sollte man nun auf die Funktion der Zeichen in der Philosophie

der symbolischen Formen näher eingehen.

Die Zeichen bei Cassirer unterscheiden sich zunächst durch ihren Gebrauch. So steht das

Zeichen im Bereich der Ausdrucksfunktion für den Ausdruckssinn der Eigennamen oder

Gegenstände in der Art des sinnlichen Zeichens und im Bereich der Darstellungsfunktion

für den Darstellungssinn der Repräsentanten in einer Art von Sprachform oder

Wortzeichen. Im Bereich der Bedeutungsfunktion steht das Zeichen für das reine

Bedeutungszeichen, wie zum Beispiel das mathematische Zeichen. Es stellt sich hier die

Frage, wie das sinnliche Zeichen für den sinnlichen Einzelinhalt der Wahrnehmung zu

einem Bedeutungszeichen in der wissenschaftlichen Erkenntnis gemacht werden kann.

Die ursprüngliche und entscheidende Leistung des Begriffs ist nach Cassirer nicht „die

Vergleichung der Vorstellungen und ihre Zusammenfassung nach Arten und Gattungen“,

sondern „die Formung der Eindrücke zu Vorstellungen“ (PsF I, 252).373 Im Prozess der

Formung der Eindrücke zu Vorstellungen wird im Bereich des natürlichen Weltbegriffs

Wortzeichen oder ‚Sprache‘ gebraucht. Cassirer definiert das Zeichen im Bereich des

natürlichen Weltbegriffs als das, was „für das Bewußtsein das erste Stadium und den ersten

Beleg der Objektivität“ bildet, und dies geschieht, „weil durch dasselbe zuerst dem stetigen

Wandel der Bewußtseinsinhalte Halt geboten, weil in ihm ein Bleibendes bestimmt und

herausgehoben wird“ (PsF I, 22). In diesem Wechsel der inhaltlichen Qualitäten behauptet

das Bewusstsein die Einheit seiner selbst, und durch einen logischen Akt der Setzung und

373 Cassirer verweist auf Lotze, vgl. 3.3.5.

170

Unterscheidung können die Sinneseindrücke im Fluss des Bewusstseins angehalten

werden.

Auch der Inhalt, der mit dem Zeichen verknüpft wird, gewinnt in sich selbst einen neuen

Bestand und eine neue Dauer: „Denn dem Zeichen kommt, im Gegensatz zu dem realen

Wechsel der Einzelinhalte des Bewußtseins, eine bestimmte ideelle B edeu t ung zu, die

als solche beharrt.“ (PsF I, 22) Und dadurch stellt das Zeichen das erste Allgemeine dar:

„Es [das Zeichen] ist nicht gleich der gegebenen einfachen Empfindung ein punktuell

Einzelnes und Einmaliges, sondern es steht als Repräsentant für eine Gesamtheit, einen

Inbegriff möglicher Inhalte, deren jedem gegenüber es also ein erstes ‚Allgemeines‘

darstellt.“ (ibd.)

An dieser Stelle ist hervorzuheben, dass das Zeichen bei Cassirer im Bereich des

natürlichen Weltbegriffs oder in der sprachlichen Begriffsbildung nur das erste Allgemeine

darstellen kann. Dies ist, wie bereits im vorherigen Abschnitt gezeigt, an Lotzes Logik

angelehnt.374 Cassirer greift Lotzes Unterteilung auf und verwendet gemäß der Stufen der

Objektivität das erste Allgemeine und das charakteristische Allgemeine (vgl. 3.3.5). Das

charakteristische Allgemeine, in Aufnahme von Leibniz Characteristica generalis, das bei

Lotze noch das zweite Allgemeine genannt wird, tritt bei Cassirer in der wissenschaftlichen

Erkenntnis, im Bereich der Bedeutungsfunktion, auf.

Die Form der anschaulichen Wirklichkeit baut sich durch ein Verhältnis der ‚Mitsetzung‘

zwischen den Momenten auf. Wenn ein Moment bei der Setzung von Merkmalen als

Repräsentant des Ganzen genommen wird, verliert der Inhalt nicht seine Einzelheit und

nicht seine Besonderheit, sondern erhält damit eine neue allgemeine Form aufgeprägt.

Cassirer expliziert das soeben Gesagte wie folgt:

„Jetzt erst fungiert er [der Inhalt] als ,Merkmal‘ im eigentlichen Sinne: er istzum Zeichen geworden, das uns in den Stand setzt, ihn, wenn er erneut vor unshintritt, w iede r zue r kennen . Dieser Akt der ,Rekognition‘ ist notwendig andie Funktion der ,Repräsentation‘ gebunden und setzt sie voraus. Nur dort, woes gelingt, eine Totalerscheinung in eines ihrer Momente gleichsamzusammenzudrängen, sie symbolisch zu konzentrieren, sie im Einzelmomentund an ihm prägnant zu ,haben‘[...] ― nur dort haben wir sie aus dem Stromedes zeitlichen Werdens heraus. [...] Alles was wir die ,Identität‘ von Begriffenund Bedeutungen, oder was wir die ,Konstanz‘ von Dingen und Eigenschaftennennen, wurzelt in diesem Grundakte des Wiederfindens. So ist es einegemeinsame Funktion, die auf der einen Seite die Sprache, auf der anderenSeite die spezifische Gliederung der anschaulichen Welt erst ermöglicht.“ (PsFIII, 133)

374 Lotze (1843/1989), Buch 1, S. 41 f.

171

Anhand dieser Erläuterung kann man zunächst festhalten, dass die Funktion des Zeichens

in erster Linie darin besteht, Merkmale wiedererkennen zu können. Das Zeichen ist dem

Inhalt, auf den es sich bezieht, nicht hinzuzufügen, sondern es soll den Inhalt seinem reinen

Bestand nach festhalten und diesen wiederholen.

Das sinnliche Zeichen, das innerhalb der Definition der symbolischen Form verwendet

wird — ein geistiger Bedeutungsgehalt wird an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft

―, tritt allein in den Dimensionen der Ausdrucksfunktion und der Darstellungsfunktion,

nämlich im Bereich des natürlichen Weltbegriffs auf.375 Detlev Pätzold nennt unter den

„einzelnen konkreten sinnlichen Zeichen“ als Beispiele „eine Geste, ein Lautzeichen oder

ein artifizielles, theoretisches Begriffszeichen“.376 Man sollte aber tunlichst vermeiden,

Begriffszeichen wie in Pätzolds Beispiel zu verstehen, denn ein Begriffszeichen gehört

dem Bereich des wissenschaftlichen Weltbegriffs an und kann daher nicht unter die

sinnlichen Zeichen eingeordnet werden. Cassirer betont auch, dass „der Akt der

begrifflichen Bestimmung eines Inhalts [...] mit dem Akt seiner Fixierung in irgendeinem

charakteristischen Zeichen Hand in Hand“ geht (PsF I, 18). Wenn Cassirer es gewollt hätte,

hätte er es schon als Begriffszeichen oder reines Bedeutungszeichen bezeichnen können:

Der „Schritt von der Stoffprobe zum echten Zeichen und die prinzipielleA bl ösba rke i t des Zeichens von den Dingen, für die es als Zeichen fungiert,macht erst die Besonderheit und den charakteristischen Sinn und Wert dermenschlichen Sprache aus. Und eben diese beiden Momente sind es nun auch,auf denen der weitere Fortgang: der Fortgang von den »Wortzeichen« derSprache zu den reinen »Begriffszeichen« der theoretischen Wissenschaftwesentlich beruht. In dieser letzteren ist vollendet, was in den ersterenbegonnen und angelegt war.“ (PsF III, 388)

Gelingt es einem zu verstehen, was Cassirer mit den reinen Bedeutungszeichen meint, —

sie haben „alles bloß-Ausdrucksmäßige, alles anschaulich-Repräsentative von sich

abgestreift“ (PsF III, 334) — wird die Funktion des sinnlichen Zeichens im Bereich der

Ausdrucks- und Darstellungsfunktion deutlicher. Die sinnlichen Zeichen sind, mag sein,

dass sie Lautsprache sind, anschauliche Repräsentanten, das heißt, ihr Bedeutungsgehalt

steht noch in Verbindung zur anschaulich-sinnlichen Welt, und sie werden im Bereich der

wissenschaftlichen Erkenntnis zu reinen Begriffszeichen.

375 Cassirer unterscheidet angelehnt an Edmund Husserl zwischen ‚anzeigenden‘ und ‚signifikativen‘Zeichen, vgl. PsF III, S. 377; vgl. 3.6.1.1 (S. 207).

376 Sandkühler/Pätzold (2003), S. 62.

172

3.4.2. Das Zeichen und die Grenze der sprachlichen Begriffsbildung

Den Verlauf der Zeichenfunktion oder der Sprache schildert Cassirer im Aufsatz Das

Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie wie folgt:

So „geht die Sprache vom Ausdruckssinn zum reinen Darstellungssinn fort —und sie strebt von diesem beständig dem »dritten Reich«, dem Reich der reinenBedeutung zu. Sie bleibt nicht im Kreise des Anschaulich-Faßbaren stehen,sondern sie wagt es, nach dem Letzten und Höchsten im Reiche des Gedankenszu greifen.“ (SP, 305)

Wenn man dieses Zitat mit dem Verlauf der Zeichenfunktion vom Bereich der

Ausdrucksfunktion bis zur Bedeutungsfunktion vergleicht, so merkt man deutlich, dass

Cassirer Zeichen und Sprache einer Ebene zuordnet, denn er schildert hier den gleichen

Inhalt und wechselt dabei lediglich die Ausdrücke. Man stellt sich die Frage, warum

Cassirer überhaupt die Zeichen statt der Sprache oder Lautsprache in seiner Philosophie der

symbolischen Formen eingeführt hat. Der Beantwortung dieser Frage soll im Folgenden

nachgegangen werden.

Die erste Leistung des Begriffs liegt nach Cassirer schon im Wahrnehmungsakt. Die

Bedeutung des Begriffs kann nicht zum Schluss der Begriffsbildung zugefügt werden,

sondern sie muss von Anfang an am Prozess der Begriffsbildung mitwirken und ihn

mitgestalten. Der Sinn des ersten Allgemeinen soll dabei nicht verloren gehen und mit dem

zweiten oder charakteristischen Allgemeinen zur reinen Bedeutung werden. Wie bereits

erwähnt, ist er der Ansicht, dass das logische Bedeutungsproblem und das

erkenntniskritische Problem „in ihrer Beziehung zu einem Dritten, zum Problem des

Zeichens und der Bezeichnung“ erfasst werden müssen (PsF III, 383). Somit wird das

Problem des Zeichens und der Bezeichnung zum systematischen Bestandteil der

Bedeutungsfunktion innerhalb seiner Begriffstheorie.

Cassirer hält es für unmöglich, das Bedeutungsproblem einfach als das Problem der

Bezeichnung zu betrachten und es aus ihm abzuleiten, denn die Bedeutung bleibt seiner

Meinung nach als ein ‚logisch-Wesenhaftes‘ erhalten und sie erweist sich als Kernpunkt

und Mittelpunkt, während die Bezeichnung ihr gegenüber an eine periphere Stelle gedrängt

wird. Das heißt aber auch, die Bedeutung wird doch vom Problem des Zeichens und der

Bezeichnung abgesondert, da der Gehalt des Begriffs in der modernen Logik als der eines

reinen Relationsgefüges betrachtet wird, und dadurch bleibt der sprachliche ‚Name‘

173

gegenüber dem ideellen ‚Sinn‘ dieses Gefüges ein Sekundäres, nämlich ein ‚Äußerliches‘

(vgl. PsF III, 383). Das Denken muss aus den anschaulichen Begriffen die sprachlichen

Begriffe hervorgehen lassen, und diese letzteren sollen in die Form des wissenschaftlichen

Begriffs umgeprägt werden (vgl. PsF I, 18 f.).

Cassirer kritisiert daher an einer Stelle, dass die Sprache den Ausdruck der logischen

Bestimmungen und Relationen nur in Bilder zu fassen sucht. Er nennt als Beispiel die

‚Kopula‘ des prädikativen Satzes und meint, dass in diesem Satz die Geltung der Relation

durch eine Existenzaussage ersetzt wird: „So wird die Sprache, wie durch einen inneren

Zwang, immer wieder dazu geführt, die Grenze zwischen »Essenz« und »Existenz«

zwischen dem begrifflichen »Wesen« und der anschaulichen »Wirklichkeit« zu

verwischen.“ (PsF III, 389) Obschon Cassirer das ‚Ist‘ der Kopula als „die reinste und

prägnanteste Ausprägung“ der Darstellungsfunktion bezeichnet377, erklärt er sie für die

‚reine Bedeutung‘ eher zum Hindernis.

Dies ist auch ein Grund dafür, warum Cassirer eine Grenze zwischen der sprachlichen

Begriffsbildung und der Begriffsbildung durch Begriffszeichen oder reine

Bedeutungszeichen zieht. Denn der Begriff soll von der anschaulichen Wirklichkeit sich

abheben und nicht den sprachlichen Bildern anhaften.378 Der Gebrauch des Zeichens soll

wie in der wissenschaftlichen ‚Terminologie‘ von allen einschränkenden sinnlichen

Bedingungen befreit werden (vgl. PsF III, 389). Dafür soll der Gedanke einerseits die

Zeichen als Zeichensprache oder Wortzeichen nutzen, die sich als ‚fertig-geprägte‘

darstellen, andererseits soll er sich selbst ,ein neues Organ‘ nämlich ein neues Zeichen

erschaffen, wenn er in eine neue Form eingetreten ist, wie es zum Beispiel im Übergang

vom Bereich der Darstellungsfunktion zu dem der Bedeutungsfunktion, besonders in der

mathematischen Naturwissenschaft, geschieht.

Durch die Funktion der Repräsentation kann sich die Welt der Sinne zu einer Welt der

Anschauung und der Vorstellung formen. Der Formungsprozess ist aber zunächst der

377 Vgl. Bermes (1997), S. 159. Bermes stützt sich bei der Erklärung der symbolischen Form der Spracheauf Cassirer, PsF III, S. 526 f.: Der „S a t z ist das eigentliche sprachliche Grundgebilde, ist das, worinsich die Form der sprachlichen »Aussage« vollendet. Und jeder reine Aussage-Satz schließt einebestimmte S e t z u n g in sich: er geht auf einen »objektiven« Sachverhalt, den er beschreiben undfesthalten will. Das »Ist« der Kopula ist die reinste und prägnanteste Ausprägung für diese neueDinmension der Sprache, für ihre reine »Darstellungsfunktion«“.

378 Vgl. PsF III, S. 527: „Alle sprachliche Darstellung bleibt an die Welt der A n s c h a u u n g gebunden undkehrt immer wieder zu ihr zurück. Anschauliche »Merkmale« sind es, die der Prozeß der sprachlichenBenennung herauslöst und die er festhält. Auch dort, wo die Sprache zu ihren höchsten, spezifisch-gedanklichen Leistungen fortschreitet, wo sie, statt Dinge oder Eigenschaften, Vorgänge oderHandlungen zu benennen, vielmehr reine Beziehungen und Verhältnisse bezeichnet, geht dieser reinsignifikative Akt über bestimmte Schranken der konkret-anschaulichen Darstellung zunächst nichthinaus. Immer wieder schiebt sich der logischen Bestimmung ein Bild, ein Schema der Anschauungunter.“

174

Materie des Sinnlichen verhaftet. Die Vorstellung, in der die Materie als reines Mittel der

Darstellung gebraucht wird, besteht noch aus demselben Stoff wie dem der Sinnenwelt.

Hieraus ergibt sich das Problem, dass sich der Blick des Geistes noch in den Einzelheiten

des Anschauungsbildes verfängt, anstatt „er dasselbe nur als Ausgangs- und

Durchgangspunkt, als Medium der »Bedeutung« nähme“ (PsF III, 385). Hier bringt die

Sprache eine Wendung, die sich von den unmittelbar-sinnlichen Inhalten, von den

anschaulichen ‚Allgemeinvorstellungen‘ zu den sprachlichen ‚Begriffen‘ vollzieht. Die

Sprache wird somit zum unentbehrlichen ‚Vehikel‘ des Gedankens. Das Wort allein schafft

im Cassirerschen Sinne nicht den Begriff, aber es bildet eines der wichtigsten Mittel für die

Ablösung des Begriffs vom unmittelbar Wahrgenommenen und Angeschauten. Dies

bezeichnet Cassirer als „Aktualisierung“ des Begriffs, das heißt, es ist der Beginn der

„Arbeit“ des Geistes, in der er sich seine Welt erst erringt und gestaltet (PsF III, 386). In

dieser Wende, im Bereich des natürlichen Weltbegriffs, setzt Cassirer Termini wie das

Wortzeichen oder den Sprachbegriff, anstelle des gewöhnlichen Sprachwortes, ein.

Die reinen Begriffszeichen im Bereich des wissenschaftlichen Weltbegriffs unterscheiden

sich somit von den Worten der Sprache oder Wortzeichen dadurch, dass ihnen kein

anschaulicher Nebensinn anhaftet. Sie tragen an sich „keine sinnliche Farbe, kein

individuelles »Kolorit« mehr“. „Sie sind aus Mitteln des »Ausdrucks« und aus Mitteln der

anschaulichen »Darstellung« zu reinen Bede u tungsträgern geworden.“ (PsF III, 395)

Die Aufgabe der ‚Sprache‘ ist es, Bestimmungen und Unterschiede in der Vorstellung nicht

zu wiederholen, sondern die Bestimmungen und Unterschiede als solche erst zu setzen und

kenntlich zu machen. Daher spricht Cassirer wiederholt von der Setzung oder Mitsetzung

des Zeichens, in der die Grundfunktion des Bedeutens nur fixiert wird:

„Daß ein sinnlich-Einzelnes, wie es z.B. der physische Sprachlaut ist, zumTräger einer rein geistigen Bedeutung werden kann — dies wird zuletzt nurdadurch verständlich, daß die Grundfunktion des Bedeutens selbst schon vorder Setzung des einzelnen Zeichens vorhanden und wirksam ist, so daß sie indieser Setzung nicht erst geschaffen, sondern nur fixiert, nur auf einenEinzelfall angewandt wird.“ (PsF I, 42)

Er erklärt auch, warum das Zeichen nur fixieren kann:

„Weil jeder Sonderinhalt des Bewußtseins in einem Netzwerk mannigfacherBeziehungen steht, kraft deren er in seinem einfachen Sein und seinerSelbstdarstellung, zugleich den H inwe i s auf andere und wieder andereInhalte in sich schließt, kann und muß es auch bestimmte Gebilde desBewußtseins geben, in denen diese reine Form des Hinweisens sich gleichsam

175

sinnlich verkörpert.“ (PsF I, 42)

Die Setzung des Zeichens kann aber nur durch die ‚Freiheit des geistigen Tuns‘ geschehen,

und dadurch wird es erst möglich, das ‚Chaos‘ der sinnlichen Eindrücke zu lichten. Durch

diese Setzung des Zeichens beginnt erst die Gestaltung dieser sinnlichen Eindrücke:

„Diese Wandlung zur Gestalt vollzieht sich in der Wissenschaft und in derSprache, in der Kunst und im Mythos in verschiedener Weise und nachverschiedenen Bildungsprinzipien: aber sie alle stimmen darin überein, daßdasjenige, was schließlich als Produkt ihres Tuns vor uns hintritt, in keinemZuge mehr dem bloßen M a te r i a l gleicht, von dem sie anfänglichausgegangen waren. So unterscheidet sich in der Grundfunktion derZeichengebung überhaupt und in ihren verschiedenen Richtungen erst wahrhaftdas geistige vom sinnlichen Bewußtsein.“ (PsF I, 43)

Darum meint Cassirer, die Auffassung der Repräsentation und der ,Bedingung ihrer

Möglichkeit‘ beherrsche und bestimme die Auffassung des Begriffs (PsF III, 362). Man

kann an dieser Stelle festhalten, dass das Zeichen eine zweigliedrige Funktion besitzt, die

einerseits für die sprachliche Semiotik steht, die mit der Bedeutungsfunktion des Zeichens

verbunden ist, und andererseits für die Symbolik, für die Fixierung des geistigen

Bedeutungsgehalts.

Wenn Cassirer der Ansicht ist, im Rahmen einer systematischen Bedeutungslehre lasse

sich die Begriffslehre zureichend begründen und vollständig aufbauen, so wird hier

deutlich, dass er im Grunde genommen mit der Funktion des Zeichens seine

Begriffstheorie zu begründen und aufzubauen versucht. Dies wiederum heißt, das Zeichen

trägt den Bedeutungsgehalt des Geistes, nämlich das Symbol. So kann man

zusammenfassen, dass in der Begriffstheorie Cassirers die Frage nach der Bedeutung des

Begriffs mit dem Zeichen oder der Zeichenfunktion verknüpft ist und die Frage nach der

Form des Begriffs mit dem Symbol oder der Symbolfunktion. So gesehen, ist die Form des

Begriffs eine symbolische Form. Dies lässt sich auch so interpretieren, dass Cassirer das

alte Problem von ‚Form und Materie‘ durch Symbol und Zeichen zu lösen versucht.

Ein weiterer Grund für die Einführung des Zeichens durch Cassirer lässt sich in der

Naturwissenschaft ausmachen, in der die Natur für das Denken als Gesetz mit einer

‚Formel‘ aufgenommen wird und in der sich jede Formel durch die Verknüpfung

„allgemeiner und spezifischer Zeichen“ (PsF I, 18) darstellen lässt:

„Ohne jene universellen Zeichen, wie sie die Arithmetik und Algebra

176

darbieten, wäre auch keine besondere Relation der Physik, kein besonderesNaturgesetz aussprechbar. Darin prägt sich gleichsam sinnfällig dasGrundprinzip der Erkenntnis überhaupt aus, daß sich das Allgemeine immernur im Besonderen anschauen, das Besondere immer nur im Hinblick auf dasAllgemeine denken läßt.“ (ibd.)

Daher fordert Cassirer, dass diese Funktion des Zeichens nicht nur in der Wissenschaft,

sondern auch in allen anderen „Grundformen geistigen Schaffens“ (ibd.) ihre Anwendung

finden muss. Diese universellen Zeichen gehen einen doppelten Weg, das heißt, einerseits

fixiert das Zeichen den geistigen Bedeutungsgehalt und andererseits fügt es die Bedeutung

des Symbols in den weiteren Verlauf der Begriffsbildung ein. Das Denken schafft dabei ein

neues Zeichen für die neue Bedeutung, und so weiter. Wie diese Symbole und Zeichen

parallel die drei Bereiche durchlaufen sollen, hat Cassirer nicht deutlich geklärt. Nicht

zuletzt deshalb wird an diesem Punkt Kritik geübt, wie zum Beispiel von van Heusden, der

diesen Zwiespalt, also den zwischen Symbolfunktion und Zeichenfunktion, vom

Standpunkt der Semiotik aus kritisiert. Angelehnt an Umberto Eco ist er der Meinung, dass

das Symbolische und das Semiotische bei Cassirer zusammenfallen.379 Er stellt fest, dass

Cassirers Semiotik vom Symbolischen „heimgesucht“ wird und „hinter dem

Symbolischen“ sich das Sprachliche verbirgt.380 Mit drastischen Worten führt er aus, dass

„das Ganze der Kultur in das Procrustes-Bett der sprachlichen Form gepresst wird, womit

eine partielle Amputation des Vor-Sprachlichen (des Bildes) und das jenseits des

Sprachlichen Liegenden (der Logik) verbunden ist.“381

Diesen Behauptungen von van Heusden kann man nur bedingt zustimmen, da er bei seiner

Kritik im Cassirerschen Sinne nur von der Zeichenfunktion oder Symbolfunktion im

Bereich der Darstellungsfunktion ausgeht und von dort aus versucht, die Funktion der

Zeichen im Bereich der Ausdrucksfunktion und der Bedeutungsfunktion zu kritisieren. Von

diesem Standpunkt aus wird er daher einer ‚Amputation‘ gewahr, er übersieht aber

gleichzeitig, dass die Zeichenfunktion in jeder der drei Dimensionen eine andere Leistung

erbringt (vgl. 3.5.1, 184 f.). Das Zeichen im Bereich der Ausdrucksfunktion ist das

sinnliche Zeichen, das die Bilderwelt ausdrückt und das Zeichen im Bereich der

379 Heusden (2003) S. 139 f. van Heusden zitiert U. Eco, On Symbols. In: Deely, J. et al., Frontiers inSemiotics. 1986, S. 157: „[Cassirer] deals with the Kantian theory of knowledge as if it were a semiotictheory (even though Cassirer’s a prioi is more similar to a cultural product than to a transcendentalstructure of the human mind). The symbolic activity does not ‚name‘ an already known world, butestablishes the very conditions for knowing it. Symbols are not translations of our thought, they are itsorgans.“ Die Frage ist nur, ob diese Feststellung Ecos ― Symbols are not translations of our thought ―berechtigt ist.

380 Heusden (2003), S. 147.381 Heusden (2003), S. 147.

177

Bedeutungsfunktion ist das Begriffszeichen, das reine Bedeutung besitzt und somit ‚echter‘

Begriff ist. Das Zeichen im Bereich der Darstellungsfunktion ist das Sprachzeichen oder

Wortzeichen, also gewöhnlich die Sprache, wodurch sich van Heusdens Behauptung, dass

das Sprachliche sich hinter dem Symbolischen verbergen soll, zumindest für diesen

Bereich nicht mehr halten lässt.

Man kann an dieser Stelle bei Cassirer eines komplexen Prozesses beim Erkennen des

Gegenstandes gewahr werden, der auch notwendigerweise mit der Funktion der

Repräsentation verbunden ist. Das Zeichen, das durch die Repräsentation bei der Setzung

von Merkmalen der Erscheinung als Repräsentant des Ganzen gesetzt wird, soll im Akt der

Rekognition wieder erkannt werden. Zugleich soll der Inhalt der Anschauung seine

einzelne Besonderheit bewahren. Das Zeichen kann dann im ‚Reich der Symbole‘ zum

reinen Bedeutungszeichen werden, das nur in der gedanklichen Beziehung erfassbar ist.

Diese Zeichen sind es, die Cassirer als idelle Zeichensprache für die wissenschaftliche

Erkenntnis ansieht.

3.4.3. Ordnungszeichen im wissenschaftlichen Begriff

Warum Cassirer in der Philosophie der symbolischen Form und seiner Begriffstheorie statt

der Sprache das Zeichen eingeführt hat, wurde bereits geklärt (vgl. oben 173). Die Sprache

sucht seiner Ansicht nach unter anderem den Ausdruck der logischen Bestimmungen und

Relationen in Bilder zu fassen. Da der Begriff sich aber von der anschaulichen

Wirklichkeit abheben und nicht den sprachlichen Bildern anhaften soll, wurde das Zeichen

eingeführt.

Die Zeichentheorie bei Cassirer taucht aber schon früher in SuF auf, wo es heißt:

„Der Begriff und Terminus der R ep r ä s en t a t i on , der trotz aller Angriffe, diegegen ihn gerichtet wurden, in der Geschichte der Erkenntnislehre dauernd einezentrale Stellung behauptet hat, empfängt hier einen neuen Sinn. Innerhalb dermetaphysischen Lehren ist es die ‚Vorstellung‘, die auf den Gegenstand, derhinter ihr steht, hinweist. Das ‚Zeichen‘ ist somit hier von gänzlich andererNatur, als das Bezeichnete und gehört einem anderen Bereich des Seins an.“(SuF, 373)

Damit wird erkennbar, dass das Zeichen mit der Repräsentation in engem Zusammenhang

steht und Cassirer für die Erkenntnisobjektivität das Zeichen als Vertreter bei der Setzung

178

von Merkmalen einsetzt. Dies wird aber in PsF nur im Bereich der Darstellungsfunktion

expliziert. An einer anderen Stelle in SuF erklärt er die Funktion des Bedeutungszeichens

mit folgenden Worten:

„Das E inz e l mome n t , das als Zeichen dient, ist dem Inbe gr i f f , derbezeichnet wird, zwar nicht materiell ähnlich ― denn die Bez i ehungen , dieden Inbegriff ausmachen, lassen sich nicht durch irgendeine Einzelgestaltungvollständig ausdrücken und ,abbilden‘ ― wohl aber besteht zwischen ihneneine durchgehende logische Gemeinsamkeit, sofern beide prinzipiell demselbenZusamm enhang der Beg ründung angehören. Die sachliche Ähnlichkeitwandelt sich in begriffliche Korrelation.“ (SuF, 377 f.)

So lässt sich auch in SuF schon ein unterschiedlicher Gebrauch des Zeichens erkennen.

Die Entwicklung der exakten Naturwissenschaft zeige, wie jeder Fortschritt ihrer

Problemstellung und ihrer Begriffsmittel Hand in Hand mit einer zunehmenden

Verfeinerung ihres Zeichensystems ginge. Cassirer definiert das Zeichen in der

wissenschaftlichen Erkenntnis als „notwendiges und wesentliches Organ“ des Gedankens

(PsF I, 18). „Es [Zeichen] dient nicht nur dem Zweck der Mitteilung eines fertiggegebenen

Gedankeninhalts, sondern ist ein Instrument, kraft dessen dieser Inhalt selbst sich

herausbildet und kraft dessen er erst seine volle Bestimmtheit gewinnt.“ (PsF I, 18)382

Darum führte er bereits in SuF an anderer Stelle aus:

„Sobald wir die, wenn auch nur allgemeine Gewi ßhe i t von transzendentenDingen jenseits aller Erkenntnis besitzen, mögen wir daher im unmittelbarenErfahrungsinhalt nach Zeichen für diese, wenigstens dem Begriff nachgegebene Realität suchen; wie dagegen dieser Begriff selbst entsteht und wasihn notwendig macht, wird durch die Theorie der Zeichen nicht erklärt.“ (SuF,374)

Das bedeutet, dass das Zeichen nur der Träger der Bedeutung sein darf, wie Cassirer dies

auch in PsF darzustellen versucht. Durch die Funktion des Zeichens als Bedeutungsträger

soll der Zusammenhang innerhalb der ‚Sprache‘ vom Bereich der Ausdrucksfunktion bis

hin zu dem der Bedeutungsfunktion nicht abreißen (vgl. PsF III, 128).

Was das reine Bedeutungszeichen im Bereich der Wissenschaft bedeutet, erklärt er wie

382 Cassirer ist der Meinung, dass das Zeichen in der Objektivierung der Erkennntis ein wichtiges‚Instrument‘ ist. Vgl. ET II, S. 81: „In der Theorie der naturwissenschaftlichen Erkenntnis ist dieentscheidende Wichtigkeit, die dem Begriff des »Zeichens« zukommt, durch Helmholtz, durch HeinrichHertz und durch Duhem seit langem festgestellt. Duhem hat den Sinn und die Aufgabe derphysikalischen Theorie geradezu dahin bestimmt, daß sie nicht sinnliche Bilder oder Modelle, von denErscheinungen entwerfen, wohl aber intellektuelle Symbole schaffen wolle, durch die der gesetzlicheZusammenhang der Phänomene in einfacher und eindeutiger Weise dargestellt wird.“

179

folgt:

„Sie [die Sphäre der reinen Bedeutung] ist von der Sphäre der Darstellungdadurch getrennt, daß sie sich von dem Grunde der a nschau l i che nGestaltung, in welchem die Darstellung wurzelt und aus dem sie fort und fortihre beste Kraft zieht, gelöst hat – daß sie sozusagen im freien Äther des reinenGedankens schwebt. Das Zeichen im Sinne des reinen Bedeutungszeichensdrückt nichts aus und stellt nichts dar – es ist Zeichen im Sinne einer bloßabstrakten Zuor dnung . “ (SP, 303)383

Aus diesem Grund stellt Cassirer in PsF das reine Bedeutungszeichen als Ordnungszeichen

dar:

„Der Prozeß der »Entstofflichung«, wie der der »Ablösung« schreitet fort: dasZeichen entreißt sich gleichsam der Sphäre der D i nge , um zum reinenBeziehungs- und Or dnungs z e i che n zu werden. Jetzt geht es auf keineinzelnes G eb i l de mehr, das es unmittelbar »vorstellig« machen, das es inseinem anschaulichen Umriß gleichsam vor das Auge des Geistes hinstellenwill.“ (PsF III, 389)

Cassirer gebraucht an dieser Stelle das Ordnungszeichen für den Bereich des

wissenschaftlichen Weltbegriffs und das ‚Dingzeichen‘ für den Bereich des natürlichen

Weltbegriffs (vgl. PsF III, 383). Er erklärt nochmals, dass der „Akt der Lösung von der

Sprache“ in der Wissenschaft unumgänglich ist, und dass er sich „als durch die Sprache

selbst bedingt und als durch sie vermittelt“ erweist:

„Denn der Fortgang vom Sprachbegriff zum wissenschaftlichen Begriff bestehtnicht in einer Negation, in einer einfachen U mkehr der geistigen Prozesse,auf denen die Bildung der Sprache beruht, sondern in einer Fortsetzung undeiner ideellen S t e ige r ung derselben. Dieselbe geistige Grundkraft, die ausden »anschaulichen« Begriffen die sprachlichen Begriffe hervorgehen ließ,prägt zuletzt diese letzteren in die Form des »wissenschaftlichen« Begriffs um.“(PsF III, 385)

Das Zeichen bei Cassirer besitzt jetzt eine weitere entscheidende Funktion, es muss „auf

die Herausstellung eines Allgemeinen, einer Form- und Strukturbestimmung“ gerichtet

sein (PsF III, 389). Um dieses Allgemeine zu erfassen, muss es systematisch fortschreiten,

oder anders formuliert, der besondere Inhalt der Wahrnehmung muss mit einem

sprachlichen ‚Merkzeichen‘ versehen werden. Das heißt, ‚Gruppen‘ von Erscheinungen

383 Vgl. auch SP, S. 306: „Hier ist daher der letzte radikale Schnitt getan: das Reich der reinen Beziehungenund Bedeutungen hat sich rein auf sich selbst gestellt und sich von jeder Bindung im anschaulichenDasein gelöst.“

180

müssen im Sinne der klassifizierenden sprachlichen Begriffsbildung zu Einheiten

zusammengefasst werden, und dann kann der Prozess der ‚Entstofflichung‘ wie der der

‚Ablösung‘ folgen. Cassirer hebt in diesem Zusammenhang die „Wesensart des Geistes“

(PsF III, 392) hervor:

„Es liegt in der Wesensart des Geistes selbst beschlossen, daß seine ‚Rückkehrzu sich selbst‘ nicht in einem einzelnen isolierten Höhepunkt seinerEntwicklung erfolgt, sondern daß sie das Ganze dieser Entwicklungbeherrscht und bestimmt. Immer wieder setzt hier, gleichsam in verschiedenerHöhenlage, derselbe charakteristische Prozeß ein — und er ist es, derebensowohl die Trennung zwischen der Welt der »unmittelbaren« Anschauungund der der sprachlichen Begriffe, wie andererseits die Ablösung der logisch-wissenschaftlichen Begriffe von den Sprachbegriffen herbeiführt.“ (ibd.)

Der Begriff verlangt, so Cassirer, im Grunde genommen Festigkeit und Eindeutigkeit.

Obschon der Begriff die Darstellung in einem symbolischen Zeichen braucht, nimmt er

nicht beliebige Zeichen, sondern stellt bestimmte Forderungen auf. Die erste Forderung ist

das Postulat der Identität, das heißt, für denselben Inhalt soll stets dasselbe Zeichen

gewählt werden, und damit wird zwischen Zeichen und Bedeutung eine strenge eindeutige

Zuordnung gebildet (vgl. PsF III, 393). Cassirer erkennt, dass in diesem Postulat zugleich

auch eine andere Forderung an den Begriff enthalten ist:

„Jeder neue Begriff, der im wissenschaftlichen Denken aufgestellt wird, ist vonvornherein auf das Ganze dieses Denkens, auf das Ganze der mög l i c henBegriffsbildung bezogen. Was er bedeutet und ist, ― das hängt von seinerGeltung in diesem Ganzen ab. Alle »Wahrheit«, die ihm zugesprochen werdenkann, ist an diese ständige und durchgängige Bewähr ung gegenüber derGesamtheit der Denkinhalte und Denksetzungen gebunden.“ (PsF III, 393)

Als weitere Anforderung an die Begriffszeichen wird angesehen, dass diese ein in sich

geschlossenes System bilden müssen:

„Es genügt nicht, daß den einzelnen Denkinhalten beliebige einzelne Zeichenzugeordnet werden: sondern sie alle müssen in einer festen Ordnung stehen,derart, daß der gesammte Inbegriff der Zeichen sich nach einer Regel gliedert.Wie ein Denkinhalt durch den andern bedingt erscheint, wie er in ihm ‚sichgründet‘, so muß auch ein Zeichen im andern gegründet, d. h. nach einembestimmten Gesetz des Aufbaus aus ihm ab l e i t ba r sein.“ (PsF III, 393 f.)

Diese Forderung ist aber nur dann erfüllbar, wenn „der Begriff selbst allen Anforderungen

181

der »Exaktheit« genügt, und er einer »Definition« fähig ist, die ihn nach allen Seiten hin

umgrenzt und bestimmt“ (PsF III, 394). Wenn ein neuer Begriff auf das Ganze der

‚möglichen‘ Begriffsbildung bezogen ist und das, was er ist, von seiner Geltung in diesem

Ganzen abhängt, so sagt Cassirer damit aus, dass das, worauf es dem Begriff ankommt,

seine Geltung ist. Damit wird auch deutlich, warum Cassirer das Bedeutungszeichen für

die Zuordnung in der Systembildung des Begriffs gebraucht.

3.5. Wissenschaftlicher Begriff als intellektuelles Symbol

3.5.1. Sinnliches Symbol und intellektuelles Symbol

Die wissenschaftlichen Begriffe werden, wie im vorigen Abschnitt gezeigt, in drei Stufen

gebildet, nämlich ausgehend von den anschaulichen Begriffen über die Sprachbegriffe hin

zu den wissenschaftlichen Begriffen. Diese sind innerhalb der Begriffstheorie in PsF

intellektuelle Symbole und reine Bedeutungszeichen, die in rein gedanklicher Beziehung

zueinander stehen. Cassirer unterscheidet in PsF zwei Symbole, nämlich sinnliche und

intellektuelle Symbole, und der Symbolbegriff selbst soll einen einheitlichen Gehalt und

eine allumfassende geistige Funktion besitzen (vgl. SP, 298). Wenn das intellektuelle

Symbol in der theoretischen Erkenntnis als Begriff bezeichnet wird, so gilt es

herauszufinden, was mit dem sinnlichen Symbol gemeint ist.

Cassirer verwendet in PsF den Ausdruck ,Symbol‘ mehr im allgemeinen Sinne, wie dies

die von ihm verwendeten Ausdrücke ‚symbolische Formen‘, das ‚Symbolische‘ oder

einfach nur ‚Symbol‘ belegen. Auch wird Symbol manchmal mit Zeichen gleichgestellt,

denn man kann aus Cassirers Verwendung von intellektuellen Symbolen und

Begriffszeichen schließen, dass die beiden den selben Inhalt enthalten müssen (vgl. PsF III,

56). Daher gestaltet es sich als recht schwierig, eine genauere Bestimmung des

Symbolbegriffs vorzunehmen. Man muss ‚Symbol‘ je nach Kontext unterscheiden und

feststellen, ob es sich um ein sinnliches oder intellektuelles Symbol handelt. Das ‚Symbol‘

steht zum Beispiel in seinem Aufsatz Zur Logik des Symbolbegriffs im Allgemeinen für die

verschiedenen symbolischen Formen.

Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, welche Bedeutung oder Funktion sinnliche

und intellektuelle Symbole besitzen und was der Begriff ‚Symbol‘ für die Begriffstheorie

Cassirers bedeutet. Dabei geht es um den Sinn des Begriffs und des Ausdrucks ‚Symbol‘,

182

wobei die Symbolfunktion, wie Cassirer selbst betont, als symbolische Relationsfunktion

betrachtet wird.

Cassirer versucht in PsF den Begriff ,Sein‘ durch die Bedeutungsfunktion zu bestimmen,

während er in SuF ihn durch den Funktionsbegriff, statt des ontischen Substanzbegriffs, zu

bestimmen versucht:

„Die symbolischen Zeichen aber, die uns in der Sprache, im Mythos, in derKunst entgegentreten, ‚sind‘ nicht erst, um dann, über dieses Sein hinaus, nocheine bestimmte Bedeutung zu erlangen, sondern bei ihnen entspringt alles Seinerst aus der Bedeutung. Ihr Gehalt geht rein und vollständig in der Funktion desBedeutens auf.“ (PsF I, 42)

Wie im vorigen Abschnitt gezeigt, ist deutlich geworden, dass die Funktion des Bedeutens

nicht im Zeichen selbst liegt, weil das Zeichen das Symbolisierte nur fixiert. Die

Bedeutung muss folglich im Symbol selbst oder im Symbolisierten liegen.

Die sinnlichen Symbole treten nach Cassirer mit einem bestimmten Objektivitäts- und

Wertanspruch auf:

„Und daß es in der Tat eine reine Aktivität des Geistes ist, die sich in derSchaffung der verschiedenen Systeme sinnlicher Symbole bekundet, das drücktsich auch darin aus, daß alle diese Symbole von Anfang an mit einembestimmten Objektivitäts- und Wertanspruch auftreten.“ (PsF I, 21)

Die sinnlichen Symbole beanspruchen, den individuellen Bewusstseinserscheinungen ein

Allgemeingültiges gegenüberzustellen, das auch später gegenüber dem ‚Wahrheitsbegriff‘

im Bereich der Bedeutungsfunktion, dem wissenschaftlichen Weltbegriff als hinfällig

betrachtet werden könnte: „aber daß er [der Anspruch] überhaupt erhoben wird, gehört zum

Wesen und Charakter der einzelnen Grundformen selbst. Sie selbst sehen ihre Gebilde

nicht nur überhaupt als objektiv-gültig, sondern zumeist geradezu als den eigentlichen

Kern des Objektiven, des ‘Wirklichen‘ an“ (PsF I, 21). Damit wird deutlich, dass bei

Cassirer die sinnlichen Symbole für Wirklichkeit und die intellektuellen Symbole für

Wahrheit stehen.

An einer anderen Stelle erklärt er bezüglich des Symbols:

„Das Schöne ist wesentlich und notwendig Symbol, weil und sofern es in sichselbst gespalten, weil es immer und überall eins und doppelt ist. In dieser seinerSpaltung, in diesem Haften am Sinnlichen und in diesem Hinausgehen über dasSinnliche, drückt es nicht nur die Spannung aus, die durch die Welt unseres

183

Bewuß t se in s hindurchgeht, — sondern es offenbart sich darin dieursprüngliche und grundlegende Polarität des S e in s selbst.“ (SP, 296)

Das Symbol muss gemäß diesem Zitat ‚in sich selbst gespalten‘ und ‚immer und überall

eins und doppelt‘ sein. Es bleibt nicht am Sinnlichen haften sondern geht über das

Sinnliche hinaus. Dies bedeutet, das sinnliche Symbol soll sich in einem theoretischen

System zum intellektuellen Symbol umwandeln. Das Schöne ist zum einen eine

Empfindung und kann als sinnliches Erlebnis bezeichnet werden, zum anderen aber ist das

Schöne auch ein Begriff in der theoretischen Ästhetik, der über alles Sinnliche

hinausschreitet.

Die sinnlichen Symbole können in Bezug auf die Wahrheitsfrage zu intellektuellen

Symbolen, also zu wissenschaftlichen Begriffen werden. Aus diesem Grund ist Cassirer der

Ansicht, dass die Symbole die einheitliche Symbolfunktion umschließen und die

Symbolfunktion schon in der Anschauung und der Wahrnehmung stattfinden sollte, was

wiederum nichts anderes bedeutet, als dass die Symbolfunktion schon in der Sphäre der

Ausdrucksfunktion stattfindet. Er baut die wissenschaftlichen Begriffe auf dem Boden des

natürlichen Weltbegriffs auf und betrachtet dabei den Verlauf der Begriffsbildung von der

Sphäre der Ausdrucksfunktion über die der Darstellungsfunktion und bis hin zur Sphäre

der Bedeutungsfunktion. Die Zeichen und Symbole müssen hierbei parallel verlaufen, das

heißt, die sinnlichen Zeichen gemeinsam mit den sinnlichen Symbolen; erstere werden in

der Sphäre der Bedeutungsfunktion zu reinen Bedeutungszeichen, letztere zu

intellektuellen Symbolen. Hierin liegt die grundlegende Systematik der Begriffstheorie

Cassirers in PsF.

