GA 05 - FRIEDRICH NIETZSCHE - EIN KÄMPFER GEGEN SEINE ZEIT - Rudolf Steiner

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    Rudolf Steiner

    GA 05Friedrich Nietzsche

    Ein Kmpfer gegen seine Zeit

    Dornach, (CH). Rudolf-Steiner-Verlag, 1963

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    INHALT

    Vorrede zur ersten Auflage

    Nietzsches Werke

    I. Der Charakter

    II. Der bermensch

    III. Nietzsches Entwicklungsgang

    1. Die Philosophie Nietzsches als Psycho-pathologisches Problem

    2. Friedrich Nietzsches Persnlichkeit und die Psycho-Pathologie

    3. Die Persnlichkeit Friedrich Nietzsches Eine Gedchtnisrede

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    Vorrede zur ersten Auflage

    Als ich vor sechs Jahren die Werke Friedrich Nietzsches kennen lernte, waren inmir bereits Ideen ausgebildet, die den seinigen hnlich sind. Unabhngig von ihm

    und auf anderen Wegen als er, bin ich zu Anschauungen gekommen, die imEinklang stehen mit dem, was Nietzsche in seinen Schriften: Zarathustra,Jenseits von Gut und Bse, Genealogie der Moral und Gtzen-Dmmerungausgesprochen hat. Schon in meinem 1886 erschienenen kleinen BucheErkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung kommt dieselbe Gesinnungzum Ausdruck wie in den genannten Werken Nietzsches.

    Dies ist der Grund, warum ich mich gedrngt fhlte, ein Bild von demVorstellungs- und Empfindungsleben Nietzsches zu zeichnen. Ich glaube, da einsolches Bild Nietzsche am hnlichsten dann wird, wenn man es seinen erwhntenletzten Schriften gem schafft. So habe ich es getan. Die frheren Schriften

    Nietzsches zeigen uns ihn alsSuchenden.Er stellt sich uns in ihnen dar als rastlosaufwrts Strebender. In seinen letzten Schriften sehen wir ihn auf dem Gipfelangelangt, der eine seiner ureigenen Geistesart angemessene Hhe hat. In denmeisten der bis jetzt ber Nietzsche erschienenen Schriften wird dessenEntwickelung so dargestellt, als ob er in den verschiedenen Zeiten seinerSchriftstellerlaufbahn voneinander mehr oder weniger abweichende Meinungengehabt htte. Ich habe zu zeigen versucht, da von einem Meinungswechsel bei

    Nietzsche nicht die Rede sein kann, sondern nur von einer Aufwrts-Bewegung,

    von der naturgemen Entwickelung einer Persnlichkeit, die noch nicht die ihrenAnschauungen entsprechende Ausdrucksform gefunden hatte, als sie ihre erstenSchriften schrieb.

    Das Endziel von Nietzsches Wirken ist die Zeichnung des Typus bermensch.Diesen Typus zu charakterisieren, habe ich als eine der Hauptaufgaben meinerSchrift betrachtet. Mein Bild des bermenschen ist genau das Gegenteil desZerrbildes geworden, das in dem augenblicklich verbreitetsten Buche ber

    Nietzsche von Frau Lou Andreas-Salomentworfen ist. Man kann nichts demNietzscheschen Geiste mehr Zuwiderlaufendes in die Welt setzen, als das

    mystische Ungetm, das Frau Salom aus dem bermenschen gemacht hat. MeinBuch zeigt, da in Nietzsches Ideen nirgends auch nur die geringste Spur vonMystik anzutreffen ist.

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    Auf die Widerlegung der Ansicht von Frau Salom, da Nietzsches Gedanken inMenschliches, Allzumenschliches von den Ausfhrungen Paul Res, desVerfassers der Psychologischen Beobachtungen und des Ursprungs dermoralischen Empfindungen und so weiter, beeinflut seien, habe ich mich nicht

    eingelassen. Ein so mittelmiger Kopf wie Paul Re konnte auf Nietzsche keinenbedeutenden Eindruck machen. Ich wrde diese Dinge auch hier nicht berhren,wenn nicht das Buch von Frau Salom so viel beigetragen htte, geradezuwiderwrtige Ansichten ber Nietzsche zu verbreiten. F ritz Koegel, derausgezeichnete Herausgeber von Nietzsches Werken, hat im Magazin frLiteratur diesem Machwerke die gebhrende Abfertigung angedeihen lassen.

    Ich kann diese kurze Vorrede nicht beschlieen, ohne Frau Frster -Nietzsche,derSchwester Nietzsches, herzlichst zu danken fr die vielen Freundlichkeiten, die ich

    von ihr whrend der Zeit erfahren habe, in der meine Schrift entstanden ist. Den imNietzsche-Archiv in Naumburg verlebten Stunden verdanke ich die Stimmung,aus der heraus die folgenden Gedanken geschrieben sind.

