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Das 19. Jahrhundert Aus der Sicht der Gegenwart ist das Bild des romantischen 19. Jahrhunderts zu berichtigen. Schon in den ersten heiden Jahrzehnten erlebte Europa durch Napoleon eine ideelle Erschütte- rung von größtem Ausmaß und weitreichenden politischen Folgen. Von Beginn an waren die Auswirkungen widerspruchsvoll: nationale Demütigung - aber bald auch Heldenverehrung. Der Hoffnung auf die Verwirklichung bürgerlicher Rechte und Freiheiten stand das Erstarken kon- servativer Staatsprinzipien gegenüber. Das Mißglücken der Aufstände von 1830 und 1843 führte zu sozialen Spannungen in der Gesell- schaft: zu biedermeierischer Resignation und Selbstgefälligkeit einerseits und zum Aufkommen eines proletarischen Selbstbewußtseins (Kommunistisches Manifest 1848) andererseits. Dieses wiederum stand in Verbindung mit dem rapiden Aufschwung der Technik, d.h. der Industriali- sierung, aus der sich ein sprunghaftes Anwachsen der Großstädte ergab, das sich bis heute unauf- haltsam fortgesetzt hat. Schließlich ist auch noch ein nationaler Aufbruch, das Erwachen eines völkischen Selbstbewußtseins, in vielen Staaten zu vermerken. Alle diese Anzeichen teilweise widerspruchsvoller Bestrebungen haben sich in der Musik des 19. Jahrhunderts eindrucksvoll niedergeschlagen und sind am Geist und Gehalt bedeutender Kom- positionen unschwer aufzuzeigen. Gemüthaft empfindsamen Komponisten (Mendelssohn, Schumann) mit ihren zarten Träumerei- en f,.Sommernachtstraum", .. Träumerei", "Mondnacht") steht als anders gearteter Musiker- typ der weltmännisch gewandte Virtuose gegenüber. Um 1830 fand er in Niccolo Paganini eine geradezu dämonische Verkörperung, die völlig neue Maßstäbe nicht nur für eine an Hexerei grenzende technische Bravour setzte, sondern auch für das Publikumsverhalten, das sich oft bis zur Raserei steigerte . . l1lJr 1111' brSllirlil: mir .• Inb tnllüdit! Öit .liinÖ gilt un, anrürkt. Das Hamburger Pub likum bei einem Konzert von Jenny Lind, 1845 (Museum für Hamburgische Geschichte). Die Karikatur ist weniger ein Dokument über Jenny Lind, die eine bedeutende und keineswegs effektsüchtige Sängerin und Schauspielerin war, als vielmehr über ein Publikum, dem der Zeichner einen Massenwahn unterstellt, dessen Motive nicht ausschließlich musikalischer Natur sind. Der Enthusiasmus der Herren wird von den wenigen Damen, die eher indignien aussehen, nicht geteilt; das Orchesternachspiel, für das der Dirigent vergeblich um Erbarmen bittet, erstickt im ausbrechenden Applaus. 84

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  • Das 19. Jahrhundert

    Aus der Sicht der Gegenwart ist das Bild des romantischen 19. Jahrhunderts zu berichtigen. Schon in den ersten heiden Jahrzehnten erlebte Europa durch Napoleon eine ideelle Erschütte-rung von größtem Ausmaß und weitreichenden politischen Folgen. Von Beginn an waren die Auswirkungen widerspruchsvoll: nationale Demütigung - aber bald auch Heldenverehrung. Der Hoffnung auf die Verwirklichung bürgerlicher Rechte und Freiheiten stand das Erstarken kon-servativer Staatsprinzipien gegenüber. Das Mißglücken der Aufstände von 1830 und 1843 führte zu sozialen Spannungen in der Gesell-schaft: zu biedermeierischer Resignation und Selbstgefälligkeit einerseits und zum Aufkommen eines proletarischen Selbstbewußtseins (Kommunistisches Manifest 1848) andererseits. Dieses wiederum stand in Verbindung mit dem rapiden Aufschwung der Technik, d.h. der Industriali-sierung, aus der sich ein sprunghaftes Anwachsen der Großstädte ergab, das sich bis heute unauf-haltsam fortgesetzt hat. Schließlich ist auch noch ein nationaler Aufbruch, das Erwachen eines völkischen Selbstbewußtseins, in vielen Staaten zu vermerken.