Der Begriff in der Wissenschaft, der die Regel der Bestimmung aufstellt und auch als

Regel für die Welt der Anschauungen gelten soll, ist nicht einfach als bloßer Bestand, als

eine Kopie der Welt der Anschauungen anzusehen, sondern er soll der Welt der

Anschauungen gegenüber ein Eigenartiges und Selbständiges bedeuten, obschon der Sinn

des Begriffs in der Anfangsphase nur an der Materie des Anschaulichen sich bekundet und

bezeugt werden kann. Daher betont Cassirer, dass die Regel der Bestimmung nicht einfach

„gesetzt“ werden soll, „sondern sie wird in eben dieser Setzung zugleich als eine

universelle Denkleistung erfaßt und als solche durchschaut“ (PsF III, 331). Dabei ist seiner

Ansicht nach wichtig, dass das Symbol und die Symbolfunktion die Gegenstandserkenntnis

ermöglichen und dadurch ihre Objektivität erreicht werden kann.384

384 Vgl. Seidengart (1995a), S. 197: „Cassirer [hat] bereits im Symbol das objektive Medium entdeckt, mitdessen Hilfe die wirkliche Beziehung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstand ermöglicht wird. Es ist allein

184

Die Begriffe als intellektuelle Symbole in der wissenschaftlichen Erkenntnis —

mathematische Begriffe oder chemische Formeln stehen zum Beispiel nur in gedanklichen

Beziehungen — haben sich von den ‚anschaulichen Repräsentativen‘ abgehoben. Die

Wissenschaft als symbolische Form gehört der logischen Dimension an, und die Begriffe,

die intellektuellen Symbole besitzen reine Bedeutung. Betrachtet man den Mythos als

symbolische Form, so bedeutet dies, dass diese sich auf das sinnliche Zeichen bezieht, das

nur Ausdrucksfunktion besitzt, und dass der geistige Bedeutungsgehalt noch dem sinnlich-

Anschaulichen also dem sinnlichen Symbol anhaftet. Somit besitzt der geistige

Bedeutungsgehalt als ‚anschaulicher Begriff‘ nur Ausdruckssinn. Die Sprache als

symbolische Form bedeutet dann, dass diese sich auf das Wortzeichen oder Sprachzeichen

bezieht, das Darstellungsfunktion besitzt, und dass der geistige Bedeutungsgehalt noch

dem sinnlichen Symbol mit dem Darstellungssinn anhaftet. Folglich streben die sinnlichen

Symbole im Bereich der Ausdrucksfunktion und der Darstellungsfunktion nach den

intellektuellen Symbolen im Bereich der Bedeutungsfunktion.

Wenn man den bis jetzt betrachteten Vorgang des Aufbaus der Begriffstheorie Cassirers als

Objektivierung des Inhalts sowie als Trennung oder ‚Entstofflichung‘ des Inhalts von der

anschaulichen Welt versteht, so kann man diesen der Architektonik nach, wie er die

symbolischen Formen aufbaut, wie folgt systematisieren.385

Weltbegriff natürlicher Weltbegriff wissenschaftlicherWeltbegriff

symbolische Formen Mythos Sprache WissenschaftlicheErkenntnis

Weltauffassung Bilderwelt ‚Welt als Selbstwelt und Dingwelt‘

‚Welt als Ordnungs-gefüge‘

Raum und Zeit Beide fallen zusam-men

Mittel zur Vorstel-lung von Gegen-ständen

Wert des Begriffs Regel der Zugehö-rigkeit

Zahl bildlicheMehrheitsbildung

Mittel zur Vorstel-lung von Gegen-ständen (noch nichtselbständig)

Zahlbegriff

diese Symbolfunktion, die einen reflexiven Abstand, die Zurückweisung des unmittelbaren Eindrucksund die Rekognition des Sinnes der empirischen Inhalte mit Hilfe des Symbols möglich macht, das wieein Vertreter der Realität fungiert.“

385 Vgl. Bermes (1997), S. 161; auch Peters (1983).

185

symbolische Formen Mythos Sprache WissenschaftlicheErkenntnis

Symbol sinnliche Symbole sinnliche Symboleund möglicherweiseintellektuelleSymbole

intellektuelleSymbole

Zeichen sinnliche Zeichen sinnliche Zeichen Wortzeichen

BedeutungszeichenBegriffszeichen

Sprache (Ausdruck)/ Sinn und Bedeutung

mimischAusdruckssinnanschaulicherBegriff

analogischDarstellungssinnSprachbegriff

rein symbolischreine BedeutungwissenschaftlicherBegriff

Zeichenfunktion Ausdrucksfunktion Darstellungsfunktion Bedeutungsfunktion

3.5.2. Symbolfunktion und symbolische Prägnanz

Wie im Abschnitt 3.4.2 gezeigt, ist Cassirer der Ansicht, dass die sprachliche

Begriffsbildung den Bereich der Darstellungsfunktion nicht überschreiten kann, das heißt,

man sucht den Gegenstand des Begriffs, des Sprachbegriffs immer wieder in der

anschaulich-empirischen Welt. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet er Kants

Schematismus als einen, der auch noch dem Bereich der Darstellungsfunktion angehört.

Das Kapitel ‚Von dem Schematismus der reinen Verstandesbegriffe‘ in der Kritik der

reinen Vernunft ist eines der unstrittensten Kapitel, und es geht im Wesentlichen um das

Problem der Anwendbarkeit der Kategorien auf Anschauungen. Das Schematismuskapitel

in Kants ‚Analytik der Grundsätze‘ beginnt mit dem Absatz:

„In allen Subsumtionen eines Gegenstandes unter einen Begriff muß dieVorstellung des ersteren mit der letztern g le i char t i g sein, d.i. der Begriffmuß dasjenige enthalten, was in dem darunter zu subsumierenden Gegenstandvorgestellt wird, denn das bedeutet eben der Ausdruck: ein Gegenstand seiunter einem Begriffe enthalten.“386

Kant führt als Beispiel den empirischen Begriff Teller und den rein geometrischen Zirkel

an, deren Gleichartigkeit sich in der Rundung ausdrückt. Die reinen Verstandesbegriffe

seien aber in Vergleichung mit sinnlichen Anschauungen ganz ungleichartig und können

386 Kant (W1990), S. 187. KrV, A 137/ B 176.

186

niemals in irgendeiner Anschauung angetroffen werden. Wie die Anwendung der Kategorie

auf die Erscheinung möglich ist führt Kant wie folgt aus:

„Nun ist klar, daß es ein Drittes geben müsse, was einerseits mit der Kategorie,andererseits mit der Erscheinung in Gleichartigkeit stehen muß, und dieAnwendung der ersteren auf die letzte möglich macht. Diese vermittelndeVorstellung muß rein (ohne alles Empirische) und doch einerseitsi n t e l l e k t ue l l , andererseits s i nn l i c h sein. Eine solche ist dast r a nsze nden t a l e S che ma .“387

Eine Anwendung der Kategorie auf Erscheinungen soll nun nach Kant möglich sein,

„vermittelst der transzendentalen Zeitbestimmung, welche, als das Schema der

Verstandesbegriffe, die Subsumtion der letzteren unter die erste vermittelt“.388 Die Zeit

enthalte ein Mannigfaltiges a priori in der reinen Anschauung. Eine transzendentale

Zeitbestimmung ist mit der Kategorie sofern gleichartig, „als sie a l l geme i n ist und auf

einer Regel a priori beruht“,389 und sie ist mit der Erscheinung sofern gleichartig, „als die

Ze i t in jeder empirischen Vorstellung des Mannigfaltigen enthalten ist“.390 Kant führt aber

im Vergleich zu seinen zwölf Kategorien neun transzendentale Schemata aus.391

Er unterscheidet das Schema vom Bild und führt als Beispiel für das Schema eines

empirischen Begriffs die Gestalt eines Hundes an:

„Der Begriff vom Hunde bedeutet eine Regel, nach welcher meineEinbildungskraft die Gestalt eines vierfüßigen Tieres allgemein verzeichnenkann, ohne auf irgend eine einzige besondere Gestalt, die mir die Erfahrungdarbietet, oder auch ein jedes mögliche Bild, was ich in concreto darstellenkann, eingeschränkt zu sein. [...] das B i ld ist ein Produkt des empirischenVermögens der produktiven Einbildungskraft, das S che ma sinnlicher Begriffe(als der Figuren im Raume) ein Produkt und gleichsam ein Monogramm derreinen Einbildungskraft a priori, wodurch und wornach die Bilder allererstmöglich werden, die aber mit dem Begriffe nur immer vermittelst des Schema,welches sie bezeichnen, verknüpft werden müssen, und an sich demselbennicht völlig kongruieren.“392

387 Kant (W1990), S. 187 f. KrV, A 138/ B 177.388 Kant (W1990), S. 188. KrV, A 139/ B 178.389 Kant (W1990), S. 188. KrV, A 138/ B 177 f.390 Kant (W1990), S. 188. KrV, A 139/ B 178.391 Vgl. Kant, KrV, A 142 ff./ B 182 ff.; vgl. Curtius (1914), S. 361. Quantität (die Zahl) (Quantität ist nur

der gemeinsame Titel für die drei ersten Kategorien), Realität (das Sein in der Zeit), Negation (dasNichtsein in der Zeit), Substanz (die Beharrlichkeit des Realen in der Zeit), Kausalität, Gemeinschaft(das Zugleichsein der Bestimmungen einer Substanz, mit denen einer andern, nach einer allgemeinenRegel), Möglichkeit (die Zusammenstimmung der Synthesis verschiedener Vorstellungen mit denBedingungen der Zeit überhaupt), Wirklichkeit (das Dasein in einer bestimmten Zeit) undNotwendigkeit (das Dasein eines Gegenstandes zu aller Zeit).

392 Kant (W1990), S. 190. KrV, A 141 f./ B 180 f.

187

Das Schema eines reinen Verstandesbegriffs kann dagegen nicht als Bild gebraucht werden

und ist die reine Synthesis.

Cassirer ist der Auffassung, wenn die wissenschaftlichen Begriffe oder reinen

Verstandesbegriffe durch Anschauung (Wahrnehmung) und Verstand einmal gewonnen

sind, dann kann es nicht möglich sein, dass diese Begriffe bei ihrer Anwendung wieder zu

der sinnlich-empirischen Anschauung oder zu den anfänglichen Sinnesdaten zurückgeführt

werden, wovon man eigentlich ausgegangen war. Das heißt aber nicht, dass Cassirer diese

Rückführung auf die Anschauung ablehnt:

„Der Sinn des Prinzips [Prinzip der Naturerklärung] muß sich zuletzt empirischund somit anschaulich erfüllen; aber diese Erfüllung ist niemals direkt möglich,sondern kann nur in der Weise geschehen, daß aus der Annahme seinerGültigkeit durch eine hypothetische Deduktion andere Sätze hergeleitetwerden. Keiner dieser Sätze, keines der einzelnen Stadien in diesem logischenFortgang, braucht hierbei einer direkten anschaulichen Interpretation fähig zusein. Nur als logische Gesa mt he i t läßt sich die Reihe der Folgerung auf dieAnschauung beziehen und an ihr bewähren und rechtfertigen.“ (PsF III, 540)

Daher kritisiert Cassirer Kants Schematismus in zwei Punkten, nämlich erstens, dass dieser

die Anwendung der Kategorien auf die sinnlichen Anschauungen durch Schemata zu

ermöglichen versuchte.393 Zweitens muss das Schema von Cassirers Symbolfunktion aus

gesehen auf den Bereich der Darstellungsfunktion beschränkt sein. Denn das Schema ist es,

auf das die Sprache „alle intellektuellen Vorstellungen beziehen muss, um sie dadurch

sinnlich fassbar und darstellbar zu machen“, und die Sprache besitzt ein solches Schema

„in ihren Benennungen für räumliche Inhalte und Verhältnisse“. Dies erweckt den

Eindruck, „als würden alle gedanklichen und ideellen Beziehungen dem Sprachbewußtsein

erst dadurch faßbar, daß sie [die Sprache] sie auf den Raum projiziert und in ihm

analogisch ‚abbildet‘“ (PsF I, 152).

Dieses Problem des Schemas soll durch die symbolische Formung des Begriffs und die

symbolische Form überwunden werden. Um dies zu ermöglichen, muss zuerst das Gebiet

der transzendentalen Einheit der Apperzeption erweitert werden, das heißt, dass die Einheit

der Apperzeption von Beginn an auf das Gebiet des natürlichen Weltbegriffs und nicht erst

später auf das Gebiet des wissenschaftlichen Weltbegriffs bezogen sein muss. Darauf wird

im nun folgenden Abschnitt eingegangen.

393 Zur Problemstellung und unterschiedlichen Interpretationen der Schematismuslehre vgl. Detel (1978), S.18 ff.; Dahlstrom (1984), S. 38; vgl. auch Lohmar (1991).

188

3.5.2.1. Die symbolische Formung und das Wahrnehmungsurteil

Wenn die Begriffe in PsF in drei Stufen, Ausdrucks-, Darstellungs- und

Bedeutungsfunktion, gebildet werden und diese zugleich als Objektivitätsstufen des

Begriffs dienen sollen und die intellektuellen Symbole im Bereich der Bedeutungsfunktion

zu wissenschaftlichen Begriffen mit reiner Bedeutung werden sollen, so können die

Symbole, die Energie des Geistes, die den geistigen Bedeutungsgehalt besitzt, gegenüber

dem Wahrnehmungsurteil nicht völlig allein stehen. Die beiden bilden eng miteinander

zusammen durch die drei Stufen hindurch den geistigen Bedeutungsgehalt, das heißt, den

Inhalt des Begriffs. Cassirer meint, dass die symbolische Formung der Wahrnehmungs-

und Anschauungswelt nicht erst beim exakt-wissenschaftlichen Begriff einsetzt, wie dies

bei Kant geschehen ist (vgl. PsF III, 347 f.). Denn die symbolische Formung tritt schon im

Bereich der Ausdrucksfunktion und der Darstellungsfunktion ein, in dem die mythische

Bilderwelt und sinnlich-anschauliche Welt verstanden werden sollten.

Seinen Versuch, dies zu verdeutlichen, beginnt Cassirer bei Kants transzendentaler Einheit

der Apperzeption, die dieser als eine Bedingung der Möglichkeit der Wahrnehmung

erkannte. Die transzendentale Einheit der Apperzeption ist mit Kategorie und Urteil

verbunden und möchte, wie Cassirer sie versteht, sich nicht schlechthin auf die Logik des

wissenschaftlichen Denkens beziehen und auf sie eingeschränkt sein, denn die Entwicklung

der Symbolfunktion muss von der Sphäre der Ausdrucksfunktion bis zu der der

Bedeutungsfunktion ohne Bruch verlaufen.

Der Unterschied zwischen Cassirer und Kant liegt darin, dass Kant in der

Schematismuslehre das transzendentale Schema erklärt, indem er konstatiert, die

vermittelnde Vorstellung müsse rein sein und dennoch einerseits intellektuell und

andererseits sinnlich394; bei Cassirer haben Zeichen die Eigenschaft, dass die reinen

Bedeutungszeichen ‚alles anschaulich-Repräsentative von sich abgestreift‘ haben und die

Begriffszeichen die intellektuellen Symbole sind, und nur die sinnlichen Symbole haben

noch mit der sinnlich-anschaulichen Außenwelt zu tun. Cassirer nimmt an, dass darin die

Probleme der Schematismuslehre Kants liegen:

„Sie [die transzendentale Einheit der Apperzeption] ist nicht nur die Bedingungfür dieses Denken und für die Setzung und Bestimmung seines Gegenstandes,sondern die Bedingung ‚auch jeder möglichen Wahrnehmung‘. So wahr dieletztere selbst irgend etwas ,bedeuten‘, so wahr sie Wahrnehmung f ü r ein Ich

394 Vgl. Kant (W1990), S. 188. KrV, B 177/ A 138.

189

und Wahrnehmung von etwas sein will: so wahr muß sie an bestimmtentheoretischen Geltungscharakteren Teil haben. Und es erscheint nunmehr alseine besondere Aufgabe der Erkenntniskritik, eben diese Charaktere, die dieForm des Wahrnehmungsbewußtseins als s o l chen ausmachen, aufzuzeigenund bloßzulegen. Der schematische Gegensatz zwischen ‚Wahrnehmungs-urteil‘ und ,Erfahrungsurteil‘, wie ihn noch die Prolegomena ― freilich mehraus Gründen der Darstellung, als aus solchen der Systematik ― festhalten, istdamit im Prinzip überwunden. Denn die Vereinigung sinnlicherWahrnehmungen oder Vorstellungen in E ine m Bewußtsein, sowie ihreBeziehung auf e i ne n Gegenstand ist niemals Sache der bloßen sinnlichenRezeptivität, sondern es liegt ihr jederzeit ein ‚Aktus der Spontaneität‘zugrunde.“ (PsF III, 12)

Kant unterteilt in Prolegomena (§18) die empirischen Urteile in Wahrnehmungsurteile395

und Erfahrungsurteile, analysiert sie (§19) und zieht die Schlussfolgerung (§20), dass sich

die Wahrnehmungsurteile durch die Kategorien in Erfahrungsurteile verwandeln. Er

erklärt:

„Empi r i sche Ur t e i l e , so f e rn s i e ob j ek t i ve Gü l t i gke i t haben ,s ind E r fah rungsu r t e i l e ; die aber, so nur sub j e k t i v gü l t i g sind,nenne ich bloße Wahr nehmungs u r t e i l e . Die letzteren bedürfen keinesreinen Verstandesbegriffs, sondern nur der logischen Verknüpfung derWahrnehmung in einem denkenden Subjekt.“396

Die Wahrnehmungsurteile haben also nur subjektive Gültigkeit und sind „bloß

Verknüpfung[en] der Wahrnehmungen in meinem Gemütszustande, ohne Beziehung auf

den Gegenstand“.397 Die Erfahrungsurteile haben dagegen objektive Gültigkeit, die auch

notwendige Allgemeingültigkeit genannt wird. Beide Begriffe, objektive Gültigkeit und

notwendige Allgemeingültigkeit, sind Wechselbegriffe. Kant erklärt das Erfahrungsurteil

wie folgt:

„Wir erkennen durch dieses Urteil das Objekt, (wenn es auch sonst, wie es ansich selbst sein möchte, unbekannt bliebe), durch die allgemeingültige undnotwendige Verknüpfung der gegebenen Wahrnehmungen, und da dieses derFall von allen Gegenständen der Sinne ist, so werden Erfahrungsurteile ihreobjektive Gültigkeit nicht von der unmittelbaren Erkenntnis des Gegenstandes(denn diese ist unmöglich), sondern bloß von der Bedingung derAllgemeingültigkeit der empirischen Urteile entlehnen, die, wie gesagt, niemalsauf den empirischen, ja überhaupt sinnlichen Bedingungen, sondern auf einemreinen Verstandesbegriffe beruht. Das Objekt bleibt an sich selbst immer

395 Vgl. Prauss (1971), S. 139 f. Prauss verweist auf die Problematik in Kants Wahrnehmungsurteil. 396 Kant (W1993), S. 163. Prolegomena § 18, A 78.397 Kant (W1993), S. 166. Prolegomena § 20, A 82.

190

unbekannt; wenn aber durch den Verstandesbegriff die Verknüpfung derVorstellungen, die unsrer Sinnlichkeit von ihm gegeben sind, alsallgemeingültig bestimmt wird, so wird der Gegenstand durch dieses Verhältnisbestimmt, und das Urteil ist objektiv.“ 398

Es kommt aber im Wahrnehmungsurteil auch die logische Verknüpfung vor, die nicht

objektiv ist und somit die Übereinstimmung im Urteil zufällig erscheinen lässt. Die

Übereinstimmung, sofern sie nicht das Apriori von Begriff und Anschauung betrifft, ist

also bei Kant etwas Zufälliges.399 Kant musste aber das Wahrnehmungsurteil sich in ein

Erfahrungsurteil verwandeln lassen, denn das Erfahrungsurteil ist ein empirisches Urteil,

das notwendig allgemeingültig für alle Subjekte ist. Wenn dies aber so ist, dann muss das

Wahrnehmungsurteil, das nur für das Subjekt gültig sein kann, als notwendig gedacht

werden, was aber wiederum bedingt, dass die Wahrnehmung zuerst unter einer Kategorie

subsumiert werden muss.400 Hierfür führt Kant folgendes Beispiel an:

„Wenn die Sonne den Stein bescheint, so wird er warm. Dieses Urteil ist einbloßes Wahrnehmungsurteil, und enthält keine Notwendigkeit, ich mag diesesnoch so oft und andere auch noch so oft wahrgenommen haben; dieWahrnehmungen finden sich nur gewöhnlich so verbunden. Sage ich aber: dieSonne e rwä rmt den Stein, so kommt über die Wahrnehmung noch derVerstandesbegriff der Ursache hinzu, der mit dem Begriff des Sonnenscheinsden der Wärme no twend ig verknüpft und das synthetische Urteil wirdnotwendig allgemeingültig, folglich objektiv und aus einer Wahrnehmung inErfahrung verwandelt.“401

Kant weist auch darauf hin, dass es ‚reine Wahrnehmungsurteile‘ gibt, die nicht in

Erfahrungsurteile überführt werden können. Er nennt hierfür als Beispiele, dass „das

Zimmer warm, der Zucker süß, der Wermut widrig sei“,402 und begründet dies damit, dass

sich die Beispiele „bloß aufs Gefühl, welches jedermann als bloß subjektiv erkennt und

welches also niemals dem Objekt beigelegt werden darf, beziehen, und also auch niemals

objekiv werden können [...]“.403 Cassirer fragt sich, ob es ein reines Wahrnehmungsurteil,

wie Kant annimmt, überhaupt geben kann.

Das Wahrnehmungsurteil, das in das Erfahrungsurteil überführt werden kann, muss durch

398 Kant (W1993), S. 164. Prolegomena § 19, A 79 f.399 Vgl. Bröcker (1970), S. 51. 400 Kant (W1993), S. 167. Prolegomena § 20, A 83: „Nun wird, ehe aus einem Wahrnehmungsurteil ein

Urteil der Erfahrung werden kann, zuerst erfordert: daß die Wahrnehmung unter einem dergleichenVerstandesbegriffe subsumiert werde.

401 Kant (W1993), S. 167. Prolegomena, § 20, A 83. Fußnote.402 Kant (W1993), S. 165. Prolegomena, § 19, A 80. 403 Kant (W1993), S. 165. Prolegomena, § 19, A 80. Fußnote.

191

die Kategorie der Kausalität verwandelt werden, wenn es um die Objektivierung der

Vorstellung geht. Zu der Definiton des Wahrnehmungsurteils Kants ― dieses ist bloß eine

Verknüpfung der Wahrnehmungen im Gemütszustande, ohne Beziehung auf den

Gegenstand ― meint Cassirer, dass, wenn dem so wäre, die Kraft des

Wahrnehmungsurteils „auf die bloße Beschreibung des Gegebenen und Gegenwärtigen“

beschränkt sei und „über den gerade vorliegenden Moment des individuellen

Vorstellungsablaufs nirgends“ hinausreiche (EP II, 664). Zur Kantischen Unterscheidung

von Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteil merkt Cassirer auch in Kants Leben und Lehre

kritisch an:

„Kant selbst hat in seiner Unterscheidung von Wahrnehmungs- undErfahrungsurteilen und in seiner Betonung des rein ,subjektiven‘ Charaktersder ersteren von dieser Konstruktion Gebrauch gemacht (s. Prolegomena §18).An sich aber gibt es nach ihm kein ,Einzelurteil‘, das nicht bereits auf irgendeine Form der ,Allgemeinheit‘ Anspruch erhöbe; keinen ,empirischen‘ Satz, dernicht irgend eine ,apriorische‘ Behauptung in sich schlösse: denn schon dieForm des Urteils selbst schließt diese Forderung ‚objektiver All-gemeingültigkeit‘ ein.“ (KLL, 170, Fußnote)

Denn Cassirer ist der Ansicht, dass die Vereinigung sinnlicher Wahrnehmungen oder

Vorstellungen in einem Bewusstsein, sowie ihre Beziehung auf einen Gegenstand niemals

Sache der bloßen sinnlichen Rezeptivität sei, sondern es liege ihr jederzeit ein ‚Aktus der

Spontaneität‘ zugrunde. So nimmt er auch an, dass die Einbildungskraft nicht lediglich

reproduktiv, sondern ursprünglich-produktiv ist. Sinnlichkeit, Anschauung und Verstand

bilden für ihn nicht bloß sukzessive Phasen der Erkenntnis, sondern „sie stellen sich als ein

strenges In-Einander, als ihre konstitutiven Momen t e , dar“ (PsF III, 12). Somit steht er

dem von Kant als ‚objektiv gültig‘ bezeichneten Tatbestand des Erfahrungsurteils kritisch

gegenüber, da dieses bei Kant, im Gegensatz zum Wahrnehmungsurteil, bereits einem

völlig anderen Typus angehört. Das Erfahrungsurteil bei Kant soll nicht nur für dieses und

jenes psychologische Einzelsubjekt gelten, sondern auch unabhängig vom psychologischen

Einzelsubjekt bestehen und beruht auf den Gründen, „die für jedes Subjekt in gleicher

Weise notwendig und verbindlich sind“ (EP II, 664).

Cassirer bemerkt kritisch, dass Kant in der Kritik der reinen Vernunft die Gesamtheit der

möglichen Regeln, auf denen der Aufbau und die Gliederung der Wahrnehmungswelt

beruht, im Begriff des ‚Verstandes‘ zusammenfasst: „Der Verstand ist der schlichte

transzendentale Ausdruck für das Grundphänomen, daß alle Wahrnehmung, als bew uß te

Wahrnehmung, immer und notwendig gef o r mte Wahrnehmung sein muß“ (PsF III, 225).

192

Die Analysis (Auflösung), „kraft deren die sensualistische Psychologie zur Bestimmung

von Bewußtseinse l eme n ten gelangte“ (ibd.), setzt immer die Synthesis voraus: „denn

wo der Verstand vorher nichts verbunden hat, da kann er auch nichts auflösen, weil es nur

dur ch ihn als verbunden der Vorstellungskraft hat gegeben werden können“.404 So erklärt

Kant, dass die analytische Einheit der Apperzeption, die Zerlegung einer

Gesamtwahrnehmung in einzelne Elemente, nur unter der Voraussetzung irgendeiner

synthetischen möglich ist (vgl. 1.5, 55 f.).405 Die Wahrnehmung bei Kant wird dadurch,

dass die Einheit der Apperzeption „in jenen charakteristischen S innve r bänden steht, die

durch die einzelnen Kategorien ausgesagt werden [...] zur be s t i m mte n Wahrnehmung,

zum Ausdruck eines Ich wie zur »Erscheinung« eines Objekts, eines Gegenstands der

Erfahrung“ (PsF III, 226). Hierin besteht für Cassirer die Schwierigkeit und

Zweideutigkeit, die Kant selbst in seiner Kritik der reinen Vernunft nicht ganz aufzuhellen

und zu beseitigen vermochte.

Cassirer ist der Ansicht, dass sich die Kantische Deduktion methodisch auf der gleichen

Ebene wie die als ontisch zu bewertenden sensualistischen Erklärungsversuche bewegt. Die

objektive Gültigkeit der reinen Verstandesbegriffe, die Kant in den ‚Bedingungen ihrer

Möglichkeit‘ zu erfassen sucht, ist dadurch gerechtfertigt, dass „man sie aus einem an sich

bestehenden »transzendentalen Subjekt«, als dem »Urheber« dieser Gültigkeit, hervor-

gehen“ lässt. (PsF III, 227). Ein Grundproblem bei Kant liegt seiner Meinung nach darin

begründet, dass dieser selbst die Sprache der Psychologie verwendet, die er kritisert, also

die Begriffe der Vermögenspsychologie des 18. Jahrhunderts.

„Und so kann es scheinen, als würden ,Rezeptivität‘ und ,Spontaneität‘, alswürden ‚Sinnlichkeit‘ und ,Verstand‘ hier doch wieder als seelische‚Grundkräfte‘ gedacht, deren jede für sich als psychische Wirklichkeit bestehtund die sodann in ihrem rea le n Zus am menwi r ken , in ihrem ursächlichenIneinandergreifen, die Erfahrung als »Produkt« hervorbringen.“ ( PsF III, 226)

Damit meint Cassirer, dass bei Kant das substantielle Problem der rein funktionalen

Betrachtung untergeschoben ist, dass alle Erklärungen Kants nicht gerechtfertigt sind, die

„Analytik des Verstandes vor der Auslegung zu schützen, als ob es sich in ihr nur um eine

neue Art psychologischer ‚Formgebungsmanufaktur‘ des Denkens handele.“ (PsF III, 226)

Die gleiche Kritik findet man auch in Kants Leben und Lehre:

404 Kant (W1990), S. 135. KrV, B 130.405 Vgl. Kant (W1990), S. 137. KrV, B 133.

193

„Denn während Kant in der »objektiven Deduktion« der Kategorien, ― in demNachweis, daß die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung zugleichBedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung sind ― nicht nurdie Begriffe selbst, sondern auch ihren logischen Ausdruck selbständig zuschaffen hatte, knüpft er in der »subjektiven Deduktion« überall an diegeläufigen Bezeichnungen der Psychologie seiner Zeit an.“ (KLL, 208)

Man kann Cassirers Kritikpunkte an Kant wie folgt zusammenfassen:

1. Kants Unterscheidung zwischen Wahrnehmungsurteil und Erfahrungsurteil ist für

Cassirer nicht plausibel, denn diese Unterscheidung bedeutet für ihn, dass Kant für diesen

Zweck seinerseits nur das Erfahrungsurteil für die Wissenschaft als objektiv gültig erklärt.

Für Cassirer ist die Wahrnehmung selbst ein ,Aktus der Spontaneität‘ und ein

intellektueller Akt.

2. Das ,transzendentale Subjekt‘ wird in Kants ,subjektiver Deduktion‘ als ein

psychologisches Subjekt geführt.

3. Die Methode der Kantischen Deduktion bewegt sich in ontischen, wie in

sensualistischen Erklärungsversuchen. Dagegen soll die objektive Gültigkeit der reinen

Verstandesbegriffe durch das transzendentale Subjekt als ,Urheber‘ der Gültigkeit

gerechtfertigt werden.

Man kann somit festhalten, dass Cassirer aus den oben genannten Gründen Kants Einheit

der Apperzeption durch seine Symbolfunktion, die schon in der Anschauung und der

Wahrnehmung mit dem ‚Tun des Geistes‘ auftritt, zu überwinden versucht.

Im Hinblick auf die angeführte Kritik Cassirers an Kant wird nun nachfolgend die

symbolische Prägnanz eingehender betrachtet.

3.5.2.2. Symbolische Prägnanz und wissenschaftliche Erkenntnis

Das Verhältnis zwischen Bewusstsein und Gegenstand bildet eine symbolische Relation.

Daher ist Cassirer der Ansicht, dass man das Begriffsproblem und das

Gegenstandsproblem nicht parallel, getrennt von einander behandeln sollte, sondern beide

gemeinsam, indem man sich dabei auf das ‚Grundphänomen der Repräsentation‘

konzentriert. An dieser Stelle ist es zunächst nötig, etwas näher auf die Funktion der

Repräsentation, die auch mit der ‚symbolischen Prägnanz‘ im Bereich der

Darstellungsfunktion zusammenhängt, einzugehen.

Cassirer konstatiert schon in SuF, dass man die Repräsentation „als Ausdruck einer

194

ideellen Regel, die das Besondere, hier und jetzt Gegebene, an das Ganze knüpft und mit

ihm in einer gedanklichen Synthese zusammenfaßt“ verstehen soll (SuF, 377). Wenn dies

geschieht,

„so haben wir es in ihr mit keiner nachträglichen Bestimmung, sondern miteiner konstitutiven Bedingung alles Erfahrungsinhalts zu tun. Ohne diesescheinbare Repräsentation gäbe es auch keinen ‚präsenten‘, keinen unmittelbargegenwärtigen Inhalt; denn auch dieser besteht für die Erkenntnis nur, sofern ereinbezogen ist in ein System von Relationen, die ihm erst seine örtliche undzeitliche, wie seine begriffliche Bestimmtheit geben.“ (SuF, 377)

In PsF wird dann erklärt, dass die Repräsentation niemals als Abbildung sondern als

„Darstellung eines Bewußtseinselementes in einem anderen und durch ein anderes“ (PsF I,

35) oder als „die Darstellung eines Inhalts in einem anderen und durch einen anderen, als

eine wesentliche Voraussetzung für den Aufbau des Bewußtseins selbst“ verstanden

werden und „als Bedingung seiner eigenen Formeinheit erkannt werden“ (PsF I, 41) soll.

An einer anderen Stelle heißt es: Die Funktion der Darstellung als solche tritt vor, „wo es

gelingt, einen sinnlich anschaulichen Inhalt, statt in seiner Gegenwart, in seiner einfachen

‚Präsenz‘ aufzugehen, als Darstellung, als ‚Repräsentanten‘ eines anderen zu nehmen,

damit gewissermaßen eine ganz neue Höhenlage des Bewußtseins erreicht wird“ (PsF III,

131).

Cassirer führt die symbolische Prägnanz im zweiten Teil des dritten Bandes der PsF aus.

Im zweiten Teil Das Problem der Repräsentation und der Aufbau der anschaulichen Welt

geht es um die Dimension der Darstellungsfunktion, wodurch deutlich wird, dass die

symbolische Prägnanz mit der Repräsentation, die in der Dingwahrnehmung hervortritt, im

Zusammenhang steht.

Dubach analysiert in seinem Aufsatz die symbolische Prägnanz Cassirers, indem er die

Auffassung Krois’ in Frage stellt.406 Dieser hatte die symbolische Prägnanz „als das

tragende Fundament des Cassirerschen Systems“407 herausgestellt und dies in weiteren

Beiträgen bestätigt.408 Dies hatte zur Folge, dass auch andere Autoren sich des Themas

annahmen und zur Vielfalt an Auffassungen diesbezüglich beitrugen.409

406 Dubach (1995).407 Dubach (1995), S. 47. Dubach verweist hier auf Krois, Cassirer. Symbolic Forms and History. New

Haven/ London 1987, S. 52-57.408 Vgl. Dubach (1995), S. 47. Dubach verweist hierfür auf Krois(1988), S. 22-26 und Krois, Cassirer,

Neo-Kantianism and Metaphysics. In: Revue de Métaphysique et de Morale 97 (1992) S. 437-453,hierfür S. 448-450.

409 Vgl. Dubach (1995), S. 47 f.; auch Stipp (2003), S. 51: „Während Krois die symbolische Prägnanzbeispielsweise einerseits als eine ‚phänomenologische Idee‘ verstanden wissen will, sei sie gleichzeitig

195

Dubach erhebt zwei Einwände gegen Krois: erstens, dass die Aussagen Cassirers zur

symbolischen Prägnanz widersprüchlich seien. Das Verhältnis der symbolischen Prägnanz

zu den Modi der Ausdrucks- und der Dingwahrnehmung werde nicht deutlich und stehe

einer präzisen Einordnung des Begriffs in das System der Philosophie der symbolischen

Formen im Wege.

Der eigentliche Ausgangspunkt seiner Kritik ist die Feststellung Cassirers, dass „es keine

Wahrnehmung von so etwas wie einer bloßen Empfindung gibt“,410 sofern der Begriff der

symbolischen Prägnanz für das Phänomen der Wahrnehmung stehen sollte, wie Cassirer im

dritten Band von PsF sowie in seinem Aufsatz Zur Logik des Symbolbegriffs betont. Das

Problem bestehe darin, dass „die These vom System der Philosophie der symbolischen

Formen ausgehend unterschiedlich begründet werden kann (und wird). Denn Cassirer

unterscheidet zwei Arten von Sinn, die ein Wahrnehmungserlebnis vermitteln können:

Darstellungssinn und Ausdruckssinn“.411 Diese beiden Sinnarten entsprechen einer

Doppelheit der Wahrnehmungsmodi, nämlich Ausdrucks- und Dingwahrnehmung. Dubach

umreißt das Problem der symbolischen Prägnanz mit folgenden Worten: „die

Unterscheidung von Ausdruckswahrnehmung und Dingwahrnehmung bzw. Ausdruckssinn

und Darstellungssinn bietet Probleme für das Verständnis von symbolischer Prägnanz. Es

ist unklar auf welchen Wahrnehmungsmodus sich der Begriff der symbolischen Prägnanz

bezieht.“412 Die Möglichkeiten stehen offen, dass Cassirer ausschließlich die Sinnhaftigkeit

des Sinnlichen in ‚einem‘ Wahrnehmungsmodus meine oder aber, dass er sich zu dieser

Differenzierung neutral verhalte und das Phänomen in einer allgemeinen Weise bezeichne.

Zweitens werde die These Krois’, dass die symbolische Prägnanz das ‚Transzendentale‘

und damit den fundamentalsten Begriff413 der Philosophie Cassirers darstelle, einer

auch ‚das Transzendentale in Cassirers Philosophie‘. [Krois (1988), S. 23] Paetzold interpretiert inähnlicher Weise die symbolische Prägnanz als Modifikation der ‚transzendentalen Synthesis derApperzeption‘. [Paetzold (1994), S. XI] Knoppe sieht in ihr den ‚Inbegriff von Prinzipien undStrukturen, kraft deren Erfahrung überhaupt als geordnet gedacht wird‘ [Knoppe (1992), S. 175]; undwährend Graeser lediglich eine gewisse Undurchsichtigkeit konstatiert, [Graeser (1994), S. 145]offenbart sich für Kaegi im Prägnanzkonzept der maßgebliche Hiatus zu Kant. [Kaegi (1992)]Schwemmer wiederum kommt zu dem Ergebnis, Cassirer übertrage mit dem Prägnanzkonzept ‚dieallgemeine gestalttheoretische Auffassung von Prägnanz auf seine kontexttheoretische Konzeption vonIdentität‘ [Schwemmer (1997), S. 115 f.] und erkläre die symbolische Prägnanz damit zum ‚Movenseiner neuen Sicht und Gestaltungsmöglichkeit für unsere Wirklichkeit [Schwemmer (1997), S. 122].“

410 Dubach (1995), S. 54. Er verweist auf PsF III, S. 18 ; ZLS, S. 212, 214. 411 Dubach (1995), S. 54. Dubach zitiert auch die Stellen, in denen Cassirer Ausdrucksinn und

Darstellungssinn erklärt: „So hält Cassirer im ersten Teil von PsF III fest, daß die konkreteWahrnehmung »niemals in einem bloßen Komplex sinnlicher Qualitäten – wie hell oder dunkel, kaltoder warm – auf[geht], sondern [...] je auf einen bestimmten und spezifischen Ausdruckston gestimmt[ist]«.“ (PsF III, S. 78); „Demgegenüber heißt es im zweiten Teil, daß die »einzelnen Momente derWahrnehmung rein repräsentativen Charakter erhalten, kraft dessen sie sich mit einem Bestimmten‚Darstellungssinn‘ erfüllen«.“ (PsF III, S. 268)

412 Dubach (1995), S. 55.413 Vgl. Krois (1988), S. 22, 23.

196

Untersuchung nicht standhalten, da die Unterscheidung zwischen natürlicher und

künstlicher Symbolik, auf die sich Krois bei seiner These hauptsächlich stützt, in der

Philosophie der symbolischen Formen keine tragende Rolle spielt.

Cassirer führt die zwei Formen der Wahrnehmungen auch in seinen Studien Zur Logik der

Kulturwissenschaft aus. In diesen will er die Wahrnehmung selbst als Phänomen verstehen

und geht von einer ‚Phänomenologie der Wahrnehmung‘ aus. In der Wahrnehmung bestehe

immer eine Auseinanderhaltung des Ich-Poles vom Gegenstands-Pol, in der das eine Mal

eine Welt des ‚Es‘, eine Ding-Welt, und das andere Mal eine des ‚Du‘, eine Welt von

Personen, betrachtet wird. Es sei unverkennbar, dass, je nachdem man sich in die eine oder

andere Richtung bewege, die Wahrnehmung einen anderen Sinn und gewissermaßen eine

besondere Färbung und Tönung gewinne. Es sei auch unverkennbar und unbestritten, dass

der Mensch in dieser doppelten Weise die Wirklichkeit erlebe. Daher will Cassirer dieses

Phänomen der Wahrnehmung als einfaches Faktum, „an dem keine Theorie rütteln und das

sie nicht aus der Welt schaffen kann“ anerkennen (ZLK, 45). Bezüglich der

Ausdruckswahrnehmung merkt er an:

„Der Primat der Ausdruckswahrnehmung vor der Dingwahrnehmung ist das,was die mythische Weltansicht charakterisiert. Für sie gibt es noch keine strengbestimmte und gesonderte »Sachwelt«. Denn es fehlt noch an jenen konstantenEinheiten, deren Gewinnung des [sic! das] erste Ziel aller theoretischenErkenntnis ist.“ (ZLK, 45)

Laut Cassirer stellt sich uns im reinen Phänomen des Ausdrucks „die Art, wie das

Bewußtsein, rein in sich selbst verbleibend, zugleich eine andere Wirklichkeit erfaßt, zuerst

und unmittelbar“ in der Tatsache dar, dass „eine bestimmte Erscheinung in ihrer einfachen

‚Gegebenheit‘ und Sichtbarkeit sich zugleich als ein innerlich-Beseeltes zu erkennen gibt“

(PsF III, 108).

In seiner Analyse der Ausdrucks- und Dingwahrnehmung bezieht sich Dubach auf oben

zitierte Stelle (ZLK, 45) und gelangt zu dem Schluss, dass die Ausdruckswahrnehmung

von der gegenständlichen Wahrnehmung unabhängig sei. Anders als die

Dingwahrnehmung sei die Ausdruckswahrnehmung nicht dadurch gekennzeichnet, dass die

präsente Erscheinung auf andere potentielle Bewusstseinsinhalte als Teile eines

gegenständlichen Ganzen verweise. Das äußerlich Wahrgenommene besitze keine in der

Weise darstellende oder repräsentierende Funktion, sondern ein sinnlicher Inhalt sei

sinnhaft insofern, als er in seiner reinen Präsenz von ‚innerem Leben‘ durchdrungen

197

scheine und ein ‚innerliches Sein‘ ausdrücke.414 Er betont hingegen für die

Dingwahrnehmung bezüglich der symbolischen Prägnanz, dass „der ‚gegenständliche

Sinn‘ in der sinnlichen Anschauung [im Unterschied zu Ausdruckswahrnehmung]

unmittelbar enthalten ist“.415

Dubach macht deutlich, dass die Ausdruckswahrnehmung nur im Bereich der

Ausdrucksfunktion stattfindet und die Dingwahrnehmung im Bereich der

Darstellungsfunktion. Er weist auf die Stelle hin, in der Cassirer präzisiert welche Rolle die

Darstellungsfunktion in seinem Aufbau der anschaulichen Welt besitzt:

„Welchen Komplex man immer aus dieser Gesamtheit der »Erfahrung«herauslösen mag ― ob man das Beisammen der Phänomene im Raume oder ihrNacheinander in der Zeit, ob man die Ding-Eigenschaftsordnung oder dieOrdnung von »Ursachen« und »Wirkungen« betrachten mag ― immer zeigendiese Ordnungen eine bestimmte »Fügung« und einen gemeinsamen formalenGrundcharakter. Sie sind so geartet, daß von jedem ihrer Momente einÜbergang zum Ganzen möglich ist, weil die Verfassung dieses Ganzen injedem Moment darstellbar und dargestellt ist. Kraft des Ineinandergreifensdieser Darstellungsfunktionen gewinnt das Bewußtsein die Fähigkeit,‚Erscheinungen zu buchstabieren, um sie als Erfahrungen lesen zu können‘.“416

Dubach ist deshalb der Ansicht, dass Cassirers Erläuterung der symbolischen Prägnanz im

zweiten Teil des dritten Bandes von PsF nur die Dingwahrnehmung, will heißen, den

Darstellungssinn der Repräsentation betrifft. Man kann dieser Meinung Dubachs durchaus

zustimmen, da, wie dieser anführt, im Bereich der Ausdruckswahrnehmung die

symbolische Prägnanz noch nicht auftreten kann. So zieht Dubach den Schluss, dass das

Gewicht der symbolischen Prägnanz in PsF, anders als von Krois behauptet wird, lediglich

auf der Funktion der Repräsentation und der Wahrnehmung liegt. Ohne weiter im Detail

auf die einzelnen Argumente Dubachs gegenüber Krois’ These, die symbolische Prägnanz

sei das transzendentale Element in Cassirers Philosophie, eingehen zu wollen, soll nun

weiter das Augenmerk auf Dubachs ersten Einwand, Cassirers Aussagen zur symbolischen

414 Dubach (1995), S. 60.415 Dubach (1995), S. 59. Dubach verweist hierfür auf PsF III, S. 144: „Wo immer der Fall echter

Repräsentation vorliegt, da haben wir es nicht mit einem bloßen Empfindungs-M a t e r i a l zu tun, daserst nachträglich durch bestimmte Akte, die sich an ihm vollziehen, zur Darstellung einesGegenständlichen g e m a c h t und als solche g e d e u t e t wird. Immer ist es vielmehr eine geformteGesamt-Anschauung, die als objektiv-bedeutsames Ganzes, als erfüllt mit gegenständlichem ‚Sinn‘, voruns steht.“

416 PsF III, S. 222; Dubach (1995), S. 62. Cassirers Zitat ‚Erscheinungen zu buchstabieren, um sie alsErfahrungen lesen zu können‘ (Kant, Prolegomena, § 30, A 101) lautet in der Kritik der reinen Vernunft:„Plato bemerkte sehr wohl, daß unsere Erkenntniskraft ein weit höheres Bedürfnis fühle, als bloßErscheinungen nach synthetischer Einheit buchstabieren, um sie als Erfahrung lesen zu können, [...]“ –Kant (W1990), S. 322. KrV, A 314/ B 370 f.