    Weimar, April 1895

    Rudolf Steiner

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    Nietzsches Werke

    Ich fhre hier zur Orientierung die bis jetzt erschienenen und fr meineAusfhrungen in Betracht kommenden Schriften Nietzsches an und fge zu jeder

    einzelnen die Jahreszahl des Erscheinens der ersten Auflage hinzu.Die Geburt der Tragdie. Oder: Griechentum und Pessimismus. Die 1. Aufl.erschien 1872. Eine neue Ausgabe mit vorgedrucktem Versuch einer Selbstkritikerschien 1886.

    Unzeitgeme Betrachtungen. Erstes Stck: David Strau, der Bekenner undder Schriftsteller 1. Aufl. 1873. Zweites Stck: Vom Nutzen und Nachteil derHistorie fr das Leben 1. Aufl. 1874. Drittes Stck: Schopenhauer als Erzieher1. Aufl. 1874. Viertes Stck: Richard Wagner in Bayreuth 1. Aufl. 1876.

    Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch fr freie Geister 1. Band. 1. Aufl.1878. Eine neue Ausgabe mit einer einfhrenden Vorrede erschien 1886.

    Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch fr freie Geister 2. Band. Diebeiden Abteilungen dieses Buches: Vermischte Meinungen und Sprche undDer Wanderer und sein Schatten erschienen zuerst jede als besonderes Buch. Dieerste 1879 unter dem Titel: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch fr freieGeister. Anhang: Vermischte Meinungen und Sprche, die zweite 1880. BeideAbteilungen wurden 1886 zu einem Bande vereinigt, der mit einer einfhrendenVorrede versehen wurde und der den Titel trug: Menschliches,

    Allzumenschliches. Ein Buch fr freie Geister. Zweiter Band. Neue Ausgabe miteiner einfhrenden Vorrede.

    Morgenrte. Gedanken ber die moralischen Vorurteile 1. Aufl. 1881. NeueAusgabe mit einer einfhrenden Vorrede 1887.

    Die frhliche Wissenschaft (La gaya scienza). 1. Aufl. 1882. Neue Ausgabemit einer Vorrede 1887.

    Also sprach Zarathustra. Die Teile erschienen zuerst einzeln: 1. Teil 1883; 2. Teil

    1883; 3. Teil 1884. Die erste Gesamtausgabe der drei Teile erschien 1886. Dervierte Teil erschien 1885 in 40 Abzgen blo fr Freunde und erst 1891 als 1. Aufl.

    Jenseits von Gut und Bse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. 1. Aufl.1886.

    Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. 1.Aufl. 1887.

    Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem. 1. Aufl. 1888.

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    Gtzen-Dmmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert. 1. Aufl.1889.

    Nietzsche contra Wagner. Aktenstcke eines Psychologen. Erschien 1895 in der

    Gesamtausgabe zum ersten Mal. 1888 bereits einmal gedruckt, aber nichtausgegeben.

    Der Antichrist. Versuch einer Kritik des Christentums. Das erste Buch desunvollendeten Werkes Nietzsches Der Wille zur Macht. In der Gesamtausgabe(1895) zum erstenmal gedruckt.

    Gedichte. In der Gesamtausgabe 1895.

    Eine Gesamtausgabe von Nietzsches Werken in 8 Bnden ist 1895 bei C. G.Naumann in Leipzig erschienen. In derselben sind enthalten: Die Geburt der

    Tragdie, 4. Aufl.; die Unzeitgemen Betrachtungen, 3. Aufl.; Menschliches.Allzumenschliches, 1. u. 2. Bd., 4. Aufl.; Morgenrte 14 2. Aufl.; FrhlicheWissenschaft, 2. Aufl.; Zarathustra, 4. Aufl.; Jenseits von Gut und Bse, 5.Aufl.; Genealogie der Moral, 4. Aufl.; Der Fall Wagner, 3 Aufl.; Gtzen-Dmmerung, 3. Aufl.; Nietzsche contra Wagner; Antichrist; Gedichte.

    Die Verffentlichung der noch ungedruckten Arbeiten Nietzsches sowie seinerEntwrfe zu Arbeiten, seiner Fragmente und so weiter steht bevor.

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    I. Der Charakter

    1.

    F ri edrich Nietzsche charakterisiert sich selbst als einsamen Grbler undRtselfreund, als unzeitgemePersnlichkeit. Wer auf solchen eigenen Wegengeht, wie er, begegnet niemandem: das bringen die eigenen Wege mit sich.