    Alle diese Anzeichen teilweise widerspruchsvoller Bestrebungen haben sich in der Musik des 19. Jahrhunderts eindrucksvoll niedergeschlagen und sind am Geist und Gehalt bedeutender Kom-positionen unschwer aufzuzeigen. Gemüthaft empfindsamen Komponisten (Mendelssohn, Schumann) mit ihren zarten Träumerei-en f,.Sommernachtstraum", .. Träumerei", "Mondnacht") steht als anders gearteter Musiker-typ der weltmännisch gewandte Virtuose gegenüber. Um 1830 fand er in Niccolo Paganini eine geradezu dämonische Verkörperung, die völlig neue Maßstäbe nicht nur für eine an Hexerei grenzende technische Bravour setzte, sondern auch für das Publikumsverhalten, das sich oft bis zur Raserei steigerte .

    . l1lJr 1111' brSllirlil: mir .• Inb tnllüdit! Öit .liinÖ gilt un, ~tll ;Jio~f anrürkt. Das Hamburger Publikum bei einem Konzert von Jenny Lind, 1845 (Museum für Hamburgische Geschichte). Die Karikatur ist weniger ein Dokument über Jenny Lind, die eine bedeutende und keineswegs effektsüchtige Sängerin und Schauspielerin war, als vielmehr über ein Publikum, dem der Zeichner einen Massenwahn unterstellt, dessen Motive nicht ausschließlich musikalischer Natur sind. Der Enthusiasmus der Herren wird von den wenigen Damen, die eher indignien aussehen, nicht geteilt; das Orchesternachspiel, für das der Dirigent vergeblich um Erbarmen bittet, erstickt im ausbrechenden Applaus.

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  • DAS KLAVIERBEGLEITETE SOLOLIED

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    Franz Schuben. "Gretchen am Spinnrad". Lied D 118 (Autograph)

    Schuberts erste Vertonung eines Textes von Johann Wolfgang von Goethe, ein Monolog des Gretchens aus »Faust«, sollte zugleich sein erstes Meisterwerk werden. Im Jahre 1916 sandte Schubert dieses Lied und andere Goethe-Gesänge (darunter auch "Erlkönig" und "Heidenröslein") an den Dichter; die Sendung wurde jedoch ohne Anwort zurückgeschickt. (Hinweis: Weitere Beispiele für Schubert-Lieder in Bd. 1, S. 156 ff.)

    Die Geschichte des klavierbegleiteten Sololiedes als einer selbständigen Kunstgattung, die sich von der früheren Gebundenheit an das gesellschaftliche Musizieren ablöst, beginnt erst im 19. Jahrhun-dert mit Franz Schubert und fällt damit in die Zeit der Romantik. Das deutsche Lied seit Schubert besitzt übernationale Anerkennung und Bedeutung. Seine größten Vertreter nach Schubert sind Schumann, Brahms und Hugo Wolf. Es entwächst zunehmend dem Charakter der Hausmusik und wird zum Konzertlied, das ebenbürtig neben Sinfonie, Kammermusik und Klaviermusik steht. Das romantische Lied: Charakteristisch sind hauptSächlich vier Eigenarten, die nur dem Anscheine nach gegensätzlicher Natur sind und von der Romantik als Einheit aufgefaßt werden: 1. Die Flucht aus der Realität des täglichen Lebens in das Unwirkliche, Phantastische, 2. das künstlerische Nacherleben der Vorzeit in Sage, Geschichte, Volkslied, 3. die Nachahmung schlichter Volkstümlichkeit in Gedicht und Musik, 4. die Entfaltung eines neuen Naturgefühls. Das Ziel des Komponisten ist es, den Ausdrucks- und Stimmungsgehalt des Gedichtes mit musikali-schen Mitteln auszudeuten und neu zu erfüllen. Durch die VerbinduT"O von Wort und Musik ent-steht eine ganz neue künstlerische Einheit als organische Verschmelzung. Das Klavier tritt als gleichberechtigter Faktor neben die Singstimme: ganz neue Möglichkeiten tonpoetischer Deutung, selbständige, z.T. ausgedehnte Vor-, Zwischen- und Nachspiele, Ausbildung von Begleitfiguren als Tonmalerei, charakterisierende Rhythmik, Differenzierung der Harmonik im Dienste des Aus-drucks. Bereits von Schubert werden die verschiedenen Liedtypen festgelegt, die die späteren Lied-meister des 19. Jahrhunderts lediglich weiter ausgestalten. Künstlerisch wird das Lied durch Schu-bert zur Vollendung seiner Möglichkeiten geführt. Er erschließt dem Lied universal alle Lebensge-biete, um sie voll auszuschöpfen. K.H. Wörner, "Geschichte der Musik", Göningen 1975