198

Prägnanz seien widersprüchlich, gerichtet werden.

Seiner Analyse zur Folge muss sich die symbolische Prägnanz auf die Dingwahrnehmung

beziehen; er weist aber auch darauf hin, Cassirer habe nicht deutlich erwähnt, „daß die

Ausdruckswahrnehmung nicht symbolisch prägnant ist oder daß symbolische Prägnanz auf

die Dingwahrnehmung beschränkt ist“.417 Die Widersprüche in Cassirers Aussagen findet

Dubach im Aufsatz Zur Logik des Symbolbegriffs, in dem Cassirer seiner Ansicht nach den

Begriff der symbolischen Prägnanz explizit auf die Ausdruckswahrnehmung anwende.

Cassirer versuche in diesem Aufsatz zu zeigen, dass die These, wonach in der

Ausdruckswahrnehmung ‚Leibliches‘ und ‚Seelisches‘ untrennbar miteinander verbunden

seien, nicht jegliche Unterscheidung der beiden Momente im Wahrnehmungserlebnis selbst

verunmöglichen müsse. Cassirer erklärt die Ausdruckswahrnehmung wie folgt:

„Das Erlebnis der ‚Schamröte‘ läßt sich freilich nicht, im Sinne einer bloßenElementarpsychologie, aus einem gesehenen ‚Rot‘ und einer erschlossenenoder hinzuphantasierten ‚Scham‘ zusammensetzen. Hier herrscht nicht bloßesBeieinander, sondern jenes Verhältnis, das ich mit dem Ausdruck der‚symbolischen Praegnanz‘ zu bezeichnen versucht habe.“ (ZLS, 222 f.)

Nach Dubach zeigt sich an dieser Stelle ganz deutlich, dass auch in der

Ausdruckswahrnehmung die symbolische Prägnanz die Verbindung von Sinnlichem und

Sinnhaften bezeichnet; eine Feststellung, die wiederum den Schluss zulasse, der Begriff der

symbolischen Prägnanz finde Cassirers Intention nach sowohl auf die Dingwahrnehmung

als auch auf die Ausdruckswahrnehmung Anwendung.

Dubach sieht sich aber in seiner eigenen Interpretation der symbolischen Prägnanz mit

einem Dilemma konfrontiert: Wenn sich symbolische Prägnanz auf die Dingwahrnehmung

beschränke, so entstehe ein Widerspruch zu Cassirers Ausführungen in Zur Logik des

Symbolbegriffs. „Wird der Begriff dagegen in einem weiten Sinn verwendet, so darf er

erstens nicht mehr mit der These der Korrelation von Form und Stoff in Verbindung

gebracht werden“.418 Hiermit ist Cassirers Standpunkt gemeint, nach dem „Stoff und Form

im Wahrnehmungserlebnis stets korrelativ aufeinander bezogen sind“.419 Bei Cassirer gibt

es weder eine Wahrnehmung „Form an sich“ noch eine Wahrnehmung „Stoff an sich“, es

gibt immer nur Gesamterlebnisse (PsF III, 231). ‚Form‘ und ‚Materie‘ oder ‚Sachwelt‘

kann nur bedingt auf die Ausdruckswahrnehmung angewendet werden.

417 Dubach (1995), S. 63.418 Dubach (1995), S. 66.419 Dubach (1995), S. 50.

199

Zweitens ergeben sich für Dubach somit auch Probleme mit der von Cassirer vertretenen

„gegenstandskonstitutiven Funktion der symbolischen Prägnanz“,420 denn die

Ausdruckswahrnehmung kann noch keine gegenstandskonstitutive Funktion haben.

Man kann im Allgemeinen den Argumenten Dubachs zustimmen, jedoch bietet die Stelle,

die dieser als Beweis dafür, dass die symbolische Prägnanz auch die

Ausdruckswahrnehmung einschließt (ZLS, 222 f.), heranzieht, durchaus Spielraum für

andere Interpretationen. Man kann diese Stelle auch alleinig als Cassirers besondere

Betonung dieses ‚Verhältnisses‘ interpretieren, „jenes Verhältnis, das ich [...] versucht

habe“. Wenn dem nämlich so wäre, dann gelänge es, die Behauptung Dubachs bezüglich

des Widerspruches zurückzuweisen. Denn Cassirers Beschreibung der symbolischen

Prägnanz zeigt deutlich, dass sie zur Dingwahrnehmung gehört421:

„Unter ,symbolischer Prägnanz‘ soll also die Art verstanden werden, in der einWahrnehmungserlebnis, als ,sinnliches‘ Erlebnis, zugleich einen bestimmtennicht-anschaulichen ,Sinn‘ in sich faßt und ihn zur unmittelbaren konkretenDarstellung bringt. Hier handelt es sich nicht um bloß »perzeptive«Gegebenheiten, denen später irgendwelche »apperzeptive« Akte aufgepfroftwären, durch die sie gedeutet, beurteilt und umgebildet würden. Vielmehr ist esdie Wahrnehmung selbst, die kraft ihrer eigenen immanenten Gliederung eineArt von geistiger ,Artikulation‘ gewinnt ― die, als in sich gefügte, auch einerbestimmten Sinnfügung angehört. In ihrer vollen Aktualität, in ihrer Ganzheitund Lebendigkeit, ist sie zugleich ein Leben ,im‘ Sinn. Sie wird nicht erstnachträglich in diese Sphäre aufgenommen, sondern sie erscheintgewissermaßen als in sie hineingeboren. Diese ideelle Verwobenheit, dieseBezogenheit des einzelnen, hier und jetzt gegebenen Wahr-nehmungsphänomens auf ein charakteristisches Sinn-Ganzes, soll derAusdruck der »Prägnanz« bezeichnen.“ (PsF III, 235)

Man erinnere sich auch an Cassirers Äußerung über das mythische und empirisch

wissenschaftliche Bewusstsein (vgl. 3.2). Die empirisch wissenschaftliche Erkennntis und

der Mythos unterscheiden sich in ihrer Modalität des Raumbewusstseins. Die

Verknüpfungsweisen in der Betrachtung und Deutung des ‚Wirklichen‘ seien dieselben

allgemeinsten ,Formen‘ der Anschauung und des Denkens, die die Einheit des Bewußtseins

als solche und somit ebensowohl die Einheit des mythischen wie die des reinen

Erkenntnisbewußtseins konstituieren (PsF II, 78). Gestützt auf diese Ansicht Cassirers,

wird deutlich, dass die im Mythos herrschende Ausdruckswahrnehmung auch ‚Form‘

enthalten muss. Damit erscheint es recht gewagt, festzustellen, die beiden

420 Dubach (1995), S. 66.421 Cassirer führt die symbolische Prägnanz im zweiten Teil des dritten Bandes der PsF aus, in dem es um

den Bereich der Darstellungsfunktion und damit um den Bereich der natürlichen Weltbegriffe geht.

200

Wahrnehmungsmodi, also Ausdruckswahrnehmung und Dingwahrnehmung seien

voneinander unabhängig, wie das bei Dubach der Fall ist, denn nach Cassirer muss jede

Form, „ehe sie ihre bestimmte logische Gestalt und Prägung erhält, ein mythisches

Vorstadium durchlaufen haben“ (PsF II, 78).

Dubach weist aber auch darauf hin, dass Orth auf die Ambivalenzen des Formbegriffs

ausdrücklich aufmerksam mache und darauf hinweise, dass „der Formbegriff bei Cassirer

in dem Sinne doppeldeutig ist, dass er nicht nur den »bloß abstrakten Funktionsbegriff«,

sondern auch die »ausdruckshafte Gestalt« bezeichnet.“422 Diese Ambivalenzen schreibe

aber Orth der bei Cassirer verbreiteten operativen Begriffsverwendung zu.423 Dubach

kritisiert Orths Auffassung, dass „der Begriff der symbolischen Prägnanz für die

»eigentümliche, korrelative Verbindung von Form und Stoff« steht“, denn damit werden

seiner Meinung nach „auf begrifflicher Ebene die zentralen Unterschiede, die zwischen der

Ausdrucks- und der Dingwahrnehmung liegen, verwischt. Die Formel, daß symbolische

Prägnanz die Korrelation von Form und Stoff bezeichnet, ist nur vordergründig griffig,

denn sie baut auf einem bewußt unscharf belassenen Formbegriff auf.“424 Man fragt sich,

ob man, wie Dubach dies möchte, den Formbegriff bei Cassirer schon in der Phase der

Wahrnehmung, gleichgültig ob es sich dabei um Ausdruckswahrnehmung oder um

Dingwahrnehmung handelt, so deutlich unterscheiden kann. Wie schon erwähnt, gehören

die Ausdrucks- und die Dingwahrnehmung in der Begriffstheorie Cassirers dem Bereich

des natürlichen Weltbegriffs an. So gesehen ist es ebenfalls fraglich, ob die ‚zentralen

Unterschiede‘ der beiden eine so wichtige Rolle spielen wie Dubach annimmt. Denn der

echte Begriff bei Cassirer kann erst im Bereich der Bedeutungsfunktion, des

wissenschaftlichen Weltbegriffs, auftreten.

Man kann hier in Bezug auf die Kritik Dubachs nur darauf hinweisen, dass bei Cassirer die

symbolische Form als die Energie des Geistes bezeichnet wird und die Wahrnehmung

selbst als ‚Phänomen‘, als einfaches Faktum, ‚an dem keine Theorie rütteln und das sie

nicht aus der Welt schaffen kann‘ hingenommen werden sollte.

Die symbolische Prägnanz kann, wie die bisherige Untersuchung zeigt, im Wesentlichen in

der anschaulichen Welt der Darstellungsfunktion wirksam sein. Sie kann aber der

Begriffsbildung in der wissenschaftlichen Erkenntnis als ,das tragende Fundament‘ dienen.

422 Dubach (1995), S. 68; Dubach verweist auf Orth (1985), S. 183.423 Dubach (1995), S. 68; bei Orth (1985), S. 190, Dubach verweist auch auf Orth (1988).424 Dubach (1995), S. 68; vgl. Krois (1988), S. 24 f. Krois hebt hervor, dass Cassirer sich bei der

Verbindung von Form und Stoff in der Wahrnehmung an die ‚Gestalt-Theorie‘ anschließt und von dieserdie Grundidee der symbolischen Prägnanz übernimmt; vgl. Prägnanz in Ritter et al. (HWP), Bd. 7, S.1249 f.; vgl. Metzger (1975/1986), S. 146 f.; vgl. auch Gehlen (2009), S. 158 f.

201

Denn die wissenschaftliche Begriffsbildung beginnt im Bereich der Ausdrucks- und

Darstellungsfunktion und die Symbole formen sich besonders in der Sphäre der

Dingwahrnehmung und der Darstellungsfunktion zu Sprachbegriffen. Der ‚natürliche

Weltbegriff‘ oder Sprachbegriff beginnt sich dann zum wissenschaftlichen Begriff zu

formen und hierfür ist die symbolische Prägnanz entscheidend, denn der wissenschaftliche

Begriff wird auf diesem Fundament der symbolischen Prägnanz weiter aufgebaut425:

„Die Wissenschaft baut eine Welt auf, in der zunächst an die Stelle derAusdrucksqualitäten, der »Charaktere« des Vertrauten oder Fruchtbaren, desFreundlichen oder Schrecklichen, die reinen S innes qua l i t ä t en der Farbe,des Tones u.s.f. getreten sind. Und auch diese letzteren müssen immer weiterreduziert werden. Sie sind nur »sekundäre« Eigenschaften, denen die primären,die rein-quantitativen Bestimmungen zu Grunde liegen. Diese letzteren bildenall das, was für die Erkenntnis als objektive Wirklichkeit zurückbleibt.“ (ZLK,46)

Auffällig ist auch an der Beschreibung der symbolischen Prägnanz, dass ein bestimmter

nicht-anschaulicher Sinn, die immanente Gliederung der Wahrnehmung und die geistige

Artikulation hervorgehoben werden. Die Definition der Prägnanz — „diese ideelle

Verwobenheit, diese Bezogenheit des einzelnen, hier und jetzt gegebenen

Wahrnehmungsphänomens auf ein charakteristisches Sinn-Ganzes“ (PsF III, 235) —

erinnert daran, dass Cassirer das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem des

Begriffs als Korrelation bezeichnet. Die Bezogenheit des Einzelnen, also des Besonderen,

auf ein charakteristisches Sinn-Ganzes, auf das Allgemeine, soll hier dann Prägnanz

heißen. Diese Bedeutung der Prägnanz hat auch schon Volker Schürmann erkannt, der

versucht, mit dem Begriff der Prägnanz die Korrelativität von Allgemeinem und

Besonderem in Verbindung zu bringen.426 Das Besondere bekommt durch diese

Korrelativität einen Sinn im Sinn-Ganzen und damit wird ihm eine Stelle zugewiesen oder

zugeordnet, was wiederum eine Zuordnung des Erfahrungssystems ermöglicht.

Cassirer ist der Ansicht, der Symbolbegriff solle trotz der verschiedenen symbolischen

Formen einen einheitlichen Gehalt und eine allumfassende geistige Funktion besitzen.

Diese geistige Funktion soll in ihren Grundzügen gleich bleiben, „wenngleich sie in jeder

ihrer Auswirkungen eine neue, spezifisch-eigentümliche Gestalt annimmt“ (SP, 298).

425 Vgl. Bermes (1997), S. 165. Bermes gebraucht die ‚Bedeutungsprägnanz‘ synonym mit symbolischerPrägnanz (Verweis auf Cassirer ET II, S. 146, Fußnote 28). Wenn man unter symbolischer Prägnanz wieBermes Bedeutungsprägnanz versteht, wird noch deutlicher, dass die symbolische Prägnanz für diewissenschaftliche Begriffsbildung unentbehrlich ist.

426 Schürmann (1993), S. 168; vgl. Ihmig (1993c), S. 172.

202

Somit kann man festhalten, dass der Begriff der symbolischen Form nicht nur für die

einzelnen besonderen Formen, sondern auch für das Allgemeine des Begriffs der

symbolischen Form steht. Wenn Cassirer die theoretische oder wissenschaftliche

Erkenntnis als symbolische Form bezeichnet, sollte man sie doch anders als bei Sprache

und Mythos verstehen. Man kann den Begriff der symbolischen Form wie bei Orth als

„operativen Begriff“427 auffassen und seine Bedeutung aus dem Kontext heraus verstehen.

Nur so hat man die Möglichkeit, die Begriffe ,Symbol‘ und ,symbolische Form‘ zu

verstehen, die das Allgemeine und zugleich das Besondere sind und die Einheit des

Begriffs aufbauen sollen.

Man verliere, so Cassirer, den Blick für das Ganze, wenn man die Symbolfunktion nur „auf

die Ebene des begrifflichen, des ,abstrakten‘ Wissens einschränkt“:

„Es ergibt sich [...], daß das Symbolische rein als solches, sofern man es inseiner ganzen Weite und Universalität versteht, keineswegs auf jene Systemeder reinen Begr i f f s ze i chen eingeschränkt ist, wie sie die exakteWissenschaft, insbesondere die Mathematik und die mathematischenNaturerkenntnis, ausbildet. Der Welt dieser Begriffszeichen stehen die Gebildeder Sprache und die des Mythos zunächst als etwas durchaus Unvergleichlichesgegenüber: und doch tritt in ihnen allen insofern eine gemeinsame Bestimmunghervor, als sie sämtlich in den Kreis der ,Darstellung‘ gehören. [...] DieBildwelt des Mythos, die Lautgebilde der Sprache und die Zeichen, deren sichdie exakte Erkenntnis bedient, bestimmen je eine eigene D imens i on derDarstellung — und erst in ihrer Gesamtheit genommen konstituieren alle dieseDimensionen das Ganze des geistigen Sehraums. Man verliert den Blick fürdieses Ganze, wenn man die Symbolfunktion von vornherein auf die Ebene desbegrifflichen, des ,abstrakten‘ Wissens einschränkt. Es gilt vielmehr zuerkennen, daß diese Funktion nicht einem einzelnen Stadium des theoretischenWeltbildes angehört, sondern daß sie dieses in seiner Totalität bedingt undträgt. Nicht erst das Reich des Begriffs, sondern bereits das der Anschauungund das der Wahrnehmung hat an dieser Bedingtheit teil [...].“ (PsF III, 56 f.)

Damit ist die symbolische Prägnanz Cassirers als Alternative und Anschluss an die

Vermögenspsychologie Kants anzusehen.428 Dass die Symbolfunktion von Anfang an die

Erkenntnis oder ihren Prozess begleiten soll, ist an dieser Stelle verdeutlicht worden. Man

lebt nicht nur in einer physikalischen Welt, sondern auch in einer symbolischen Welt, da

das Symbol das ist, was dem Menschen eigentümlich ist, und die symbolische Natur die

formende Funktion des Geistes ist.429

Deutlich erkennt man auch an dieser Stelle Cassirers Versuch, in PsF durch ‚Symbol‘ die

427 Vgl. Orth (1988). 428 Krois’ Interpretation (s.o. S. 195) scheint sich an dieser Stelle zu bestätigen.429 Vgl. Marc-Wogau (1936b), S. 283.

203

Allgemeinheit des Begriffs und ‚Symbol‘ als allgemeine Begriffsform darzustellen; ein

Versuch der dem in SuF gleicht, als er mit dem Funktionsbegriff die allgemeine Form des

Begriffs aufzustellen versuchte (vgl. 2.2; 3.3.5), jedoch selbst erkannte, dass der

Funktionsbegriff die Forderung der allgemeinen Form des Begriffs nicht vollständig

erfüllen kann (vgl. 2.3.3). Der Symbolbegriff, die erweiterte Begriffsform, ist umfassender

als der Funktionsbegriff, der nur für die Bedeutungsfunktion Geltung hat. In der

symbolischen Prägnanz wird die Verwandtschaft zwischen Symbolbegriff und

Funktionsbegriff deutlich, denn in der symbolischen Prägnanz geht es um Invarianz oder

Konstanten in der Funktion und Variation oder Transponierbarkeit.430

Cassirer ist der Ansicht, dass alle theoretische Welterklärung bei ihrem ersten Auftreten

einer geistigen Macht des Mythos gegenübergestellt wird. Philosophie und Wissenschaft

müssen den Mythos ‚in seiner Wurzel angreifen‘ und diese Wurzel ist die

Ausdruckswahrnehmung. Dabei dürfen sie diese Ausdruckswahrnehmung nicht zum

entgegengesetzten Extrem drängen, denn die Wissenschaft baut eine Welt auf den

Ausdrucksqualitäten auf, an deren Stelle die reinen Sinnesqualitäten getreten sind, und

letztere sind es, die immer weiter für die Erkenntnis als ‚objektive Wirklichkeit‘ reduziert

werden müssen. Wenn Cassirer feststellt, es gäbe nur graduelle, nicht aber prinzipielle

Unterschiede in der symbolischen Funktion des Bewusstseins, zum Beispiel zwischen

Kunst und Mythos, Mythos und Wissenschaft, so ist dies nun verständlich geworden.

Cassirer bringt so die Sprache, den Mythos und die wissenschaftliche Erkenntnis in der PsF

unter einem Dach, unter dem Begriff der symbolischen Form zusammen.

Das Seiende dient, wie bisher gesehen, als Ausgangspunkt für die Erkenntnistheorie

Cassirers und so ist es auch im Falle der Philosophie der symbolischen Formen. Die Frage

nach dem Seienden muss aber auf seinen Begriff und auf die Bedeutung dieses Begriffs

gerichtet sein, sie soll nicht auf die Glieder, sondern auf die Verfassung und die Struktur

des Seins gerichtet sein. Das Denken soll als Wechselbegriff des Seins eine neue

Bedeutung gewinnen. Es ist jetzt kein bloßes Reflektieren über das Sein, „sondern seine

eigene innere Form [...], die ihrerseits die innere Form des Seins bestimmt“ (PsF I, 4).

Daher sieht Cassirer die Grundbegriffe der Wissenschaften als selbstgeschaffene

intellektuelle Symbole an (vgl. PsF III, 385).

In der Philosophie der symbolischen Formen steht die Begriffsbildung, wie sie vom

Sprachbegriff zum wissenschaftlichen Begriff fortgeht und wie sie durch die Funktion des

Symbols und Zeichens aufgebaut wird, im Mittelpunkt. Man gewinnt die Invarianz oder

430 Vgl. Metzger (1982/1986), S. 184; vgl. auch Ehrenfels (1890/1988).

204

Konstanz durch die Wahrnehmung, die bei Cassirer eine Grundfunktion und zugleich ein

intellektueller Akt ist. Die Invarianz oder Wahrnehmungskonstanz wird durch das Zeichen

fixiert und dieses trägt den Inhalt weiter, so dass das Zeichen an die Stelle des Abbildens

eine Zuordnung im System der Begriffsbildung treten lässt. Die wissenschaftlichen

Begriffe, die in der Begriffsbildung Cassirers letzte Produkte sind, entsprechen der

symbolischen Dimension der reinen Bedeutung. Sie ist eine logische Dimension und soll

eine neue Weise des objektiven Sinnbezugs darstellen.

3.6. Die Auseinandersetzung zwischen Marc-Wogau und Cassirer

3.6.1. Marc-Wogaus Kritik an Cassirers Symbolbegriff

Obgleich seit den 1980er Jahren zahlreiche Interpretationen von Cassirers PsF erschienen

sind und viele Kritiker von jeweils unterschiedlichen Standpunkten aus Bemerkungen über

die Philosophie Cassirers machten,431 scheint die zu seinen Lebzeiten geführte

Auseinandersetzung mit Marc-Wogau432 von besonderer Bedeutung für die vorliegende

Arbeit zu sein, da sie die Fragestellung der vorliegenden Arbeit unmittelbar betrifft.

Deshalb soll nun in diesem Abschnitt das Augenmerk auf die unterschiedlichen Meinungen

der beiden bezüglich des Symbolbegriffs gerichtet werden. Ausgangspunkt hierbei ist der

1936 von Marc-Wogau in Theoria veröffentlichte Aufsatz Der Symbolbegriff in der

Philosophie Ernst Cassirers, welchem eine Replik seitens Cassirers 1938 in der

gleichnamigen Zeitschrift unter dem Titel Zur Logik des Symbolbegriffs folgte.

431 Vgl. Stipp (2003), S. 18 f. Stipp schildert die gegenwärtige Forschung zu Cassirer und ihreverschiedenen Standpunkte.

432 Die Auseinandersetzung zwischen Marc-Wogau und Cassirer dauerte ca. 4 Jahre an. Konrad Marc-Wogau war Mitherausgeber der schwedischen Zeitschrift ‚Theoria‘, die 1935 gegündet wurde. 1936veröffentlichte Cassirer in dieser Zeitschrift die Rezension von Marc-Wogaus Schrift Inhalt undUmfang des Begriffs. Darauf folgte Marc-Wogaus Replik im selben Jahr im dritten Heft der TheoriaDiskussionsinlägg. Inhalt und Umfang des Begriffs. K. Marc-Wogaus Bemerkungen zu derBesprechung Ernst Cassirers (S. 335-342). Im gleichen Heft veröffentlichte er auch eine Kritik überCassirers Symbolbegriff, der dieser dann 1938 in Theoria 4 entgegnete. 1940 nahm Marc-WogauStellung zu Cassirers Aufsatz (Was ist ›Subjektivismus‹? Theoria 5, 1939), Was ist ›Subjektivismus‹?Bemerkungen zum gleichnamigen Vortrag E. Cassirers, in Theoria 6 (1940, S. 66-74). Cassirerbeschäftigte sich noch einmal 1940 mit einer Kant-Interpretation Marc-Wogaus (vgl. Bermes 1997, S.170) mit dem Titel Neuere Kant-Literatur, in Theoria, 6 (1940, S. 87-100).

205

3.6.1.1. Kritik Marc-Wogaus

Marc-Wogau äußert zunächst, dass er in seinem Aufsatz nur die leitenden Gesichtspunkte

der Philosophie Cassirers berücksichtigen konnte und dabei die vielfältige Anwendung des

Grundgedankens beinahe außer Acht lassen mussste.433 So richtet sich seine Kritik

hauptsächlich auf die Deutung des Symbolbegriffs und die einzelnen symbolischen

Funktionen, nämlich die Ausdrucks-, die Darstellungs- und die Bedeutungsfunktion.

Bezüglich des Symbolbegriffs führt er zwei Kritikpunkte an, von denen sich der erste auf

das Verhältnis in Cassirers Darstellung richtet, das sich seiner Meinung nach als ein

Verhältnis der Gegensätzlichkeit darstellt. Interessanterweise führt er als Beleg seiner

Kritik eine Stelle aus Cassirers Schriften an, in der dieser seinen Symbolbegriff eher

allgemein fasst: „Wir versuchten mit ihm [Symbolbegriff] das Ganze jener Phänomene zu

umfassen, in denen überhaupt eine wie immer geartete »Sinnerfüllung« des Sinnlichen sich

darstellt; — in denen ein Sinnliches, in der Art seines Daseins und So-Seins, sich zugleich

als Besonderung und Verkörperung, als Manifestation und Inkarnation eines Sinnes

darstellt.“ (PsF III, 109) In dieser Erklärung stelle Cassirer, so Marc-Wogau, den Gedanken

des Verhältnisses der Gegensätzlichkeit zwischen dem sinnlich Gegebenen und der

Sinnerfüllung sowie zwischen Form und Materie und zwischen Zeichen und Bezeichnetem

dar, obschon diese Gegensätzlichkeit im Bereich des ‚Ausdrucksphänomens‘ nicht

vorhanden sei. Es herrsche bei Cassirer eine Art ‚Polarität‘434, „ohne welche das

433 Vgl. Marc-Wogau (1936b), S. 279. Er fasst dabei zunächst drei charakteristische Hauptpunkte derGedankenwelt Cassirers zusammen, S. 282-283: 1) Er betont die Relativierung des Objekts- und desWirklichkeitsbegriffs bei Cassirer und dass durch sie die dualistische „absolute“ Entgegensetzung vonSubjekt und Objekt, von Form und Materie überwunden sein sollte. Die Differenzierung des Gegebenenist für Cassirer ein unabschließbarer Prozess und der Gegensatz von Subjekt und Objekt ist nichtstatischer sondern dynamischer Natur. „Jede neue Erkenntnis, jede neue wissenschaftliche Theoriebedeute die Hervorhebung neuer Konstanten, die dann als das Objektive betrachtet würden, währenddasjenige, was vorher als objektiv gegolten habe, zu etwas Subjektivem degradiert werde. Aber dieseEntwicklung bedeutet [...] nicht, dass die neue Erkenntnis das Ergebnis der früheren vernichtet.Vielmehr bilden sämtliche Stufen dieser Entwicklung einen systematischen Zusammenhang undbegründen erst in diesem die echte Einheit der Erkenntnis.“ 2) Die „Gestaltung zur Welt“ ist nicht nurauf die reine Erkenntnisfunktion angewiesen, sondern „sie wird auch durch die Funktion dessprachlichen Denkens, die Funktion des mythisch-religiösen Denkens oder die Funktion derkünstlerischen Anschauung vollzogen“. Alle diese Funktionen sind voneinander unterschieden und diegeistige Gestaltung bewegt sich bei ihnen in verschiedenen Dimensionen. 3) Der Grundgedanke derPhilosophie der symbolischen Formen ist die formende Funktion des Geistes, die symbolischer Naturist: „Jede Formung oder Gestaltung bedeutet für Cassirer [...] eine Differenzierung des unmittelbarGegebenen, d. h. das Festhalten eines Elementes, das sich dann von anderen abhebt und dennoch zuihnen in eine bestimmte Beziehung gesetzt wird. Diese Beziehung ist nun für Cassirer die Beziehung derRepräsentation. Die Repräsentation, die Darstellung eines Inhaltes durch einen anderen ist nach ihm dieGrundfunktion des Bewusstseins. Sie konstituiert die »Formeinheit« des Bewusstseins.“

434 Marc-Wogau (1936b) S. 289. Er bezieht sich auf PsF III, S. 382: „[...] kein echter Sinn ist als solcherschlechthin einfach, sondern er ist eins und doppelt“.

206

symbolische Verhältnis seine Bedeutung verlieren würde“.435 Daher meint er, dass das, was

für den Symbolbegriff wesentlich ist, nicht nur die Gegensätzlichkeit von sinnlich

Gegebenem und Symbolisiertem, „sondern auch der Gedanke einer ganz bestimmten

Relation zwischen den beiden Momenten“ ist.436

Sein zweiter Kritikpunkt richtet sich auf die symbolische Relation in Bezug auf die Frage,

wie „das Verhältnis von Stoff und Form in dem sinnerfüllten Ganzen zu fassen“ ist und

wie „die Beziehung zwischen dem sinnlichen Symbol und dem Symbolisierten, d.h. die

Funktion der Sinnerfüllung selbst zu deuten“ ist.437 Suche man eine Antwort auf diese

Fragen, so stoße man auf die von Cassirer oft wiederholte Anweisung, in welchem Sinne

die symbolische Beziehung nicht gedeutet werden dürfe: „Keine ontische Kategorie (wie

etwa die Kategorie der Kausalität oder der Substantialität) dürfe hierzu verwendet werden.

Die symbolische Relation lasse sich »weder in eine Dingbeziehung noch in eine

Kausalbeziehung umdenken« [...]. Sie und ihre Unterarten: Ausdrucks-, und Darstellungs-

und Bedeutungsfunktion, seien Beziehungen sui generis.“438 Als Beleg hierfür weist Marc-

Wogau auf eine Stelle in PsF hin,439 in der es heißt:

„Das Verhältnis der »Erscheinung« zu dem seelischen Gehalt, der sich in ihrausdrückt; das Verhältnis des Wortes zu dem Sinn, der durch dasselbedargestellt wird, und schließlich das Verhältnis, in dem ein beliebigesabstraktes »Zeichen« zu dem Bedeutungsgehalt steht, auf den es hinweist: diesalles hat in der Art, wie Dinge im Raume ne beneinander stehen, wieEreignisse in der Zeit au fe i na nde r fo lgen oder wie reale Veränderungenaus e i nande r hervorgehen, nicht seinesgleichen; sein spezifischer Sinn kannnur ihm selber entnommen, nicht aber durch Analogien aus der Welt, die durchdiesen Sinn selbst erst »ermöglicht« wird, verdeutlicht werden.“ (PsF III, 118)

Daraus ergibt sich für ihn, dass Cassirer den „positiven Sinn festzustellen“ versucht, „den

er mit der seiner Ansicht nach spezifischen symbolischen Relation verbindet.“440 So zieht

Marc-Wogau aus seiner Untersuchung den Schluss, dass die ‚positive Deutung‘ der

symbolischen Relation bei Cassirer ‚dialektisch‘ sei; eine Dialektik, die sich daraus ergebe,

dass die symbolische Relation bei Cassirer sowohl den Gedanken der Identität zwischen

sinnlich Gegebenem und Sinnerfüllung sowie zwischen Zeichen und Bezeichnetem in sich

zu enthalten scheine, als auch den Gedanken der Gegesätzlichkeit von diesen. Dies ergibt

435 Marc-Wogau (1936b), S. 289.436 Marc-Wogau (1936b), S. 290.437 Marc-Wogau (1936b), S. 290.438 Marc-Wogau (1936b), S. 290. Marc-Wogau zitert hier PsF III, S. 117.439 Marc-Wogau (1936b), S. 290. Marc-Wogau zitert hier PsF III, S. 118.440 Marc-Wogau (1936b), S. 290.

207

sich, so Marc-Wogau weiter, als „eine Konsequenz aus gewissen Begriffsbestimmungen

und Ausführungen bei Cassirer“.441 Durch entsprechende Nachweise versucht er dies im

weiteren Verlauf seines Aufsatzes zu belegen.

Marc-Wogau führt zunächst in seinem Beweisgang an, wenn Cassirer „das Verhältnis

zwischen sinnlich Gegebenem und Sinnerfüllung, zwischen Materie und Form als ein

Verhältnis strenger Korrelation“ charakterisiert, so bedeutet dies, dass „dieser Gedanke die

Annahme der Identität der korrelativ verbundenen Glieder zur Konsequenz hat.“442 Um dies

deutlich zu machen, geht er näher auf die Beziehung von Zeichen und Bezeichnetem bei

Cassirer ein. Zeichen und Bezeichnetes seien nicht zwei ‚realiter‘ trennbare Momente, sie

sollten aber nach Cassirer gedanklich unterschieden werden können. Cassirer meine, dass

die Beziehung zwischen ihnen das Verhältnis wechselseitiger Bedingtheit sein solle. Diese

Bedingtheit bei Cassirer besage, dass die Glieder der in Rede stehenden Relation ihrer

Bestimmtheit nach durch einander bedingt seien. Diese Bedingtheit bedeutet für Marc-

Wogau, dass das eine Glied nur in Bezug auf das andere einen Sinn hat und umgekehrt.

Dies setzt jedoch voraus, dass der Gedanke an das eine Glied bereits den Gedanken an das

andere in sich trägt.443 Es ist dann für ihn unmöglich, zwischen A und B zu unterscheiden,

wenn das eine Glied A seine Bestimmtheit nur in Bezug auf das andere B erhält, und B

seine Bestimmtheit nur in Bezug auf A erhält. Das führt ihn zu dem Ergebnis, dass bei

Cassirer auch die Identität zwischen A und B gesetzt worden ist.

Auch die ‚eigentlich-signifikativen Zeichen‘ bei Cassirer werden von Marc-Wogau unter

diesem Gesichtspunkt analysiert. Cassirer unterscheidet angelehnt an Edmund Husserl

zwischen „anzeigenden“ und „signifikativen“ Zeichen (PsF III, 377). Nach Husserl ist

jedes Zeichen „Zeichen für etwas, aber nicht jedes hat eine ‚B ede u tung‘, einen ‚Sinn‘,

der mit dem Zeichen ‚ausged r üc k t ‘ ist. [...] Nämlich Zeichen im Sinne von

A nze i che n (Kennzeichen, Merkzeichen u. dgl.) d r üc ken n i ch t s au s , es sei denn,

daß sie ne be n der Funktion des Anzeigens noch eine Bedeutungsfunktion erfüllen.“444

Eingedenk dieser Erklärung Husserls, meint Cassirer, dass ein Ding oder ein Ereignis in

der empirischen Welt zum Zeichen für ein anderes werden kann, sobald es mit dem Ding

besonders durch die Beziehung der Kausalität verbunden ist. Der Rauch zum Beispiel kann

das Feuer, der Donner den Blitz ‚bezeichnen‘, aber diese Art der Zeichen drücken nichts

aus, denn sie sind nur auf die konstante Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem

441 Marc-Wogau (1936b), S. 291.442 Marc-Wogau (1936b), S. 291.443 Vgl. Marc-Wogau (1936b), S. 291 f.444 Husserl (1980), Bd. II/1, S. 23.

208

zurückzuführen (vgl. PsF III, 377). Sie sind also keine eigentlich-signifikativen Zeichen:

„Die reale Beziehung [...] enthält als solche noch keinerlei hinreichendenGrund für die r ep rä se n t a t i ve Beziehung, die durch sie erklärt werden soll.Die Empfindung müßte, um auf den Gegenstand hindeuten und um ihndarstellen zu können, nicht nur eine Wirkung von ihm sein, sondern sie müßtesich auch als dessen Wirkung wissen — und eben die Möglichkeit einesderartigen Wissens bleibt unverständlich, solange wir nicht den Kreis der bloß»anzeigenden« Zeichen verlassen und in den Kreis der echten, der eigentlich-und ursprünglich- »signifikativen« Zeichen eintreten.“ (PsF III, 379 f.)445

Cassirer betont hier, dass man den Kreis der ‚anzeigenden‘ Zeichen verlassen und in den

Kreis der ‚signifikativen‘ Zeichen eintreten soll. Damit wird auch deutlicher, dass seine

Symbol- und Zeichentheorie stufenweise, also durch die drei Dimensionen hindurch

betrachtet werden muss; ähnliche Formulierungen wie diese findet man an verschiedenen

Stellen in seinen Schriften (vgl. IUB, 220; BmD, 52 f.; PsF III, 395, 539 f.).

Zu dem eigentlich-signifikativen Zeichen Husserls und Cassirers meint Marc-Wogau, dass

eine echte signifikative Zeichenrelation dadurch charakterisiert ist, dass „bei ihr die

Auffassung des Zeichens zugleich auch Auffassung des Bezeichneten ist“.446 Trotz einer

Differenz zwischen Zeichen und Bezeichnetem folgt dieses Ergebnis aus der Deutung der

symbolischen Relation, denn diese enthält auch den Gedanken an die Identität von Zeichen

und Bezeichnetem. Mit der Behauptung, dass sich sein Ergebnis noch bestätigen werde,

wenn man sich der Behandlung der symbolischen Funktion bei Cassirer zuwende, schickt

sich Marc-Wogau an, in diesem Zusammenhang die Ausdrucks-, Darstellungs- und

Bedeutungsfunktion zu analysieren.

Es wird im Folgenden aber nicht auf alle Bereiche der symbolischen Funktionen

eingegangen, sondern nur auf den Bereich der Bedeutungsfunktion, in dem Marc-Wogau

Cassirers Begriffslehre kritisiert.

Um die Kritik Marc-Wogaus besser verstehen zu können, soll zunächst festgehalten

werden, dass dieser die Philosophie der symbolischen Formen streng genommen als nichts

anderes „als eine Erweiterung und Vertiefung des Grundgedankens der Begriffslehre

Cassirers“ ansieht.447 Darüber hinaus ist er der Meinung, dass Cassirer in PsF weiterhin

seinen Grundgedanken der Begriffslehre von SuF bewahrt. Somit stehe die Begriffslehre

sowohl genetisch als auch systematisch im Zentrum der Cassirerschen Philosophie.

445 Vgl. Marc-Wogau (1936b), S. 294. 446 Marc-Wogau (1936b), S. 295.447 Marc-Wogau (1936b), S. 324.

209

Marc-Wogaus leitender kritischer Gesichtspunkt bleibt bei seiner Kritik an der

Bedeutungsfunktion Cassirers unverändert. Er bemerkt weiter, dass „der Cassirerschen

Lehre von der Bedeutungsfunktion ein Doppelgedanke zugrunde liegt“448 und dieser

Doppelgedanke sich aus dem Gedanken an die Identität ergibt. Dies beruht Marc-Wogaus

Meinung nach wiederum auf zwei wesentlichen Gedanken Cassirers, nämlich dem

Gedanken der Korrelation und dem der Zeichenfunktion. Der Begriff bei Cassirer sei das

‚Eine im Vielen‘ und er suche „die Lehre vom Begriff als Ga t tung durch die Lehre vom

Begriff als Re la t i on zu ersetzen“.449 Um dies zu beweisen, führt Marc-Wogau seine

Argumentation wie folgt aus.

Die Relation zwischen Form und Materie in PsF, die Beziehung des Begriffsinhalts zum

Begriffsumfang, sei eine symbolische Relation und heiße ‚Bedeutungsrelation‘. Die Frage

nach dem Verhältnis von Inhalt und Umfang des Begriffs liege für Cassirer auf derselben

Linie wie die Frage nach dem Verhältnis von Begriff und Gegenstand, es handele sich

dabei ebenfalls um die symbolische Relation der Bedeutung:

„Es ist ein Grundgedanke der Cassirerschen Begriffslehre, dass dem Begriff dieKraft einer geistigen Formung und damit auch die Kraft der Objektsetzungzukommt. Der Begriff sei nicht etwa bloss ein Abstraktionsprodukt, sondernselbst produktiv. Er sei nicht aus gegebenen Inhalten abgezogen, sondern erverleihe dem unter ihn fallenden Besonderen erst dessen Bestimmtheit. Stetskomme in ihm eine Aktivität zum Ausdruck. Hierdurch ist das Verhältnis desBegriffs zum Objekt, wie auch des Allgemeinen zum Besonderen angegeben.Cassirer charakterisiert dieses Verhältnis als »ein rein ideelles Verhältnis: einVerhältnis des Bed i ngens «.“450

Hierzu meint Marc-Wogau weiter, dass die Deutung der Bedeutungsrelation bei Cassirer,

wenn man sie konsequent zu Ende denkt, Gefahr läuft, „mit der klar ausgesprochenen

Behauptung der »Polarität« von Form und Stoff und von Allgemeinem und Einzelnem in

Widerspruch zu geraten“.451 Bedenke man das von Cassirer angenommene Verhältnis des

Bedingens zwischen Form und Materie beziehungsweise zwischen Funktion und

Einzelwerten, so ergäbe sich daraus, dass die Einzelwerte (die Materie) ihre Bestimmtheit

und Objektivität durch die Form erhalten452:

448 Marc-Wogau (1936b), S. 328.449 Marc-Wogau (1936b), S. 325.450 Marc-Wogau (1936b), S. 326. Marc-Wogau verweist auf PsF III, S. 370.451 Marc-Wogau (1936b), S. 326.452 Vgl. Marc-Wogau (1936b), S. 327; vgl. auch PsF III, S. 381. Die Einzelwerte werden bei Cassirer als

solche bezeichnet „sofern sie zueinander in der durch die Funktion ausgedrückten Verknüpfung stehen.Das Einzelne, Diskrete besteht selbst nur in Hinsicht auf den Zusammenhang, den es in irgendeinerForm des Allgemeinen, mag darunter nun die Allgemeinheit des »Begriffs« oder die des »Gegenstandes«

210

„Bei den wissenschaftlichen Begriffen überhaupt und vor allem bei denmathematischen löst sich nach Cassirer das reine Denken vom Mutterboden derAnschauung los und setzt als Träger des »objektiven Seins« Gebilde vonprinzipiell unanschaulicher Natur. Die Gegenstände der mathematischenWissenschaft sind ihr nicht gegeben, sondern werden erst durch sie selbsterschaffen. Je »reiner« diese Gegenstände sind, desto klarer ist es, dass ihreBestimmtheit mit ihrem Bestimmtsein durch die Begriffe gleichzusetzen ist:ihre Bestimmtheit geht darin auf, dass sie Glieder des im Begriff ausgedrücktenRelationsgefüges sind.“453

Dieser Gedanke Cassirers trete in der Deutung seines Zahlbegriffs klar zutage. Die einzelne

Zahl bedeute nach der von Cassirer verfochtenen ordinalen Theorie niemals etwas für sich

allein, sondern ihr komme ein fester Wert nur als Stelle im Gesamtsystem zu.454 Marc-

Wogau bezeichnet daher die Formulierung Cassirers — „Die Essenz der Zahlen geht in

ihrem Stellenwert auf.“ (SuF, 51) — als „schärfste Formulierung für das Bedingstsein des

Einzelnen durch die Funktion“.455 Wenn dies der Sinn des Bedingtseins ist, so Marc-

Wogau, dann sei es unmöglich, den Stoff von der Form, das Einzelne von der Funktion in

irgendeinem Sinne zu trennen. Denn mit dem Einzelnen ist seiner Meinung nach schon das

Relationsgefüge, dem es angehört, mitgedacht. Wenn das so ist, dann „kann es aber auch

nicht gedanklich, durch eine distinctio rationis, von diesem Relationsgefüge unterschieden

werden“. Daher meint er weiter, „[i]n bezug auf die Funktion oder ‚Form‘ folgt aus der

Annahme der Korrelation von Form und Stoff, dass die Beziehung zu den Einzelwerten als

zu ihr gehörend gedacht werden muss“.456 Cassirer betone, die Beziehung zum Umfang

muss in den Inhalt des Begriffs selbst hineingelegt werden.457 Der Begriff bei Cassirer sei

nicht Etwas, was forme, sondern die Formung selbst, und so falle letztlich der Inhalt eines

Begriffs mit seiner Beziehung zu den Einzelwerten zusammen. Auch die Annahme

Cassirers, „dass die Beziehung zum Umfang im Inhalte des Begriffs selbst liegen soll“

trifft nach Marc-Wogau nicht zu, da sie in ihrer Konsequenz bedeute, dass Inhalt und

Umfang nicht gedanklich unterschieden werden können. „Denn mit dem Inhalt ist dann ja

der Umfang schon gedacht. Eine distinctio rationis ist unter solchen Umständen nicht

möglich. Sie wird aber anderseits von Cassirer angenommen und gefordert.“458 Dieser

kurze Einblick in das Verhältnis von Inhalt und Umfang des Begriffs soll zunächst

verstanden werden, besitzt“. 453 Marc-Wogau (1936b), S. 327.454 Marc-Wogau verweist hier auf SuF, S. 62.455 Marc-Wogau (1936b), S. 327.456 Marc-Wogau (1936b), S. 327.457 Marc-Wogau (1936b), S. 327 f.458 Marc-Wogau (1936b), S. 328.

211

genügen, da dieses Thema im Abschnitt 3.6.2 vertieft wird.