    Niemand kommt, ihm dabei zu helfen; mit allem, was ihm von Gefahr, Zufall,Bosheit und schlechtem Wetter zustt, mu er allein fertig werden, sagt er in derVorrede zur zweiten Ausgabe seiner Morgenrte. Aber reizvoll ist es, ihm inseine Einsamkeit zu folgen. Die Worte, die er ber sein Verhltnis zuSchopenhauer ausgesprochen hat, mchte ich ber das meinige zu Nietzsche sagen:Ich gehre zu den Lesern Nietzsches, welche, nachdem sie die erste Seite von ihm

    gelesen haben, mit Bestimmtheit wissen, da sie alle Seiten lesen und auf jedesWort hren werden, das er berhaupt gesagt hat. Mein Vertrauen zu ihm war sofortda ... Ich verstand ihn, als ob er fr mich geschrieben htte: um mich verstndlich,aber unbescheiden und tricht auszudrcken. Man kann so sprechen und weitdavon entfernt sein, sich als Glubigen der Nietzscheschen Weltanschauung zu

    bekennen. Weiter allerdings nicht, als Nietzsche davon entfernt war, sich solcheGlubige zu wnschen. Legt er doch seinem Zarathustra die Worte in denMund:

    Ihr sagt, ihr glaubt an Zarathustra? Aber was liegt an Zarathustra! Ihr seid meineGlubigen: aber was liegt an allen Glubigen!

    Ihr hattet euch noch nicht gesucht: da fandet ihr mich. So tun alle Glubigen;darum ist es so wenig mit allem Glauben. Nun heie ich euch, mich verlieren undeuch finden; und erst, wenn ihr mich alle verleugnet habt, will ich euchwiederkehren.

    Nietzsche ist kein Messias und Religionsstifter; er kann deshalb sich wohl Freundeseiner Meinungen wnschen; Bekenner seiner Lehren aber, die ihr eigenes Selbst

    aufgeben, um das seinige zu finden, kann er nicht wollen.In Nietzsches Persnlichkeit finden sich Instinkte, denen ganze Vorstellungskreiseseiner Zeitgenossen zuwider sind. Von den wichtigsten Kulturideen derjenigen, inderen Mitte er sich entwickelt hat, wendet er sich ab mit einem instinktivenWiderwillen; und zwar nicht so, wie man eine Behauptung ablehnt, in der maneinen logischen Widerspruch entdeckt hat, sondern wie man sich von einer Farbeabwendet, die dem Auge Schmerz verursacht.

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    Der Widerwille geht von dem unmittelbaren Gefhl aus; die bewute berlegungkommt zunchst gar nicht in Betracht. Was andere Menschen empfinden, wennihnen die Gedanken:

    Schuld, Gewissensbi, Snde, jenseitiges Leben, Ideal, Seligkeit, Vaterland durchden Kopf gehen, wirkt auf Nietzsche unangenehm. Die instinktive Art derAbneigung gegen die genannten Vorstellungen unterscheidet Nietzsche auch vonden sogenannten Freigeistern der Gegenwart. Diese kennen alleVerstandeseinwnde gegen die alten Wahnvorstellungen; aber wie selten findetsich einer, der von sich sagen kann: seine I nstinktehngen nicht mehr an ihnen!Gerade die Instinkte sind es, die den Freigeistern der Gegenwart bse Streichespielen. Das Denken nimmt einen von den berlieferten Ideen unabhngigenCharakter an, aber die Instinkte knnen sich diesem vernderten Charakter des

    Verstandes nicht anpassen. Diese freien Geister setzen irgend einen Begriff dermodernen Wissenschaft an die Stelle einer lteren Vorstellung; aber sie sprechen sovon ihm, da man erkennt: der Verstand geht einen andern Weg als die Instinkte.Der Verstand sucht in dem Stoffe, in der Kraft, in der Naturgesetzlichkeit denUrgrund der Erscheinungen; die Instinkte aber verleiten dazu, diesen Wesengegenber dasselbe zu empfinden, was andere ihrem persnlichen Gotte gegenberempfinden. Geister dieser Art wehren sich gegen den Vorwurf der Gottesleugnung;aber sie tun es nicht deshalb, weil ihre Weltauffassung sie auf etwas fhrt, was mitirgend einer Gottesvorstellung bereinstimmt, sondern weil sie von ihrenVorfahren die Eigenschaft ererbt haben, bei dem Worte Gottesleugner ein

    instinktives Gruseln zu empfinden. Groe Naturforscher betonen, da sie dieVorstellungen: Gott, Unsterblichkeit nicht verbannen, sondern nur im Sinne dermodernen Wissenschaft umgestalten wollen. Ihre Instinkte sind eben hinter ihremVerstande zurckgeblieben.

    Eine groe Zahl dieser freien Geister vertritt die Ansicht, da der Wille desMenschen unfrei ist. Sie sagen: der Mensch muin einem bestimmten Falle sohandeln, wie es sein Charakter und die auf ihn einwirkenden Verhltnisse

    bedingen. Man halte aber Umschau bei diesen Gegnern der Ansicht vom freienWillen, und man wird finden, da sich die Instinkte dieser Freigeister von demVollbringer einer bsen Tat geradeso mit Abscheu abwenden, wie es dieInstinkte der anderen tun, die der Meinung sind: der freie Wille knne sich nachBelieben dem Guten oder dem Bsen zuwenden.