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  • Gegenüber Schubert erfolgt bei Robert Schumann (1810-1856) eine Steigerung der Ausdrucks-mittel des Klaviers . Schumann besitzt die größte Meisterschaft in der kurzen Skizzierung der Stim-mung oder Person. Er liebt die Zusammenstellung von Gedichten zu Liederreihen und Liederkrei-sen: Dichterliebe (opA8, Heine), Liederkreis(op. 24, Heine), Myrthen (op. 25 , verschiedene Dich-ter), Liederkreis (op. 39, Eichendorff), Frauenliebe und Leben (op. 42, Chamisso).

    HD 52: Robert Schumann, "Mondnacht", aus »Liederkreis« op. 39 Nr. 5 .,Sämdkhe lieder nach Texten von Eichendorff" , D. Fischer-Dieskau I G. Moore, EMI IC063.Q0274

    Abdruck aus: EP 2383a Robert Schumann, Lieder I. Zart, heimlich Abdruck mit Genehmigung von C.F. Pelcrs Musikverlag. Frankfurt

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  • AUFGABEN: 1. Wir bestimmen die Form des Liedes. 2. In welchem Verhältnis stehen Singstimme und Begleitung? 3. Was können wir über die Gestaltung der Klavierstimme sagen?

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  • HB 53: Johannes Brahms, "Sapphische Ode" (Hans Schmidt), op. 94, Nr. 4 "Brahms-Lieder", Christa Ludwig I Geoffrey Parsons, EMI IC063-020IS

    Ziemlich langsa m (Orig. Tonart )

    ~ - , - :------Ro -senbrad\ Ich namts nur am dunk-Ien Ha gej Auch der Küs-se Duft midI wie nie be ruck - te, -- --'" --=---Klavier 'P ' -'-~ - -f

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    AUFGABE: Wodurch ist die rhythmische Gestaltung der Klavierstimme geprägt? In welchem Ver-hältnis steht die Singstimme zur Begleitung?

    Johannes Brahms (1833-1897) ist der Repräsentant einer konservativen, klassizistischen Rich-tung der Liedkomposition im Anschluß an Schumann. Für ihn ist das Strophenlied die wichtigste Liedform. Bei seinen Liedern lassen sich drei Gruppen unterscheiden: 1. ernste Lieder. meist in Strophenform mit schlichter. untergeordneter Begleitung (Feldeinsam-

    keif), 2. zahlreiche Volksliedbearbeitungen für Singstimme und Klavier (Die Blümelein, sie schlafen), 3. heitere, überwiegend strophisch gebaute Lieder (Vergebliches Ständchen, Der Schmied).

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  • HB 54: Hugo Wolf, "Verschwiegene Liebe" (losef von Eichendorft) "Hermann Prey singt HUIO Wolr", Phi lips 6520 017 ,.,,, -'':~~i~''