Der der Cassirerschen Lehre von der Bedeutungsfunktion zugrunde liegende

Doppelgedanke ist nach Marc-Wogau auch in dessen Begriffszeichen zu finden. Bei der

Analyse desselbigen bezieht sich Marc-Wogau hauptsächlich auf Stellen bei Cassirer, in

denen dieser von ‚Ordnungszeichen‘ beziehungsweise Begriffszeichen spricht.459 An einer

Stelle merkt Cassirer an: „Sie [die reinen Begriffszeichen] sind aus Mitteln des

»Ausdrucks« und aus Mitteln der anschaulichen »Darstellung« zu reinen

B edeu t ungs trägern geworden. Was in ihnen »gemeint« und intendiert ist, das steht

außerhalb des Kreises der wirklichen, ja der möglichen Wahrnehmnung.“ (PsF III, 395)

Diese Erklärung Cassirers wirft bei Marc-Wogau die Frage auf, was mit einem

Begriffszeichen ‚intendiert‘ wird, wenn nach Cassirer zwischen Zeichen und Bedeutung

eine eindeutige und feste Zuordnung besteht. Daraus ergibt sich für Marc-Wogau, dass bei

Cassirer mit einem Zeichen ein Begriffsinhalt, die Bedeutung, gemeint ist:

„Ein wissenschaftliches Zeichen wäre dann für Cassirer ein Ausdruck für eineideelle Beziehung, für eine Funktion. Und wie eine physikalische Formel eineinzelnes Gesetz oder eine einzelne »Form« zum Ausdruck bringt, so würdeder Inbegriff der Zeichen die allgemeine ideelle Form der wissenschaftlichenTätigkeit des Geistes ausdrücken [...].“460

Betrachtet man aber Cassirers Zeichen näher, so Marc-Wogau weiter, stellt sich heraus,

dass das Verhältnis des Zeichens zum Bedeutungsgehalt ein völlig eigenartiges, durch die

Bedeutungsfunktion selbst konstituiertes sein soll. Das heißt, dass das Zeichen, sofern ein

Begriffszeichen ‚Bedeutungträger‘ genannt wird, nicht in irgendeiner ‚äußeren‘ Beziehung

zu einem Gesetzesbegriff steht und diesem ‚äußerlich‘ zugeordnet ist. Es müsse vielmehr

die Bedeutung selbst mit dem sinnlichen Zeichen zu einer inneren Sinneinheit

verschmolzen sein:

„Das sinnerfüllte Begriffszeichen z. B. die Formel eines Gesetzes, »intendiert«dann nicht den selbständigen Begriffsinhalt, d. h. hier das Gesetz, sondern ebenalles das, was durch diesen Begriff oder durch dieses Gesetzzusammengehalten und zusammengefasst wird. Der Begriff oder das Gesetz,das dem sinnlichen Zeichen eine Bedeutung verleihen und zusammen mit ihmein sinnerfülltes Ganzes bilden soll, scheint hier dann nur die Beziehung aufden Umfang, auf das durch das Gesetz Beherrschte bedeuten zu können.Unabhängig von dieser Beziehung kommt ihm kein selbständiger Sinn zu.“461

459 Marc-Wogau bezieht sich auf PsF III, S. 333, S. 388 f., S. 393, S. 395. 460 Marc-Wogau (1936b), S. 330. 461 Marc-Wogau (1936b), S. 331.

212

An der Formulierung Marc-Wogaus, dass der Begriff oder das Gesetz dem sinnlichen

Zeichen eine Bedeutung verleihen soll, kann man schon erkennen, dass er Cassirer

missverstanden hat. Denn die Zeichentheorie bei Cassirer muss gemäß der

Objektivierungsstufen der drei Dimensionen betrachtet werden, das heißt, dass das

sinnliche Zeichen selbst mit Hilfe der ‚Tätigkeit des Geistes‘ zum Bedeutungszeichen,

also zum Begriff werden soll, und nicht wie Marc-Wogau meint, dass der Begriff dem

sinnlichen Zeichen eine Bedeutung ‚verleiht‘. Cassirer spricht von einer Theorie der

Begriffsbildung, wie man von der Wahrnehmung (Phänomenologie der Wahrnehmung) aus

zu einem wissenschaftlichen Begriff gelangen kann.

In einer Art Zusammenfassung seiner Kritik konstatiert Marc-Wogau, dass das

Symbolische nach Cassirer „Immanenz und Transzendenz in Einem [ist]: sofern in ihm ein

prinzipiell überanschaulicher Gehalt in anschaulicher Form sich äussert.“462 In dieser

Begriffsbestimmung würden im Symbolischen zwei Momente unterschieden und auf eine

spezifische Art aufeinander bezogen. Wenn Cassirer nun diese Beziehung dadurch

charakterisiere, dass er sage, das Symbolische sei nicht das Eine oder das Andere, sondern

es stelle das ‚Eine im Anderen‘ und das ‚Andere im Einen‘ dar,463 so scheint für Marc-

Wogau die Frage aufzukommen, ob „denn unter solchen Umständen eine Unterscheidung

zwischen diesem »Einen« und diesem »Anderen« überhaupt möglich“ sei. „Ist nicht

hierdurch die Identität der beiden Momente des Symbolischen gesetzt, die dann mit der

Behauptung ihrer »Polarität« in Widerspruch geräht?“464 Wenn Cassirer feststelle, “jede

Funktion der »Darstellung« schließt einen Akt der Identifizierung und einen solchen der

Unterscheidung in sich — und zwar muß beides nicht als ein bloßes Nacheinander, sondern

als echtes Ineinander gedacht, muß die Identitätssetzung in der Unterscheidung, die

Unterscheidung in der Identitätssetzung vollzogen werden“465, so stellt sich für Marc-

Wogau die Frage, inwiefern es überhaupt möglich sei, diese Forderung Cassirers aufrecht

zu erhalten, ohne sich in Widersprüche zu verfangen.

Man merkt hier, dass Marc-Wogau Cassirer als Hegelianer interpretiert. Cassirers

Gedankengang ist aber nicht im Hegelschen Sinne dialektisch. Dies macht Orth in einem

Aufsatz466 deutlich. Cassirer arbeitete in seiner Hegel-Darstellung von 1920 aus dem dritten

Band von Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft positiv heraus, dass

Hegel den Kantischen Begriff der ‚Synthesis‘ und der ‚synthetischen Einheit‘ als Tat des

462 PsF III, S. 450; vgl. Marc-Wogau (1936b), S. 331. 463 Vgl. PsF III, S. 447; vgl. auch Marc-Wogau (1936b), S. 331.464 Marc-Wogau (1936b), S. 331 f.465 PsF III, S. 366; vgl. Marc-Wogau (1936b), S. 332. 466 Orth (2002).

213

Geistes bewährte und das geistige Leben in seinem Zusammenhang aufzuweisen versuchte.

Cassirer halte aber am ‚kritischen Idealismus‘ gegen den ‚absoluten Idealismus‘ fest, weil

Hegels dialektische Methode „das Ideelle an das Faktische“ und „das Faktische an das

Ideelle verloren“ habe (EP III, 377).467

„Die Synthesis, die Cassirer vorschwebt, ist die originäre und korrelativeVernüpfung von Sinnlichkeit und Sinn als ‚Urphänomen‘, wie er sie in seinemTheorem von der ‚symbolischen Prägnanz‘ konstatiert.[...] Dieses Theorem istin dieser Form nicht Hegelscher, sondern eher Goethischer und vor allemphänomenologischer Abkunft im Sinne der Husserlschen Phänomenologie undder Gestaltpsychologie. Wohl aber ist das Motiv der Konkretion derWelterfahrung und deren Charakterisierung als eines nicht bloß dinglich-kausalen, sondern sinnhaften Ganzen Hegelscher Provenienz. Auch hier gilt:Die Methode, wie diesem Sinnhaften (der konkreten Synthesis) beizukommenist, kann sicherlich nicht die spekulativ-dialektische sein; sie muß eher sinn-analytisch im Sinne von intentional-analytisch sein.“ 468

Man muss an dieser Stelle noch darauf hinweisen, dass Marc-Wogau, wenn er Cassirer

zitiert, nicht zwischen dem Bereich der Bedeutungsfunktion, also dem des

wissenschaftlichen Weltbegriffs, und dem Bereich des natürlichen Weltbegriffs, dem der

Ausdrucks- und Darstellungsfunktion, klar zu trennen versteht. Dies wird besonders bei

seiner Erklärung der symbolischen Relation deutlich. Marc-Wogau zitiert zum Beispiel,

um die symbolische Relation Cassirers zu definieren, die Stelle (PsF III, 117), an der

Cassirer äußert, dass „das Verhältnis von Seele und Leib [...] das erste Vorbild und

Musterbild für eine rein s ymbo l i s che Relation dar[stellt], die sich weder in eine

Dingbeziehung noch eine Kausalbeziehung umdenken läßt.“ Hier erklärt Cassirer lediglich

die symbolische Relation im Bereich der Ausdrucksfunktion. Im Bereich der

Darstellungsfunktion aber stellt sich die symbolische Relation als ein Verhältnis von

‚Präsenz‘ und ‚Repräsentation‘ dar, das heißt, dass die symbolische Relation sich in eine

‚Dingbeziehung‘ und eine ‚Kausalbeziehung‘ umdenken lässt. Man kann eine von Marc-

Wogau selbst angeführte Stelle heranziehen, in der es heißt, das Bewusstsein ließe sich im

Bereich der Darstellungsfunktion nicht aus isolierten, irgendwie äußerlich, etwa assoziativ,

verbundenen Elementen aufbauen, sondern es bringe ursprünglich und notwendig eine

Einheit von Präsenz und Repräsentation, von den sinnlichen ‘Gegebenheitsmomenten‘ und

den reinen ‚Ordnungsmomenten‘, von ,Materie‘ und ,Form‘ zum Ausdruck.469 Diese

467 Vgl. Orth (2002), S. 126.468 Orth (2002), S. 126.469 Marc-Wogau (1936b), S. 284.

214

Einheit der Beziehung der Repräsentation kann man als symbolische Relation im Bereich

der Darstellungsfunktion bei Cassirer bezeichnen.

Man könnte meinen, dass Marc-Wogaus Kritik berechtigt sei, denn er geht von dem

allgemeinen Symbolbegriff aus und übt unter diesem Gesichtspunkt Kritik an Cassirer.

Marc-Wogau geht auf den Bereich der Bedeutungsfunktion (Begriffszeichen) ein, sein

Standpunkt bleibt aber nur im Bereich der Ausdrucks- und Darstellungsfunktion, ohne

diese Bereiche voneinander zu unterscheiden. Dieses Verwischen führt dazu, dass er

Cassirer vorwirft, nicht einmal eine distinctio rationis zwischen Form und Materie

vorzunehmen. Cassirer setzt aber für eine solche distinctio rationis voraus, dass eine

Unterscheidung zwischen dem Gegebenen und der Deutung dieses Gegebenen möglich ist.

Man soll von der spezifischen Bedeutung, die für jeden Bereich der symbolischen Formen

charakteristisch ist, nicht abweichen. Cassirer selbst erklärt allgemein:

„Wir versuchten mit ihm [Symbolbegriff] das Ganze jener Phänomene zuumfassen, in denen überhaupt eine wie immer geartete »Sinnerfüllung« desSinnlichen sich darstellt; – in denen ein Sinnliches, in der Art seines Daseinsund So-Seins, sich zugleich als Besonderung und Verkörperung, alsManifestation und Inkarnation eines Sinnes darstellt. Hierzu bedarf es nicht,daß beide Momente als solche schon scharf auseinandergetreten sind, daß sie inihrer Andersheit und Gegensätzlichkeit gew uß t werden. Diese Form desWissens bezeichnet nicht den Anfang, sondern erst das Ende der Entwicklung.“(PsF III, 109)

Dies besagt, dass man die drei Dimensionen in der Folge der einzelnen Stufen betrachten

muss.

So unterläuft Marc-Wogau bei der Betrachtung der Bedeutungsfunktion der Fehler, eine

Erklärung Cassirers, die sich auf eine bestimmte Dimension, zum Beispiel die Dimension

der Darstellungsfunktion richtet, ohne Einschränkungen für die Dimension der

Bedeutungsfunktion zu übernehmen und daraus Schlüsse zu ziehen. Man muss jedoch

genau beachten, in welchem Bereich sich Cassirer gedanklich befindet, wenn er etwas

erklärt. Das Zeichen zum Beispiel wird je nach dem Bereich der Zeichenfunktion von

Cassirer anders erklärt, nämlich in der Ausdrucksfunktion als sinnliches Zeichen, in der

Bedeutungsfunktion als reines Bedeutungszeichen, und sie tragen jeweils ihre spezifischen

Funktionen.

215

3.6.1.2. Cassirers Replik: Identitätslogik vs. Relationslogik

Cassirer antwortet in seinem Aufsatz Zur Logik des Symbolbegriffs auf die kritischen

Betrachtungen Marc-Wogaus, meint aber, er müsse sich in erster Linie mit dem Prinzip,

das Marc-Wogau in all seinen kritischen Erwägungen als Kriterium benutzt,

auseinandersetzen.470

Er fasst zunächst die von Marc-Wogau vorgebrachten Beweisgründe gegen die Gültigkeit

des Symbolbegriffs in einem einzigen Argument zusammen471:

„Es besteht darin, daß der Symbolbegriff überhaupt kein ,einfacher‘ Begriff ist,der einen scharf-bestimmten, eindeutigen Sachverhalt darstellt und beschreibt.Bei näherer Analyse stellt es sich viel mehr heraus, daß wir es hier mit einemBegriff zu tun haben, der sich aus zwei verschiedenen Momenten aufbaut, vondenen nichtsdestoweniger behauptet werde, daß sie mit einander unlöslichverbunden seien, daß sie nur in Korrelation zu einander gedacht werdenkönnten. Gegen die Zulässigkeit derartiger Begriffsformen hat Marc-Wogauoffenbar die schwersten Bedenken. Der stärkste Einwand, den er z. B. gegenmeine Lehre von der Bedeutungsfunktion erhebt, besteht darin, daß dieseLehre, wenn man sie bis in ihre letzten Konsequenz verfolge, notwendig zueinem ,Doppelgedanken‘ führe.“ (ZLS, 207)

Diesen Einwand, so Cassirer, müsse er unterstreichen und verschärfen, denn er habe diese

Doppelheit im Aufbau seiner Begriffstheorie immer wieder betont und sie in den

Mittelpunkt der Erörterung gerückt. Jeder Relationsbegriff sei freilich ‚eins und vieles‘,

sei ,einfach‘ und ,doppelt‘. Er sei eine eigentümliche Sinn-Einheit und Sinn-Ganzheit, die

sich in relativ selbständige, deutlich voneinander unterscheidbare Teile gliedere. Wenn

man in diesem Doppelgedanken nur einen „logischen Fehler“ (ZLS, 207) sehe, so falle

man damit auf den Standpunkt der ‚Identitäts-Logik‘472 zurück, die er ausdrücklich

ablehne. Cassirer versteht die Logik bei Marc-Wogau als eine absolutistische ‚Identitäts-

Logik‘, die seiner Meinung nach nicht nur die Auffassung von der Struktur und Bedeutung

der reinen Relationsbegriffe erschwert, sondern sie unmöglich macht. Wenn man die

470 ZLS, S. 203: „Ich muß gewissermaßen ab ovo beginnen: statt mich in die konkreten Einzelphaenomenezu versetzen, mit deren Aufhellung und Auslegung es die ‚Philosophie der symbolischen Formen‘ zu tunhat, muß ich mich mit logisch-prinzipiellen Vorfragen: mit der Frage nach der Struktur des Begriffsselbst und nach der ‚Möglichkeit‘ dieser Struktur beschäftigen.“

471 Cassirer bezieht sich auf Marc-Wogaus Feststellung in Theoria, 2 (1936), S. 328 f., dass „derCassirerschen Lehre von der Bedeutungsfunktion ein Doppelgedanke zugrunde liegt“.

472 Vgl. ZLS, S. 204: „‚Denken‘ und ‚Sein‘ werden [beim Eleatischen Begriff des Seins] so gefaßt, daß siesich nicht nur auf einander beziehen oder daß sie, in einem vagen Sinne, einander entsprechen sollen.Sie fallen vielmehr mit einander zusammen; sie stehen in einem strengen Identitätsverhältnis, da das,was das Sein ‚ist‘, was es seinem reinen Wesen nach bedeutet, lediglich durch das Denken faßbar undnur in ihm feststellbar ist, und da es umgekehrt kein Denken gibt, das sich nicht auf ein bestimmtes,eindeutiges Seiende als sein Objekt bezieht.“

216

Anschauung Marc-Wogaus verfolge, so würde man durch sie wieder auf den reinen

Eleatismus zurückgeführt (ZLS, 221). Cassirer verteidigt somit seine Auffassung, dass man

den Doppelgedanken vom Standpunkt der Relationslogik aus verstehen muss.

Er betont bereits im Aufsatz Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik diese

Doppelheit. Führt man die Auffassung der Begriffsbildung der Erkenntniskritik weiter

durch, kann nach Cassirer der Sinn der objektiven Urteile auf ein letztes Urverhältnis

zurückgeführt werden. Dieses Urverhältnis kann in verschiedenen Formulierungen als das

Verhältnis der Form zum Inhalt, als das Verhältnis des Allgemeinen zum Besonderen, als

das Verhältnis des Geltens zum Sein angesprochen werden. Entscheidend dabei ist, dass

die Grundbeziehung als eine streng einheitliche festzuhalten ist, die durch die beiden

gegensätzlichen Momente, die in sie eingehen, nur bezeichnet, nicht aber aus ihnen, als für

sich vorhandene Bestandstücke, aufgebaut werden kann (vgl. ET I, 19). Das Urverhältnis

von Allgemeinem und Besonderem oder Form und Inhalt soll gegenseitig bestimmt

werden. Die Einheit der gegenseitigen Bestimmung bildet das schlechthin erste Datum, das

sich erst für die künstlich isolierende Abstraktion in die Doppelheit zweier

‚Gesichtspunkte‘ (also unter Korrelation) zerlegt. Das eine Glied kann nicht für sich

Element sein, „da es immer erst durch sein korrelativ »Anderes« zu einem in sich

vollständigen und faßbaren Sinn gelangt“, wie die Reihenglieder durch die Reihenordnung

(ET I, 19). Es sei ein Grundmangel der metaphysischen Erkenntnistheorien, dass sie

versuchen, „diese Doppelheit von »Momenten« in eine Doppelheit von »Elementen«“

umzudeuten. Demgegenüber steht die Relation, die nicht nachträglich ist:

„Sind indessen die echten, wissenschaftlich fruchtbaren Begriffe als Ausdruckvon Relationen erkannt, so schwindet die eigentliche Schwierigkeit: denn die»Relation« ist nichts Vermitteltes und Nachträgliches, was zu demanschaulichen »Bestand« hinzutritt, sondern sie bildet eine konstitutiveBedingung dieses Bestandes selbst. Zur Anschauung selbst, auch wenn sie alsreine Mannigfaltigkeit gefaßt wird, gehört die Verbundenheit undwechselseitige Bezogenheit der Elemente dieses Mannigfaltigen; derGesichtspunkt, nach welchem diese Beziehung erfolgt, ist aber anderseits ebendasjenige, was wir in seiner bewußten Vervollkommnung und Durchbildungals logischen »Begriff« bezeichnen.“ (ET I, 20)

Unter dem zweifachen Gesichtspunkt oder der ‚Doppelheit von Momenten‘ wird für

Cassirer die Differenz, zum Beispiel zwischen Form und Materie, als eine solche des

Urteils selbst angesehen. Die Differenz steht damit unter dem einheitlichen Zweck der

Erkenntnis und fügt sich dem Urteil als Mittel ein (vgl. ET I, 21). Cassirer hebt daher

217

hervor, dass diese Differenzierung zur Charakteristik des Logischen selbst gehört:

„Echtes »Denken« ist nicht analytisches, in der bloßen Identität beharrendesDenken, sondern entfaltet sich synthetisch, in eine Reihe verschiedener,einander bedingender Formmomente. Diese wechselseitige Bedingtheitzwischen den einzelnen Momenten aufweisen heißt nicht, das eine in demSinne aus dem anderen »ableiten«, daß beide damit in eine einzigeunterschiedslose Gattungseinheit aufgingen. Gegenüber dieser Reduktion aufdie abstrakte und insofern leere Gattungeinheit betont gerade die funktionaleAuffassung die »konkrete« Mannigfaltigkeit der Denkmethoden: eineMannigfaltigkeit, die nicht in dem Sinne rational ist, daß sie nur eine verhüllteIdentität, im Grunde also eine bloße Tautologie wäre, sondern in dem Sinne,daß das Verschiedene als Verschiedenes eine bestimmte prinzipielle Strukturaufweist, kraft deren es uns in seinem Zusammenhang verständlich wird.“ (ETI, 22)

In PsF will Cassirer, wie bereits erwähnt, das Wort Erkenntnis im weitesten und

umfassendsten Sinne und darunter jede geistige Tätigkeit verstehen. In Zur Logik des

Symbolbegriffs erklärt er diese geistige Tätigkeit als diejenige, in der man sich „eine ‚Welt‘

in ihrer charakteristischen Gestaltung, in ihrer Ordnung und in ihrem ‚So-Sein‘“ aufbaut.

So will die Philosophie der symbolischen Formen „keine Metaphysik der Erkenntnis,

sondern eine Phaenomenologie der Erkenntnis sein“ (ZLS, 208).473 Sie wolle die

Voraussetzungen untersuchen, auf denen die Trennung zwischen der Welt und dem Ich

beruhe, und die Bedingungen derselben feststellen. Diese Bedingungen seien aber nicht

gleichartig: Es gebe verschiedene ‚Dimensionen‘ des Erfassens, des Verstehens, des

Denkens der Phänomene, und gemäß dieser Verschiedenheit sei auch das Verhältnis von

Ich und Welt zu einer mehrfachen Fassung und Gestaltung fähig.

Wie die Dimensionen des Erfassens, des Verstehens und des Denkens verschieden sind, so

sind es die Mittel, die in dem Prozess angewandt werden, und so ist es auch das Ziel, das

hierdurch erreicht wird. Cassirer verdeutlicht an dieser Stelle nochmals seinen Standpunkt,

indem er sich zur Anschauung und zum Gegenstand äußert: „Auf gegenständliche

Anschauung zielen alle Formen des Weltbegreifens und Weltverstehens hin; aber mit der

Art und Richtung der Vergegenständlichung wandelt sich auch der angeschaute

Gegenstand selbst.“ (ZLS, 209). Demgemäß, so Cassirer, will die Philosophie der

symbolischen Formen keine „bestimmte dogmatische Theorie vom Wesen der Objekte und

ihren Grundeigenschaften aufstellen“, sondern stattdessen, „die Arten der Objektivierung

473 Vgl. Orth (1995), S. 51: Cassirer knüpft nach Orth, wenn er sich auf die Phänomenologie bezieht, „anzwei ganz unterschiedliche Gestalten derselben an: nämlich an Hegel und Husserl“. Näheres vgl. Orth(1976); vgl. 3.1, S. 126, Fußnote 312.

218

erfassen und beschreiben“ (ibd.). Daher widerlegt er die im vorigen Abschnitt angeführte

Auffassung Marc-Wogaus mit folgendem Argument:

„Auf die erkenntnistheoretische Bedeutung dieser Methodik der implizitenDefinition habe ich schon in meinen ersten Arbeiten zum Begriffsproblemhingewiesen.474 Seither ist diese Bedeutung immer wieder bestätigt undallgemein anerkannt worden. [...] Aber was bedeutet nun dieses Verfahren,wenn wir es mit Rücksicht auf unser gegenwärtiges Problem betrachten ? Mansieht sofort: hier ist ein Ganzes von Begriffen gegeben, die in strengerKorrelation zu einander stehen und die außerhalb dieser Korrelation gar keinenselbständigen Inhalt besitzen. Keiner von ihnen besagt etwas ‚für sich‘, ―jeder ist nur im Hinblick auf den andern oder, besser gesagt, im Hinblick aufdas Gesamtsystem definiert. Und doch besagt eben diese Wechselseitigkeitnicht den geringsten Mangel, sondern sie begründet einen ganz bestimmten,höchst charakteristischen logischen Vorzug. Es kann nicht die Rede davon sein,daß dadurch, daß keiner der im System enthaltenen Grundbegriffe sich für sicherklären und sinnvoll gebrauchen läßt, auch der Sinn verschwindet oderzweideutig wird, den sie im System zu erfüllen haben. Jedem ist vielmehr seinganz bestimmter Platz im System zugewiesen ― und kraft desselbenunterscheidet er sich von jedem anderen, dem System zugehörigen Begriff.“(ZLS, 226 )

Um auf Marc-Wogaus Kritik am Verhältnis strenger Korrelation und seine

Schlussfolgerung — dieser Gedanke hat die Annahme der Identität der korrelativ

verbundenen Glieder zur Konzequenz — zu erwidern, sollte man eher auf Russells

Relationslogik, auf die sich auch Cassirer stützt, hinweisen. Auf Russells Relationslogik

wird im Abschnitt 3.6.2 im Zusammenhang mit dem Problem von Intension und Extension

etwas näher eingegangen (vgl. 2.2.2; SuF, 48; KmM, 4).

Kommt man nun auf die Fragen Marc-Wogaus zurück, so kann man folgende Antworten

geben. Wenn Marc-Wogau feststellt, dass Cassirers Doppelgedanke ‚das Eine im Anderen,

und das Andere im Einen‘ immer in Widerspruch gerät, und wenn er fragt, ob unter

solchen Umständen eine Unterscheidung zwischen diesem ‚Einen‘ und diesem ‚Anderen‘

überhaupt möglich ist, dann ergibt sich aus seiner Behauptung aber, dass er in letzter

Konsequenz bei der ‚Identifizierung‘ sinnlich-anschauliche Gegenstände voraussetzt und

nicht vom Symbolbegriff ausgeht. Wenn das Eine A vom Anderen B unterschieden werden

soll, so stellt sich Marc-Wogau physische Gegenstände vor, ‚A und B sind unterschieden‘.

Bei der Identifizierung jedoch geht er dann davon aus, dass ‚A und B nicht identisch sind‘.

Daher meint er, dass A und B in Widerspruch geraten. Das, was Cassirer hier aber meint,

ist der Prozess der Identifizierung und der Unterscheidung zwischen zwei Termini A und

474 Cassirer verweist hier auf sein Werk SuF, Kap. 3. 121 ff.

219

B, deren Relation ein Begriff ist (vgl. 3.6.2.2). Darüber hinaus muss man bei der

Feststellung ‚A und B sind identisch‘ ständig A mit B vergleichen, identifizieren und

unterscheiden, wobei bei der Identifizierung ihre Unterschiede gedanklich im Vordergrund

stehen und bei der Unterscheidung ihre Identitäten. Deshalb heißt es bei Cassirer, dass man

das Eine und das Andere unter der Korrelation, unter einem Doppelgedanken, betrachten

muss, und dies ist, was er als die ‚Arbeit des Geistes‘ oder das ‚Tun des Geistes‘

bezeichnet.

Wenn man das Argument Marc-Wogaus dem Cassirers gegenüberstellt, dann wird

deutlich, dass es sich eigentlich um unterschiedliche Standpunkte der Logik der

Begriffslehre handelt. Das Argument von Marc-Wogau und die Methode, mit der er

Cassirers Symbolbegriff analysiert, gehen von einem ungelösten erkenntnistheoretischen

Problem (Zuordnung von Materie und Form der Erkenntnis) aus, das in einem allgemein

logischen Problem der Begriffstheorie zum Ausdruck kommt, das Cassirer eigentlich zu

beseitigen versucht. Wie Cassirer in seinem Aufsatz betont, steht die Relationslogik, nicht

die ‚Identitätslogik‘ im Vordergrund seiner Begriffslehre (vgl. ZLS, 170; SuF, 121 ff.).

3.6.2. Intension und Extension

In SuF problematisiert Cassirer das Verhältnis von Inhalt und Umfang des Begriffs in der

traditionellen formalen Logik und versucht dieses Problem mittels der Logik des

mathematischen Begriffs, also durch den Funktionsbegriff zu lösen. Das Verhältnis

zwischen der Abnahme der Größe des Inhalts und der Zunahme der Größe des Umfangs

bildet in der aristotelischen traditionellen Logik eine Begriffspyramide; die Einteilung in

Gattungen und Arten führt zu immer allgemeineren und inhaltsärmeren Begriffen. Cassirer

ist der Ansicht, dass der Funktionsbegriff das inhaltsreichere Allgemeine darstellt. Auch in

PsF steht das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem im Mittelpunkt seiner

Begriffstheorie. Dort stößt man besonders in Cassirers Kritik an der Mathematisierung der

Logik auf diese Problemstellung. Die Untersuchung des Symbolbegriffs in PsF zeigt, dass

Cassirer mit dessen Hilfe eine Allgemeinheit des Begriffs darzustellen versucht, die er in

SuF mittels des Funktionsbegriffs zu explizieren sucht (vgl. 2.2.3). Diese Allgemeinheit

bezeichnet er als die konkrete Allgemeinheit und das Besondere versteht er als den Grund

der Einheit des Begriffs. Sein Korrelationsgedanke bezüglich des Verhältnisses von

Allgemeinem und Besonderem wird, wie im vorigen Anschnitt gezeigt, von Marc-Wogau

220

kritisiert, der dem Cassirerschen Korrelationsgedanken einen widersprüchlichen

Doppelgedanken zugrunde liegen sieht.

Wann die zweifache Betrachtungsweise eines Begriffs — Inhalt und Umfang oder die

heutigen Ausdrücke Intension und Extension — zum ersten Mal in der Philosophie- und

Logikgeschichte Eingang gefunden hat, ist unklar. Man vermutet aber, dass ihre Anfänge

bis zu Aristoteles zurückgeführt werden können.475

Heute unterscheidet man explizit zwischen einer Inhalts- und Umfangslogik. Man versteht

die Beziehungen der Begriffe innerhalb der Inhaltslogik als Beziehungen zwischen deren

Inhalten und innerhalb der Umfangslogik als Beziehungen zwischen deren Umfängen.476 In

der traditionellen Logik ist die zweifache Betrachtungsweise in einem nicht weiter

spezifizierten Sinne zu verstehen, und eine Präzisierung in Form einer Definition des

Inhalts und Umfangs eines Begriffs gibt es im Wandel der Jahrhunderte nicht. „Die

geläufigste Auffassung ist die, daß der Inhalt eines Begriffs aus den Merkmalen des

Begriffs besteht und der Umfang von den untergeordneten Begriffen (Arten) oder den unter

den Begriff fallenden Individuen gebildet wird.“477

Die Logik des 17. und 18. Jahrhunderts ist für das Verständnis der Unterscheidung von

Extension und Intension eines Begriffs entscheidend. Eine erste verbale Unterscheidung

zwischen Inhalt und Umfang eines Begriffs wurde den Verfassern der Logik von Port-

Royal,478 die 1662 zunächst anonym erschienen ist, zugeschrieben. Bei den Vorläufern der

Logik von Port-Royal findet man zwar entsprechende Unterscheidungen zwischen Inhalt

und Umfang eines Begriffs, die Untersuchungen nahmen aber alle nur Bezug auf Gattungs-

und Artbegriffe. Erst von Leibniz wurde der Umfang in Bezug auf Individuen

beziehungsweise Einzelgegenstände eingebracht.479 Ihm kommt in der Geschichte der

Logik deshalb Bedeutung zu, weil er als erster Logikkalküle geschaffen und auch den

Versuch unternommen hat, eine intensionale Logik zu begründen, obwohl dieser Versuch

475 Hamacher-Hermes (1994), S. 14; vgl. auch Walther-Klaus (1987). Während Walther-Klaus einegeschichtliche Betrachtung des Themas von der Antike bis zur Zeit nach Kant unternahm, konzentiertesich die Untersuchung von Hamacher-Hermes im Wesentlichen auf die moderne Zeit.

476 Vgl. Hamacher-Hermes (1994), S. 14; auch Mittelstraß (EPW 1995), Bd. 2, S. 256: „der Begriffsinhalt[wird] durch die Klasse seiner Merkmale erklärt, also derjenigen Oberbegriffe P1, P2, ..., die in einervollständigen konjunktiven Definition von P auftreten, der Begriffsumfang dagegen durch die Klasseseiner Unterbegriffe P1, P2, ..., darunter alle Individualbegriffe der unter P fallenden Gegenstände. EineAnalyse der ersten Art (G.W. Leibniz: ›secundum ideas‹) führt zur Inhaltslogik, eine Analyse derzweiten Art (Leibniz: ›secundum individua‹) zur Umfangslogik.“

477 Hamacher-Hermes (1994), S. 14.478 Vgl. Mittelstraß (EPW 1995), Bd. 3, S. 298 f. Die »Logique de Port-Royal« stellt die bedeutendste

philosophisch-wissenschaftliche Leistung der Schule von Port-Royal dar. Die Verfasser, A. Arnauld undP. Nicole, versuchten die Aristotelische Schullogik mit der Cartesischen und der PascalschenMethodenlehre zu verbinden.

479 Vgl. Walther-Klaus (1987), S. VII.

221

heute als misslungen beurteilt wird.480 Er gilt daher heute als Begründer der formalen Logik

im modernen Sinne. Darüber hinaus ist auch Johann Heinrich Lambert (1728-1777) mit

seinen Entwürfen intensionaler Begriffskalküle zu nennen, die ihn zum Vorläufer der

Algebra der Logik werden ließen.481 Im 19. Jahrhundert gab es dann einen Streit um die

Priorität von Inhaltslogik oder von Umfangslogik in Bezug auf die Entwicklung der

symbolischen Logik oder der Algebra der Logik. Es soll hier aber nicht weiter auf die

geschichtliche Entwicklung der Unterscheidung zwischen Inhalt und Umfang eines

Begriffs eingegangen werden. Anzumerken ist jedoch, dass diese Betrachtungsweise durch

Frege eine entscheidende Wendung erfährt482:

„In der Frege folgenden modernen logischen Semantik wird dieUnterscheidung von ‚intensional‘ und ‚extensional‘ jedoch nicht nur aufBegriffswörter, sondern von dort ausgehend auf sämtliche Ausdrücke einerformalen Sprache angewandt. Die Intension eines Begriffswortes ist die vonihm ausgedrückte Eigenschaft (der Begriff) und die Extension ist die Klasse derdiese Eigenschaft aufweisenden Gegenstände. Die Extension eines Nominatorsist der Gegenstand, seine Intension (so z. B. bei Carnap) derIndividualbegriff.“483

Nach diesem kurzen historischen Exkurs soll nun das Augenmerk darauf gerichtet werden,

was Cassirer unter dem Verhältnis zwischen Inhalt und Umfang eines Begriffs versteht. In

der traditionellen Logik nennt man, wie oben erwähnt, die Anzahl der Merkmale eines

Begriffs die Größe seines Inhalts. Die Größe der Anzahl der Arten, die man dem Begriff

untergeordnet denkt, das sogenannte Gattung-Arten Verhältnis, bezeichnet den Umfang

(vgl. SuF, 7).

Das, was Cassirer in SuF durch den Funktionsbegriff versucht, ist den allgemeineren als

zugleich inhaltsreicheren Begriff zu gewinnen. Das Verhältnis des Allgemeinen und

Besonderen, des Inhalts und Umfangs, soll als strenge Korrelation angesehen werden, und

diese zweifache Beziehung soll die Einheit des Begriffssinnes nicht zerstören. Wenn sich

der Sinn des Begriffs aus zwei grundverschiedenen Momenten aufbaut, die sich nicht

aufeinander zurückführen lassen und die niemals schlechthin miteinander zusammenfallen

können, besteht stets die Gefahr, dass diese methodische Zweiheit in eine metaphysische

Zweiheit, das heißt, in den metaphysischen Dualismus umschlägt.

480 Vgl. Hamacher-Hermes (1994), 48.481 Vgl. Hamacher-Hermes (1994), S. 43.482 Vgl. Hamacher-Hermes (1994), S. 14: „Sie [die Betrachtungsweise] hat bis zu ihrer Ablösung durch die

Rede von der Extension und der Intension von Begriffswörtern bzw. Aussageformen seit Frege einewechselvolle Geschichte erfahren.“

483 Hamacher-Hermes (1994), S. 14.

222

Die Unterscheidung zwischen Inhalt und Umfang des Begriffs in der Theorie des

Funktions- oder Reihenbegriffs bei Cassirer wird eine Unterscheidung des Gesetzes der

Zuordnung oder Reihenordnung von den Elementen dieser Zuordnung oder den

Reihengliedern.484 Es wurde im Abschnitt 2.2 gezeigt, dass Cassirer seinen

Funktionsbegriff oder Reihenbegriff mit der Gesetzmäßigkeit oder der Zuordnung

verbindet. Das Gesetz der Zuordnung in der Reihenbildung nennt Cassirer das

Reihenprinzip (vgl. SuF, 33).

Das Gesetz der Zuordnung oder die Reihenordnung wird bei Cassirer, wie oben erwähnt,

als Inhalt und die Elemente dieser Zuordnung oder die Reihenglieder werden als Umfang

gefasst. Die Reihenordnung, welche die Reihenglieder zu einer Einheit verknüpft, soll

einer anderen Dimension als die der Reihenglieder selbst angehören. Das Reihenprinzip

soll dem Reihenglied gegenüber etwas Eigenes und Selbständiges bedeuten, und dies

bezeichnet Cassirer „als eines der wesentlichen Fundamente der gesamten Begriffstheorie“

(IUB, 217). Er ist sich aber auch der Tatsache bewusst, dass selbst „wenn Form und Inhalt,

Reihenprinzip und Reihenglied auch in aller Schärfe gedanklich zu unterscheiden sind“,

dies keineswegs besagt, „dass sie im Sinne einer naiv-dinglichen Auffassung von einander

trennbar sind“ (IUB, 217). Das Allgemeine und das Besondere, also das Reihenprinzip und

das Reihenglied, stehen in der Reihenbildung in korrelativer Beziehung, das heißt, in

einem „Verhältnis der wechselseitigen Bedingtheit“ (ibd.). Es stellt sich nun die Frage, wie

sich Cassirers Ansicht zum korrelativen Verhältnis rechtfertigen lässt.485

Zur Verdeutlichung der Thematik soll in diesem Abschnitt die Auseinandersetzung

zwischen Marc-Wogau und Cassirer über das Verhältnis zwischen Inhalt und Umfang des

Begriffs näher betrachtet werden, wobei zunächst die Kritik Marc-Wogaus an Cassirer

dargestellt wird. Die daraus sich ergebenden Problemstellungen werden im Rahmen von

484 Vgl. Ihmig (1997a), S. 269.485 Vgl. PsF III, S. 442 f. Das Verhältnis zwischen Intension und Extension hat für Cassirer durch Hilberts

‚Beweistheorie‘ eine entscheidende Wandlung in der Methodik erfahren, mit der das Verhältniserforscht werden konnte, da auch jeder Schritt nachgeprüft werden konnte. „Das abstrakte Operieren mitallgemeinen Begriffsumfängen und -Inhalte hat, wie Hilbert betont, das mathematische Denken immerwieder auf Irrwege verlockt: es gilt, mit dieser Methode entschlossen zu brechen und einen Weg zufinden, auf dem das Denken nicht nur nach einem bestimmt-vorgezeichneten Plane fortschreiten,sondern auf dem es auch jeden seiner Schritte gleichzeitig einer Nachprüfung unterwerfen kann. Einesolche kritische Instanz ist es, die Hilbert in seiner »Beweistheorie« zu schaffen versucht.“ DieseBeweistheorie interpretiert Cassirer als eine Theorie, in der „der Grundgedanke von Leibniz’‚allgemeiner Charakteristik‘ von neuem aufgenommen und auf einen prägnanten und zugespitztenAusdruck gebracht [ist]“ (PsF III, S. 443).; vgl. auch Mittelstraß (EPW 1995), Bd.1, S. 305-306.Beweistheorie: „diejenige (zur Metamathematik gehörige, meistens mit ihr identifizierte) Theorie, mitder das sogenannte Hilbertprogramm eingelöst werden soll: der Widerspruchsfreiheitsbeweis der alsaxiomatische Theorie formulierten klassischen Arithmetik und Analysis. Je nach Art der in den bereitsvorliegenden Widerspruchsfreiheitsbeweisen für axiomatisierte Teile der klassischen Mathematikverwendeten Beweismittel ergeben sich fein differenzierte Abgrenzungskriterien zwischen elementarenund höheren Teilen der Mathematik .“

223

Cassirers Entgegnung näher behandelt.

1936 veröffentlichte Marc-Wogau seine Schrift Inhalt und Umfang des Begriffs, in welcher

er die verschiedenen Begriffstheorien prüfte, in denen die Logik das Verhältnis zwischen

Inhalt und Umfang des Begriffs aufgestellt hat. Im Kapitel Begriff als Funktion

problematisierte er die Begriffstheorie Cassirers sowie der Vertreter des Funktionsbegriffs,

Frege und Russell. Cassirer verfasste seinerseits im selben Jahr unter dem Titel Inhalt und

Umfang des Begriffs, Bemerkungen zu Konrad Marc-Wogaus gleichnamiger Schrift, die

Rezension des Werkes, in der er auch der Kritik Marc-Wogaus entgegnete. Auf diese

Bemerkungen Cassirers antwortet Marc-Wogau in seinem Aufsatz Inhalt und Umfang des

Begriffs, K. Marc-Wogaus Bemerkungen zu der Besprechung Ernst Cassirers,486 in

welchem er seine Begriffstheorie zu verteidigen versucht. Vier Jahre später greift Cassirer

in einer Rezension von Marc-Wogaus Schrift Vier Studien zu Kants Kritik der

Urteilskraft487 erneut die Problemstellung aus der Auseinandersetzung mit diesem auf (vgl.

NKL, 99 f.).

3.6.2.1. Bestimmungskomplexe und Relationsbestimmung bei Marc-Wogau

Marc-Wogau äußert sich im Kapitel Begriff als Funktion seiner Schrift Inhalt und Umfang

des Begriffs, indem er sich auf eine Stelle des dritten Bandes von PsF bezieht, in der

Cassirer erläutert, dass sich das Allgemeine nur am Besonderen manifestieren und sich

nicht anders als Ordnung und Regel für das Besondere beglaubigen und bewähren kann,

folgendermaßen:

„Dieses intime Aufeinanderbezogensein von Allgemeinem und Einzelnem, vonBegriff und dem, was unter ihn fällt, ist der Grundgedanke der CassirerschenBegriffslehre, wie sie in der Jugendarbeit »Substanzbegriff und Funk-tionsbegriff« eingeführt und dann im dritten Band der »Philosophie dersymbolischen Formen« in einem weiteren Zusammenhang entwickelt wird.“488

486 Marc-Wogau (1936c).487 Marc-Wogau: Vier Studien zu Kants Kritik der Urteilskraft, Uppsala 1938.488 Marc-Wogau (1936a), S. 192; Marc-Wogau bezieht sich auf PsF III, S. 381: „Die Funktion »gilt« für die

Einzelwerte, eben weil sie kein Einzelwert »ist« — und andererseits »sind« die Einzelwerte nur, sofernsie zueinander in der durch die Funktion ausgedrückten Verknüpfung stehen. Das Einzelne, Diskretebesteht selbst nur in Hinsicht auf den Zusammenhang, den es in irgendeiner Form des Allgemeinen, magdarunter nun die Allgemeinheit des »Begriffs« oder die des »Gegenstandes« verstanden werden, besitzt— und eben so kann das Allgemeine sich nur am Besonderen manifestieren und sich nicht anders dennals Ordnung und Regel für das Besondere beglaubigen und bewähren.“

224

Seine Kritik richtet sich daher besonders auf den Fortgang der Begriffsbildung vom Gebiet

des Seins hin zu dem des Sinns. Dieser Fortgang besteht seiner Meinung nach darin, „dass

der Begriff nicht mehr als etwas Bestimmtes betrachtet wird, das mit den besonderen

Inhalten durch eine gewisse Relation verbunden wäre, oder als etwas, dem eine

Bedeutungsfunktion zukäme, sondern gerade in dieser Relation bzw. in der

Bedeutungsfunktion selbst gesucht wird.“489 Wenn es sich wirklich so verhalten würde, so

Marc-Wogau, dann müsse das Allgemeine mit dem Einzelnen und dann auch die einzelnen

Inhalte miteinander zusammenfallen. Dies begründet er wie folgt: Wenn das Allgemeine,

die Regel oder das Reihenprinzip, nur in Bezug auf die Reihe selbst Sinn hat, und das

Einzelne, also das Reihenglied nur ‚in Hinsicht auf den Zusammenhang‘ besteht, „so ist bei

dem Gesetz der Reihe das Ganze der Reihenglieder und bei jedem Reihenglied auch schon

die ganz Reihe gedacht“.490 In beiden Fällen sei dasselbe gedacht, das heißt, Prinzip und

Einzelglied fielen dann zusammen. Dies sei eine notwendige Konsequenz des korrelativen

Verhältnisses, das Cassirer zwischen Begriff und Einzelinhalten sehe. Daraus zieht Marc-

Wogau, wie bereits erwähnt, den Schluss, „Sollen A und B derart verbunden sein, dass A

seine Bestimmtheit nur in bezug auf B, B seine Bestimmtheit nur in bezug auf A erhält, so

ist es unmöglich, zwischen A und B zu unterscheiden. Es ist dann überhaupt nichts

Bestimmtes gedacht.“491 Diese Behauptung Marc-Wogaus verdeutlicht das grundlegende

logische Problem, das die beiden Philosophen trennt und zu unterschiedlichen Standpunkte

führt.