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    Der Widerspruch zwischen Verstand und Instinkt ist das Merkmal unserermodernen Geister. Auch in den freiesten Denkern der Gegenwart leben noch dievon der christlichen Orthodoxie gepflanzten Instinkte. Genau die entgegengesetztensind in Nietzsches Natur wirksam. Er braucht nicht erst darber nachzudenken, ob

    es Grnde gegen die Annahme eines persnlichen Weltenlenkers gibt. Sein Instinktist zu stolz, um sich vor einem solchen zu beugen; deshalb lehnt er eine derartigeVorstellung ab. Er spricht mit seinem Zarathustra: Aber da ich euch ganz meinHerz offenbare, ihr Freunde:wennes Gtter gbe, wie hielte ich's aus, kein Gott zusein! Also gibt es keine Gtter. Sich selbst oder einen andern wegen einer

    begangenen Handlung schuldig zu sprechen, dazu drngt ihn nichts in seinemInnern. Um ein solches schuldig unstatthaft zu finden, dazu braucht er keineTheorie vom freien oder unfreien Willen.

    Auch die patriotischen Empfindungen seiner deutschen Volksgenossen sindNietzsches Instinkten zuwider. Er kann sein Empfinden und Denken nicht abhngigmachen von den Gedankenkreisen des Volkes, innerhalb dessen er geboren underzogen ist; auch nicht von der Zeit, in der er lebt. Es ist so kleinstdtisch, sagt erin seiner Schrift Schopenhauer als Erzieher, sich zu Ansichten verpflichten,welche ein paar hundert Meilen weiter schon nicht mehr verpflichten. Orient undOkzident sind Kreidestriche, die uns jemand vor unsre Augen hinmalt, um unsereFurchtsamkeit zu narren. Ich will den Versuch machen, zur Freiheit zu kommen,sagt sich die junge Seele; und da sollte es sie hindern, da zufllig zwei Nationensich hassen und bekriegen, oder da ein Meer zwischen zwei Erdteilen liegt, oder

    da rings um sie eine Religion gelehrt wird, welche doch vor ein paar tausendJahren nicht bestand. Die Empfindungen der Deutschen whrend des Krieges imJahre 1870 fanden in seiner Seele einen so geringen Widerhall, da er, whrenddie Donner der Schlacht von Wrth ber Europa weggingen, in einem Winkel derAlpen sa, sehr vergrbelt und verrtselt, folglich sehr bekmmert undunbekmmert zugleich, und seine Gedanken ber die Griechen niederschrieb. Undals er einige Wochen darauf sich selbst unter den Mauern von Metz befand, warer immer noch nicht losgekommen von den Fragezeichen, die er zum Leben undder griechischen Kunst gesetzt hatte. (Vgl. Versuch einer Selbstkritik in der

    zweiten Auflage seiner Geburt der Tragdie.) Als der Krieg zu Ende war,stimmte er so wenig in die Begeisterung seiner deutschen Zeitgenossen ber denerrungenen Sieg ein, da er schon im Jahre 1873 in seiner Schrift ber DavidStrauvon den schlimmen und gefhrlichen Folgen des siegreich beendetenKampfes sprach.

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    Er stellte es sogar als einen Wahn hin, da auch die deutsche Kultur in diesemKampfe gesiegt habe, und er nannte diesen Wahn gefhrlich, weil, wenn er

    innerhalb des deutschen Volkes herrschend wird, die Gefahr vorhanden ist, denSieg in eine vllige Niederlage zu verwandeln: in die Niederlage, ja Exstirpationdes deutschen Geistes zugunsten des Deutschen Reiches.Das ist NietzschesGesinnung in einer Zeit, in der ganz Europa voll ist von nationaler Begeisterung. Esist die Gesinnung einer unzeitgemen Persnlichkeit, eines Kmpfersgegen seineZeit. Auer dem Angefhrten liee sich noch vieles nennen, was in NietzschesEmpfindungs- und Vorstellungsleben anders ist, als in dem seiner Zeitgenossen.

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    2.

    Nietzsche ist kein Denker im gewhnlichen Sinne des Wortes. Fr diefragwrdigen und tiefdringenden Fragen, die er der Welt und dem Leben

    gegenber zu stellen hat, reicht das bloe Denken nicht aus. Fr diese Fragenmssen alle Krfte der menschlichen Natur entfesselt werden; die denkendeBetrachtung allein ist ihnen nicht gewachsen. Zu blo erdachtenGrnden fr eineMeinung hat Nietzsche kein Vertrauen. Es gibt ein Mitrauen in mir gegenDialektik, selbst gegen Grnde, schreibt er am 2. Dezember 1887 an GeorgBrandes.(Vgl. dessen Menschen und Werke, S. 212.) Wer ihn um die Grndeseiner Ansichten fragt, fr den hat er Zarathustras Antwort bereit: Du fragstwarum? Ich gehre nicht zu denen, welche man nach ihrem Warum fragen darf.

    Nicht ob eine Ansicht logisch bewiesen werden kann, ist fr ihn magebend,

    sondern ob sie auf alle Krfte der menschlichen Persnlichkeit so wirkt, da sie frdas Leben Wert hat. Er lt einen Gedanken nur gelten, wenn er ihn geeignetfindet, zur Entwickelung des Lebens beizutragen. Den Menschen so gesund alsmglich, so machtvoll als mglich, so schpferisch als mglich zu sehen, ist seinWunsch. Wahrheit, Schnheit, alle Ideale haben nur Wert und gehen den Menschennur etwas an, insofern siel ebenf rderndsind.

    Die Frage nach demWerte der Wahr heittritt in mehreren Schriften Nietzsches auf.In der verwegensten Form wird sie in seinem Buche: Jenseits von Gut und Bsegestellt. Der Wille zur Wahrheit, der uns noch zu manchem Wagnisse verfhren

    wird, jene berhmte Wahrhaftigkeit, von der alle Philosophen bisher mitEhrerbietung geredet haben: was fr Fragen hat dieser Wille zur Wahrheit unsschon vorgelegt! Welche wunderlichen schlimmen fragwrdigen Fragen! Das ist

    bereits eine lange Geschichte und doch scheint es, da sie kaum eben angefangenhat. Was Wunder, wenn wir endlich auch mitrauisch werden, die Geduldverlieren, uns ungeduldig umdrehn? Da wir von dieser Sphinx auch unsrerseitsdas Fragen lernen? Werist das eigentlich, der uns hier Fragen stellt? Wasin unswill eigentlich zur Wahrheit? In der Tat, wir machten lange halt vor der Fragenach der Ursache dieses Willens bis wir, zuletzt, vor einer noch grndlicheren

    Frage ganz und gar stehen blieben. Wir fragten nach dem Werte dieses Willens.Gesetzt, wir wollen Wahrheit:waru m ni cht li eber Unwahrheit?

    Das ist ein Gedanke von kaum zu berbietender Khnheit. Stellt man daneben, wasein anderer khner Grbler und Rtselfreund, Johann Gottlieb Fichte,von demStreben nach Wahrheit sagt, so sieht man erst, wie tief aus dem Wesen dermenschlichen Natur Nietzsche seine Vorstellungen heraufholt.

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    Ich bin dazu berufen sagt Fichte der Wahrheit Zeugnis zu geben; anmeinem Leben und an meinen Schicksalen liegt nichts; an den Wirkungen meinesLebens liegt unendlich viel. Ich bin ein Priester der Wahrheit; ich bin in ihremSolde; ich habe mich verbindlich gemacht, alles fr sie zu tun und zu wagen und zu

    leiden. (Fichte, Vorlesungen ber die Bestimmung des Gelehrten, vierteVorlesung.) Diese Worte sprechen das Verhltnis aus, in das sich die edelstenGeister der abendlndischen neueren Kultur zur Wahrheit setzen. Nietzschesangefhrtem Ausspruch gegenber erscheinen sie oberflchlich. Man kann gegensie einwenden: Ist es denn nicht mglich, da die Unwahrheit wertvollereWirkungen fr das Leben hat, als die Wahrheit? Ist es ausgeschlossen, da dieWahrheit dem Leben schadet? Hat sich Fichte diese Fragen gestellt? Haben esandere getan, die der Wahrheit Zeugnis gegeben haben?

    Nietzsche aber stellt diese Fragen. Und er glaubt ber sie erst dann ins Reine zukommen, wenn er das Streben nach Wahrheit nicht als bloe Verstandessachebehandelt, sondern nach den Instinkten sucht, die dieses Streben erzeugen. Denn esknnte ja wohl sein, da sich diese Instinkte der Wahrheit nur als Mittel bedienten,um etwas zu erreichen, was hher steht, als die Wahrheit. Nietzsche findet,nachdem er lange genug den Philosophen zwischen die Zeilen und auf die Fingergesehn hat: Das meiste bewute Denken eines Philosophen ist durch seineInstinkte heimlich gefhrt und in bestimmte Bahnen gezwungen. Die Philosophenglauben, die letzte Triebfeder ihres Tuns sei das Streben nach Wahrheit. Sieglauben dies, weil sie nicht auf den Grund der menschlichen Natur zu sehen