Marc-Wogau versteht das Verhältnis zwischen Inhalt und Umfang des Begriffs wie folgt:

„Der Begriff hat einen bestimmten Sinn unabhängig von dem Gedanken an dengefassten Umfang. — Die Beziehung zu dem, was unter den Begriff fällt, kannnicht zu dem Begriff selbst gehören. Deswegen verwickelt sich jede logischeLehre, die ein notwendiges Verhältnis zwischen Begriffsinhalt undBegriffsumfang annimmt, in eine verführerische Dialektik. Diese Dialektik, diewir in ganz verschiedenen Begriffslehren vorfanden, besteht eben in demZusammendenken der beiden Gedanken: (1) Der Begriff ist eine Bestimmung,bei der das unter sie Fallende nicht gedacht ist, und (2) Der Begriff ist eineBestimmung, sofern sie sich auf das unter sie Fallende bezieht“.492

Man muss den Begriff seiner Meinung nach im Sinne des ersten Gedankens verstehen. Auf

die bisherige Form der Problemstellung, das heißt, Inhalt und Umfang eines Begriffs

489 Marc-Wogau (1936a), S. 193.490 Marc-Wogau (1936a), S. 193.491 Marc-Wogau (1936a), S. 193; vgl. 3.6.1.1 (S. 207).492 Marc-Wogau (1936a), S. 196.

225

wahrhaft zusammendenken und zu einer objektiv-gültigen Einheit zusammenfassen zu

wollen, müsse man jedoch verzichten. Denn der Umfang des Begriffs ist für ihn nur ein

dialektisches Gedankengebilde und der Inhalt, der die vom Begriffswort ausgedrückte

Bestimmung ist, ist für das Wesen des Begriffs bestimmend.

Unter dieser Voraussetzung konzentriert sich Marc-Wogau hauptsächlich auf zwei

Probleme, die er in der Logik des Begriffs für wichtig hält, nämlich auf das Problem des

Bestimmungskomplexes und das der Relationsbestimmung. Seiner Ansicht nach bringt

jeder Begriff eine Bestimmung oder einen Komplex von Bestimmungen zum Ausdruck. So

könnte zum Beispiel der Begriff, ‚Dreieck‘ als ein Komplex von Bestimmungen ‚Figur‘

(A), ‚Geradlinigkeit‘ (B) und ‚Dreiseitigkeit‘ (C) betrachtet werden. Daraus ergibt sich für

ihn die Frage nach dem Sinn eines solchen Komplexes: „Die Bestimmungen A, B und C

gehen zusammen, und der Komplex ABC ist eine Einheit von ihnen. Aber wie ist diese

Einheit zu deuten? Und was ist mit dem Eingehen von A in ABC zu verstehen?“493 Für

Marc-Wogau heißt ‚AB ist gedacht‘, wenn „A und B und nichts mehr in einem Gedanken

gedacht ist“.494 Diese Ausdrucksweise ist für ihn treffend, weil durch sie hervorgehoben

wird, dass „das Zusammensein der beiden einzelnen Bestimmungen nicht etwa ihr

Verbundensein durch etwas Drittes, durch einen hinzukommenden (objektiven oder

subjektiven) Relationsgrund bedeutet“.495 Jedoch kommt er nicht umhin, die gebrauchte

Ausdrucksweise zu verdeutlichen.

Die Aussage ‚in der Auffassung von AB sei auch A aufgefasst‘ darf nicht so verstanden

werden, dass „das Bewusstsein von A ein Moment des Bewusstseins von AB ist“, sondern

dass „A als Moment in das eingeht, was in der Auffassung von AB aufgefasst ist“.496 Für

Marc-Wogau ist die Auffassung von AB nicht aus zwei Auffassungen zusammengesetzt.

Er erläutert, dass in dem Abstraktionsprozess „das Bewusstsein des Eingehens der

‚abstrakten‘ Bestimmung A (d. h. des Inhaltes der Auffassung, zu der die Abstraktion

führt) in die Bestimmung AB (d. h. in den Inhalt der Auffassung, von der ausgegangen

wurde)“497 als ein Moment vorzufinden ist. Man soll aber daraus nicht schließen, dass „A

als ein ‚Abstraktum‘ die Beziehung zu AB in sich enthalte“. Um dies deutlich zu machen,

führt er eine Stelle von Theodor Lipps Leitfaden der Psychologie an, die er für

problematisch hält: Die Abstraktion „schliesst ein, dass ich in das Apperzipierte die

493 Marc-Wogau (1936a), S. 197.494 Marc-Wogau (1936a), S. 197.495 Marc-Wogau (1936a), S. 197.496 Marc-Wogau (1936a), S. 198. Marc-Wogau nimmt als Beispiel: „Die Wahrnehmung des blühenden

Fliederstrauches ist eine einheitliche Auffassung von etwas, bei dem verschiedene Farben, verschiedeneFormen usw. als Momente eingehen. [...]“

497 Marc-Wogau (1936a), S. 199.

226

Beziehung der Zugehörigkeit zu dem, wovon ich abstrahiere, mit hineinnehme“.498

Demzufolge sei die Beziehung zu dem Umfang in das Abstraktum hineingedacht, was dann

notwendigerweise zu Schwierigkeiten führe. Daher behauptet er, der Gedanke an AB

enthalte nicht den Gedanken an A und setze ihn dann auch nicht voraus; wenn dies paradox

klänge, so Marc-Wogau weiter, läge dies an der Mehrdeutigkeit der gewöhnlichen

Ausdrucksweise.499

Auf die Frage nach dem Verhältnis der Auffassungsinhalte AB und A eingehend sieht er

hierfür zwei Ausdrucksmöglichkeiten: ‚AB fällt unter A‘ und ‚A geht in AB ein‘. Die

beiden Sätze sind für ihn nur zwei Ausdrücke für denselben Sachverhalt. So heißt ‚A geht

in AB ein‘ für Marc-Wogau, dass A zusammen mit dem anderen B ‚AB‘ bildet und dies

dasselbe wie AB ist. Die Erklärung des Sinnes des Eingehens von A in AB kann nicht

dadurch geschehen, dass man konstatiert, „das Eingehen von A in AB bedeute, dass ich im

Bewußtsein von AB auch A auffasse“.500 Denn diese Ausdrücke besagen, dass ein

Bewusstsein von AB vorliegt, in dessen Inhalt A als Moment eingeht. Die Auffassung von

‚A und B‘ (‚Dreieck‘ und ‚Gleichseitigkeit‘), ist etwas anders als die Auffassung von ‚AB‘

(gleichseitiges Dreieck), also ist die Auffassung von AB nicht aus der Auffassung von A

und der Auffassung von B zusammengesetzt.

Wenn bei einem Bestimmungskomplex (AB) das eine Merkmal (A) das andere Merkmal

(B) ‚durchdringen‘501 oder ‚beherrschen‘ sollte, kann dies nach Marc-Wogaus Meinung nur

so verstanden werden, dass der Komplex AB mit A gleichzusetzen ist. Folglich wäre es

dann unmöglich, „zwischen den verschiedenen Inhalten AB, AC, AD usw., für die A das

»Allgemeine« ist, zu unterscheiden“.502 AB sei kein Aggregat sondern eine ‚logische

Einheit‘. Damit ist gemeint, „dass AB ein widerspruchsloser, eindeutiger Inhalt ist. Durch

diese Widerspruchslosigkeit des AB ist das ‚Zusammen von A und B‘ von anderen

498 Marc-Wogau (1936a), S. 199. Marc-Wogau zitert Lipps Werk Leitfaden der Psychologie, 1903, S. 115499 Vgl. Marc-Wogau (1936a), S. 199. Er fragt sich daher, wie man einen Körper A denken können sollte,

ohne Körperlichkeit zu denken. Wenn man sagt, dass „bei dem Gedanken an einen Köper A auchKörperlichkeit gedacht ist, so bedeutet dies nur, dass Köperlichkeit als ein Moment in den Körper Aeingeht, also zusammen mit anderen Bestimmungen aufgefasst ist, nicht aber, dass der Gedanke an denKörper A auch den Gedanken an die Bestimmtheit ‚Köperlichkeit‘ »für sich« als ein Moment in sichenthält.“

500 Marc-Wogau (1936a), S. 200.501 Der Ausdruck ‚durchdringen‘ ist eine Anspielung auf Cassirer, vgl. SP, besonders S. 300 (vgl. 3.1):

Cassirer ist der Ansicht, dass das Sinnliche zum Träger vom Sinnhaften werden soll. „Er [dermathematische Geist] erfaßt an seiner unmittelbar gegebenen G e s t a l t ein Etwas, was sich derAnschauung als solcher schlechthin entzieht — er sieht in ihm das Bild eines G e s e t z e s , einer Formder ideellen Z u o r d n u n g , die das letzte Fundament für alles mathematische Denken ist. Und auch hierist es das G a n z e der anschaulichen Gestalt, nicht etwa nur ein Teil oder Bruchstück von ihr, das unterdiesen spezifischen »Gesichtspunkt« gestellt und ihm gemäß mit einem bestimmten Sinngehaltdurchdrungen wird.“

502 Marc-Wogau (1936a), S. 201.

227

Gebilden abgegrenzt, z. B. von dem Zusammen der Bestandteile eines dialektischen

»Begriffs«.“503 Marc-Wogau zieht damit den Schluss, dass der Einwand, der gegen die

Ansicht, „die Auffassung von AB [sei] aus der Auffassung von A und der Auffassung von

B zusammengesetzt“, erhoben werde, nicht in Bezug auf ‚das Zusammen von A und B in

AB‘ wiederholt werden könne: „AB ist mit dem Zusammen von A und B gleichzusetzen,

nicht aber auch mit A für sich und B für sich.“504

Auch bezüglich der Relationsbestimmung erhebt Marc-Wogau Einwände gegen den

Gedanken der Cassirerschen Korrelation.505 Wenn dieser Begriff so verstanden wird, wie

Cassirer ihn sieht, birgt er seiner Meinung nach in sich selbst einen latenten Widerspruch.

Form und Inhalt, der Begriff und seine Besonderungen, sollten nach Marc-Wogau trotz

strenger logischer Korrelation, einander entgegengesetzt werden können. Er geht daher der

Frage nach, „ob Begriffe, die eine Relationsbestimmung bezeichnen, in demselben Sinn

gedeutet werden können wie Begriffe, die eine Eigenschaft zum Ausdruck bringen“.506

Schnell wird man gewahr, das hierbei das Augenmerk auf der Deutung des Begriffs

‚Relation‘ selbst liegt. Marc-Wogau will die Relation ARB als Inhalt eines Gedankens, als

‚logische Einheit‘ im oben erwähnten Sinne verstehen und behauptet, die Relation ARB

„kann auch als ein widerspruchloser Inhalt ganz ebenso wie AB verstanden werden“.507 Er

sieht auch keinen Grund dafür, diese Einheit als nicht analysierbar anzusehen oder sie,

anders als Russell dies tut, als etwas Spezifisches zu betrachten, das durch eine Analyse

völlig zerstört wird.508 Marc-Wogau fragt sich daher, „ob man nicht im demselben Sinne

sagen könne, dass die beiden Relationen ,A grösser als B‘ und ,C grösser als D‘ etwas

Gemeinsames besitzen, wie man von AB und AC sagt, dass sie ein Moment gemein

haben“.509 Gleichwohl ist für ihn die Relation ARB als Inhalt eines Gedankens eine

logische Einheit.

Russell erklärt die Unanalysierbarkeit des Relationssatzes: Wenn man den Satz

(proposition) „A differs from B“ analysiert, so sind die Konstituenten dieses Satzes, „A,

503 Marc-Wogau (1936a), S. 201.504 Marc-Wogau (1936a), S. 201.505 Vgl. Cassirer, IUB, S. 216. Cassirer sagt explizit: “Wir haben das Verhältnis des ›Allgemeinen‹ und

›Besonderen‹ als ein streng-korrelatives Verhältnis aufzufassen gesucht.“506 Marc-Wogau (1936a), S. 201.507 Vgl. Marc-Wogau (1936a), S. 204; Marc-Wogau schließt an Bradleys Appearance and Reality an, vgl.

Marc-Wogau (1936a), S. 202 ff.; vgl. Russell (1903/1996), pp. 99 f. Russell geht auf selbige SchriftBradleys ein und erhebt gegen die Behauptung Bradleys bezüglich ‚endless regress‘ Einwände; zu denverschiedenen Ansichten bezüglich des Relationssatzes, vgl. auch Russell (1903/1996), pp. 221-225.Nach Russell gibt es zwei verschiedene Weisen, das Problem des Relationssatzes zu behandeln. Die einenennt er ‚monadistic‘, als deren Repräsentanten man Leibniz und Lotze anführen kann, und die andere‚monistic‘, deren Vertreter Spinoza und Bradley sind.

508 Vgl. Marc-Wogau (1936a), S. 205. Er bezieht sich hier auf Russell (1903/1996), pp. 49 f.509 Marc-Wogau (1936a), S. 205.

228

difference, B“. Diese konstituieren aber den Satz nicht wieder. Ein Satz ist für Russell

„essentially a unity, and when analysis has destroyed the unity, no enumeration of

constituents will restore the proposition“.510 Überdies führt Russell an, „the difference

which occurs in the proposition actually relates A and B, whereas the difference after

analysis is a notion which has no connection with A and B.“511

Marc-Wogau ist der Ansicht, dass man bei einem Ganzen der Relation, ARB, außer den

Relata A und B auch ein drittes Moment R, die Relationsbestimmung, unterscheiden kann,

wenn man mit den Relationsbestimmungen zum Beispiel ‚grösser-kleiner‘ einen

bestimmten Sinn verbindet. „Diese drei Momente gehen in die Relation in demselben

Sinne ein, wie A und B in AB eingehen. Sie sind in einem Gedanken gedacht, wenn ARB

gedacht ist.“512 Somit meint er weiterhin, dass der Gedanke an die Relation ARB als solche

einheitlich sei. „Aber ARB kann als Komplex von den Bestimmungen (Begriffen) A, R,

und B betrachtet werden; diese Bestimmungen können aus ARB durch Analyse gewonnen

werden. Auch die Relationsbestimmung hat dann den Charakter des »Begriffs«“.513 Dieser

Ansicht Marc-Wogaus zur Unanalysierbarkeit des Relationssatzes bei Russell entgegnet

Cassirer selbst, worauf im nächsten Abschnitt eingegangen wird.

In Bezug auf das Problem der Unanalysierbarkeit der Relation als Relationsganzes versucht

Marc-Wogau der Eindeutigkeit der Russellschen asymmetrischen Relationen auf den

Grund zu gehen, indem er sich die Frage stellt, wie das Zusammendenken der Elemente A,

B und R ein eindeutiges Ganzes ergeben könne, und ob dieses Ganze doch noch eine

spezifische Bestimmtheit enthalte, die aber durch die Analyse verloren gehe. Er ist dabei

der Ansicht,

„bei der Relation ,A grösser als B‘ ist ausser A und B nicht nur die allgemeineRelationsbestimmung ,grösser-kleiner‘, sondern auch das ganz bestimmteVerhältnis, dass A grösser als B ist, und nicht etwa, dass B grösser als A ist,gedacht. Durch die Zerlegung der asymmetrischen Relation ARB in dieMomente A, B und R scheint man dieser Eindeutigkeit der Relation nichtgerecht zu werden“.514

510 Russell (1903/1996), p. 50.511 Russell (1903/1996), p. 49; vgl. auch p. 50: „If the quality be not a relation, it can have no special

connection with the difference of A and B, which it was to render distinguishable from bare difference,and if it fails in this it becomes irrelevant. On the other hand, if it be a new relation between A and B,over and above difference, we shall have to hold that any two terms have two relations, difference andspecific difference, the latter not holding between any other pair of terms. This view is a combination oftwo others, of which the first holds that the abstract general relation of difference itself holds between Aand B, while the second holds that when two terms differ they have, corresponding to this fact, a specificrelation of difference, unique and unanalyzable and not shared by any other pair of terms.“

512 Marc-Wogau (1936a), S. 206.513 Marc-Wogau (1936a), S. 206.514 Marc-Wogau (1936a), S. 206.

229

Die asymmetrische Relation sei eine logische Einheit, daher könne man auch sagen, dass

sie in dem selben Sinne eine Einheit von den Bestimmungen A, B und R sei, wie der

Begriff Dreieck eine Einheit von den Bestimmungen Figur, Dreiseitigkeit und

Geradlinigkeit ausmache. Der Grund der Eindeutigkeit des Relationsganzen ist nach Marc-

Wogau aber in den Relatis selbst zu suchen:

„Gewisse Bestimmtheiten bei A und B lassen hier die Umkehrung der Relationnicht zu. Die Relationsbestimmung gibt eine bestimmte »Richtung« zwischenden Relationsgliedern an. Aber die Irreversibilität dieser »Richtung« hat ihrenGrund in den Gliedern selbst. Die Eindeutigkeit der asymmetrischen Relationscheint dann mit dem »Zusammen« der Elemente A, B und R gegeben zusein.“515

Man kann hier vorwegnehmen, dass Marc-Wogaus Gedanke, die Eindeutigkeit des

Relationsganzen in den Relatis selbst zu suchen, nicht bestehen kann. Denn allein ‚größer

als‘ sagt uns nichts aus, nur in der Relation zwischen A und B oder C und D kann ‚größer

als‘ eine Bedeutung besitzen. Man kann auch mit ‚größer als‘ beliebig immer andere

mindestens zwei Glieder verbinden. Man kann zum Beispiel den Satz ‚x ist größer als y‘

bilden, in dem x und y Variablen sind und somit eine beliebige Anzahl unterschiedlicher

Sätze bilden. ‚Größer als‘ kann nur in einem Satz wie zum Beispiel ‚A ist größer als B‘ ein

Urteil fällen, das es dann auf den Wahrheitsgehalt zu prüfen gilt. Wenn der Satz ‚A ist

größer als B‘ wahr ist und der Satz ‚C ist größer als D‘ nicht wahr ist, wie können die

beiden Relationen, wie Marc-Wogau behauptet, etwas Gemeinsames besitzen? Darüber

hinaus fragt man sich, wie die Bestimmungen des Begriffs aus ARB durch Analyse

gewonnen werden können, wenn nur A, R und B nebeneinander stehen und ihnen keine

Relationsbestimmung mehr gegeben ist. ‚Größer als‘ kann nicht den Charakter eines

Begriffs haben, wie Marc-Wogau behauptet. Nach Russell kann man den Satz ‚A ist größer

als B‘ als Satz mit zwei Subjekten verstehen.

Auch die Eindeutigkeit der Russellschen asymmetrischen Relationen ist nach Marc-Wogau

in den Relatis selbst zu suchen. Betrachtet man dies anhand eines Russellschen Beispiels

näher, so bedeutet dies, dass eine Relation zwischen Vater (a) und Sohn (b), nämlich aRb

eine asymmetrische Relation ist. Diese Beziehung ist aber anders als die zwischen Bruder

und Schwester, die nach Russell eine symmetrische Relation bildet.516 Wenn aRb, wie

Marc-Wogau meint, eine Einheit von den Bestimmungen (a), (b) und R ist, dann hat man

515 Vgl. Marc-Wogau (1936a), S. 206 f.516 Vgl. Russell (1903/1996), p. 218 f.; auch 2.2.2.

230

als Bestimmungen Vater, Sohn und R. Sucht man dann die Eindeutigkeit dieser Relation

oder das Relationsganze in den Relatis, dann sieht man nur die nebeneinander stehenden

Termini oder Begriffe. Marc-Wogau behauptet ja, dass die Bestimmtheit der Relation

durch Analyse nicht verloren geht. Man fragt sich, ob diese nebeneinander stehenden

Begriffe eine Eindeutigkeit der asymmetrische Relation aRb ausmachen, wie dies Marc-

Wogau mit dem Begriff Dreieck zeigt, der eine Einheit der Bestimmungen Figur,

Dreiseitigkeit und Geradlinigkeit ausmacht. Vater und Sohn können dann und nur dann

einen Sinn oder ihre spezifischen Bestimmungen haben, wenn sie in Beziehung stehen, das

heißt, wenn Vater (a) der Vater seines Sohnes (b) ist und vice versa.

3.6.2.2. Der Korrelationsgedanke von Inhalt und Umfang bei Cassirer

In diesem Zusammenhang hebt Cassirer zunächst wieder die große Bedeutung Platons

hervor (vgl. 1.4), indem er einerseits auf den Chorismos zwischen Sinnenwelt und Ideen

eingeht und andererseits auf die Teilhabe des Sinnlichen an den Ideen (vgl. IUB, 211 f.).

Im Anschluss daran stellt er die Methodik Marc-Wogaus in Frage, da dieser mit einem

radikalen Schnitt die bisherigen Begriffslehren analysiert und zu dem Ergebnis gelangt,

dass keine Theorie seinem Kriterium standhalten kann. Cassirer bezweifelt, dass der

radikale Schnitt, den seiner Meinung nach Marc-Wogau in seiner Schrift vollzog, an der

rechten Stelle geführt worden ist: „Was hilft die Operation, wenn sich zeigt, daß der Patient

sie nicht überleben kann, daß er an ihr zu Grunde gehen muß?“ (IUB, 214). Die Lösung für

das Problem des Verhältnisses zwischen Inhalt und Umfang durch Marc-Wogau birgt für

ihn eine solche Gefahr in sich, denn wenn man sich dem Problem stellt, muss man zu

einem konstruktiven Aufbau fortschreiten können.

Die von Marc-Wogau gestellte Forderung, „den Inhalt des Begriffs rein für sich zu

definieren, und jede Beziehung auf den Umfang aus dieser Definition fernzuhalten“

bedeutet für Cassirer im gewissen Sinne das „Ende des Begriffs“ (IUB, 215):

„Jeder Begriff stellt eine bestimmte »Einheit der Bedeutung« auf und erverlangt, daß diese Einheit streng festgehalten wird. Aber er enthält zugleicheine Beziehung auf ein Mannigfaltiges und Besonderes, in welchem dieseBedeutungseinheit erst ihre Anwendung und Erfüllung finden kann. Ohne dieseBeziehung würde der Begriff vielleicht noch in irgend einem Sinn logisch-verständlich bleiben; aber er könnte keine objektive Erkenntnis mehrvermitteln; er bliebe, vom Standpunkt dieser Erkenntnis aus, »leer«.“ (IUB,

231

215)

Diese Worte Cassirers lassen erkennen, was er unter dem Wesen des Begriffs versteht. Die

positive Leistung des Begriffs besteht darin, dass etwas durch den Begriff erkannt, nicht

aber der Begriff überhaupt gedacht wird:

Der „Gegenstandsbezug läßt sich aus dem echten Begriff nicht eliminieren.Und durch ihn dringt notwendig und unvermeidlich die Rücksicht auf den»Umfang« in die Betrachtung des Begriffs ein. Der reine Erkenntnis-Sinn derBegriffe — mag es sich nun um naturwissenschaftliche oder etwa umjuristische Begriffe handeln — besteht ja eben darin, daß sie uns in den Standsetzen sollen, das empirisch-Besondere unter Regeln zu fassen und es kraftderselben zu bestimmen. Aber jede Regel ist unvollkommen, solange sie nichteine bestimmte Anweisung auf einen Bereich besonderer Gegenstände enthält,innerhalb dessen sie angewandt werden soll, und solange sie nicht etwas überdie Art dieser Anwendung aussagt.“ (IUB, 215)

Wird das Band zwischen ‚Inhalt‘ und ‚Umfang‘ zerschnitten, so Cassirer, kann man dem

Problem, das sich aus dem Verhältnis zwischen Inhalt und Umfang ergibt, oder dem

Widerspruch und Irrtum in der Auseinandersetzung entgehen, aber nur mit der Vermeidung

des Irrtums erreicht man „noch keinerlei »Wahrheit«, noch keine empirisch-gültige und

empirisch-brauchbare Erkenntnis“ (ibd.). Er ist der Ansicht, dass sich das Allgemeine am

Besonderen bewähren soll, und dass das Allgemeine nicht nur mit dem Besonderen

übereinstimmen, sondern es zum Schlüssel werden soll, der zu immer neuen

Besonderheiten hinführt.517

Cassirer betont auch, dass der Sinn des Reihenprinzips von dem des Reihenglieds

unabhängig ist, insofern das Prinzip gegenüber dem Reihenglied etwas Eigenes und

Selbständiges bedeutet. Diese Unabhängigkeit sei eines der wesentlichen Fundamente der

gesamten Begriffstheorie:

517 Cassirer weist an dieser Stelle auf Kant hin, dass der Satz des Widerspruchs oberster Grundsatz alleranalytischen Urteile ist, dass man durch den Satz des Widerspruchs zwar Falschheit und Irrtumvermeiden, aber nicht die Wahrheit als solche aufdecken und zulänglich begründen kann. vgl. Kant,KrV, B 190. Kant (W1990), S. 196 f.: „Der Satz nun: Keinem Dinge kommt ein Prädikat zu, welchesihm widerspricht, heißt der Satz des Widerspruchs, und ist ein allgemeines, obzwar bloß negatives,Kriterium aller Wahrheit, gehört aber auch darum bloß in die Logik, [...]. Man kann aber doch vondemselben auch einen positiven Gebrauch machen, d.i. nicht bloß, um Falschheit und Irrtum [...] zuverbannen, sondern auch Wahrheit zu erkennen. Denn, wenn das Urteil a n a l y t i s c h ist, es mag nunverneinend oder bejahend sein, [...]. Daher müssen wir auch den S a t z d e s W i d e r s p r u c h s als dasallgemeine und völlig hinreichende P r i n c i p i u m a l l e r a n a l y t i s c h e n E r k e n n t n i s geltenlassen; aber weiter geht auch sein Ansehen und Brauchbarkeit nicht, als eines hinreichenden Kriteriumder Wahrheit.“; vgl. auch Anmerkung von Bast (1993), S. 289.

232

Wenn „Form und Inhalt, Reihenprinzip und Reihenglied auch in aller Schärfegedanklich zu unterscheiden sind, so besagt doch dies keineswegs, daß sie imSinne einer naiv-dinglichen Auffassung, von einander trennbar sind. [...] Abereine solche Zwischenschicht läßt sich zwischen »Form« und »Inhalt« nichteinschieben, denn für beide gibt es kein Auseinander, sondern nur einMiteinander — ein Verhältnis der wechselseitigen Bedingtheit.“ (IUB, 217)

Cassirer lehnt Marc-Wogaus Behauptung ab, in der dieser gegen Russells

Relationsbestimmung Einwände erhebt (vgl. 3.6.2.1), dass aRb als Komplex von den

Bestimmungen (Begriffen) a, R, und b betrachtet werden könne und diese Bestimmungen

aus aRb durch Analyse gewonnen werden könnten. Diese muss man Cassirers Meinung

nach fallen lassen. Denn die Beziehung aRb sei kein Aggregat, das aus einzelnen Teilen

bestehe; sie lasse sich nicht in der Form (a+R+b) denken, weil der mit R bezeichnete

Ausdruck einer völlig anderen Dimension angehöre, weil er etwas durchaus anderes

bedeute, als das, was durch die Glieder a und b bezeichnet werde (IUB, 219). Cassirer

verteidigt, wie an dieser Stelle deutlich wird, Russells Logik der Relationsbegriffe, die

gezeigt hat, dass es unmöglich ist, eine Relation in Stücke zu zerbrechen und sie aus ihnen

wieder zusammenzusetzen (3.6.2.1; 2.2.2). Russell habe gegen Bradley treffend

hervorgehoben, dass das Zerbrechen der Relationen „nicht sowohl einem inneren Mangel

oder Widerspruch der reinen Relationsbegriffe, als vielmehr einem Mangel der

absolutistischen Gegenstandstheorie zuzuschreiben“ sei (IUB, 218). So hebt Cassirer an

dieser Stelle mit Russell hervor, dass es widerspruchsvoll ist, wenn man die Relation den

beiden Gliedern, die sie miteinander verknüpfen will, als ein neues Glied hinzufügt, wie

dies bei Marc-Wogau der Fall ist.518 Denn die Relation soll die Glieder mit einander

verknüpfen und man soll sie auch nicht wie ein ‚solides Ding‘ (a solid thing) nehmen (vgl.

IUB, 218).519

Russell merkt an, dass eine Relation zwischen zwei Termini ein Begriff520 ist und diese in

einem Satz auftritt, in dem zwei Termini nicht als Begriffe vorkommen und in dem der

Austausch der zwei Termini einen anderen Satz ergibt.521 Ein Relationssatz (a relational

518 Vgl. Marc-Wogau (1936a), S. 203519 Cassirer kennt auch eine Analyse im Sinne der Heraushebung des Verbindungsgrundes R im

synthetischen Urteil vgl. PsF II, S. 80.520 Russell (1903/1996), p. 212. Russell definiert ‚concept‘: „There are among terms two radically different

kinds, whose difference constitutes the truth underlying the doctrine of substance and attribute. Thereare terms which can never occur except as terms ; such are points, instants, colours, sounds, bits ofmatter, and generally terms of the kind of which existents consist. There are, on the other hand, termswhich can occur otherwise than as terms ; such are being, adjectives generally and relations. Such termswe agreed to call concepts.“

521 Russell (1903/1996), p. 95: „A relation between two terms is a concept which occurs in a proposition inwhich there are two terms not occurring as concepts, and in which the interchange of the two terms givesa different proposition.“

233

proposition) ist unterschieden von einem solchen Satz wie „a and b are two“, welcher mit

„b and a are two“ identisch ist. Er erklärt daher den Kernpunkt des Relationssatzes

zwischen zwei Termini wie folgt:

„A relational proposition may be symbolized by aRb, where R is the relationand a and b are the terms; and aRb will then always, provided a and b are notidentical, denote a different proposition from bRa. That is to say, it ischaracteristic of a relation of two terms that it proceeds, so to speak, from oneto the other. This is what may be called the sense of the relation, and is, as weshall find, the source of order and series.“522

Nach Marc-Wogau sollte man den Umfang nicht in den Inhalt hineindenken. Seine

Begründung beruht auf der Feststellung, dass das „blosse Voraussetzen des

Vorhandenseins einer bestimmen Menge [...] uns nicht die Möglichkeit [gibt], diese Menge

mit anderen zu vergleichen bzw. die Grösse des Umfangs zu bestimmen.“523 Daher merkt

er auch an, der Umstand, dass der Umfang des Begriffs unbekannt sei, verhindere nicht die

bestimmte Erfassung des Begriffs. Auch dass man in der Logik dennoch bei Begriffen von

einem Umfang rede, habe seinen Grund in der gewöhnlichen, dialektischen Voraussetzung,

„dass die Umgrenzung einer Mehrheit von Elementen schon durch die durch den

Begriffsinhalt ausgedrückte Bestimmung gegeben sein könne“. Marc-Wogau versteht die

Ansicht, dass das, was als Begriffsumfang anzusehen ist, vom faktischen Stand der

Erkenntnis abhängig ist, als eine ‚Relativierung des Umfangs‘, und so ergibt sich für ihn

hieraus, dass das Wesentliche für den Begriff im Inhalt, nicht aber im Umfang gesucht

werden muss.524

Cassirer widerlegt dies mit dem Beispiel vom ‚Begriff des Planeten‘. Die Entdeckungen

der Planeten zeigen, dass der Umfang des Begriffs durch die jeweiligen Entdeckungen, wie

zum Beispiel die Entdeckung des Uranus (1781), erweitert wurde und dadurch auch der

Inhalt des Begriffs eine Erweiterung erfuhr. Dies sei ein gutes Beispiel gegen Marc-

Wogaus Meinung, dass „der Umfang eines empirischen Begriffs gegen seinen Inhalt völlig

gleichgültig und von ihm aus niemals wirklich bestimmtbar ist“ (IUB, 224).525 Cassirer522 Russell (1903/1996), p. 95; vgl. auch p. 97. Russell fasst dann die Fälle der Relation von zwei Termini

in drei Punkten zusammen: „(1) they [two terms] all have sense, so that, provided a and b are notidentical, we can distinguish aRb from bRa; (2) they all have a converse, i.e. a relation Ř such that aRbimplies and is implied by bŘa whatever a and b may be; (3) some relations hold between a term anditself, and such relations are not necessarily symmetrical, i.e. there may be two different relations, whichare each other’s converses, and which both hold between a term and itself.“ Beispiel für jenen Fall wäredie Relation zwischen Vater und Vater und für diesen Fall wäre die Relation zwischen Schwester undSchwester; vgl. Russells ausführliche Erklärung in Chapter IX. Relations. § 94-99, pp. 95-100.

523 Marc-Wogau (1936a), S. 182.524 Vgl. Marc-Wogau (1936a), S. 183.525 Um dies zu verdeutlichen führt Cassirer anschließend Hegels Logik an. Hegel wählte, als er im Jahre

234

hebt an dieser Stelle hervor:

„Die Herstellung einer festen Beziehung zwischen dem Inhalt und Umfangeines Begriffs erscheint vom kritischen Standpunkt aus als eine Aufgabe, derenallmähliche Lösung wir der Erfahrung oder der ständig-fortschreitendenAnalyse der Grundbegriffe anheim stellen müssen; während die metaphysischeLogik diese Aufgabe als vollendet und abgeschlossen ansieht.“ (IUB, 223)

Gegen Hegel gewendet (vgl. Fußnote, 525) betont Cassirer, dass die Entscheidung über Art

und Richtung der Logik nicht durch die im ideellen verharrende Betrachtungsweise

erfolgen kann, sondern die wahrhaften Seinsbegriffe, die Aussagen über die Dinge und ihre

wirklichen Beschaffenheiten, den eigentlichen Maßstab zu bilden haben. Die

naturwissenschaftlichen Begriffe sollen nicht als Aggregate von Wahrnehmungstatsachen

betrachtet werden. Denn die naturwissenschaftliche Theorie bezieht sich nicht unmittelbar

auf die Tatsachen, sondern auf die ideellen Grenzen, die man gedanklich an ihre Stelle

setzt. Das Verhältnis zwischen den theoretischen und den faktischen Grundelementen ist

eine komplexere Beziehung, die im Aufbau der Wissenschaft obwaltet und daher logisch

einen schärferen Ausdruck für das Verhältnis zwischen Prinzip und Tatsache verlangt. (vgl.

IUB, 219; 2.3.3)

Im Gegensatz zur naturwissenschaftlichen Theorie haben die Gegenstände der Mathematik

und in deren Natur nur ein ideales Sein und alle Aussagen von ihnen beziehen sich auf das

Gesetz ihrer ursprünglichen Konstruktion. Cassirer ist daher der Ansicht, dass obschon die

mathematischen Konstruktionsbegriffe in ihrem Bereich fruchtbar und unentbehrlich sind

und die naturwissenschaftlichen Begriffe mit der Logik der Mathematik zusammenhängen,

es zum methodischen Fehler werden würde, wenn man von der mathematischen Logik aus

das Ganze der logischen Probleme zu bestimmen versucht (vgl. SuF, 148). Denn Erfahrung

und Denken sollen das Gleichgewicht halten und sich ständig wechselseitig ergänzen:

„Die Theorie gestaltet, an der Hand der Beobachtung und unter ihrer stetigenLeitung, den Inhalt der Begriffe um, indem sie immer neue Bestimmungen undBeziehungen in sie aufnimmt; und eben durch diese Umgestaltung wird siefähig, die einzelnen Anwendungsfälle der Begriffe immer vollständiger zuübersehen und immer genauer zu ordnen. Der Umfang hört durch dieseOrdnung auf, ein bloßes Aggregat zu sein — er wird zum System.“ (IUB, 228)

1801 sein Lehramt in Jena antrat, als Thema seiner Dissertation das Problem der Planetenabstände undder Planetenbahnen (vgl. IUB, S. 224). Nach Cassirers Ansicht habe Hegel in seiner Dissertationversucht, „den Umfang eines Begriffs vollständig aus dem Inhalt herzuleiten“, und dies habe er in allseiner Deduktion stillschweigend vorausgesetzt. Cassirer interpretiert daher Hegels Logik als „Logik des»intuitiven Verstandes«“, die „keine Logik des empirisch-diskursiven Denkens“ ist (IUB, S. 225).

235

3.6.2.3. Marc-Wogaus Replik auf Cassirers Bemerkungen

Ähnlich wie in seinem Werk Inhalt und Umfang des Begriffs, so erhebt Marc-Wogau in

seiner Replik526 wieder Einwände gegen die Cassirersche Deutung der strengen Korrelation

zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen.

Cassirers Behauptung, dass das Allgemeine etwas ‚Eigenes und Selbständiges‘ bedeutet, ist

für ihn unverträglich. „Denn die Korrelation von Form und Materie, von Reihengesetz und

Reihenglied, wie Cassirer sie auffasst, scheint bei näherer Analyse nicht nur die reale

Verschiedenheit, sondern auch die gedankliche Unterscheidung beider Momente

unmöglich zu machen — obgleich eine solche Unterscheidung von Cassirer selbst

angenommen wird“.527 Gegenüber dieser Behauptung Marc-Wogaus soll der Begriff der

Korrelation Cassirers verdeutlicht werden. Man kann unter der Korrelation verstehen, dass

ein Geometer eine gegebene Figur betrachtet, indem er sowohl auf die Eigenschaft dieser

Figur achtet, als auch das Netz von Korrelationen dieser Figur mitdenkt, in welchem die

Figur mit anderen verwandten Bildungen steht.

Marc-Wogau behauptet nach wie vor, dass eine distinctio rationis zwischen Form und

Materie bei Cassirer unmöglich ist; dieser dagegen ist der Ansicht, Form und Materie

sollen ihrer Existenz und ihrer Bestimmtheit nach einander bedürfen oder voneinander

abhängig sein. Dieser Cassirersche Gedanke liegt nach Marc-Wogau den in überlieferten

Begriffslehren gebräuchlichen Metaphern zugrunde. So will Marc-Wogau auch den

Cassirerschen Ausdruck ‚Durchdringung‘ von Form und Stoff als das ‚Durch-einander-

Bedingtsein‘ derselben verstehen. Was wiederum seiner Ansicht nach die Frage aufwirft,

wie zwei Glieder einer Relation, die eigentlich einen selbständigen Sinn haben sollten,

trotzdem ihrer Bestimmtheit nach durch einander bedingt sein können.528

Er meint, Cassirer setze in seiner Formulierung die gewöhnliche Deutung der Relation als

Verbindung zweier Glieder durch einen Verbindungsgrund, durch ein verbindendes Drittes

also, voraus. Dem entspringt, wie Marc-Wogau es ausdückt, das Problem: „A muss, wenn

es seiner Bestimmtheit nach durch R bedingt sein soll, R ,in sich enthalten‘; es soll aber

dennoch [nach Cassirer] von R unterschieden sein“.529 Dass Relation und Glieder ‚einander

bedingen‘ und ‚fordern‘ könne nicht ohne Widerspruch zusammengedacht werden.

Sich dem Thema Erkenntnis zuwendend ist Marc-Wogau der Meinung, dass diese im

526 Marc-Wogau (1936c)527 Marc-Wogau (1936c), S. 337.528 Vgl. Marc-Wogau (1936c), S. 337 f.529 Marc-Wogau (1936c), S. 338.

236

Urteil vorliegen soll und nicht in einem Moment desselben, dem Begriff. Er stimmt zwar

mit Cassirer darin überein, dass „die Wissenschaft das Ziel verfolgt, das Einzelne, unter

einen Begriff Fallende, etwa die einzelnen chemischen Elemente, systematisch zu ordnen

und nach einem Prinzip abzuleiten“, aber nicht darin, dass ein solches Prinzip schon im

Begriff des chemischen Elements selbst liegt.530 Ihm scheint es vielmehr, dass bei der

Klassifikation der Elemente ein bestimmter Sinn im Begriff des chemischen Elements

vorausgesetzt wird.

Wenn es sich um Voraussagen in der Naturwissenschaft handelt, geht für Marc-Wogau die

Erkenntnis über den bloßen Begriff oder das Gesetz hinaus. Das Gesetz bildet, so Marc-

Wogau, immer nur die eine Prämisse, den Obersatz desjenigen Schlusses, in dem die

Voraussage besteht: „Aus dem Gesetz allein kann der besondere, vorauszubestimmende

Fall nicht hergeleitet werden; der Übergang zu diesem Fall erfordert, dass das Gesetz

transzendiert wird. Die einzelnen Fälle liegen nicht analytisch in dem Begriff selbst. Die

Beziehung auf das unter den Begriff Fallende liegt nicht im Begriffsinhalt als solchem.“531

Marc-Wogau führt hierfür als Beispiel die ‚Triangularität‘ an. Wenn man findet, so

argumentiert er, dass eine gegebene Figur die Bestimmtheit ‚Triangularität‘ besitzt, so kann

man immer behaupten, dass man es mit Etwas das ‚Dreieck‘ ist, zu tun habe. Weiß man,

was für eine Bestimmtheit ein Begriff ausdrückt, so kann man einen beliebigen

aufgefassten Inhalt daraufhin prüfen, ob er diese Bestimmtheit besitzt oder nicht, ob er als

Beispiel für den in Rede stehenden Begriff genommen werden kann oder nicht. Daraus,

dass eine Bestimmtheit in verschiedene einzelne Inhalte eingehe, so Marc-Wogau weiter,

folge nicht, dass die Beziehung zu diesen Inhalten schon in der Bestimmtheit selbst

gedacht sein müsse. Man könne natürlich sagen, dass die Menge von Inhalten, die als

Umfang des Begriffs A bezeichnet werde, in gewissem Sinne von A abhängig sei, nämlich

insofern, als A den Elementen dieser Menge anhaften müsse.532

Das Gesetz gibt nach Marc-Wogau selbst an, dass man nur in einzelnen Fällen, für die das

Gesetz gilt, suchen kann, während Cassirer äußert, dass der Gesetzesbegriff seinen

konkreten Sinn dadurch erhält, dass er „aus dem Ganzen der physikalischen ,Wirklichkeit‘

einen gewissen Kreis herauslöst – daß er ein besonderes Sein und Geschehen bezeichnet,

innerhalb dessen eine gewisse Ordnung aufweisbar sein soll“ (IUB, 220).533 Er behauptet

530 Marc-Wogau (1936c), S. 339.531 Marc-Wogau (1936c), S. 339.532 Marc-Wogau (1936c), S. 339 f.; vgl. Marc-Wogau (1936a), S. 180 f.533 Man kann ‚einen gewissen Kreis‘ als eine Dimension der Symbolfunktion verstehen, also der

Gesetzesbegriff soll die Dimension der physikalischen ‚Wirklichkeit‘ herauslösen (Darstellungs-funktion) und zur Dimension der ‚Ordnung‘ (Bedeutungsfunktion) übergehen. Man denkt bei ‚Kreisherauslösen‘ unweigerlich an Cassirers ‚Stufen der Objektivierung‘ vgl. 1.5; 3.4.3; auch SP, S. 306. Das

237

daher schließlich, dass „ein Begriff oder ein »Gesetz« in diesem Sinne auf ein bestimmtes

Gebiet hinweist, sehe ich nicht, wie Cassirer zu meinen scheint [...], als »zweifelhaft und

gefährlich« an. [...] Ich reduziere den überlierferten Begriffslehren gegenüber die

Bedeutung dieser Beziehung“.534

Man kann an dieser Stelle darauf hinweisen, dass Cassirer die Entwicklung der

Wissenschaften als ‚Werdegang‘, als ‚Prozess‘ betrachtet und von einer wissenschaftlichen

Erfahrung ausgeht. Er spricht daher von einer Bestimmbarkeit, während Marc-Wogau von

der Bestimmtheit spricht. Der Gegenstand der Erfahrung ist nicht ein Gegebenes sondern

ein ‚Aufgegebenes‘. Man kann ihn nicht von der Erfahrung ablösen, sondern kann nur

zeigen, „wie er sich in der Erfahrung und unter deren Bedingungen aufbaut“. Er erscheint

„nicht als ein Abgeschlossenes, zu Ende Bestimmtes, sondern als ein fort und fort

Bestimmbares, und in diesem Begriff der Bestimmbarkeit im Fortschritt der Erfahrung ist

der scheinbare Widerspruch zwischen »Bestimmtsein« und »Nicht Bestimmtsein«

aufgehoben.“ (NKL, 99)535

oben angeführte Zitat kann man auch so interpretieren, dass hier hinter Cassirers Gedanke der Bezug auf‚Bestimmbarkeit‘ im Fortschritt der wissenschaftlichen Erfahrung steht, vgl. NKL, S. 99.

534 Marc-Wogau (1936c), S. 340. Marc-Wogau bezieht sich hier auf Cassirer, IUB, S. 219: „das läßt sicham besten an den naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriffen deutlich machen. Sie alle zeigenunverkennbar jenen Zug, den Marc-Wogau als zweifelhaft und gefährlich ansieht, und den er daher ausder vollkommenen logischen Theorie ausscheiden möchte. Es gibt keine Gesetzes-Aussage, die nichtschon in ihrer Formulierung den Hinweis auf ein ganz bestimmtes Gebiet empirischer Objekte enthielte,und die nicht an die konkreten, für dieses Gebiet gültigen Bestimmungen anknüpfte.“

535 Vgl. Bermes (1997), S. 170-174. Bermes behandelt Marc-Wogaus Kritik an Cassirer bezüglich desBedeutungsproblems.

238

4. Cassirers symbolische Form der Begriffsbildung

In diesem Kapitel werden zunächst die aus der Untersuchung der Begriffstheorie Cassirers

in SuF und PsF gewonnenen Erkenntnisse vergleichend zusammengefasst. Im Anschluss

daran wird der Versuch unternommen, die weitere Entwicklung der sich aus diesem

Vergleich ergebenden Erweiterung seiner Begriffstheorie in PsF darzustellen.