    vermgen. In Wirklichkeit wird das Streben nach Wahrheit gelenkt von demWillen zur Macht. Mit Hilfe der Wahrheit soll die Macht und Lebensflle derPersnlichkeit erhht werden. Das bewute Denken des Philosophen ist derMeinung: die Erkenntnis der Wahrheit sei ein letztes Ziel; der unbewute Instinkt,der das Denken treibt, strebt nach Frderung des Lebens. Fr diesen Instinkt istdie Falschheit eines Urteils noch kein Einwand gegen ein Urteil; fr ihn kommtallein die Frage in Betracht: wie weit es lebenfrdernd, lebenerhaltend, Art-erhaltend, vielleicht gar Art-zchtend ist (Jenseits von Gut und Bse, 3 und4). Wille zur Wahrheit heit ihr's, ihr Weisesten, was euch treibt und brnstig

    macht?Wille zur Denkbarkeit alles Seienden: also heiei cheuren Willen!

    Alles Seiende wollt ihr erst denkbar machen: denn ihr zweifelt mit gutemMitrauen, ob es schon denkbar ist.

    Aber es soll sich euch fgen und biegen! So will's euer Wille. Glatt soll es werdenund dem Geiste untertan, als sein Spiegel und Widerbild.

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    Das ist euer ganzer Wille, ihr Weisesten, als ein Wille zur Macht ...(Zarathustra, 2. Teil, Von der Selbstberwindung.)

    Die Wahrheit soll die Welt dem Geiste untertan machen und dadurch dem Lebendienen. Nur als Lebensbedingung hat sie einen Wert. Kann man nicht aber noch

    weiter gehen und fragen: was ist das Leben selbst wert? Nietzsche hlt eine solcheFrage fr unmglich. Da alles Lebende so machtvoll, so inhaltreich leben will, alsirgend mglich ist, nimmt er als eine Tatsache hin, ber die er nicht weiter grbelt.Die Lebensinstinkte fragen nicht nach dem Werte des Lebens. Sie fragen nur:welche Mittel gibt es, um die Macht ihres Trgers zu erhhen. Urteile,Werturteile ber das Leben, fr oder wider, knnen zuletzt niemals wahr sein: siehaben nur Wert als Symptome, sie kommen nur als Symptome in Betracht an sichsind solche Urteile Dummheiten. Man mu durchaus seine Finger darnachausstrecken und den Versuch machen, die erstaunliche Finesse zu fassen, da der

    Wert des Lebens nicht abgeschtzt werden kann. Von einem Lebenden nicht, weilein solcher Partei, ja sogar Streitobjekt ist, und nicht Richter; von einem Totennicht, aus einem andren Grunde. Von seiten eines Philosophen im Wert desLebens ein Problem sehen, bleibt dergestalt sogar ein Einwurf gegen ihn, einFragezeichen an seiner Weisheit, eine Unweisheit. (Gtzen-Dmmerung,Das Problem des Sokrates.) Die Frage nach dem Werte des Lebens existiert nurfr eine mangelhaft ausgebildete, kranke Persnlichkeit. Wer allseitig entwickeltist,lebt,ohne zu fragen, wieviel sein Leben wert ist.

    Weil Nietzsche die beschriebenen Ansichten hat, deshalb legt er auf logische

    Beweisgrnde fr ein Urteil wenig Gewicht. Nicht darauf kommt es ihm an, ob sichdas Urteil logisch beweisen lt, sondern wie gut sich unter seinem Einflusse lebenlt. Nicht allein der Verstand, sondern die ganze Persnlichkeit des Menschen soll

    befriedigt werden. Die besten Gedanken sind diejenigen, welche alle Krfte dermenschlichen Natur in eine ihnen angemessene Bewegung bringen.

    Nur Gedanken dieser Art haben fr Nietzsche Interesse. Er ist kein philosophischerKopf, sondern ein Honigsammler des Geistes, der die Bienenkrbe derErkenntnis aufsucht und heimzubringen sucht, was dem Leben frommt.

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    3.

    In Nietzsches Persnlichkeit sind diejenigen Instinkte vorherrschend, die denMenschen zu einem gebietenden, herrischen Wesen machen. Ihm gefllt alles, was

    Macht bekundet; ihm mifllt alles, was Schwche verrt. Er fhlt sich nur so langeglcklich, als er sich in Lebensbedingungen befindet, die seine Kraft erhhen. Erliebt Hemmnisse, Widerstnde fr seine Ttigkeit, weil er sich bei ihrerberwindung seiner Macht bewut wird. Er sucht die beschwerlichsten Wege auf,die der Mensch gehen kann. Ein Grundzug seines Charakters ist in dem Sprucheausgedrckt, den er der zweiten Ausgabe seiner Frhlichen Wissenschaft auf dasTitelblatt gesetzt hat:

    Ich wohne in meinem eignen Haus,

    Hab niemandem nie nichts nachgemachtUnd lachte noch jeden Meister aus,Der nicht sich selber ausgelacht.