4.1. Ergebnis der Untersuchung: Funktionsbegriff und Symbolbegriff

Die bisherige Untersuchung der Begriffstheorie Cassirers in SuF und in PsF zeigt, dass sein

erkenntnistheoretischer Standpunkt in SuF und in PsF unverändert bleibt und sich wie ein

roter Faden vom Funktionsbegriff bis zum Symbolbegriff durch sein Werk zieht. Die aus

der Untersuchung der Theorie des Begriffs gewonnenen Erkenntnisse lassen sich wie folgt

zusammenfassen.

Erstens lehnt er in PsF, wie es sich schon in seiner Kritik an der Abstraktionstheorie in SuF

abzeichnet, den Begriffsrealismus noch entschiedener ab und betont dagegen die ‚Aktivität

des Geistes‘. Wie bereits im Kapitel 2 gezeigt, übt Cassirer in SuF Kritik am

Begriffsrealismus der traditionellen Abstraktionstheorie. Der substantielle Gattungsbegriff

wird durch ein reziprokes Verhältnis von Inhalt und Umfang in der Einteilung in Gattungen

und Arten zu einem immer inhaltsärmeren Allgemeinbegriff geführt. Demgegenüber stellt

die Logik des Funktionsbegriffs das inhaltsreichere ‚konkrete‘ Allgemeine dar. Der

Gattungsbegriff in der traditionellen Abstraktionstheorie ist für Cassirer ein ‚Dingbegriff‘,

der seinen begrifflichen Gegenstand in der empirisch-sensualistischen Welt sucht. Der

Begriff, der durch wissenschaftliche ‚Erfahrung‘ gewonnen wird, kann nicht wieder als ein

Gegenstand in der Außenwelt gesucht werden, denn der Begriff ist kein Abbild der Welt.

Cassirer lehnt daher die Abbildtheorie strikt ab.

Wie seine Untersuchung in SuF zeigt, ist seine Kritik auf den Begriffsrealismus innerhalb

der aristotelischen traditionellen Logik gerichtet. Hierbei stellt Cassirer die Anwendbarkeit

und Geltung des Begriffs als Kriterium auf und versucht mit Hilfe des Funktionsbegriffs

die konkrete wissenschaftliche Begriffsbildung darzustellen. Es geht nicht nur um die Form

des Begriffs, sondern auch um die objektive Begründung des Begriffs, um seinen

objektiven Sinn und seine gegenständliche Geltung.536 Darüber hinaus geht es um die Frage536 Vgl. ZTB, S. 132: „Denn nicht auf die bloßen, von jedem gegenständlichen Gehalt und Sinn entleerte

‚Form‘ des Begriffs, sondern auf seinen ,objektiven‘ Sinn und Wert, auf das, worin dieser Sinn besteht

239

nach dem objektiven Wert des Begriffs und dem daraus entstehenden Erkenntniswert. Die

traditionelle formale Logik kann jedoch keinen Beitrag zur Beantwortung dieser Fragen

leisten, solange sie den Allgemeinbegriff durch das Sieb der Abstraktion zu gewinnen

versucht.

Der Funktionsbegriff aber ist ein mathematischer Begriff, der nur in der mathematischen

naturwissenschaftlichen Begriffsbildung die konkrete Allgemeinheit darstellen kann. Daher

korrigiert er seine in SuF gewonnene Ansicht zur Begriffstheorie, insofern er nun der

Meinung ist, dass sich die Objektivität der Erkenntnis nicht auf ein bestimmtes Gebiet, das

heißt, auf die idealen mathematischen Gegenstände oder auf die physischen Dinge

einschränken lässt. Man soll nicht weiter von der besonderen Form der mathematischen

naturwissenschaftlichen Begriffe einen „Rückschluß auf die allgemeine Form des ,Begriffs

überhaupt‘“ versuchen, wie das in SuF der Fall war (ZTB, 130). Er selbst hat eingesehen,

dass sein mathematischer Funktionsbegriff das Kriterium der Anwendung des Begriffs, das

er selbst aufgestellt hat, und die Bedingungen für die allgemeine Form des Begriffs

überhaupt nicht erfüllen kann. Somit wird die Begriffstheorie in PsF eine ‚kritische

Revision‘ der in SuF.

In PsF versucht er eine Lösung in den ‚Phänomenen‘ der Erkenntnis zu finden. So wird

zunächst unter ‚Erkenntnis‘ nicht nur der Akt „des wissenschaftlichen Begreifens und des

theoretischen Erklärens, sondern jede geistige Tätigkeit“ (ZLS, 208), in der man sich eine

Welt der Ordnung aufbaut, verstanden. Davon ausgehend, dass der Mensch ein ‚animal

symbolicum‘ ist, versucht Cassirer durch das symbolische Denken und die damit

verbundenen Zeichenfunktionen, die Ausdrucks-, Darstellungs- und Bedeutungsfunktion,

die Welt der symbolischen Formen zu erfassen. Die in PsF ausgeführten Welten der

symbolischen Formen sind für ihn jeweils spezifische Formwelten, die die Phänomene der

Erkenntnis als Ganzes darstellen. So erläutert er, dass die Theorie des Begriffs in PsF die

Mannigfaltigkeit in ihrem Ganzen sichtbar machen und die ‚immanente Bedeutung‘, die

innere Gliederung der Differenzen, der Gegenstandsstruktur aufweisen will. Seine

systematische Grundfrage der Begriffstheorie ist darauf gerichtet, herauszufinden, was der

Begriff für den Aufbau der Erkenntnis bedeutet und leistet. Das logische Problem des

Begriffs ist daher mit dem allgemeinen Bedeutungsproblem verknüpft. Cassirer ist der

Auffassung, die Lehre vom Begriff ließe sich im Rahmen einer systematischen

und worin er sich begründet, war meine Analyse von Anfang an gerichtet. Und was ich zu zeigen suchte,war nicht, daß die Theorie der Abstraktion ‚falsch‘, d. h. daß sie formal-unrichtig sei, sondern daß siefür die eigentliche objektive Begründung des Begriffs, für die Erklärung seines Erkenntniswertes nichtausreicht.“

240

‚Bedeutungslehre‘ zureichend begründen und vollständig aufbauen (vgl. 2.3.3). Dies legt

den Schluss nahe, dass mit der Bedeutungslehre die Funktion des Zeichens und des

Symbols im Bereich der Bedeutungsfunktion, also der wissenschaftlichen Erkenntnis

gemeint ist, denn der Begriff wird in seiner reinen Bedeutungsfunktion zum ‚echten‘

Begriff. Auf das ‚Bedeutungsproblem‘ wird in Abschnitt 4.2 noch näher eingegangen.

Zweitens, die alten Probleme der Metaphysik, wie zum Beispiel das Problem des

Dualismus zwischen Form und Materie, Denken und Sinnlichkeit und Subjekt und Objekt,

sollen nach Cassirer unter dem Gesichtspunkt der Beziehung, des Korrelationsverhältnis

betrachtet werden. Hierfür muss man auch die Einheit des Bewusstseins voraussetzen (vgl.

1.3). Dieses Bewusstsein wird in PsF als symbolisch funktionierendes Bewusstsein

erweitert, so dass es für die verschiedenen Symbolfunktionen, Ausdrucks-, Darstellungs-

und Bedeutungsfunktion, bei der symbolischen Formung vorausgesetzt werden kann.

Cassirer ist der Ansicht, man könne die durch den Dualismus der alten Metaphysik

entstandene Kluft, zum Beispiel zwischen Form und Materie, Sein und Denken, verringern,

sofern man die Begriffe als Symbole und ihre Funktionen und Bedeutungen erkennt.

Diesem Grundgedanken Cassirers sollte man nachgehen, wenn die Frage aufkommt, auf

was die Begriffstheorie in seiner Erkenntnistheorie abzielt.

Wie im Abschnitt 3.3.2 gezeigt, ist bei der Dimension der Bedeutungsfunktion, also der

wissenschaftlichen Erkenntnis, von der reinen Bedeutung und den intellektuellen

Symbolen die Rede. ‚Symbol‘ ist der Bedeutungsgehalt des Geistes und die

wissenschaftlichen Begriffe werden als intellektuelle Symbole mit reiner Bedeutung

bezeichnet. Dies besagt, dass in der Begriffstheorie Cassirers im Bereich der Wissenschaft

‚reines Denken‘ hervorgehoben wird, ein Gedanke, der bereits im Aufsatz Die

Begriffsform im mythischen Denken (1922) deutlich formuliert wird. Auch hier spürt man,

dass der kritische Standpunkt Cassirers gegenüber der traditionellen Logik seit SuF

unverändert bleibt. Er betont weiterhin, das eigentliche „fundamentum divisionis“ liege

nicht in den Dingen, sondern im Geiste: „die Welt hat für uns die Gestalt, die der Geist ihr

gibt“ (BmD, 53):

„Die traditionelle logische Theorie weist uns an, den Begriff dadurch zu bilden,daß wir die feststehenden Eigenschaften der Dinge ins Auge fassen, siemiteinander vergleichen und das Gemeinsame aus ihnen herauslösen. DieseVorschrift erweist sich schon unter rein logischen Gesichtspunkten als völligunzureichend — und sie wird es um so mehr, je mehr man den Blick über denengeren Kreis des wissenschaftlichen, des spezifisch-logischen Denkens aufandere Denkgebiete und Denkrichtungen hinlenkt. Denn dann tritt deutlichhervor, daß wir die Begriffe niemals unmittelbar aus den Eigenschaften der

241

Dinge ablesen können, weil vielmehr umgekehrt das, was wir ‚Eigenschaft‘nennen, erst durch die Form des Begriffs bestimmt wird. Alle Setzung vonMerkmalen, von objektiven E igensc ha f t e n geht auf eine bestimmteE igenhe i t des Denkens zurück — und je nach der Orientierung diesesDenkens, je nach seinem beherrschenden Gesichtspunkt wechseln für uns dieBestimmtheiten wie die Beziehungen, die wir im ‚Seienden‘ annehmen.“(BmD, 52 f.)

Auf diesem Gedanken, der den ‚Logos‘ im Denken betont und wiederum auf die

‚Ideenlehre‘ Platons (vgl. 1.4) zurückgreift, gründet sich eigentlich Cassirers Theorie des

Symbolbegriffs, die eine Revision der Theorie des Funktionsbegriffs in SuF beinhaltet.537

Das heißt, Cassirer will in PsF eine Begriffstheorie aufstellen, die die Bedingungen für die

mathematische Naturwissenschaft und auch für die Kulturwissenschaft erfüllen kann. Vom

Bereich des natürlichen Weltbegriffs bis zu dem des wissenschaftlichen Weltbegriffs, also

von der Ausdrucksfunktion über die Darstellungsfunktion bis hin zur Bedeutungsfunktion,

soll das Symbol, die Energie des Geistes, die Bedeutung des Begriffs durch Zeichen

übertragen. Nachdem die Bedeutung des Begriffs, also der Inhalt des Begriffs, die

Wahrheitsprobe erfolgreich bestanden hat, wird der ‚reine‘ Begriff gebildet. Der gesamte

Prozess soll ohne Unterbrechung ablaufen, das heißt, wissenschaftliche Begriffe sollen von

Anfang an mit der Funktion der Wahrnehmung und Anschauung zusammen gebildet

werden.

Drittens werden die wissenschaftlichen Begriffe als intellektuelle Symbole erkannt, das

heißt, sie besitzen durch die reinen Bedeutungszeichen reine Bedeutungen. Es ist deutlich

geworden, dass sowohl in SuF (vgl. 2.2.1) als auch in PsF der Zahlbegriff Cassirer als

Vorbild für seine Begriffstheorie dient. Die reine Form des Zahlbegriffs ist für seine

Begriffstherorie in Bezug auf das Problem der Beziehung zwischen Anschauung und

Gegenstand entscheidend. In diesem Zusammenhang kann man mindestens zwei

charakteristische Merkmale des Zahlbegriffs anführen, die für Cassirer von entscheidender

Bedeutung sind. Zum einen zeigt die Entwicklung der Zahl zum Zahlbegriff den Prozess

der ‚Entstofflichung‘ von Zeichen beziehungsweise der ‚Ablösung‘ der Dinge. Die

Entstehung der griechischen Mathematik, die er immer als Beispiel heranzieht,

verdeutlicht, wie sich die Zahl von der anschaulichen Wirklichkeit absondert. Zum anderen

lässt sich die Logik des Funktionsbegriffs, also die Logik der Relation, am besten durch

den Zahlbegriff erklären. In ihr wird das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem in

537 Im Hintergrund steht Cassirers Gedanke der historischen wissenschaftlichen Entwicklungen und dieBedenkung der Renaissance-Philosophie für ihn. vgl. Cassirer, Individuum und Kosmos in derPhilosophie der Renaissance [IKPR]; vgl. auch EP I, Erstes Buch.

242

ihrer Korrelation erkennbar. Betrachtet man diese zwei Punkte bei Cassirer, so wird

deutlich, dass seine Bedeutungslehre mit dem reinen Bedeutungszeichen im Bereich der

wissenschaftlichen Erkenntnis verknüpft ist.

Cassirers Einsicht innerhalb der Begriffstheorie mit ihrem Problem der ‚reinen Bedeutung‘

und somit der reinen Anschauung beruht auf Kants Auffassung der Mathematik. Dieser ist

der Auffassung, dass die Mathematik synthetische Sätze a priori enthält, und dass die

mathematische Erkenntnis durch die ‚Konstruktion der Begriffe‘ in der reinen Anschauung

hervorgeht (vgl. 1.1). Cassirer hält, anders als die zeitgenössischen Logizisten, die

versuchten, die Grundbegriffe der Mathematik rein logisch zu definieren und aus den

logischen Prinzipien die reine Mathematik zu deduzieren, an der ‚Synthetizität der

Mathematik‘ fest und hebt besonders Poincaré und dessen „Prinzip der ‚vollständigen

Induktion‘“ hervor (PsF III, 440).538

Die Schlussweise der Mathematik, sei sie induktiv oder sei sie deduktiv, enthält für

Poincaré ein Dilemma. Wenn die Vorgehensweise der Mathematik induktiv ist, dann kann

diese der Mathematik ‚Wahrheit‘ nicht gewährleisten. Wenn sie dagegen deduktiv ist, dann

kann der logische Schluss nicht Neues enthalten und damit ist kein Fortschritt der

Erkenntnis gegeben. Denn die mathematische Ableitung geschieht aufgrund logischer

Schlüsse und des logischen Prinzips des Widerspruchs oder der Identität: „Die

syllogistische Beweisführung bleibt unfähig, den gegebenen Voraussetzungen irgend etwas

hinzuzufügen: diese Voraussetzungen reduzieren sich auf einige Axiome, und man könnte

in den Folgerungen nichts anderes wiederfinden.“539 Poincaré betont daher, dass „die

mathematische Überlegung an sich eine Art schöpferischer Kraft enthält und sich dadurch

von der syllogistischen Schlußweise unterscheidet“.540 Das Prinzip der vollständigen

Induktion, das von Poincaré auch als „rekurrierende Schlußweise“541 bezeichnet wird, ist

das beste Beispiel für die menschlichen geistigen Fähigkeiten. Poincaré führt zunächst den

Beweisgang durch die ‚rekurrierende Schlussweise‘ aus und fasst zusammen: „Man stellt

zuerst den Lehrsatz für n =1 auf; man beweist darauf, daß er für n richtig ist, wenn er für n

−1 stimmt, und man schlußfolgert daraus, daß er für alle ganzen Zahlen gilt.“542 Man kann

538 Vgl. Ihmig (2003), S. 242 f.539 Poincaré (1902/1914), S. 2.540 Poincaré (1902/1914), S. 3; vgl. Ihmig (2003), S. 243: „Es besteht für Poincaré darin, daß der

menschliche Geist die Fähigkeit besitzt, gewisse Operationen auszuführen und diese beliebig oft zuwiederholen und miteinander zu kombinieren, ohne daß sich deren Eigenschaften verändern.“ Ihmigmerkt aber auch an, dass Poincaré nicht behauptet habe, mathematische Ableitungen könnten nicht inlogische Schlüsse übersetzt werden. Er sei nur der Ansicht gewesen, dass bei einer solchen Übersetzungetwas verloren gehe, was für mathematische Ableitungen inhaltlich charakteristisch sei.

541 Poincaré (1902/1914), S. 9.542 Poincaré (1902/1914), S. 9.

243

eine unendliche Anzahl von ‚hypothetischen‘ Syllogismen aufstellen und daraus ergibt sich

eine Formel: wenn der Lehrsatz für die Zahl n gilt, so gilt er auch für n + 1. Dieses

rekurrierende Verfahren ist, so betont Poincaré, „ein Werkzeug [...], welches uns gestattet,

vom Endlichen zum Unendlichen fortzuschreiten“.543 Er zieht aus seiner Beweisführung

durch das rekurrierende Verfahren die Schlussfolgerung, dass das Gesetz des

rekurrierenden Verfahrens weder auf das Prinzip des Widerspruchs noch auf die

analytische Schlussweise zurückführbar ist. Dieses Gesetz gibt also „den eigentlichen

Typus des synthetischen Urteils a priori“.544

Viertens wird der Bereich der Begriffsfunktion erweitert. Cassirer erkennt die Funktion des

Begriffs im Prozess der Erkenntnis nun nicht allein im Bereich des wissenschaftlichen

Weltbegriffs sondern bereits im Bereich des natürlichen Weltbegriffs. Die Begriffsfunktion

wird schon als in die Wahrnehmung und in die räumlich-zeitliche Anschauung selbst

verlegt angesehen, das heißt, die Symbolfunktion ist, wie im Abschnitt 3.3.3 und 3.5.2

gezeigt, in der Phase der Wahrnehmung und Anschauung bereits aktiv.

Cassirer sucht, wie bereits erwähnt, in seiner Begriffstheorie in PsF eine allgemeine Form

des Begriffs, die sowohl die Kulturwissenschaft als auch die Naturwissenschaft umfassen

soll. Zu diesem Zwecke muss man, wie er in PsF erklärt, „aus den Dimensionen des

wissenschaftlichen Weltbegriffs in die des ‚natürlichen Weltbegriffs‘ zurückgehen“, um

„ein komplexes und differenziertes Ganzes von Denk- und Erkenntnisformen statt eines

einzigen und einheitlichen Typus des ,Begriffs überhaupt‘“ zu finden (PsF III, 347). Wie

im Kapitel 3 gezeigt, beginnt die wissenschaftliche Begriffsbildung bereits im Bereich des

natürlichen Weltbegriffs. Ebenfalls wurde erläutert, wie sich das Symbol und das Zeichen

von der Dimension der Ausdrucksfunktion aus über die der Darstellungsfunktion bis hin zu

der der Bedeutungsfunktion ohne Bruch umwandeln. Dabei wurde deutlich, welche

besondere Rolle die Wahrnehmung und die Anschauung bei dieser Umwandlung

einnehmen. Diese besondere Rolle wird von Cassirer auch in seinem späteren Aufsatz Zur

Logik der Kulturwissenschaften bestätigt, in dem er erläutert, der Unterschied zwischen der

Kulturwissenschaft und der Naturwissenschaft läge in den verschiedenen

Wahrnehmungsformen, die auch als Ausdruckswahrnehmung und Dingwahrnehmung

bezeichnet werden können545:

„Schon die Wahrnehmung enthält, [...] im Keime jenen Gegensatz, der in

543 Poincaré (1902/1914), S. 12.544 Poincaré (1902/1914), S. 13.545 Vgl. ZLK, Kap. II. Dingwahrnehmung und Ausdruckswahrnehmung.

244

expliziter Form in der gegensätzlichen Methodik hervortritt, deren sichNaturwissenschaft und Kulturwissenschaft bedienen. Daß alle Begriffe, sofernsie den Anspruch erheben, uns irgend eine Art von Wirklichkeitserkenntnis zugeben, sich letzten Endes in der Anschauung »erfüllen« müssen, pflegt heutevon keiner erkenntnistheoretischen Richtung mehr bestritten zu werden. Aberdieser Satz gilt nicht nur für jeden Einzelbegriff; er gilt auch für dieverschiedenen Begr i f f s typen , denen wir im Aufbau der Wissenschaftbegegnen. [...] Es muß möglich sein, sie bis zu ihrer letzten Erkenntnisquellezurückzuverfolgen; es muß sich zeigen lassen, daß die Differenz zwischenihnen sich in einer ursprünglichen Doppelrichtung des Anschauens undWahrnehmens gründet.“ (ZLK, 63)

Man erkennt an dieser Stelle recht deutlich, dass Cassirer in dieser Schrift, die 13 Jahre

nach dem dritten Band von PsF erschien, seinen Gedanken zum Gegensatzproblem

zwischen Naturwissenschaft und Kulturwissenschaft überzeugender als in PsF erläutert. Er

betont ausdrücklich, dass der Unterschied zwischen den beiden durch die Analyse der

Begriffe nicht vollständig sichtbar gemacht werden kann und man den Unterschied als

bereits in der ‚Doppelrichtung des Anschauens und Wahrnehmens‘ verankert ansehen

muss: „Schon in der Wahr nehmung s e lb s t läßt sich ein Moment aufweisen, das in

seiner konsequenten Weiterentwicklung auf eben diesen Unterschied hinführt.“ (ZLK,

44)546 Wie bereits erwähnt, nimmt die Rolle der Wahrnehmung in der Erkenntnis bis in

Cassirers spätere Philosophie hinein einen wichtigen Platz ein. Seine Aufsätze The

Concept of Group and the Theory of Perception und Reflections on the Concept of Group

and the Theory of Perception bestätigen seine Hervorhebung der Funktion der

Wahrnehmung in PsF. Auch findet man seine ‚Wahrnehmungstheorie‘ im dritten Kapitel

Die Invarianten der Wahrnehmung und des Begriffs der Schrift Ziele und Wege der

Wirklichkeitserkenntnis aus den ‚Nachgelassenen Manuskripten und Texten‘. Auf Cassirers

Invariantengedanken und seine Theorie der Wahrnehmung wird im Abschnitt 4.3 näher

eingegangen.

Fünftens erfahren die ‚Stufen der Objektivierung‘ in der Erkenntnis, die in Cassirers

philosophischer Systematik bereits in SuF hervortreten, in PsF eine inhaltliche

Bereicherung, indem sie nun als drei Objektivitätsstufen festgelegt werden, wobei jeweils

eine Stufe mit einer der drei Funktionen des Ausdrucks, der Darstellung und der Bedeutung

verbunden ist. Er versucht auch mit diesen drei Objektivitätsstufen die geschichtliche

Entwicklung der Naturwissenschaft phasenweise zu analysieren. Die drei Phasen der

Entwicklung werden jeweils als die Phase von ‚Bild‘, ‚Schema‘ und ‚Symbol‘ erklärt. So

546 Vgl. ZLK, S. 41-43. Cassirer analysiert die Theorie von Windelband, Rickert und Hermann Paul zudiesem Problem.

245

dienen diese drei ‚Stufen der Objektivierung‘, könnte man sagen, als Mittel, als Gerüst für

die ‚Welterklärung‘ Cassirers.547 Auf diese Erweiterung von Cassirers erkenntniskritischer

Systematik wird noch im Abschnitt 4.4 eingegangen.

Anhand der oben angeführten Ergebnisse wird deutlich, mit welcher Antwort man der

Frage, die in der Einleitung gestellt wurde ― ob Cassirers Philosophie der symbolischen

Formen einen ‚Bruch‘ mit seiner früheren Erkenntnistheorie und Wissenschaftsphilosophie

darstellt oder eine ‚Erweiterung‘ dieser ist — entgegnen kann: Es handelt sich bei der

Philosophie der symbolischen Formen um eine Erweiterung von Cassirers

Erkenntnistheorie und der damit verbundenen Begriffstheorie.

4.2. Cassirers Zeichentheorie und das ‚Bedeutungsproblem‘

Wie bereits in Abschnitt 3.4 ausgeführt, ist zum einen Cassirer der Ansicht, dass das

Bedeutungsproblem mit der Funktion des Zeichens verknüpft ist, und zum anderen

versucht er mit seiner Zeichentheorie eine ‚Überwindung der Abbildtheorie‘ aufzuzeigen.

Er betont daher immer wieder die ‚Entstofflichung‘ von Zeichen und bezeichnet das

Zeichen im ‚Reich des Gedankens‘, nämlich in den exakten Wissenschaften wie der

Mathematik oder der mathematischen Naturwissenschaft, als reines Bedeutungszeichen.

Obschon Cassirer betont, dass das logische Problem des Begriffs mit dem ‚allgemeinen

Bedeutungsproblem‘ verknüpft ist und nur im Rahmen einer systematischen

‚Bedeutungslehre‘ sich die Lehre vom Begriff zureichend begründen und vollständig

aufbauen lässt (ZTB, 130), führt er jedoch im dritten Band der PsF keine ‚Theorie der

Bedeutung‘, im Sinne der sprachanalytischen Philosophie an. Er betont lediglich, dass

seine Frage nach dem Zusammenhang von Begriffsproblem und Gegenstandsproblem

weder auf „das logische Bedeutungsproblem, noch auf das erkenntniskritische Problem als

solches“ gerichtet ist, sondern beide nur in ihrer Beziehung „zum Problem des Zeichens

und der Bezeichnung“ erfassen soll (PsF III, 383). Auch in seinem Aufsatz

Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik und Denkpsychologie betont er, dass

das Zeichen anderes als etwa der Laut der Sprache ist, den man nur nach seinem dinglichen

547 Vgl. auch Schwemmer (1997), S. 202. Schwemmers Interpretation von Cassirers nachgelassenemManuskript Metaphysik der Philosophie der symbolischen Formen, von dem man vermutet, das es dervierte Band der PsF werden sollte, geht vom nachgelassenen Manuskript Über Basisphänomene aus.Die Basisphänomene ergeben sich aus einer Dreiteilung der Phänomene: das Ich, sein Wirken und seineWerke. Schwemmer interpretiert die Basisphänomene als ‚Das Ich-Phänomen: Gegeben- undGesetztsein‘, ‚Zwischen Wirken und Wollen‘ und ‚Das Werk-Phänomen‘ vgl. Schwemmer (1997), S.203-207.

246

Dasein betrachtet. Das Zeichen werde erst dadurch zum Zeichen, dass „wir ihm einen

»Sinn« beilegen, auf den es sich richtet und durch den es »bedeutsam« wird“. Damit wird

für Cassirer der Vollzug dieser Beilegung zu einem der schwierigsten Probleme der

Erkenntniskritik, wenn nicht gar zu dem Problem der Erkenntniskritik überhaupt. „Die

Frage nach der Objektivität der »Dinge«“ ist, bei näherer Betrachtung, „nichts anderes als

ein Korollar zu der systematisch weit umfassenderen Frage nach der Objektivität der

»Bedeutung«.“ (ET II, 136)

Wie im Abschnitt 3.3.2 gezeigt, dienen die drei symbolischen Formen als drei Stufen der

Objektivierung der Begriffsbildung. Die Begriffsbildung durchläuft diese drei Stufen vom

anschaulichen Begriff aus, über den Sprachbegriff (Darstellbarkeit) bis hin zum

wissenschaftlichen Begriff (die reine Form des Begriffs). Das Verhältnis zwischen Zeichen

und Bezeichnetem wird in der ersten Stufe durch die Ausdrucksfunktion charakterisiert.

Der Mythos als die Welt der Bilder ist für diese Stufe eine typische symbolische Form. In

der zweiten Stufe wird das Zeichen als Wortzeichen für die symbolische Form der Sprache

durch die Darstellungsfunktion charakterisiert. Die Sprache ist eine Welt der Schemata mit

Raum, Zeit und Zahl, die dem ‚Aufbau der anschaulichen Welt‘ dienen sollen. Dies macht

die Darstellungsfunktion mit der ‚inneren Form‘ der Sprache, mit der Funktion der

Repräsentation, möglich.

Das Zeichen in der dritten Stufe, also in der wissenschaftlichen Erkenntnis, wird zum

Ordnungszeichen und zugleich zum reinen Bedeutungszeichen. Die Funktion des Zeichens

in der Mathematik oder die Funktion des mathematischen Symbols hängt mit ihren

‚ideellen Bedeutungen‘ und somit mit ihren ‚ideellen Beziehungen‘ zusammen. Cassirer

betont angelehnt an Leibniz Characteristica generalis, dass die Zeichen oder Begriffe in

der wissenschaftlichen Erkenntnis ‚Inbegriff möglicher Beziehungen‘ sind, die ‚durch die

Erkenntnis erst zu gewinnen sind‘. Die Begriffe als intellektuelle Symbole in der

wissenschaftlichen Erkenntnis, wie die mathematischen Begriffe oder die chemischen

Formeln, stehen nur in gedanklichen Beziehungen zueinander und diese rein gedankliche

Beziehung kann schließlich der reinen Bedeutung der wissenschaftlichen Erkenntnis

zugeschrieben werden.548

Cassirers Sprachgebrauch in PsF zeigt, dass er im Bereich der Ausdrucks- und

Darstellungsfunktion von ‚Sinn‘ spricht und im Bereich der wissenschaftlichen Erkenntnis,

also der Bedeutungsfunktion, von ‚Bedeutung‘. In seinem Aufsatz Das Symbolproblem

548 Vgl. Bermes (1997), S. 160. Bermes erklärt, dass die reine Bedeutung der wissenschaftlichen Erkenntnis„als eine Beziehung auf die Beziehung, als eine Fokusierung auf das Sich-Beziehen auf die Welt“ zudeuten ist.

247

und seine Stellung im System der Philosophie schildert er deutlich, dass die Sprache vom

Ausdruckssinn zum reinen Darstellungssinn fortgeht und von diesem aus beständig dem

Reich der reinen Bedeutung zustrebt (vgl. 3.4.2). Cassirer beruft sich nicht explizit auf

Freges ‚Sinn und Bedeutung‘, obwohl sein Sprachgebrauch von Sinn und Bedeutung an

diesen angelehnt ist.549

Es ist unbestreitbar, dass Frege sowohl auf dem Gebiet der modernen Logik als auch auf

dem der Sprachphilosophie im 20. Jahrhundert, besonders in der analytischen Philosophie,

großen Einfluss ausgeübt hat. Seit Peter Geach und Max Black 1952 einige Schriften

Freges ins Englische übersetzt und diese unter dem Titel Translations from the

Philosophical Writings of Gottlob Frege550 veröffentlicht haben, erfuhr innerhalb der

sprachanalytischen Philosophie die Forschung über Frege eine deutliche Belebung. Die

lebhafte Diskussion über Freges Theorie von Sinn und Bedeutung mündete innerhalb der

angelsächsischen Philosophie gar in die Entwicklung einer ‚theory of meaning‘.551

Die Übersetzung von Freges ‚Bedeutung‘ ins Englische lässt erahnen, welchen

unterschiedlichen Interpretationen Freges Theorie zugänglich ist. Hatte Black zunächst

Freges Aufsatz ‚Über Sinn und Bedeutung‘552 unter dem Titel ‚On Sense and Reference‘

ins Englische übersetzt, so wurde später ‚Bedeutung‘ von anderen Philosophen mit

„nominatum“, „significance“ oder „meaning“ übersetzt.553 Auf die Probleme dieser

Diskussionen, deren Darstellung ein umfangreicheres Unternehmen wäre, soll jedoch nicht

eingegangen werden. Stattdessen soll im Folgenden das Augenmerk auf einige wichtige

Stellen in Freges Aufsatz gerichtet werden, um zu zeigen, dass, trotz aller Anlehnung an

Frege, bei Cassirer ‚Bedeutung‘ sich von Freges ‚Bedeutung‘ unterscheidet.

Frege führt in seinem Aufsatz die Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung in Bezug

auf ‚Eigennamen‘ und ‚Satz‘ aus. Im Bezug auf den Eigennamen konstatiert er, dass die

Bedeutung eines Eigennamens der Gegenstand selbst ist, den man damit bezeichnet,554 und

dass der Sinn eines Eigennamens von jedem erfasst wird, „der die Sprache oder das Ganze

549 Vgl. Frege (1892/1986), Über Sinn und Bedeutung.550 Geach/ Black (1952/1970).551 Vgl. Wienpahl (1968), Searle (1968), Carl (1982), (1994), Tugendhat (1970), Jackson (1968); Über die

‚theory of meaning‘ vgl. Dummett (1973/1992) und Dummett (1993). Michael Dummett, einer derrenomiertesten Fregeforscher, verfasste im Jahr 1973 eine Monographie mit dem Titel Frege,Philosophy of Language und gab zudem später den Sammelband The Seas of Language heraus, derseine Aufsätze zur ‚theory of meaning‘ beinhaltete; vgl. auch Bermes (1997), S. 1 f. Darüber hinauswerden weitere bekannte Namen wie P. F. Strawson, Gilbert Ryle, J. L. Austin, John R. Searle mit der‚theory of meaning‘ verbunden; Aufsätze von unterschiedlichen Autoren in der analytischen Philosophiefindet man in Rorty (1967/1992) und zur ‚theory of meaning‘ in Caton (1963).

552 Frege (1892/1986).553 Carl (1994), S. 115.554 Frege (1892/1986), S. 44.

248

von Bezeichnungen hinreichend kennt, der er angehört“.555 So würde „die Bedeutung von

‚Abendstern‘ und ‚Morgenstern‘ dieselbe sein, aber nicht der Sinn.“556 Unter einem

Eigennamen versteht er ein Wort, ein Zeichen, eine Zeichenverbindung oder einen

Ausdruck. Ein Eigenname drückt seinen Sinn aus und „bedeutet oder bezeichnet seine

Bedeutung“: „Wir drücken mit einem Zeichen dessen Sinn aus und bezeichnen mit ihm

dessen Bedeutung“.557 In Bezug auf den Satz merkt Frege an, dass man „den Wahrheitswert

eines Satzes als seine Bedeutung“ anerkennen sollte.558 Der Sinn eines Satzes ist der

Gedanke, der in diesem enthalten ist. Der Gedanke wiederum kann aber nur „zusammen

mit seiner Bedeutung, d.h. mit seinem Wahrheitswert“ uns Erkenntnis geben.559 Unter dem

Wahrheitswert eines Satzes versteht Frege „den Umstand, daß er wahr oder daß er falsch

ist“. Weitere Wahrheitswerte gibt es für ihn nicht: „Ich nenne der Kürze halber den einen

das Wahre, den anderen das Falsche. Jeder Behauptungssatz, in dem es auf die Bedeutung

der Wörter ankommt, ist also als Eigenname aufzufassen, und zwar ist seine Bedeutung,

falls sie vorhanden ist, entweder das Wahre oder das Falsche.“560 Freges Kritiker bemerken,

dass er in seinem Aufsatz die Unterscheidung oder Beziehung zwischen Sinn und

Bedeutung nicht deutlich erklärt und auch keine Erklärung dafür gibt, „weshalb der

Wahrheitswert eines Satzes dessen Bedeutung sein soll“.561 Bermes betont dagegen, dass

Frege selbst gestehe, dass „man nie in der Lage sein wird, einen gegebenen Sinn einer

Bedeutung eindeutig zuzuordnen“.562

Vergleicht man Freges ‚Bedeutung‘ mit der bei Cassirer, so wird deutlich, dass der ‚Sinn‘

der ‚Bedeutung‘ verschieden ist. Während Cassirer reine Bedeutung im Gedanken oder im

Tun des Geistes sucht, spricht Frege davon, dass die Bedeutung (des Eigennamens) der

Gegenstand ist und der Wahrheitswert (eines Satzes) als Bedeutung anerkannt werden soll.

Es handelt sich somit beim Bedeutungsproblem Cassirers nicht nur um ein semantisches

555 Frege (1892/1986), S. 42. Frege erklärt in einer Fußnote (S. 42) dies mit dem Beispiel: „Bei einemeigentlichen Eigennamen wie ‚Aristoteles‘ können freilich die Meinungen über den Sinnauseinandergehen. Man könnte z.B. als solchen annehmen: der Schüler Platos und Lehrer Alexandersdes Großen. Wer dies tut, wird mit dem Satze ‚Aristoteles war aus Stagira gebürtig‘ einen anderen Sinnverbinden als einer, der als Sinn dieses Namens annähme: der aus Stagira gebürtige Lehrer Alexandersdes Großen. Solange nur die Bedeutung dieselbe bleibt, lassen sich diese Schwankungen des Sinnesertragen, wiewohl auch sie in dem Lehrgebäude einer beweisenden Wissenschaft zu vermeiden sind undin einer vollkommenen Sprache nicht vorkommen dürfen.“

556 Frege (1892/1986), S. 41.557 Frege (1892/1986), S. 46.558 Frege (1892/1986), S. 48.559 Frege (1892/1986), S. 50.560 Frege (1892/1986), S. 48.561 Schulte (1984), S. 66.562 Bermes (1997), S. 66; vgl. Frege (1892/1986), S. 42. „Zu einer allseitigen Erkenntnis der Bedeutung

würde gehören, daß wir von jedem gegebenen Sinn sogleich angeben könnten, ob er zu ihr gehöre.Dahin gelangen wir nie.“

249

Problem wie dies bei Frege der Fall ist ― obschon die Bedeutungen der Eigennamen bei

Frege, wie Bermes auf Tugendhat verweisend anmerkt, „als Beitrag zur Bedeutung des

Satzes, also des Wahrheitswertes“ angesehen werden können.563

Nach Cassirer wird man der Funktion des Begriffs schon in der Wahrnehmung und der

räumlich-zeitlichen Anschauung gewahr, durch die man zunächst die anschauliche Welt

einzuordnen beginnt. Die erste Leistung des Begriffs besteht darin, dass er die Momente in

der anschaulichen Wirklichkeit erfasst und diese in ihrer spezifischen Bedeutung erkennt.

In der wissenschaftlichen Weltbetrachtung begnüge sich aber der Gedanke nicht damit,

„das in der Wahrnehmung oder Anschauung Gegebene einfach in seine Sprache zu

übersetzen, sondern er vollzieht an ihm eine charakteristische Formveränderung, eine

geistige Umprägung“ (PsF III, 330). Somit ist die primäre Aufgabe des wissenschaftlichen

Begriffs ‚eine Regel der Bestimmung‘ aufzustellen und diese Bestimmung der Wahrheit ist

letztlich ein Grund- und Leitziel aller Begriffsbildung.

Cassirer betont, dass der theoretische Begriff kein Spiegel der Welt der Gegenstände ist.

Die Synopsis des Mannigfaltigen muss durch eigene und selbständige Tätigkeiten des

Denkens hergestellt werden. Das Zeichen, der sprachliche Ausdruck, fasst bei geistigen

Funktionen und Formbildungen „einen bestimmten selbständigen Charakter der

‚Sinngebung‘“ in sich (PsF I, 44). Mit der Funktion des Bedeutungszeichens innerhalb der

wissenschaftlichen Erkenntnis stellt sich „eine neue Weise des »objektiven« Sinnbezugs“

dar, „die sich von jener Art der ‚Beziehung auf den Gegenstand‘, wie sie in der

Wahrnehmung oder in der empirischen Anschauung besteht, spezifisch unterscheidet.“

(PsF III, 334) Der Ausdruckssinn und der Darstellungssinn in den ersten zwei Stufen haben

eine Beziehung auf den sinnlich-physischen Gegenstand, und sie werden in der dritten

Stufe zur Bedeutung, die sich auf den ideellen Gegenstand bezieht. Das Zeichen kann erst

im wissenschaftlichen Begriff die reine Bedeutung, die ideelle Bedeutung, ausdrücken. Die

intellektuellen Symbole, also die Begriffe in der wissenschaftlichen Erkenntnis, besitzen

dadurch reine Bedeutungen und das Zeichen wird in diesem Bereich zu einem Zeichen des

Bedeutungsträgers. Der wissenschaftliche Begriff stellt die Regel der Bestimmung durch

seine Bedeutung auf, und dies soll letztlich der Bestimmung der Wahrheit dienen. Cassirer

spricht daher dem natürlichen Weltbegriff nur ‚Sinn‘ — und zwar sprachlichen Sinn —

zu.564

563 Bermes (1997), S. 67; vgl. Bermes (1997) 67 ff. Bermes führt die Voraussetzungsthese der Bedeutungund des Sinnes bei Frege und deren formale Unterscheidungen an.

564 Vgl. Bermes (1997), S. 163. Bermes weist darauf hin, dass Cassirer Sinn und Bedeutung meist synonymbenutzt. Wenn man berücksichtigt, dass Cassirer ‚Symbol‘ allgemein als Bedeutungsgehalt im Gedankenbezeichnet, dann trifft dies zu. Dieser unterscheidet aber das sinnliche Symbol vom intellektuellen

250

Versteht man dies in Anlehnung an Bermes, dann kann diese Bedeutung bei Cassirer ‚als

Bestimmung‘ verstanden werden.565 Bermes will die Philosophie der symbolischen Formen

bei Cassirer als eine ‚Philosophie der Bedeutungsformen‘ und damit „das

Bedeutungsphänomen als Bedeutung der Bestimmung“566 verstehen. Er weist darauf hin,

dass zwischen ‚Bedeutung der Bestimmung‘ und ‚Bedeutung der Bestimmtheit‘ in

philosophischen Diskussionen nicht unterschieden wird. So werden Inhalt und Referenz,

Bezug und Gehalt oder Intention und Intension zu Synonymen. Er verwendet daher den

Ausdruck ‚Bedeutung der Bestimmung‘ in dem Sinne, dass dieser „sowohl seine

intensional propositionale als auch seine intentional referierende Komponente“ umfasst.567

Daher wird auch die symbolische Prägnanz als ‚Bedeutungsprägnanz‘ verstanden.568 Der

Bedeutungsbegriff bei Cassirer dient nach Bermes „in seinen unterschiedlichen

Ausformungen als Unterscheidungskriterium für die verschiedenen symbolischen

Formen“.569 Für ihn sind bei Cassirer zwei Bedeutungsbegriffe zu unterscheiden: nämlich

der „des Kriteriums zur Differenzierung symbolischer Formen“ und der „der Konstitution

der symbolischen Formen selbst“.570 Er merkt auch kritisch an, dass Cassirer die

Unterschiede zwischen symbolischer Prägnanz und Bedeutungsprägnanz und zwischen

Bedeutung und Symbol nicht deutlich macht:

„Symbolbegriff und Bedeutungsbegriff werden zum einen analog im Aufbaudes Systems benutzt und zum anderen jeweils zwei-deutig ausgelegt.

Symbol. Jenes steht nur für die sinnlich-anschauliche Außenwelt, also entweder für den Ausdrucksinnoder den Darstellungssinn und dieses für die Bedeutung.

565 Vgl. Bermes (1997), S. 7. Bermes unterscheidet jedoch im engeren Sinne zwischen demBedeutungsbegriff der Bestimmung und dem Bedeutungsbegriff der Bestimmtheit; „sie stehen für zweiFunktionen der Bedeutung überhaupt. Zum einen zeigt der Bedeutungsbegriff der Bestimmtheit an, daßdie Bedeutung immer schon, wenngleich auch zuweilen nur vage, als eine nicht inhaltsleere Bedeutungzu denken ist; zum anderen zeigt der Bedeutungsbegriff der Bestimmung an, daß der Gegenstand, dessenBedeutung er ist, als Referenzobjekt der Bedeutung philosophisch relevant wird. Unter denBedeutungsbegriff der Bestimmung und den der Bestimmtheit fallen demnach Analysen zu dem Problemdes Bedeutungsinhaltes, der Intension oder des propositionalen Inhaltes, zu der Frage nach dem Wissenund zu der Regelhaftigkeit des Sprachverkehrs auf der einen Seite und der Referenz- oderIntentionalproblematik auf der anderen Seite.“

566 Bermes (1997), S. 162.567 Bermes (1997), S. 7.568 Vgl. Bermes (1997), S. 165. Bermes übernimmt den Ausdruck Bedeutungsprägnanz aus Cassirers ET II,

S. 146 in Fußnote 28: „sie [die theoretische Erkenntnnis] muß vielmehr mit anderenBedeutungsstrukturen — wie etwa mit der Form der ästhetischen, der mythischen, der religiösen»Sinngebung« — verglichen werden, um erst darin in ihrer Besonderheit und in ihrer eigentümlichenBedeutungsprägnanz erkannt zu werden.“

569 Bermes (1997), S. 162. Bermes weist auch darauf hin, dass bei Cassirer neben den Bedeutungsbegriffder Bestimmung ein zweiter Begriff, nämlich derjenige der Bestimmbarkeit tritt (sein Hinweis aufCassirers Aufsatz WiS, S. 205); vgl. auch Bermes (1997), S. 161: Cassirer stelle eine systematischeGliederung vor, die sich mit unterschiedlichen Formen des Weltzugangs auseinandersetze. Diesesymbolischen Formen würden durch verschiedene Bedeutungsfunktionen spezifiziert, welche dieWeltauffassungen auf unterschiedliche Art und Weise bestimmen.