    Jede Art von Unterordnung unter eine fremde Macht empfindet Nietzsche alsSchwche. Und ber das, was eine fremde Macht ist, denkt er anders alsmancher, der sich als unabhngigen, freien Geist bezeichnet. Nietzscheempfindet es als Schwche, wenn der Mensch sich in seinem Denken und Handelnsogenannten ewigen, ehernen Gesetzen der Vernunft unterwirft. Was die allseitigentwickelte Persnlichkeit tut, das lt sie sich von keiner Moralwissenschaft

    vorschreiben, sondern allein von den Antrieben des eigenen Selbst. Der Mensch istin dem Augenblicke schon schwach, in dem er nach Gesetzen und Regeln sucht,nach denen er denken und handeln soll. Der Starke bestimmt die Art seinesDenkens und Handelns aus seinem eigenen Wesen heraus.

    Diese Ansicht spricht Nietzsche am schroffsten in Stzen aus, um derentwillen ihnkleinlich denkende Menschen geradezu als einen gefhrlichen Geist bezeichnethaben: Als die christlichen Kreuzfahrer im Orient auf jenen unbesiegbarenAssassinenorden stieen, jenen Freigeisterorden par excellence, dessen untersteGrade in einem Gehorsame lebten, wie einen gleichen kein Mnchsorden erreichthat, da bekamen sie auf irgend welchem Wege auch einen Wink ber jenes Symbolund Kerbholzwort, das nur den obersten Graden, als deren Sekretum, vorbehaltenwar:Nichts ist wahr, alles ist erlaubt.

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    Wohlan, das warFreiheitdes Geistes, damitwar der Wahrheit selbst der Glaubegekndigt... (Genealogie der Moral, 3. Abhandlung, 24.) Da diese Stze dieEmpfindungen einer vornehmen, einer Herrennatur zum Ausdruck bringen, die sichdie Erlaubnis, frei, nach ihren eigenenGesetzen zu leben, durch keine Rcksicht

    auf ewige Wahrheiten und Vorschriften der Moral verkmmern lassen will, fhlendiejenigen Menschen nicht, die, ihrer Art nach, zur Unterwrfigkeit geeignet sind.Eine Persnlichkeit, wie die Nietzsches ist, vertrgt auch jene Tyrannen nicht, diein der Form abstrakter Sittengebote auftreten. I chbestimme, wie ich denken, wieich handeln will, sagt eine solche Natur.

    Es gibt Menschen, die ihre Berechtigung, sich Freidenker zu nennen, davonherleiten, da sie sich in ihrem Denken und Handeln nicht solchen Gesetzenunterwerfen, die von anderen Menschen herrhren, sondern nur den ewigen

    Gesetzen der Vernunft, den unumstlichen Pflichtbegriffen oder dem WillenGottes. Nietzsche sieht solche Menschen nicht als wahrhaft starkePersnlichkeiten an. Denn auch sie denken und handeln nicht nach ihrer eigenen

    Natur, sondern nach den Befehlen einer hheren Autoritt. Ob der Sklave derWillkr seines Herrn, der Religise den geoffenbarten Wahrheiten eines Gottesoder der Philosoph den Aussprchen der Vernunft folgt, das ndert nichts an demUmstande, da sie alle Gehorchendesind. Was befiehlt, ist dabei gleichgltig; dasausschlaggebende ist, da berhaupt befohlen wird, da der Mensch sich nichtselbst die Richtung fr sein Tun gibt, sondern der Meinung ist, es gebe eine Macht,welche ihm diese Richtung vorzeichnet.

    Der starke, wahrhaft freie Mensch will die Wahrheit nicht empfangen er will sieschaffen; er will sich nichts erlauben lassen, er will nicht gehorchen. Dieeigentlichen Philosophen aber sind Befehlende und Gesetzgeber: sie sagen: sosoll es sein!; sie bestimmen erst das Wohin? und Wozu? des Menschen undverfgen dabei ber die Vorarbeit aller philosophischen Arbeiter, allerberwltiger der Vergangenheit, sie greifen mit schpferischer Hand nach derZukunft, und alles, was ist und war, wird ihnen dabei zum Mittel, zum Werkzeug,zum Hammer. Ihr Erkennen ist Schaffen,ihr Schaffen ist eine Gesetzgebung, ihrWille zur Wahrheit ist Wil le zur M acht. Gibt es heute solche Philosophen? Gabes schon solche Philosophen? M ues nicht solche Philosophen geben? (Jenseitsvon Gut und Bse, 211.)

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    4.

    Ein besonderes Zeichen menschlicher Schwche sieht Nietzsche in jeder Art vonGlauben an ein Jenseits, an eine andere Welt, als die ist, in der der Mensch lebt.