570 Bermes (1997), S. 158.

251

Allerdings wird zu belegen sein, daß der Bedeutungsbegriff und seineGliederung Vorteile gegenüber dem Symbolbegriff besitzt und derSymbolbegriff zu Interpretationen verleitet, die zumindest schwierig sind.“571

Man kann dieser Bemerkung Bermes teilweise zustimmen, wobei er richtig sieht, dass

Cassirer den Unterschied zwischen den zwei Begriffen, Symbol und Bedeutung, nicht

deutlich macht. Bedenkt man aber, dass Bermes ‚Sinn‘ und ‚Bedeutung‘ bei Cassirer für

synonym hält, dann kann man der zweiten Hälfte seiner Bemerkung nicht zustimmen.

Cassirer versteht das Symbol allgemein als Bedeutungsgehalt im Gedanken, aber

unterscheidet zwischen ‚Sinn‘ und ‚Bedeutung‘, wie er von Ausdruckssinn und

Darstellungssinn und Bedeutung spricht. Er sucht, wie oben bereits erwähnt, die reine

Bedeutung im ‚Reich des Gedankens‘.

Ähnlich wie Bermes interpretiert auch Plümacher572 die symbolischen Formen bei Cassirer

als ‚Bedeutungswelten‘. Allerdings sieht sie einen deutlichen Zusammenhang mit der

Begriffstheorie Lotzes. Sie weist darauf hin, dass sich Cassirer bei seiner Ausarbeitung der

Begriffs- und Zeichentheorie auf Lotze gestützt hat.573 So hebt sie bei der Skizzierung des

Kapitels ‚Die Lehre vom Begriffe‘ aus dem ersten Buch der Logik Lotzes die

„Transformation sinnlicher Erfahrung in sprachliche Kategorien“ hervor und gelangt zu

dem Schluss, Lotze befasse sich in diesem Kapitel „mit der ‚Formung der Eindrücke zu

Vorstellungen‘, d. h. zu sprachlich verfaßten ‚logischen Bausteinen‘ des Denkens“.574

Bei Lotze sind die Vorstellungen, die im sprachlichen Ausdruck fixiert sind, von ihrem

eigentlichen Ausgangspunkt, dem sinnlichen Eindruck, unabhängig und „Teil einer

Bedeutungswelt“, die „eine bestimmte ideelle Ordnung des Phänomenalen“ bildet.575 Nach

Plümacher ist Lotze der Ansicht, dass sich die logische Formung der Sinneseindrücke im

Zuge der Benennung auf kategoriale Unterscheidungen stütze, und in den sprachlichen

Formen, zum Beispiel Substantiv, Adjektiv und Verb etc., die Klassifizierung der Inhalte

eine gewisse Entsprechung finde.

Der Prozess von der ‚Formung der Eindrücke zu Vorstellungen‘ bis zur ‚Bildung des

Begriffs‘ verläuft jedoch stufenweise über verschiedene Denkleistungen. Die erste

Denkleistung wird als „basale ontologische Klassifizierung von Sinneseindrücken“576 und

571 Bermes (1997), S. 158.572 Plümacher (2004): Wahrnehmung, Repräsentation und Wissen.573 Plümacher versucht nachzuweisen, dass die Begriffstheorie Lotzes als ein Bindeglied zwischen Cassirers

und Husserls Bedeutungstheorie anzusehen ist.574 Plümacher (2004), S. 139.575 Plümacher (2004), S. 140.576 Plümacher (2004), S. 141.

252

von Lotze selbst als „Beginn einer Ob je k t i v i r ung des Subjectiven“577 bezeichnet. Als

zweite Denkleistung bestimmt er die Identifikation oder „S e t zung des Inhalts“.578 Die

Denktätigkeit gibt dem vorgestellten Inhalt die logische Formung und vergegenständlicht

ihn dadurch für das Bewusstsein. Die dritte Leistung bestehe in der Konstitution von

Begriffen im Vergleich der Vorstellungen oder in der ‚Kategorisierung‘ im heutigen

Sinne.579 In dieser Denkleistung wird die Beziehung eines Besonderen auf ein Allgemeines

betont, und der sprachliche Ausdruck setzt ein ‚erstes Allgemeines‘, das „kein Erzeugniß

des Denkens, sondern ein von ihm vorgefundener Inhalt“ ist.580 Plümacher betont, mit

dieser Aussage Lotzes sei nicht gemeint, dass die Kategorisierung in der dritten

Denkleistung „dem Erkenntnissubjekt ohne jede intellektuelle Aktivität“ vorgegeben sei,

sondern dass die „Kategorien als intellektuelle Leistungen“ bestimmt seien, „die durch

Reflexion, d. h. einem Denken im engeren Sinn, nochmals überarbeitet werden“ sollen.581

Zur Erinnerung sei hier nochmals auf die Funktion des ersten und zweiten Allgemeinen bei

Lotze hingewiesen (vgl. 3.3.5). Plümacher interpretiert diese dritte Denkleistung als

„Ursprung taxonomischer Ordnungen, ohne die die spezifische Differenz der

Vorstellungsinhalte nicht geregelt wäre.“582 Das ‚Denken‘ im engeren Sinne, dessen

Leistung in der eigentlichen ‚Begriffsbildung‘ stattfindet, ist für Lotze die vierte

Denkleistung. Dabei handelt es sich um die „epistemische Ordnung“, die allein „aufgrund

spontan festgesteller Ähnlichkeitsbeziehungen“ nicht entstehen kann und daher mit den

vorigen Denkleistungen, mit den „kognitiven Leistungen“, untrennbar verknüpft ist. Die

Begriffsbildung bei Lotze impliziere „die Bestimmung des Werts eines Inhalts im

epistemischen Zusammenhang“.583 (vgl. 1.5; SuF, 361)

Plümacher hebt somit die Bedeutungswelt bei Lotze, die durch die Sprache entsteht,

hervor. Ihrer Interpretation zufolge ist die Sprache für Lotze „ein System der

Externalisierung epistemischer Ordnungen“ und die Bedeutungswelt ist „eine

intersubjektive, weil sich im Sprachgebrauch Gemeinsamkeiten in der kategorialen

Struktur und den Formen der kognitiven Verarbeitung sinnlicher Erfahrung herstellen.“584

577 Lotze (1843/1989), Buch 1, S. 15. 578 Lotze (1843/1989), Buch 1, S. 25; vgl. Plümacher (2004), S. 141: „Identifikation hat den Ausschluß der

Negation desselben Inhalts in derselben Hinsicht zur Voraussetzung: Etwas als a zu bezeichnen,bedeutet die Bestimmung dieses a als non-a auszuschließen. Zugleich ist die Distinktion des Inhalts vonallen anderen als ihm gegenüber non-a impliziert. Mit dieser Betonung relationaler Beziehungen allerBegriffe bezog Lotze eine holistische Position in der Theorie des Wissens und der Bedeutung.“

579 Vgl. Plümacher (2004), S. 141. 580 Lotze (1843/1989), Buch 1, S. 30. 581 Plümacher (2004), S. 143 f.582 Plümacher (2004), S. 141.583 Plümacher (2004), S. 144.584 Plümacher (2004), S. 144.

253

Plümacher meint weiter, dass sich die Bedeutungswelten bei Lotze aufgrund der „Idealität

der Vorstellungsinhalte“ „problemlos auf Fiktionales und Ideales“ erstrecken können und

daher Lotze „Bedeutungswelten als Welten sui generis“ kennzeichnete.585 Sie verweist

hierfür auf eine Stelle in der Logik Lotzes:

„Durch die logische Objectivirung, die sich in der Schöpfung des Namensverräth, wird daher der benannte Inhalt nicht in eine äußere Wirklichkeithinausgerückt; die gemeinsame Welt, in welcher Andere ihn, auf den wirhinweisen, wiederfinden sollen, ist im Allgemeinen nur die Welt desDenkbaren; ihr wird hier die erste Spur eines eigenen Bestehens und einerinneren Gesetzlichkeit zugeschrieben, die für alle denkenden Wesen dieselbeund von ihnen unabhängig ist, und es hier ganz gleichgültig, ob einzelne Theiledieser Gedankenwelt Etwas bezeichnen, was noch überdies außerhalb derdenkenden Geister selbständige Wirklichkeit besitzt, oder ob ihr ganzer Inhaltüberhaupt nur in den Gedanken der Denkenden, mit gleicher Gültigkeit dannfür alle, Dasein hat.“ 586

In der sich daran anschließenden Ausarbeitung hält Plümacher letztlich fest, dass Cassirer

den Gedanken der Bedeutungswelt Lotzes „zu einer Theorie der Pluralität der

Bedeutungswelten“ entwickelte.587

Man muss an dieser Stelle anmerken, dass Lotze hervorgehoben hat, dass zwar die

Ausbildung des Denkens in der Fähigkeit der Sprache liegt, aber das Denken von seinen

Ausdrucksweisen unabhängig ist. „Gliederung und Gebrauch der Sprache deckt eben die

Leistung des Denkens nicht durchaus.“588

Man kann, wie oben angeführt, die symbolischen Formen als ‚Bedeutungsformen‘ oder

‚Bedeutungswelten‘ verstehen, sofern man das Wort ‚Bedeutung‘ in seinem weitesten

Sinne versteht. Man soll aber dabei nicht außer Acht lassen, dass jede symbolische Form

ihren spezifischen Charakter besitzt und dass Cassirer nur der wissenschaftlichen oder

theoretischen Erkenntnis eine ‚Bedeutungsfunktion‘ zuschreibt. Die ‚Bedeutung‘ in

Cassirers Zeichengebrauch für die Bedeutungsfunktion unterscheidet sich jedoch von der

im Sprachgebrauch der Interpretationen von Bermes und Plümacher. Zugespitzt kann man

in Anlehnung an Frege sagen, der ‚Sinn‘ der Bedeutung bei diesen ist unterschieden von

dem der Bedeutung bei Cassirer. Denn diesem geht es um die reine Bedeutung, die rein

ideelle Beziehung, ohne jegliche sinnlich-anschaulichen Repräsentativen der Außenwelt,

wie dies auch bei Lotze der Fall ist. Lotze schließt sich nämlich, wie oben gezeigt, bei der

585 Plümacher (2004), S. 144.586 Lotze (1843/1989), Buch 1, S. 16 f.587 Plümacher (2004), S. 163.588 Lotze (1843/1989), Buch 1, S. 20.

254

Begriffsbildung dem ‚Denken‘ im engeren Sinne an.

4.3. Cassirers Invariantengedanke der Wahrnehmung und des Begriffs

4.3.1. Cassirers Invariantengedanke und Kleins Erlanger Programm

Die Untersuchung der Begriffstheorie in PsF verdeutlicht, dass nun, im Vergleich zu SuF,

die Wahrnehmungsfunktion als eine Erweiterung von Cassirers Begriffstheorie anzusehen

ist. In Cassirers Aufsatz The Concept of Group and the Theory of Perception [CG] ist

unverkennbar, dass er sich bei seinem Invariantengedanken an Felix Kleins Erlanger

Programm anlehnt. Noch deutlicher zeigt sich Cassirers Anlehnung an die

Invariantentheorie Kleins im Aufsatz Reflections on the Concept of Group and the Theory

of Perception [RCG], der aus seinem Nachlass publiziert wurde und ursprünglich als

Vortrag gedacht war. Diese enge Orientierung an Klein wird, wie bereits erwähnt, auch

durch das Kapitel Die Invarianten der Wahrnehmung und des Begriffs in der

nachgelassenen Schrift Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis [ECN 2] bestätigt.

Cassirer äußert sich schon in SuF über die Invariantentheorie, als er davon spricht, dass

„die kritische Erfahrungslehre in der Tat gleichsam die a l l gem ei ne

Inva r i an t en theo r i e der E r f ah rung“ bildet, die dem induktiven Verfahren zugrunde

liegt (SuF, 356), und dass im streng sachlichen Sinne Apriori nichts anders als „jene letzten

log i s chen Inva r i an t en“ bedeutet, „die jeder Bestimmung naturgesetzlicher

Zusammenhänge überhaupt zugrunde liegen“ (SuF, 357).

Cassirer erkannte ebenfalls die Wichtigkeit der Gruppentheorie und ihre Entwicklung

innerhalb der Mathematik:

„Schon der Fortschritt der projektiven Geometrie ließ ein Gebiet erkennen, dasdas Ideal der mathematischen Darstellung unabhängig von allen Hilfsmittelnder Messung und Größenvergleichung in sich verwirklicht. Die Metrik selbstwird hier aus rein qualitativen Beziehungen abgeleitet, die lediglich dasStellenverhältnis der Raumpunkte betreffen. Noch bezeichnender tritt sodanndie Ausdehnung der Mathematik über ihre traditionellen Grenzen in derGr uppen t heo r i e hervor, deren unmittelbares Objekt nicht Größen- oderLagebestimmungen, sondern ein Inbeg r i f f von Ope r a t ionen bildet, diein ihrer wechselseitigen Abhängigkeit untersucht werden. Hier erst ist in derTat das oberste und universelle Prinzip erreicht, von dem aus sich dasGesamtgebiet der Mathematik als Einheit übersehen läßt.“ (SuF, 125)

255

Es stellen sich hier die Fragen, um welches universelle Prinzip es sich beim Erlanger

Programm handelt, und worauf sich eigentlich die Wahrnehmungstheorie Cassirers bei der

Rezeption des Erlanger Programms stützt.589 Es soll nun aber nicht das Erlanger Programm

mit all seinen mathematischen Einzelheiten dargestellt werden, sondern vielmehr der

Versuch unternommen werden, Kleins grundlegende Ideen im Erlanger Programm, die für

Cassirers Invariantengedanken entscheidend ist, zu skizzieren.

Bis zu dem Zeitpunkt, als Klein 1872 seine Antrittsvorlesung in Erlangen hielt, hatte sich

die Geometrie in verschiedene Richtungen entwickelt. Neben der elementaren euklidischen

Geometrie trat langsam die Auffassungsweise der räumlichen Dinge der projektiven

Geometrie hervor. Die metrischen Eigenschaften erscheinen in der projektiven Geometrie

„nicht mehr als Eigenschaften der räumlichen Dinge an sich, sondern als Beziehungen

derselben zu einem Fundamentalgebilde, dem unendlich fernen Kugelkreise“.590 Mit ihrer

Methodik war die projektive Geometrie auf dem Weg, sich über die gesamte Geometrie zu

erstrecken.

Im Erlanger Programm ist der Begriff einer ‚Gruppe‘ von räumlichen Änderungen der

Wesentlichste. Für Klein ist die Gruppe nicht bloß ein Instrument, um neue Sätze zu

finden, sondern sie bildet das wahre Wesen der Geometrie. Eine Geometrie entsteht erst,

wenn man neben der räumlich ausgedehnten Mannigfaltigkeit noch eine Gruppe von

Transformationen dieser Mannigfaltigkeit in sich vorgibt; und jeder Gruppe entspricht eine

besondere Geometrie.591

Klein hat mit Lie zusammen die fundamentale Bedeutung der Gruppentheorie bereits früh

erkannt.592 Die beiden Freunde fuhren nach Paris um Camille Jordan (1832-1922)

kennenzulernen, der das erste Lehrbuch über die Theorie endlicher Gruppen Traité des

substitutions et des équations algébriques (1870) geschrieben hatte. Jordan war eher durch

einen Zufall zur Gruppentheorie gelangt.593

Nachdem im Jahre 1857 der bekannte Mathematiker Augustin Louis Cauchy (1789-1857)

verstorben war, entschloss man sich in den sechziger Jahren seine Werke zu publizieren.

Diese Aufgabe kam Camille Jordan zu, der auch dafür Sorge tragen sollte, bisher

unveröffentlichte Werke von Cauchy in der neuen Edition erscheinen zu lassen. Doch

589 Vgl. CG, p. 1. Für Cassirer war Helmholtz der Vorläufer, der schon im Aufsatz Ueber die Tatsachen,die der Geometrie zu Grunde liegen (1868), versucht hatte, gewisse mathematische Spekulationen vomBegriff der Gruppe auf das psychologische Problem der Wahrnehmung anzuwenden, obwohl zur Zeitder Begriff der Gruppe noch nicht als universelles Instrument des mathematischen Gedankens erkanntwurde und demzufolge er das Problem nicht präzise behandeln konnte.

590 Klein (1872/1893), S. 64.591 Vgl. Carathéodory (1919), S. 298. 592 Vgl. Yaglom (1988); über die Biographie Kleins vgl. Tobies (1981). 593 Vgl. Yaglom (1988), Chapter 1. The Precursors: Evariste Galois and Camille Jordan. pp. 1-21.

256

außer einem Brief von Evariste Galois (1811-1832) an Cauchy, den dieser angeblich

jedoch nie gelesen hatte, wurde Jordan keines unveröffentlichten Manuskripts gewahr. Der

besagte Brief beinhaltete die ‚Galoistheorie‘ der Gleichung,594 von der Jordan so begeistert

war, dass er sich auf die Suche nach Galois’ Werk machte und sich um die

Bekanntmachung und Vermittlung der weitgehend unbekannten Theorie bemühte.

Nachdem Jordan die sechziger Jahre weitestgehend damit verbracht hatte, entschied er

sich, selbst ein Buch darüber zu verfassen. So entstand Jordans Lehrbuch der

Gruppentheorie, das Klein „die entscheidenden algebraischen Hilfsmittel zur

Ausarbeitung“595 des Erlanger Programms in die Hand gab.

August Ferdinand Möbius (1790-1868) besitzt nach Klein den modern formulierten

Gruppenbegriff nicht, aber sein Begriff der „Verwandtschaft“ in Der barycentrische Calcul

(1827) ist äquivalent.596 Bei den geometrischen Verwandtschaften handelt es sich um

Transformationen einer geometrischen Figur in eine andere. Möbius zählte in der Vorrede

zum barycentrischen Calcul die geometrischen Verwandtschaften wie Gleichheit,

Ähnlichkeit, Affinität und Kollineation auf. Gleichheit und Ähnlichkeit unterscheiden sich

nach Möbius nicht wesentlich; eine Feststellung, die nach Wußing den Eigenschaften der

Hauptgruppe des Erlanger Programms entspricht597:

„Allgemeiner sind die Affinitäten, welche speziell die Ähnlichkeiten undGleichheiten in sich enthalten ― dies entspricht dem gegenseitigen Verhältnisvon affiner Gruppe zur äquiformen (oder Haupt-) Gruppe. Noch allgemeinerschließlich sind die Verwandtschaften der Kollineation; auch hier nimmtMöbius ― natürlich ohne Verwendung des Wortes Gruppe oder überhauptexpliziter gruppentheoretischer Denkweise [...] ― die Enthaltensaussage deraffinen Geometrie in der projektiven Geometrie vorweg.“598

Möbius hat mit seinem Programm, das die Klassifizierung der geometrischen

Transformationen beinhaltet, eine wesentliche Entwicklungsrichtung getroffen, aber es hat

ihm an formalen Möglichkeiten, insbesondere an algebraischen Hilfsmitteln gemangelt. Er

konnte daher die ihm vorschwebende Klassifizierung der Geometrie nicht durchführen.599

594 Über Galois’ Permutationsgruppe vgl. Yaglom (1988), pp. 10-13. 595 Wußing (1997), S. 22.596 Vgl. Klein (1926/1979), S. 118; vgl. Tobies (1981), S. 33. Möbius wird durch seine Arbeit zu einem

Vorläufer des Erlanger Programms; vgl. auch Wußing (1997), S. 17: „Als Möbius in den 20er Jahrenseine Publikationstätigkeit aufnahm, hatte sich im Anschluß an Poncelet das Interesse auf dieUntersuchungen der Transformationen gerichtet, welche den Übergang von einer geometrischen Figurzur anderen vermitteln.“

597 Vgl. Wußing (1997), S. 18.598 Wußing (1997), S. 18.599 Vgl. Wußing (1997), S. 19.

257

Die Invariantentheorie, worauf sich Klein im Erlanger Programm stützt, ist die

‚algebraische Invariantentheorie‘, die sich im 19. Jahrhundert zunächst unabhängig von

der Geometrie entwickelte. Einer der führenden Vertreter dieser Invariantentheorie war

Arthur Cayley (1821-1895), der zwischen 1854 und 1859 insgesamt zehn Abhandlungen

unter dem Titel Memoirs upon Quantics600 veröffentlichte.601 Der Grundgedanke von

Cayley bestand nach Wußing darin, „daß sich bezüglich geometrischer Transformationen

invariante Eigenschaften geometrischer Figuren auch analytisch in Form algebraischer

Invarianten der der Figur entsprechenden Quantic widerspiegeln müssen“.602 Mit seiner

sechsten Abhandlung gelang es Cayley mit Hilfe der ‚Maßbestimmung‘603 „die

Beziehungen zwischen projektiver und metrischer Geometrie hervorzukehren“.604 Nach

Cayley sei die metrische Geometrie ein Teil der projektiven Geometrie, und die projektive

Geometrie sei die gesamte Geometrie.605

Für das Erlanger Programm stellt die Einordnung der nichteuklidischen Geometrie in die

projektive Geometrie auf invariantentheoretischer Grundlage den Ausgangspunkt dar. Um

sein ‚Programm‘ durchzuführen verknüpft Klein606 die mit Sophus Lie (1842-1899)607

entwickelte Gruppentheorie mit der Geometrie.608 Dabei entwickelte Klein eine

Hauptgruppe, die die Grundlage seiner Theorie bildet, um zu verdeutlichen, dass die

geometrischen Eigenschaften durch die Transformation der Gruppe unverändert bleiben. Es

geht ihm in erster Linie darum, herauszufinden, was unter den geometrischen

Eigenschaften zu verstehen ist, um damit zu zeigen, dass die Geometrie ihrem ‚Stoffe‘

600 Vgl. Wußing (1997), S. 19. Unter Quantic verstand Cayley „das, was wir heute als Form bezeichnen,also ein homogenes Polynom des Grades n in m unabhängigen Variablen mit willkürlichen konstantenKoeffizienten, die in einem Ring liegen“.

601 Vgl. Ihmig (1997a), S. 293.602 Wußing (1997), S. 19 f.603 Vgl. Mittelstraß (EPW 1995), Bd. 1, S. 385: Im Zusammenhang mit Cayleyschen Theorie der

algebraischen Invarianten stehen „seine Entwicklung der Matrizentheorie in ihrer algebraischenFassung, die analytische Einführung n-dimensionaler Geometrien, die Klärung des Begriffs derabstrakten Gruppe [...] (mathematisch), die Darstellung von Gruppen durch Multiplikationstafeln(Gruppentafeln oder ›Cayleysche Tafeln‹) sowie der Fundamentalsatz, daß jede endliche Gruppe einerPermutationsgruppe isomorph ist (Satz von Cayley). Cayleys Zurückführung der metrischen Geometrieauf die projektive durch eine schon innerhalb dieser gültige Maßbestimmung (Cayley-Kleinsche Metrik)regte F. Klein zur Erweiterung auf die nicht-euklidischen Geometrien und damit die Aufstellung desErlanger Programms an“.

604 Wußing (1997), S. 20.605 Vgl. Wußing (1997), S. 20. Wußing verweist auf Cayleys The Collected Mathematical Papers. Bd. 2.

Cambridge 1889, S. 592.606 Über die Vorgeschichte des Erlanger Programms vgl. Yaglom (1988), Ihmig (1997a), Kap. IV. und

Ihmig (1996); zu Kleins Erlanger Programm siehe auch Hawkins (1984), Gray (1992), Rowe (1992),und Carathéodory (1919).

607 Über Klein und Lie vgl. Yaglom (1988); auch Rowe (1992).608 Vgl. Rowe (1992), p. 47. Das, was das Erlanger Programm faszinierend macht, sei nicht die

Gruppentheorie selbst, sondern deren Verknüpfung mit der Geometrie.

258

nach einheitlich ist. Dies ist der Grundgedanke in der methodischen Betrachtung Kleins.609

Diese Idee Kleins der einheitlichen Geometrie und der Invariantentheorie ist für Cassirer

entscheidend.

Klein formuliert später in seiner Schrift Elementarmathematik vom höheren Standpunkte

aus (1925) seinen Hauptgedanken im Erlanger Programm wie folgt: „Es sei irgendeine

beliebige Gruppe räumlicher Transformationen gegeben, welche die Hauptgruppe als Teil

umfaßt; dann gibt die Invariantentheorie dieser Gruppe eine bestimmte Art von Geometrie,

und man kann so jede mögliche Geometrie erhalten.“610

Im Erlanger Programm definiert Klein zunächst die Transformationsgruppe wie folgt:

Vorausgesetzt werden beliebig viele Transformationen des Raumes, die zusammengesetzt

immer wieder eine Transformation ergeben. Wenn eine gegebene Reihe von

Transformationen (Transformation des Raumes) die Eigenschaft hat, dass jede Änderung,

„die aus den ihr angehörigen durch Zusammensetzung hervorgeht, ihr selbst wieder

angehört, soll die Reihe eine Transformationsgruppe genannt werden“.611 „Ein Beispiel für

eine Transformationsgruppe bildet die Gesammtheit der Bewegungen“ und jede Bewegung

wird „als eine auf den ganzen Raum ausgeführte Operation betrachtet“.612

Eine Gruppe in der Gesamtheit der Bewegungen bilden die Rotationen um einen Punkt.

Eine Gruppe, die die Gruppe der Bewegungen umfasst, ist die Gesamtheit der

Kollineationen. Klein nennt eine Gesamtheit von Transformationen dann eine Gruppe,

„wenn die Zusammensetzung von 2 ihrer Transformationen wieder eine Transformation

derselben Gesamtheit ergibt und die Inverse jeder Transformation auch zu der Gesamtheit

gehört. Beispiele von Gruppen sind der Inbegriff der Bewegungen oder derjenige der

Kollineationen (projektiven Transformationen)“.613

Es gibt räumliche Transformationen, wie zum Beispiel alle Bewegungen des Raumes,

Ähnlichkeitstransformationen eines räumlichen Gebildes, den Prozess der Spiegelung,

sowie alle Transformationen, die sich aus diesen zusammensetzen, welche die

geometrischen Eigenschaften räumlicher Gebilde unverändert lassen.

609 Vgl. Klein (1872/1893), S. 64: „Wenn wir es im Nachstehenden unternehmen, ein solches Principaufzustellen, so entwickeln wir wohl keinen eigentlich neuen Gedanken, sondern umgränzen nur klarund deutlich, was mehr oder minder bestimmt von Manchem gedacht worden ist. Aber es schien um soberechtigter, derartige zusammenfassende Betrachtungen zu publiciren, als die Geometrie, die dochihrem Stoffe nach einheitlich ist, bei der raschen Entwicklung, die sie in der letzten Zeit genommen hat,nur zu sehr in eine Reihe von beinahe getrennten Disciplinen zerfallen ist, die sich ziemlich unabhängigvon einander weiter bilden. Es lag dabei aber auch noch die besondere Absicht vor, Methoden undGesichtspunkte darzulegen, welche von L i e und mir in neuren Arbeiten entwickelt wurden.“

610 Klein (1925), S. 144.611 Klein (1872/1893), S. 65 f.612 Klein (1872/1893), S. 66.613 Klein (1925), S. 143.

259

Der Inbegriff all dieser Transformationen wird dann Hauptgruppe genannt. So legt Klein

fest: „geometrische Eigenschaften werden durch die Transformationen der Hauptgruppe

nicht geändert“, oder anders formuliert, geometrische Eigenschaften sind „durch ihre

Unveränderlichkeit gegenüber den Transformationen der Hauptgruppe charakterisiert“.614

Die mehrfach ausgedehnte Mannigfaltigkeit, die, nachdem man sich des sinnlichen Bildes

entledigt hat, im Raume erblickt werden kann, sofern an der ‚gewohnten Vorstellung des

Punktes als Raumelement‘ festgehalten wird, wird in Analogie zu den räumlichen

Transformationen ‚Transformationen der Mannigfaltigkeit‘ genannt, die ebenfalls Gruppen

bilden. So gesehen, ist jede Gruppe mit jeder anderen gleichberechtigt. Somit entsteht nach

Klein als Verallgemeinerung der Geometrie das folgende allgemeine ‚Problem‘:

„Es ist eine Mannigfaltigkeit und in derselben eine Transformationsgruppegegeben; man soll die der Mannigfaltigkeit angehörigen Gebilde hinsichtlichsolcher Eigenschaften untersuchen, die durch die Transformationen derGruppe nicht geändert werden.“ 615

Wenn man sich nun lediglich auf eine bestimmte Gruppe, nämlich auf die Gruppe aller

linearen Umformungen beziehe, so könne man durchaus auch sagen: „Es ist eine

Mannigfaltigkeit und in derselben eine Transformationsgruppe gegeben. Man entwickele

die auf die Gruppe bezügliche Invariantentheorie.“616 Dieses ‚allgemeine Problem‘,

umfasst nicht nur die gewöhnliche Geometrie, also die euklidische metrische Geometrie,

sondern auch die damals neueren „geometrischen Methoden und die verschiedenen

Behandlungsweisen beliebig ausgedehnter Mannigfaltigkeiten“.617

Diese Formulierungen Kleins fasst Ihmig so auf, dass Klein hier einen allgemeinen Begriff,

nämlich die Hauptgruppe, entwickele und die weitere Aufgabe darin bestehe, das

Verhältnis der neueren Geometrien zur euklidischen Geometrie genauer herauszuarbeiten.

Das Verhältnis unterschiedlicher Geometrien lasse sich zueinander vermöge des

Verhältnisses ihrer Transformationsgruppen bestimmen. „So läßt sich die Hauptgruppe

systematisch erweitern um beispielsweise die affinen Transformationen. Die Gruppe der

affinen Transformationen ist ihrerseits erweiterbar um die Gruppe der projektiven

Transformationen etc.“618

Die geometrischen Eigenschaften räumlicher Dinge bleiben, wie schon erwähnt, durch alle

614 Klein (1872/1893), S. 66 f.615 Klein (1872/1893), S. 67.616 Klein (1872/1893), S. 67. 617 Klein (1872/1893), S. 67.618 Ihmig (1997a), S. 301.

260

Transformationen der Hauptgruppe unverändert. Trotz allem wirft Klein an dieser Stelle

die Frage auf, ob es denn geometrische Eigenschaften räumlicher Dinge gäbe, bei denen

dies nur zum Teil der Fall ist. Diese Frage erscheint Klein, wenn auch nur formal, dann

berechtigt, wenn man sich anschickt, diese räumlichen Gebilde in ihrer Beziehung zu fest

gedachten Elementen zu untersuchen.

Betrachtet man „die räumlichen Dinge unter Auszeichnung eines Punktes“, wie dies in der

sphärischen Trigonometrie getan wird, so ergibt sich für ihn die Forderung: „die unter

Adjunction der Hauptgruppe invarianten Eigenschaften nicht mehr der räumlichen Dinge

an sich sondern des von ihnen mit dem gegebenen Punkte gebildeten Systems zu

entwickeln.“619 Nach Klein kann man selbige Forderung auch in folgende Worte fassen, die

ein in seinem Programm häufig angewandtes ‚Prinzip‘ erkennen lassen: man untersuche

die räumlichen Gebilde nach solchen Eigenschaften, welche ungeändert bleiben durch

diejenigen Transformationen der Hauptgruppe, welche noch stattfinden können, wenn man

den Punkt festhalte. So sei es dasselbe, ob man die räumlichen Gebilde im Sinne der

Hauptgruppe untersuche und ihnen den gegebenen Punkt hinzufüge, oder ob man die

Hauptgruppe durch die in ihr enthaltene Gruppe ersetze, deren Transformationen den

bezüglichen Punkt ungeändert lasse.620

Seine Untersuchung derjenigen Eigenschaften räumlicher Dinge, die bei einer

Transformationsgruppe erhalten bleiben, die die Hauptgruppe als einen Teil umfasst,

kommt zu dem Schluss, dass jede Eigenschaft, die bei einer solchen Untersuchung zu

finden ist, eine geometrische Eigenschaft des Dinges an sich ist, aber das Umgekehrte

nicht gilt. Bei der Umkehr tritt, so Klein, das obige ‚Prinzip‘ in Kraft, wobei die

Hauptgruppe die kleinere Gruppe ist.

Mittels dieses umgekehrten Verfahrens zeigt Klein später in Elementarmathematik vom

höheren Standpunkte aus, wie von der Eigenschaft aller projektiven Trans-

formationsgruppen aus die Eigenschaft einer affinen Geometrie und letzlich nur die

Eigenschaft der Hauptgruppe übrigbleibt. Um zum Beispiel von allen projektiven

Transformationen aus zu der affinen Gruppe zu kommen, muss man davon ausgehen, „daß

eine Projektivität dann eine Affinität ist, wenn sie die unendlich ferne Ebene in sich

619 Klein (1872/1893), S. 68.620 Vgl. Klein (1872/1893), S. 68. Kleins allgemeine Formulierung seines Prinzips lautet: „Es sei eine

Mannigfaltigkeit und zu ihrer Behandlung eine auf sie bezügliche Transformationsgruppe gegeben. Eswerde das Problem vorgelegt, die in der Mannigfaltigkeit enthaltenen Gebilde hinsichtlich einesgegebenen Gebildes zu untersuchen. So kann man entweder dem Systeme der Gebilde das gegebenehinzufügen, und es fragt sich dann nach den Eigenschaften des erweiterten Systems im Sinne dergegebenen Gruppe — oder, man lasse das System unerweitert, beschränke aber die Transformationen,die man bei der Behandlung zu Grunde legt, auf diejenigen in der gegebenen Gruppe enthaltenen,welche das gegebene Gebilde ungeändert lassen (und die nothwendig wieder eine Gruppe bilden ).“

261

überführt, d. h. wenn jedem Punkte mit verschwindendem τ ein Punkt mit

verschwindendem τ´ entspricht.“621 Wenn die unendlich ferne Ebene ungeändert bleibt,

dann scheidet nach Klein aus den projektiven Transformationsgruppen eine ‚Untergruppe‘

aus, also die affine Gruppe. In ganz analoger Weise gelangt man letztlich zu der

Hauptgruppe, „indem man diejenigen Projektivitäten bzw. Affinitäten bestimmt, die außer

der unendlich fernen Ebene noch den imaginären Kugelkreis in sich überführen [...]“.622

So entsteht jetzt für Klein ein ‚Satz‘:

„Ersetzt man die Hauptgruppe durch eine umfassendere Gruppe, so bleibt nurein Theil der geometrischen Eigenschaften erhalten. Die übrigen erscheinennicht mehr als Eigenschaften der räumlichen Dinge an sich, sondern alsEigenschaften des Systems, welches hervorgeht, wenn man denselben einausgezeichnetes Gebilde hinzufügt. Dieses ausgezeichnete Gebilde ist (soweites überhaupt ein bestimmtes ist) dadurch definirt, dass es, fest gedacht, demRaume unter den Transformationen der gegebenen Gruppe nur noch dieTransformationen der Hauptgruppe gestattet.“623

Er betont, dass die Eigenart der neueren geometrischen Richtungen und deren Verhältnis

zur elementaren Methode auf diesem Satz beruhen. Im Erlanger Programm wendet Klein

diesen ‚Satz‘ mit dem oben genannten ‚Prinzip‘ und das allgemeine ‚Problem‘ auf die

verschiedenen Methoden der Geometrien (die euklidische und die nichteuklidische

Geometrie, die projektive Geometrie etc.) an, um so die Einheit der Geometrie

wiederherzustellen.

Cassirers Interpretation von Klein zufolge kann man bestimmte Eigenschaften

heraussondern, die sich gegenüber der Hauptgruppe invariant verhalten, sofern man die

Hauptgruppe von Transformationen zu Grunde legt, die für die euklidische Geometrie gilt

(vgl. ECN 2, 130). Wenn man aber zu einer anderen Gruppe, zu den projektiven

Transformationen fortschreite, gehe der bisher als unabänderlich angesehene Teil der

Eigenschaften durch die Erweiterung der Hauptgruppe verloren. Im Gegenzug aber

„ergeben sich andere und neue ‚Invarianzen‘“ (ECN 2, 130). Gemäß den Ausführungen

von Klein lege der allgemeine ‚Satz‘ vom projektivischen Standpunkt aus fest, wie man die

metrischen Eigenschaften aufzufassen habe. Die metrischen Eigenschaften können als

projektivische Beziehungen zu einem ‚unendlich fernen Kugelkreis‘ betrachtet werden. In

diesem Fall muss man jedoch dem Kugelkreis, um diesem Standpunkt gerecht zu werden,

621 Klein (1925), S. 144.622 Klein (1925), S. 144. 623 Klein (1872/1893), S. 69.

262

„das System der reellen Raumelemente (Punkte)“ hinzufügen. Dann werden Eigenschaften

im Sinne der elementaren Geometrie „projectivisch entweder Eigenschaften der Dinge an

sich oder Beziehungen zu diesem Systeme der reellen Elemente, oder zum Kugelkreise,

oder endlich zu beiden“.624

Hierin sieht Cassirer den besonderen Beitrag der projektiven Geometrie für die veränderte

Form der Anschauung. Kreis und Ellipse zum Beispiel sind in der gewöhnlichen

Geometrie verschieden, aber in der ‚affinen Geometrie‘ geht dieser Unterschied verloren.

Beide erscheinen in ihr als ein Gebilde. Diese Entwicklung geht einen Schritt weiter, wenn

man zur projektiven Geometrie fortschreitet, denn dann geht auch der bisherige

Unterschied zwischen einem Kreis und ‚allen anderen Arten der Kegelschnitte‘ verloren.

Es gibt für die projektive Geometrie nur einen einzigen Kegelschnitt, „denn je zwei lassen

sich in einen Kreis und daher auch in einander projektiv überführen“ (ECN 2, 130 f.). Vom

Standpunkt der projektiven Geometrie aus gesehen bezeichnet die Einteilung in Parabel,

Hyperbel und Ellipse keinen ‚absoluten‘ Unterschied.

4.3.2. Die Wahrnehmungskonstanten und die Invarianten des Begriffs

Cassirer hebt im Aufsatz Reflections on the Concept of Group and the Theory of

Perception Klein deshalb hervor, weil durch das Erlanger Programm eine neue Definition

der Geometrie entstanden sei. Die alte Definition, nach der die Geometrie ein Fach der

Forschung des Raumes sei, müsse seiner Meinung nach aufgegeben werden.625 Daher lautet

eine neue Definition der Geometrie, die auf dem Begriff der Gruppe basiert: „Geometry is

distinguished from topography by the fact that only such properties of space are called

geometrical as remain unchanged in a certain group of operations.“ (RCG, 280)626

Die Begriffe in der euklidischen Geometrie werden für Cassirer durch Abstraktion

gewonnen. Der Terminus Abstraktion selbst benötige eine schärfere und genauere

Bestimmung, die man laut Cassirer in der auf dem Begriff der Transformationsgruppe

basierenden Theorie der Geometrie Kleins finde. Entscheidend ist für Cassirer Kleins

Unterscheidung verschiedener Abstraktionsgrade, die einem freie und umfassende

624 Klein (1872/1893), S. 71.625 Vgl. RCG, p. 279: „We must give up our traditional view of geometry; we must seek for a new and

deeper insight into the method and character of geometrical thought. This new insight was won, in thisarticle of Klein, by the introduction of a new concept: the concept of group.“

626 Vgl. Ihmig (1996), S. 143: Ihmig betont auch, dass die Frage nach dem Wesen des Raumes der Anlassfür Cassirers Beschäftigung mit dem Programm Kleins ist.

263

Perspektiven verschaffen. Durch diese Perspektiven werden der Kreis und die Ellipse in

der affinen Geometrie als eine Figur angenommen, weil der Kreis in dieser Geometrie in

die Ellipse transformiert wird (vgl. CG, 8; 4.3.1).

Wie bereits erwähnt, ist für Cassirer der Gedanke von Klein zur einheitlichen Geometrie

neben der Invariantentheorie von grosser Bedeutung:

„The introduction of a new group of transformations always involves acompletely new orientation and interpretation of the relations of spatial forms –and these various modes of interpretation are expressed by the different typesof geometry. Thus modern group theory is far from denying the truth of anygeometrical system; but it declares that no single system has a claim todefinitiveness. Only the totality of possible geometrical systems is reallydefinitive.“ (RCG, 283)

Cassirers spätere Wahrnehmungstheorie stützt sich einerseits auf Kleins Idee der

einheitlichen Geometrie im Erlanger Programm und andererseits auf die Invariantentheorie

im Zusammenhang mit der Wahrnehmungskonstanz.

Cassirer will, wie schon erwähnt, den Prozess des Wahrnehmens von dem des Urteils als

nicht trennbar verstehen und so wird das Urteil im Prozess als elementarer Urteilsakt

bezeichnet. Das Urteil bedeutet eine Form der objektivierenden Bestimmung, in welcher

die qualitativen inhaltlichen Differenzen der Einzelnen nicht verlorengehen soll. Wenn dies

geleugnet wird, so Cassirer, „versteht man das Urteil selbst nur in dem äußerlichen Sinne

einer vergleichenden Tätigkeit, die einem bereits feststehenden und gegebenen ‚Subjekt‘

ein neues Prädikat nachträglich hinzufügt“ (SuF, 453; vgl. SuF 366). Cassirers Verständnis

der Wahrnehmung wird in PsF in dem Sinne erweitert, dass die Funktion der

Wahrnehmung mit der symbolischen Formung zusammenhängt. So wird die

‚Wahrnehmung selbst‘ als die ideelle Verwobenheit und die Bezogenheit des Einzelnen auf

ein charakteristisches Sinn-Ganzes als ‚Prägnanz‘ bezeichnet (vgl. PsF III, 235):

„Die Funktion der einfachen Empfindung und Wahrnehmung ,verbindet‘ sichhier nicht nur mit den intellektuellen Grundfunktionen des Begreifens, desUrteilens und Schließens, sondern sie i s t selbst schon eine solcheGrundfunktion — sie enthält implizit, was dort in bewußter Formung und inselbständiger Gestaltung heraustritt.“ (PsF I, 280)

Diese Wahrnehmung lässt sich bei Cassirer in dem Sinne verstehen, dass man es beim

Erkennen nicht mit der Empfindung von Dingen, sondern mit der Wahrnehmung als

intergrierten Urteilsakt zu tun hat.

264

In der Welt der Erfahrung geht man von einem bestimmten Wahrnehmungserlebnis aus,

zum Beispiel von einer Zeichnung der ‚Materie‘, die man in einer Weise als eine optische

Struktur, als ein zusammenhängendes Ganzes erfassen soll. Man kann zunächst dem rein-

sinnlichen Eindruck der Zeichnung zugewandt sein. Dabei erfasst man „sie [Zeichnung]

etwa als einen einfachen Linienzug, der sich durch bestimmte sichtbare Qualitäten, durch

gewisse elementare Grundzüge seiner räumlichen Form gegen andere unterscheidet und

abhebt“ (SP, 298 f.). In welchem Sinne Cassirer den Begriff einer Materie der

Wahrnehmung oder die Zeichnung als Linienzug annimmt, erläutert er wie folgt:

„Wo der aesthetisch-Betrachtende und Genießende sich der Anschauung derreinen Raumform hingibt ― wo sich dem religiös-Ergriffenen in der Form einmystischer Sinn erschließt, da kann sich dem Gedanken das Gebilde, das vordem sinnlichen Auge steht, als Beispiel für einen rein logisch-begrifflichenStrukturzusammenhang geben. [...] so wird dem mathematischen Geiste derLinienzug zu nichts anderem, als zum anschaulichen Repräsentanten einesbestimmten Funktionsverlaufs. [...] Wo die ästhetische Richtung derBetrachtung vielleicht eine Hogarthsche Schönheitslinie vor sich sah ― dasieht der Blick des Mathematikers das Bild einer bestimmten trigonometrischenFunktion, etwa das Bild einer Sinuskurve vor sich, während der mathematischePhysiker in eben dieser Kurve vielleicht das Gesetz eines bestimmtenNaturvorgangs, das Gesetz für eine periodische Schwingung erkennt.“ (SP,300)

Das Bewusstsein beim Wahrnehmen funktioniert so, dass es die Zeichen als Vertreter von

Merkmalen der Dinge, nicht als Teile summiert, das heißt, als Teile vom Ganzen in Reihe

setzt. Die erste Setzung von Merkmalen durch Zeichen kommt dadurch zu Stande, dass ein

Moment aus dem Ganzen einer Erscheinung abstrakt herausgelöst wird, und das Moment

als Vertreter, als Repräsentant des Ganzen genommen wird, so dass der Inhalt seine

Einzelheit, die stoffliche Besonderheit nicht verlieren kann. Damit erhält der Inhalt eine

neue allgemeine Form aufgeprägt.

Die sinnliche Empfindung bedeutet somit keinesfalls die Abstraktion des ‚dogmatischen

Sensualismus‘. Um dies zu verdeutlichen, bedient Cassirer sich des Beispiels einer

Gemäldebetrachtung. Der sinnliche Inhalt des Kunstwerkes stellt sich nicht einfach als

stummes Bild dar, sondern es gibt „Kunde von einem inneren Leben, das durch ihn

hindurchscheint“ (SP, 302). Diese Transparenz des Sinnlichen ist es, die nicht nur jeder

ästhetischen Anschauung als solcher innewohnt, sondern auch in der Sprache und im

Mythos zu Hause ist. Cassirer konstatiert, dass man die Frage nach der Möglichkeit dieses

Zusammenhangs nicht stellen soll; man soll auch nicht versuchen zu antworten, in welcher

265

Grundbestimmung, sei sie metaphysisch, sei sie psychologisch, es begründet ist, dass „ein

sinnlich-Äußerliches in sich die Kraft besitzt, in dieser Weise ein »innerliches« Sein in sich

auszudrücken und es uns unmittelbar zu offenbaren“ (ibd.). Denn dies sollte man als

Phänomen, als Urphänomen des Ausdrucks, akzeptieren. Versucht man eine Antwort auf

die Frage zu geben, dann kann es geschehen, dass man das eigentliche Problem verkennt

und ihm einen „logischen Sachverhalt eines Analogieschlusses“ unterschiebt, oder man

eine andere Bezeichnung für dasselbe schafft, indem man „von einer symbolischen

»Einfühlung« des Inneren in das Äußere“ spricht (SP, 302).

Cassirer versteht auch die Reflexion nicht als bloßes Denken über die gegebenen

Anschauungsinhalte, sondern als eine, die „die Gestalt dieser Inhalte selbst mitbestimmt

und konstituiert“ (PsF III, 132). Er betont daher ausdrücklich die Funktion der

Wahrnehmung innerhalb der Erkenntniskritik:

„Sie [die erkenntniskritische Frage] geht nicht von den »Dingen« zu den»Phänomenen«, sondern von diesen zu jenen fort. Sie muß demnach dieWahrnehmung und ihre Beschaffenheit nicht als ,von außen‘ bedingt, sondernals bedingend, sie muß sie als konstitutives M ome n t der Dingerkenntnisnehmen.“ (PsF III, 69)

Wenn die Wahrnehmung so betrachtet wird, dann soll sie von vornherein „als eine Art

objektives Gefüge“ angenommen werden:

„Den ,Eigenschaften‘ der Dinge entsprechen bestimmte ,Qualitäten‘ derWahrnehmung. Diese letztere erscheint also in sich selbst schon als gegliedertund nach festen Hauptgestalten, nach bestimmten Grundklassen abgeteilt.Damit aber ist die Ding-Eigenschafts-Kategorie, die eine konstitutiveBedingung des theoretischen Naturbegr i f f s ist, schon in die reineDeskription, in die P hänome no log i e der Wahrnehmung hineingelegt. Siewird als ein ,Mannigfaltiges‘ beschrieben ― als ein Mannigfaltiges, in das erstdie synthetische Funktion der reinen Anschauung und die synthetischenEinheiten des reinen Verstandes Ordnung und Zusammenhang bringen sollen.“(PsF III, 70)

Auch die ‚Intention‘ will Cassirer so verstehen, dass sich die Intention ‚nach‘ dem

Gegenstand richtet, denn für ihn schließt der bloß ‚bestimmbare‘ Gegenstand schon

charakteristische Züge der theoretischen Bestimmung ein:

„Das Wesen der Wahrnehmung wird nach ihrer ,objektiven Gültigkeit‘bestimmt. [...] Die Wahrnehmung »verstehen« heißt sie als besonderes Glied

266

im Aufbau der Wirklichkeitserkenntnis begreifen ― heißt, ihr die Stellezuweisen, die ihr im Ganzen der Funktionen zukommt, auf denen die‚Beziehung aller unserer Erkenntnis auf den Gegenstand‘ beruht.“ (ibd.)

So zeigt sich nach Cassirer überall, wo die Beziehung zwischen ego und Welt, zwischen

Subjekt und Objekt entsteht, die perzeptorische Konstanz. Denn der Prozess der

Wahrnehmung ist für ihn nicht der Prozess der bloßen Reproduktion, sondern der einer

Objektivierung: „Perception is something altogether different from mere reflection of the

‚external‘ by the ‚internal‘. Perception is not a process of reflection or reproduction at all. It

is a process of objectification, the characteristic nature and tendency of which finds

expression in the formation of invariants.“ (CG, 19 f.)

Eingedenk der Invariantentheorie des Erlanger Programms, ist er der Ansicht, dass der

Prozess der Wahrnehmung nicht ein Akt der Perzeption der tabula rasa, sondern ein

komplexer Werdegang ist. Daher bedeutet für ihn die Konstanz der Wahrnehmung

(perceptual constancy),

„that we perceive the objects of our surroundings in approximately the samesize, the same shape, the same color, even if we change, to a considerableextent, the physical conditions. If I see an object at a certain distance a and, at alater moment, in a double distance b, the physiological conditions of the act ofseeing are altered. The image on the retina is considerably reduced in size — itis not only two times but four times as small. But I scarcely notice thisdifference; under usual conditions I ascribe to the object the same size as I didbefore. The same holds for the perception of colors.“ (RCG, 286 f.)

Man kann daraus festhalten, dass Cassirer die Invarianten, die ‚spezifischen Einheiten‘ im

Prozess der Wahrnehmung oder die Wahrnehmungskonstanz in der Mannigfaltigkeit der

Phänomene, analog zu der Invariantentheorie Kleins sucht. Die Erkenntnis besteht nicht

aus bloßem Abbilden oder einem Objekt, das schon für ein Existierendes gehalten wird.

Der Gehalt der Wahrnehmung, der nach dem ‚Linienzug‘ sich formt und dadurch

allmählich seine Invarianten gewinnt, soll im Begriff, im Allgemeinen und zugleich im

Besonderen enthalten sein. Somit verwandeln sich nach Cassirer die Invarianten der

Wahrnehmung zu Invarianten des Begriffs oder zu ‚Gesetzen‘ in der wissenschaftlichen

Erkenntnis. Denn das wissenschaftliche Denken sucht das Gesetz in der wissenschaftlichen

Erfahrungen. Das Beieinandersein der Eigenschaften der Wahrnehmung „verwandelt sich

in ein Verhältnis der wechselseitigen Bedingtheit; die qualitative Aufzeigung der

Konstanten wird durch funktionale Bestimmungen ergänzt und vertieft“ (ECN 2, 114). Die

267

Entwicklungen der modernen Naturwissenschaft sowie der theoretischen Physik im 19.

Jahrhundert dienen für Cassirer als Beispiele dafür, dass „der Primat des reinen

Gesetzesbegriffs vor dem Grössenbegriff immer schärfer herausgearbeitet wird“. Diesen

Gesetzesbegriff interpretiert Cassirer als „die Invarianz bestimmter fundamentaler

Gesetze“ (ECN 2, 116). Er sieht besonders in Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie,

dass der Weg der Entwicklung des Invariantenbegriffs ein Ende gefunden hat: „Die

Wirklichkeitserkenntnis hat freilich einen langen und müseligen Weg zu durchmessen, um

von dem ‚Dingbegriff‘ der Wahrnehmung zum ‚Substanzbegriff‘ der klassischen Physik

und von diesem letzteren zum ‚Invariantenbegriff‘ der allgemeinen Relativitätstheorie zu

gelangen.“ (ECN 2, 118) Man kann somit nicht leugnen, dass ein bestimmtes Problem der

Erkenntnis immer den Prozess von der Wahrnehmung bis zur Invariantenbildung des

Begriffs durchläuft. Dieser Prozess verläuft dann, wie Cassirer ihn beschreibt, von den

„primitiven »Ausdruckskonstanzen«“ aus der Erscheinung „zur ‚Farben- und

Grössenkonstanz der Sehdinge‘ und weiter zu den Materialkonstanten, den universellen

Konstanten und den allgemeinsten, gegen alle Koordinatentransformationen invarianten

Gesetzen der Naturerkenntnis“ (ECN 2, 118). Cassirer ist also der Ansicht, dass die

Invarianten der Wahrnehmung durch Tätigkeit des Geistes die Invarianten des Begriffs

bilden.

4.4. Cassirers philosophische Systematik und ‚Basisphänomene‘

In PsF wird der Prozess zur wissenschaftlichen Begriffsbildung durch die drei

Dimensionen oder Stufen der Funktion von Symbol und Zeichen charakterisiert, wobei die

Funktion der Sprache jeweils nach den drei Stufen der symbolischen Formung mimisch,

analogisch und symbolisch aufgefasst wird. Man kann diese Betrachtungsweise Cassirers,

die eng mit den drei Dimensionen oder Sphären der symbolischen Formen verknüpft ist,

als seine Systematik der Erklärung oder als seine Methodik der Interpretation der

‚Phänomene‘ bezeichnen. Wie bereits erwähnt, zeigt sich in PsF nicht nur diese Systematik

recht deutlich, sondern auch in welchem Zusammenhang die Theorie der Begriffsbildung

mit den drei Stufen der Objektivierung der Erkenntnis in SuF steht (vgl. 1.5). So erfahren

diese eine Erweiterung und Festigung in PsF. Cassirer ordnet hier auch die

naturwissenschaftlichen Begriffsformen in ihrer Entwicklungsgeschichte in drei Stationen

ein, indem er diese nach den ‚Kategorien‘ der Sprachform, nämlich mimisch, analogisch

268

und symbolisch stufenweise ordnet. Die ‚eigentliche‘ symbolische Form der

Begriffsbildung gehört der letzten Phase der Entwicklung an.

Der Prozess der Sprachbildung beginnt in Bezug auf die anschauliche Welt mit den

onomatopoetischen Bildungen, indem die Sprache sich unmittelbar mit dem Inhalt der

anschaulichen Welt erfüllt und „sie diesen Inhalt gewissenmaßen in sich selber einströmen

läßt“ (PsF III, 527). Sie versucht einen bestimmten objektiven Vorgang zu zeigen, hält

dann bestimmte physiognomische Charaktere fest und macht diese durch die Lautbildung

kenntlich. Die Sprache bringt „in den V er hä l tn i s s en der Laute die Verhältnisse der

äußeren Gegenstände in irgendeiner Weise zum Ausdruck“ (PsF III, 528). So geht der

mimische Ausdruck in den analogischen Ausdruck über und wird zum Schluss zum rein

symbolischen Ausdruck. Diesen Fortgang formuliert Cassirer auch anders, nämlich dass

die Sprache vom Ausdruckssinn zum reinen Darstellungssinn fortgehe und sie von diesem

beständig dem ‚dritten Reich‘, dem Reich der reinen Bedeutung zustrebe.

Für Cassirer begann die wissenschaftliche Entwicklung im Sinne der exakten Wissenschaft

mit Galilei und Kepler, sowie Newton und Huyghens, die Begründer der klassischen

Mechanik sind. Er sieht die Leistung der Wissenschaftler darin, dass sie „den Schritt von

der empirischen Anschauung zur ‚reinen Anschauung‘“ vollzogen haben, und dass sie „die

Welt nicht als eine Mannigfaltigkeit von Wahrnehmungen, sondern als eine solche von

Gestalten, von Figuren und Größen,“ gefasst haben (PsF III, 530). Dies geschah aber mit

der Beschränkung auf die ‚Gegebenheit‘ des reinen Raumes. Der reine Raum diente „zum

Vorbild und Schema für den Aufbau all der geometrischen und mechanischen

Einzelmodelle“ (ibd.). Auf diese ‚Modelle‘ führte die klassische Physik die Vielheit der

empirischen Erscheinungen zurück, und in denen sah sie den eigentlichen Prototyp aller

wissenschaftlichen Naturerklärung.

Der Fortgang, von der mechanischen Naturanschauung zur modernen Naturwissenschaft,

führte indes noch einen Schritt weiter: „Er schaffte einen Typus des Naturbegreifens, in

dem nicht nur die besonderen Sinnesdaten ausgeschaltet sind, sondern in dem auch die

Anlehnung an die Welt der »Anschauung« in ihrer früheren Form aufgegeben ist.“ Die

universellen Naturbegriffe seien so gestaltet, dass sie sich jeder Möglichkeit einer direkten

Veranschaulichung entziehen. Die Naturbegriffe enthalten „allgemeine und allgemeinste

Zuordnungs-P r inz ip i e n [ . . . ] , deren Gehalt aber keinerlei unmittelbarer Darstellung in

der Anschauung fähig ist“ (PsF III, 530). Hierin liegt auch der spezifische Sinn dieser

Phase der naturwissenschaftlichen Entwicklung. Damit ist Cassirer der Ansicht, dass auf

diesen Entwicklungsgang der naturwissenschaftlichen Begriffsformen die drei Stufen der

269

Sprachformen angewandt werden können.

Um dies deutlich zu machen, skizziert er die Entwicklung der Form des Naturbegriffs

innerhalb der philosophischen Gedankensysteme angefangen bei Aristoteles über Descartes

und Leibniz bis Kant. Die Begriffsformen dieser Zeit stehen für die mimische und

analogische Phase. Der symbolischen Phase gehört die Weiterentwicklung der

Naturwissenschaft seit dem 19. Jahrhundert an, die aber keine entsprechende

philosophische Reflexion findet.

Die neuere Philosophie beginnt mit der Ablösung der alten aristotelischen Denkform der

Physik, deren Grundbegriffe nur als rein sprachliche ‚Merkmals-Begriffe‘ bezeichnet

werden können. Die Aristotelische Lehre der ‚Elemente‘ klassifiziere die sinnlichen Daten

und fasse sie in Gruppen, Arten und Gattungen; sie nehme aber an ihnen keinen

eigentlichen Gestaltwandel, keine gedankliche Umprägung vor. Die neuere Philosophie

löst diese alte klassische Denkform auf, indem sie nicht ihre Ergebnisse sondern ihre

‚Voraussetzungen‘ bestreitet. Dies begann damit, dass die Philosophie Descartes’ „die

Herrschaft des Weltbildes der ‚substantiellen Formen‘“ zerstörte (PsF III, 532). Descartes

orientiert sich an der Geometrie und so stellt sich das Begreifen der Naturwelt „durch eine

Mannigfaltigkeit der Form, durch einen geom e t r i schen S che mat i smus “ dar (PsF III,

533). Somit seien alle Elemente der Empfindung in diesem Schematismus durch Elemente

der reinen Anschauung ersetzt worden. Dass Descartes einen „Ersatz der »Empfindung«

durch rein anschauliche Schemata“ (ibd.) fordere, sei eine Grund- und Leitidee seiner

Physik gewesen. So wurde über die räumliche Anschauung der Weg zu einer ‚rationalen‘

Analyse der Naturerscheinungen weitergeführt und so wurde für Descartes offensichtlich,

dass auch seine Einsicht ihr Ende fand, sobald die geometrische Konstruierbarkeit der

Phänomene aufhörte.

Leibniz orientiert sich an der Arithmetik, daher bedeutet für ihn der Begriff ‚Form‘ nicht

die ‚Raumform‘ wie bei Descartes, sondern die logische Form, die strenge Gesetzlichkeit

der Form. Diese Gesetzlichkeit der Form ermöglicht ein exaktes Begreifen der

Mannigfaltigkeit und somit kann sie durch ‚ordnende Relation‘ bestimmt werden. Die

Aufgabe der Wissenschaftslehre Leibnizens besteht darin, den „Inbegriff dieser Relationen

in systematischer Vollständigkeit aufzustellen und jeder einzelnen von ihnen ihre Struktur,

ihren allgemeinen logischen »Typus« zu bestimmen“ (PsF III, 534). Von diesem

Standpunkt aus kritisiert Leibniz die Grundlage des Cartesischen Natursystems, nämlich,

dass auch die Cartesische Naturerklärung wie schon bei Aristoteles die Schranken der

sinnlichen Empfindung nicht überschritten habe. Der Cartesischen Definition der Substanz

270

stellt er die Meinung gegenüber, dass sie die Grenze des anschaulich-Darstellbaren nicht

überschritten habe und dass „sie damit die »Einbildungskraft«, die »Imagination« zur

Richterin über den Verstand mache. Eine wahrhafte T heo r i e der Natur aber könne erst

erlangt werden, wenn wir gelernt haben, von beiden Schranken: den sinnlichen sowohl wie

den anschaulichen, abzusehen“ (PsF III, 535). Leibniz wirft der Cartesischen Lehre auch

vor, dass sie sich nicht von den Körpern, von dem Bild der ausgedehnten Masse, lösen

kann.

Die empirische Physik bei Leibniz habe sich aber auf den Verlauf der Geschichte der

Physik nicht weiter ausgewirkt, obschon er in seinem philosophischen Gedankensystem

die oben angeführte Forderung aufgestellt habe. Cassirers Ansicht nach lässt sich

Leibnizens Beitrag zur Physik auf dessen Formulierung des Satzes der „Erhaltung der

lebendigen Kraft“ reduzieren (PsF III, 536). Leibniz führe aber seinen Kraftbegriff nicht

auf das Problem der ‚Materie‘ oder des physischen Körpers sondern auf das Problem der

‚Monade‘ zurück.627 Diese metaphysische Wendung kann nach Cassirer für den Fortgang

des naturwissenschaftlichen Denkens keinen unmittelbaren Ertrag haben.

Auch in Kants Begriff der ‚reinen Anschauung‘ herrsche wie bei Descartes die

geometrische Konstruktion vor. Bei Kant könne kein Begriff des Verstandes Anspruch auf

empirische Wahrheit, auf objektive Gültigkeit erheben, ohne dass er sich in der

Anschauung ‚schematisiert‘. Dieses ‚realisierende‘ Schema sei zugleich ein

„restringierendes“ Schema. Es halte „den Begriff innerhalb der Schranken der räumlich-

zeitlichen D ar s t e l l ba r ke i t “ fest (PsF III, 536). Somit schließe bei Kant auch der

Begriff der Substanz lediglich die Form einer intellekuellen Synthesis in sich und er sei der

oberste unter den reinen Verhältnisbegriffen, die den Gegenstand der Erfahrung

konstituieren. Denn der Begriff der Substanz gehöre bei Kant zu den ‚Analogien der

Erfahrung‘, und um diese Leistung vollbringen zu können, bedürfe er der Anknüpfung an

bestimmte räumlich-zeitliche Schemata. Damit wird die ‚Beharrlichkeit‘ zur notwendigen

Bedingung, „unter welcher allein Erscheinungen als Gegenstände in einer möglichen

Erfahrung bestimmbar sind“ (PsF III, 537). Cassirer ist der Ansicht, dass das Prinzip, auf

das Kant seine ‚transzendentale Deduktion der Kategorien‘ stützt, für sich allein nicht

hinreicht, um die naturwissenschaftliche stoffliche Veränderung oder die ‚Gleichsetzung‘,

die Kant selbst als Beispiel628 angibt, zu begründen. Kant nimmt in diesem Beispiel die

627 Vgl. LS, Zweiter Teil, sechstes Kapitel. Der Begriff der Kraft. 628 Kant (W1990), S. 223. KrV, A 185/ B 228: „Ein Philosoph wurde gefragt: wie viel wiegt der Rauch? Er

antwortet: ziehe von dem Gewichte des verbrannten Holzes das Gewicht der übrigbleibenden Asche ab,so hast du das Gewicht des Rauchs. Er setzte also als unwidersprechlich voraus: daß, selbst im Feuer,die Materie (Substanz) nicht vergehe, sondern nur die Form derselben eine Abänderung erleide.“

271

Materie als Substanz, als beharrliches Etwas an, das sich trotz der Veränderung, „als

»dasselbe«, als mit sich identisch wiedererkennen“ lässt (PsF III, 537). Seine Vorstellung

von etwas Beharrlichem im Dasein sei wesentlich durch sein geschichtliches Verhältnis zur

Newtonschen Lehre mitbedingt.

Im 19. Jahrhundert, also in der ‚symbolischen‘ Phase der Entwicklung des

naturwissenschaftlichen Begriffs, gibt es Cassirers Meinung nach kein großes

repräsentatives philosophisches Gedankensystem, an welchem man den Stand der

naturwissenschaftlichen Prinzipien- und Methodenlehre gewissermaßen direkt ablesen

kann. In dieser Phase hat das Verhältnis zwischen Begriff und Anschauung letztlich eine

neue Bestimmung erhalten und „gegenüber dem Ideal der naturwissenschaftlichen

Erkennntis, auf das die klassische Mechanik hinzielte, eine wesentliche Verschiebung“

erfahren (PsF III, 538). Um dies zu verdeutlichen, führt Cassirer die begriffliche

Entwicklung in der Physik in den Theorien von Duhem, Helmholtz, R. Mayer, Planck und

Einstein aus und geht auf verschiedene Theorien, wie die Theorien über das

Energieprinzip, die Theorien des Äthers und der Feldphysik ein.629 Hieraus ergibt sich, dass

die ‚geistige Gesamtstruktur‘ der Physik dieser Zeit eher eine der ‚Physik der Prinzipien‘,

als eine ‚Physik der Bilder und Modelle‘ genannt werden muss, anders formuliert, dass sich

die Physik in dieser Zeit nicht mehr an der Theorie der Modelle, die stets den Bildern

anhaften, orientiert sondern an den Prinzipien. Hierin liegt auch der Grund dafür, dass

Cassirer in SuF die Begriffsbildung als Reihenbildung bezeichnet und von ihrem

Reihenp r inz ip spricht. Er interpretiert besonders die ‚Realität‘ in der Feldphysik als

„Ausdruck für einen Inbegriff physikalischer Re la t i onen “ (PsF III, 545).

Cassirer streicht aber die empirische Anschauung nicht, sondern betont dagegen das

Anwendungsproblem des Prinzips: „Der Sinn des Prinzips muß sich zuletzt empirisch und

somit anschaulich erfüllen; aber diese Erfüllung ist niemals direkt möglich, sondern kann

nur in der Weise geschehen, daß aus der Annahme seiner Gültigkeit durch eine

hypothetische Deduktion andere Sätze hergeleitet werden.“ (PsF III, 540) Das heißt, ein

Prinzip der Naturerklärung gehört „gewissermaßen schon seiner allgemeinen logischen

Dimension nach, einem andern Kreise der Geltung an“. „Es spricht sich nicht in einem

Begriff, sondern in einem Ur t e i l aus: es findet erst in einem allgemeinen S a t z seinen

Ausdruck.“ (PsF III, 539 f.) Cassirer begründet damit, dass keiner dieser Sätze in diesem

Fortgang einer direkten anschaulichen Interpretation fähig zu sein braucht: denn „[n]ur als

logische G esa mt he i t läßt sich die Reihe der Folgerungen auf die Anschauung beziehen

629 Vgl. PsF III, S. 538-547; vgl. auch ZER und DuI.

272

und an ihr bewähren und rechtfertigen.“ (PsF III, 540) Er vergleicht daher dieses

physikalische Denken mit dem sprachlichen Denken und erkennt dabei eine analoge

gedankliche Leistung, nämlich dass die Physik den Bereich der Darstellung oder der

Darstellbarkeit endgültig verlassen hat und die symbolische Dimension erreicht:

„Der Schematismus der Bilder ist dem Symbolismus der Prinzipien gewichen.Der empirische Ur s p r ung der modernen physikalischen Theorie ist durchdiese Einsicht natürlich nicht im mindesten angetastet. Aber die Physik handeltjetzt nicht mehr unmittelbar von dem Daseienden als dem inhaltlich-Wirklichen, sondern sie handelt von dessen »Gefüge«, von seiner formalenVerfassung.“ (PsF III, 547)

Damit stellt sich die Ordnung der Welt auch als eine von ‚Ereignissen‘ dar, nicht als ein

Beisammen von Dingeinheiten.630 Was man als letztes physisch-Reales definiert, hat in der

symbolischen Phase jeden Schein der Dinghaftigkeit von sich abgestreift. Das bedeutet

aber nicht den Verzicht auf die Dinglichkeit und die damit verbundene Objektivität der

Physik. Die Objektivität der Physik ist jetzt „kein Problem der Da rs t e l l ung , sondern sie

ist ein reines Bedeu t ungs pr ob l e m. Was wir den Gegenstand nennen, das ist nicht

länger ein schematisierbares, ein in der Anschauung realisierbares »Etwas« mit bestimmten

räumlichen und zeitlichen Prädikaten, sondern es ist ein rein gedanklich zu erfassender

Einheitspunkt.“ (PsF III, 554) Cassirer verweist an diesem Punkt auf sein Werk SuF und

betont wiederholt seinen Invariantsgedanken:

„Alles »Substantielle« ist hier rein und vollständig ins Funktionale umgewandt:das, wovon wahrhaft und endgültig »Beharrlichkeit« ausgesagt wird, ist keinDasein mehr, das sich im Raume und in der Zeit ausbreitet, sondern es sindjene Größen und Größenbeziehungen, die die universellen Konstanten fürjegliche Beschreibung des physikalischen Geschehens bilden. Die Invarianzsolcher Beziehungen, nicht die Existenz irgendwelcher Einzelwesen, bildet dieletzte Schicht der Objektivität.“ (PsF III, 554)

Somit bestätigt die naturwissenschaftliche Entwicklung für Cassirer, dass sich innerhalb

ihres eigenen Kreises ein allgemeines Aufbaugesetz des Geistes zeigt, nämlich die Energie

des Geistes, die symbolische Formung des Geistes.

Man stellt sich an dieser Stelle die Frage, warum Cassirer von den ‚drei‘, nicht zwei oder

vier, Objektivitätsstufen oder den ‚drei‘ symbolischen Formen und den darauf basierenden

630 PsF III, S. 552: „Die Welt ist nicht mehr als eine Welt konstanter »Dinge« gefaßt, deren»Eigenschaften« in der Zeit wechseln, sondern sie ist zu einem in sich geschlossenen System von»Ereignissen« geworden.“

273

‚drei‘ Symbolfunktionen oder, wie oben, den ‚drei‘ Phasen der naturwisssenschaftlichen

Entwicklung spricht.

Die ‚Triade‘, die Cassirers philosophische Systematik in SuF und in PsF bildet, beruht auf

den drei ‚Basisphänomenen‘, nämlich dem Ich-Phänomen, dem Wirkens-Phänomen und

dem Werk-Phänomen. Im nachgelassenen Manuskript ‚Über Basisphänomene‘ in der

Schrift Zur Metaphysik der symbolischen Formen beruft sich Cassirer explizit auf Johann

Wolfgang Goethe und macht dessen drei Maximen 391 bis 393631 zum Ausgangspunkt

seiner Basisphänomene. Bei den Maximen geht es um einen „Aufbau des Lebens“, indem

Antworten auf die Fragen „nach der Art seines S e i n s und nach der Art, wie es uns selbst

und anderen e rkennbar ist“ und „nach der Art des Wi s s ens , die wir von ihm gewinnen

können“ gesucht werden (ECN 1, 123).

Cassirer sieht in den Maximen eine „dreifache G ra dabs t u fung“ und rekonstruiert aus

dem ‚Urphänomen‘ Goethes, nämlich aus dem Leben, dem Erlebten und den Handlungen

seine Basisphänomene von Ich, Wirken und Werk. ‚Leben‘ schreitet durch diese drei

Phänomene fort. Im ‚Ich-Phänomen‘ sei Leben in Form des ‚monadischen‘ Seins gegeben,

aber das Leben der Monas bleibe nicht in sich verschlossenes Dasein. Das Sein sei kein

Stehendes, sondern es sei eine strömende Bewegtheit des Bewusstseins. Es bezeuge sich in

Wirkung und Gegenwirkung: „Wir »erleben« nicht nur uns selbst, sondern wir erleben

etwas, das uns entgegensteht, widersteht – und aus diesem Wi de r s t and erwächst uns erst

das Bewusstsein vom Ge gen - S t and .“ (ECN 1, 134) Das Wirken und Handeln, also das

‚Wirkens-Phänomen‘ sei ein zweites wesentliches, konstitutives Moment in unserem

‚Wirklichkeitsbewusstsein‘. Und letztlich geht es im ‚Werk-Phänomen‘ um die Frage, wie

wir anderen kenntlich werden. Dies kann „nur durch die Ob je k t i v i e r ung , durch das

»Werk«, das wir schaffen“ möglich sein, und nur „in unserem Wer k sind wir andern

kennbar“ (ECN 1, 125). Die Sphäre der Werke sei der Durchgang und die eigentliche

631 ECN 1, S. 336 f. (Anm. 217): aus Goethe, Maximen und Reflexionen. 1907, S. 76 f.: „391. Das Höchste,was wir von Gott und der Natur erhalten haben, ist das Leben, die rotirende Bewegung der Monas umsich selbst, welche weder Rast noch Ruhe kennt; der Trieb, das Leben zu hegen und zu pflegen, isteinem jeden unverwüstlich eingeboren, die Eigenthümlichkeit desselben jedoch bleibt uns und andernein Geheimniß. 392. Die zweite Gunst der von oben wirkenden Wesen ist das Erlebte, das Gewahrwerden, dasEingreifen der lebendig-beweglichen Monas in die Umgebungen der Außenwelt, wodurch sie sich erstselbst als innerlich Gränzenloses, als äußerlich Begränztes gewahr wird. Über dieses Erlebte können wir,obgleich Anlage, Aufmerksamkeit und Glück dazu gehört, in uns selbst klar werden; andern bleibt aberauch dieß immer ein Geheimniß.393. Als Drittes entwickelt sich nun dasjenige, was wir als Handlung und That, als Wort und Schriftgegen die Außenwelt richten; dieses gehört derselben mehr an als uns selbst, so wie sie sich darüberauch eher verständigen kann, als wir es selbst vermögen; jedoch fühlt sie, daß sie, um recht klar darüberzu werden, auch von unserm Erlebten soviel als möglich zu erfahren habe. Weßhalb man auch aufJugendanfänge, Stufen der Bildung, Lebenseinzelheiten, Anekdoten und dergleichen höchst begierigist.“

274

Vermittlung zur Sphäre des objektiven Seins. Aus dem ‚Werk-Bewusstsein‘ erwachse das

eigentliche ‚Sach-Bewusstsein‘.

Diese drei Basisphönomene oder Urphänomene sind für Cassirer die Quellen der

Wirklichkeitserkenntnis und „die Weisen, die M od i de r Ve r mi t t l ung selbst“ und

auch die „Fenster“ der Wirklichkeitserkenntnis (ECN 1, 132). Sie sind damit die

Basisphänomene der Wahrnehmung, die uns den Zugang zur Wirklichkeit eröffnen:

„Wahrnehmung ist das Einzige, was uns Wirklichkeit e rschliesst – wir ‚schliessen‘ nicht

(logisch-formal) von ihr auf Wirklichkeit – sondern sie ist das, was Wirklichkeit

aufschliesst“ (ECN 1, 118). Damit wird deutlich, dass die Wahrnehmung innerhalb

Cassirers philosophischen Systems eine sehr bedeutende Rolle spielt. Als tragende Einsicht

der Überlegungen Cassirers zu den Basisphänomenen zeigt sich nach Schwemmer

einerseits „der Wahrnehmungs- oder auch Erfahrungsbezug aller philosophischen

Erkenntnis“ und andererseits „die Notwendigkeit, diesen Erfahrungsbezug über seine

Partialität hinaus zu erweitern, zu totalisieren“.632

Cassirers terminologische Bezeichnungen der drei Basisphänomene können in Anlehnung

an Schwemmer in drei Gruppen eingeordnet werden. Die erste Gruppe ist die von

Bewusstseinsleben, in der Cassirer von Ich, Wirken und Werk spricht. Die zweite Gruppe

ist die von Ich, Du und Es oder die des ‚Selbst‘, des ‚Anderen‘ (des Fremdpsychischen)

und der ‚Welt‘ (objektive Wirklichkeit), die mit der Gruppe von ‚Intuition‘, ‚Aktion‘ und

‚Kontemplation‘ verbunden wird. Die letzte Gruppe ist die von ‚Ausdruck‘, ‚Darstellung‘

und ‚Bedeutung‘.633

Somit ist deutlich geworden, warum Cassirer in seinem Werk PsF nur drei symbolische

Formen, Mythos, Sprache und theoretische Erkenntnis, aufgenommen hat. Man kann

festhalten, dass Cassirer unter anderem die drei symbolischen Formen für typische

‚Formen‘ der Objektivierungsstufen der Erkenntnis hält und diese auf den drei

Basisphänomenen beruhen.

632 Schwemmer (1997), S. 201.633 Vgl. Schwemmer (1997), S. 205. Schwemmer merkt auch an, dass die letzte Gruppe nur gelegentlich

und mit gewissen Einschränkungen zu Cassirers Interpretation der drei Basisphänomene benutzt wird.

275

Resümee

Die Begriffsbildung in der aristotelischen traditionellen Logik ist dadurch gekennzeichnet,

dass der allgemeine Begriff durch die Klassifikation von Gattungen und Arten gewonnen

wird, wobei nur die Ähnlichkeit der Merkmale zwischen ‚Dingen‘ berücksichtigt wird.

Durch diese Klassifikation entsteht ein reziprokes Verhältnis zwischen Inhalt und Umfang

des Begriffs, das letztlich zu einem inhaltsärmeren Allgemeinbegriff, dem allgemeinen

Gattungsbegriff führt, und zugleich das Besondere seine spezifische Bedeutung verlieren

lässt. Der allgemeinste Begriff besitzt somit keine auszeichnende Eigentümlichkeit und

Bestimmtheit und führt folglich nicht zur Bestimmung der Gegenstände. In der

aristotelischen traditionellen Logik erhebt er trotz seiner Inhaltsarmut dennoch Anspruch

auf die ganze Wirklichkeit, welche sich letztlich als eine Wirklichkeit der ‚Substanz‘

herausstellt. Den Substanzbegriff in der traditionellen Logik interpretiert Cassirer als

‚Dingbegriff‘, als ‚Abbild‘ der sinnlichen Gegenstände und deshalb lehnt er ihn und seinen

Begriffsrealismus strikt ab. Es muss an dieser Stelle betont werden, dass Cassirers

Augenmerk in seiner Kritik am ‚Substanzbegriff‘ besonders auf die ‚dingliche‘

Substanzauffassung gerichtet ist.

Dem substantiellen Gattungsbegriff stellt Cassirer in SuF seinen Funktionsbegriff

gegenüber, um durch ihn die gegenständliche Geltung der Erkenntnis und damit deren

Objektivität gewinnen zu können. Der Funktionsbegriff oder Reihenbegriff soll die

Besonderheiten der Inhalte achten und die Zusammenhänge dieser Besonderheiten als

notwendig erweisen. Darüber hinaus soll er eine universelle Regel für die Verknüpfung des

Besonderen bereitstellen, die dadurch gewonnen wird, dass man das Allgemeine und das

Besondere unter Korrelation betrachtet. Letztlich soll sich der allgemeine Begriff als der

inhaltsreichere erweisen.

Der Funktionsbegriff in der Begriffstheorie in SuF gleicht dem Zuordnungs- und

Gesetzesbegriff, der die naturwissenschaftliche Begriffsbildung kennzeichnet. Dabei

erkennt Cassirer, dass dieser Begriff der allgemeinen Form des ,Begriffs überhaupt‘ nicht

genügen kann und eine ‚kritische Revision‘ benötigt. So ist der Symbolbegriff in PsF eine

erweiterte, revidierte Form des Begriffs, die sowohl für die Geisteswissenschaften als auch

für die Naturwissenschaften, also für die allgemeine Begriffsform steht. Dieser

Symbolbegriff wird in drei Stufen, Ausdrucks-, Darstellungs- und Bedeutungsfunktion,

gebildet und erreicht in der letzten Stufe seinen höchsten Grad der Objektivität.

276

Hervorzuheben ist die Rolle der Wahrnehmung bei dieser Begriffsbildung, deren Funktion

Cassirer im Prozess des Erkennens von Anfang an als einen Urteilsakt interpretiert.

Charakteristisch für Cassirers Begriffstheorie ist, dass es dieser Theorie nicht um den

Begriff an sich, sondern um die Begriffsbildung und die ‚Begriffslogik‘ der

gegenständlichen Erkenntnis geht. Die Begriffslogik bemüht sich, die Beziehung, die

Korrelation zwischen Allgemeinem und Besonderem, zwischen Bewusstsein und

Gegenstand offenzulegen und die Frage zu klären, wie das ‚Ich‘ die ‚Welt‘ aufnehmen,

verstehen und zur Wahrheit des Wissens gelangen kann.

Der an Poncelet anschließende Korrelationsgedanke Cassirers (vgl. 3.3.3, 150) tritt bei der

Begriffsbildung deutlich hervor, insofern als die Korrelation zwischen ‚Begreifen‘ und

‚Beziehen‘ als die reine Form des Gedankens verstanden wird. Der Begriff soll eine

bestimmte Richtung vorgeben und den ‚Gesichtspunkt‘ angeben, unter dem eine

Mannigfaltigkeit von Inhalten gefasst wird. Er bedeutet für Cassirer nicht nur ein gebahnter

Weg, sondern bildet auch eine Methode, ein Verfahren der ‚Bahnung selbst‘.

In der vorliegenden Arbeit wurde versucht, diese Hauptgedanken Cassirers

herauszuarbeiten. Während der Analyse des Symbolbegriffs ist deutlich geworden, dass es

sich bei diesem Begriff um einen komplexen Begriff handelt, der eigentlich unsere

Tätigkeit des Geistes repräsentiert. Insgesamt unterlag die Untersuchung der

Einschränkung, dass Leibnizens Einfluss auf den Symbolbegriff und die Zeichentheorie

nicht im gewünschten Umfang berücksichtigt werden konnte, da dies allein ein

umfangreiches Unternehmen ist, das über den eigentlichen Rahmen der Arbeit

hinausgegangen wäre.

Cassirer erklärt die Funktion des Symbolbegriffs mit der des Zeichens, wobei auch das

Zeichen über die drei Dimensionen der Ausdrucks-, Darstellungs- und Bedeutungsfunktion

stufenweise Objektivität erreichen soll. Während der Untersuchung stellte sich heraus, dass

die Funktion des Zeichens unerwartet nach und nach an Bedeutung gewann. Cassirers

Zeichentheorie ist nicht eine, die durch sprachliche Semiotik geklärt werden kann,

vielmehr basiert sie auf den wissenschaftlichen Theorien von Helmholtz und Hilbert. Es

muss an dieser Stelle jedoch eingeräumt werden, dass in der vorliegenden Arbeit die

Zeichentheorie nur in dem Umfang berücksichtigt wurde, wie es für die eigentliche

Untersuchung notwendig war. Eine vollständige Untersuchung über Cassirers

Zeichentheorie kann eine Aufgabe für die Zukunft sein, da die Forschung über selbige noch

am Anfang steht.

Die Wahrnehmungstheorie, deren besondere Bedeutung sich im Zuge der Untersuchung

277

der Symbolfunktion herauskristallisierte, nimmt innerhalb Cassirers Begriffstheorie einen

wichtigen Platz ein. Seine Kritik an Kants ‚Wahrnehmungsurteil‘ macht seinen Standpunkt

deutlich. Während Kant zwischen Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteil unterscheidet,

verknüpft Cassirer die Funktion der Wahrnehmung eng mit der Symbolfunktion, worin für

ihn eine grundlegende Funktion der Erkenntnis liegt. In seinen nachgelassenen Schriften

wird deutlich, dass die Phänomenologie der Wahrnehmung, die er in PsF betont, mit den

‚Basisphänomenen‘ zusammenhängt. Ausgehend von Goethes Maximen erläutert Cassirer

die mit Wahrnehmung zusammenhängende geistige Tätigkeit und die Denkleistung

innerhalb der Wissenschaften, wobei sich die drei Stufen der Objektivität der Erkenntnis

deutlich zeigen. Bild, Schema und Symbol sind die Begriffe, die für die drei Stufen der

Begriffsbildung stehen und die drei symbolischen Formen, Mythos, Sprache und

wissenschaftliche Erkenntnis in PsF kennzeichnen.

Die gegenwärtige Forschung über Cassirer zeigt zum einen, dass diese noch lange nicht

abgeschlossen ist und zum anderen, dass sich ihre Hauptrichtung dadurch auszeichnet,

Cassirers Philosophie als eine Kulturphilosophie aufzufassen. Dennoch vermisst man, dass

Cassirers Erkenntistheorie als Teil dieser Kulturphilosophie angesehen wird. An dieser

Stelle muss nochmal betont werden, dass sein philosophischer Grundgedanke ohne Bruch

von der Erkenntniskritik, dem Erbe aus der Marburger Schule, bis zur späteren

Kulturphilosophie erhalten bleibt. Dies macht auch Cassirers holistische Auffassung der

Wissenschaften deutlich.

Demgegenüber weisen die Kritiker, die von unterschiedlichen Standpunkten aus an

Cassirers Philosophie der symbolischen Formen Kritik üben, auf unterschiedliche Mängel

hin (vgl. Einleitung, 6; 3.4.2, 176 f; 3.5.2.2; 3.6 ). Wie Bermes bereits anmerkt, werfen die

Kritiker Cassirer auch vor, dass „die Auswahl der empirischen Beispiele willkürlich ist, die

Argumentationsebenen nicht klar getrennt werden, das Verhältnis von Logik und Sprache

nicht genau besprochen wird und Cassirer in die Nähe psychologistischer Auffassungen

gerät“.634 Wie in der Kritik an der symbolischen Prägnanz (3.5.2.2) und am Symbolbegriff

(3.6) gezeigt wurde, basierten manchmal aber kritische Bemerkungen auf

Missverständnissen. Der Betrachtungsweise der meisten Kritiker ist gemeinsam, dass sie

von ihren festen Standpunkten aus, ohne dabei andere Aspekte zu berücksichtigen, an

634 Bermes (1997), S. 169. Bermes verweist auf Orth (1985), S. 173; Göller (1986) S. 125 f.; Graeser(1994), S. 135; Wolandt (1964), S. 626; Strauss (1984), S. 30. Michael Strauss weist zudem darauf hin,dass bei Cassirer die „Art der Identität zwischen Ausdruck und Ausgedrücktem [...] nicht genügendgeklärt“ ist und die „Dichotomie Rezeptivität–Spontaneität [...] nicht überwunden“ wird. Darüber hinausführt er an, dass dieser nicht gezeigt habe, „wie der Ausdruck eine Verbindung zwischen Symbol undSymbolisiertem und zwischen Zeichen und Bezeichnetem herstellen kann“.

278

Cassirers Philosophie der symbolischen Formen Kritik üben. Auch die Kritik am

Funktionsbegriff (2.3) zeigt, dass dies der Fall ist. Man möchte mit Cassirers Worten

anmerken, dass das „‚Verstehen von Ausdruck‘ [...] wesentlich früher als das ‚Wissen von

Dingen‘“ ist (PsF III, 74).

Volker Gerhardt hebt am Schluss seines Aufsatzes Die Einheit des Wissens Cassirers

holistische Auffassung hervor. Cassirer hatte es nicht nötig, wie Gerhardt betont, „gegen

den Geist zu polemisieren, um dennoch den Begriff der Kulturwissenschaften zu

favorisieren“.635 Man kann nach Gerhardt die Kulturwissenschaften bei Cassirer, wie in

Essay on Man gezeigt, als Humanwissenschaften bezeichnen. Die Studien Cassirers zur

Relativitätstheorie, zum Erkenntnisproblem innerhalb der Wissenschaften sowie seine

Untersuchungen in Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik haben

deutlich gamacht, „dass Wissenschaft letztlich darauf beruht, keine festen Grenzen zu

akzeptieren“.636

Bei Cassirers Theorie des Begriffs geht es im Grunde genommen um die Erweiterung des

Wissens durch die Funktion der Begriffe, die gemäß den Stufen der Objektivierung

gebildet werden und somit um die kontinuierliche Entwicklung der Wissenschaften. Mit

der Hervorhebung der ‚Aktivität‘ oder ‚Tätigkeit‘ des Geistes, indem seine Gedanken oft

auf Platons Ideenlehre zurückgreifen, will Cassirer eine Phänomenologie der Erkenntnis,

die auf ‚Basisphänomene‘ basiert, aufstellen.

635 Gerhardt (2007), S. 14.636 Gerhardt (2007), S. 14.

279

B i b l i o g r a p h i e

1. Werke Ernst Cassirers

AuK : Aristoteles und Kant. In: Kant-Studien 16 (1911), S. 431-447.

BmD : Die Begriffsform im mythischen Denken. Studien der Bibliothek Warburg.Herausgegeben von Fritz Saxl. Leipzig/ Berlin, 1922. Auch in WWS, S. 1-70.

BsF : Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften. In:Vorträge der Bibliothek Warburg 1921-22. Leipzig, 1923. Auch in WWS, S. 169-200. Zitiert nach WWS.

CG : The Concept of Group and the Theory of Perception. In: Philosophy andPhenomenological Research vol. V (1944), pp. 1-35. Translated from Le Conceptde Groupe et la Théorie de la Perception. In: Journal de Psychologie, Juillet-Decembre 1938 (S. 368-414).

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Lebenslauf

1955: Geboren in Taegu, Süd Korea

1970 – 1973: Kyungbuk Girls’ High School in Taegu

1973 – 1978: Studium der Anglistik (inklusive Lehramt ) an der

Yeungnam University in Kyungsan, Kyungbuk

1981 – 1984: Magisterstudium der Philosophie an der Yeungnam

University, Graduate School in Kyungsan, Kyungbuk

1978 – 1987: Tätigkeit als Englischlehrerin

1989 – 1993: Studium der Philosophie, Anglistik und Koreanistik

an der Ruhr-Universität Bochum

1993 – 1997: Lektorin für Koreanisch an der Ruhr-Universität Bochum,

Fakultät für Ostasienwissenschaften (Wissenschaftliche An-

gestellte)

1998 – 2009: Studium der Philosophie, Anglistik und Koreanistik

an der Ruhr-Universität Bochum (Promotion )