    Man kann, nach seiner Ansicht, dem Leben keinen greren Schaden tun, als wennman sein Leben im Diesseits im Hinblick auf ein anderes Leben im Jenseitseinrichtet. Man kann sich keiner greren Verirrung hingeben, als wenn man hinterden Erscheinungen dieser Welt Wesenheiten annimmt, die der menschlichenErkenntnis unzugnglich sind, und die als der eigentliche Urgrund, als dasBestimmende alles Daseins gelten sollen. Durch eine solche Annahme verdirbt mansich die Freude an dieser Welt. Man wrdigt sie zum Scheine, zu einem bloenAbglanz eines Unzugnglichen herab. Man erklrt die uns bekannte Welt, die fruns allein wirkliche, fr einen nichtigen Traum und schreibt die wahre Wirklichkeit

    einer ertrumten, erdichteten anderen Welt zu. Man erklrt die menschlichen Sinnefr Betrger, die uns Scheinbilder statt Wirklichkeiten liefern.

    Nur aus der Schwche kann eine solche Ansicht stammen. Denn der Starke, der festin der Wirklichkeit wurzelt, der seine Freude am Leben hat, wird es sich nicht inden Sinn kommen lassen, eine andere Wirklichkeit zu erdichten. Er ist mit dieserWelt beschftigt und bedarf keiner andern. Aber die Leidenden, die Kranken, dieunzufrieden sind mit diesem Leben, nehmen ihre Zuflucht zum Jenseits. Was ihnendas Diesseits entzogen hat, soll ihnen das Jenseits bieten. Der Starke, der Gesunde,der entwickelte und taugliche Sinne hat, um die Grnde dieser Welt in ihr selber

    aufzusuchen, der bedarf zur Erklrung der Erscheinungen, innerhalb derer er lebt,keiner jenseitigen Grnde und Wesenheiten. Der Schwache, der mit verkrppeltenAugen und Ohren die Wirklichkeit wahrnimmt, der braucht Ursachen hinter denErscheinungen.

    Aus dem Leiden und der kranken Sehnsucht ist der Glaube an das Jenseits geboren.Aus dem Unvermgen, die wirkliche Welt zu durchschauen, sind alle Annahmenvon Dingen an sich erwachsen.

    Alle, welche Grund haben, das wirkli cheLeben zu verneinen, sagen Jazu einemerdichteten. Nietzsche will ein Jasager gegenber der Wirklichkeit sein. DieseWelt will er durchforschen nach allen Richtungen, er will sich einbohren in dieTiefen des Daseins; von einem andern Leben will er nichts wissen. I hnkann selbstdas Leiden nicht veranlassen, Nein zum Leben zu sagen; denn auch das Leiden istihm ein Mittel der Erkenntnis.

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    Nicht anders, als es ein Reisender macht, der sich vorsetzt, zu einer bestimmtenStunde aufzuwachen, und sich dann ruhig dem Schlafe berlt: so ergeben wir

    Philosophen, gesetzt, da wir krank werden, uns zeitweilig mit Leib und Seele derKrankheit wir machen gleichsam vor uns die Augen zu. Und wie jener wei, dairgend etwas nicht schlft, irgend etwas die Stunden abzhlt und ihn aufweckenwird, so wissen auch wir, da der entscheidende Augenblick uns wach finden wird,

    da dann etwas hervorspringt und den Geist auf der Tatertappt, ich meine aufder Schwche oder Umkehr oder Ergebung oder Verhrtung oder Verdsterung,und wie alle die krankhaften Zustnde des Geistes heien, welche in gesundenTagen den Stolzdes Geistes wider sich haben... Man lernt nach einer derartigenSelbst-Befragung, Selbst-Versuchung, mit einem feineren Auge nach allem,

    worber berhaupt bisher philosophiert worden ist, hinsehn ... Vorrede zurzweiten Ausgabe der Frhlichen Wissenschaft.)

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    5.

    Dieser lebens- und wirklichkeitsfreundliche Sinn Nietzsches zeigt sich auch inseinen Anschauungen ber die Menschen und ihre gegenseitigen Beziehungen. Auf

    diesem Gebiete ist Nietzsche vollkommener Individualist. Jeder Mensch gilt ihmals eine Welt fr sich, ein Unikum. Das wunderlich bunte Mancherlei, das zumEinerlei vereinigt ist und uns als ein bestimmter Mensch entgegentritt, kann keinnoch so seltsamer Zufall ein zweites Mal in gleicher Weise zusammenschtteln.(Schopenhauer als Erzieher, 1.) Die wenigsten Menschen sind jedoch geneigt,ihre nur einmal vorhandenen Eigentmlichkeiten zu entfalten. Sie frchten sich vorder Einsamkeit, in die sie dadurch gedrngt werden. Es ist bequemer undgefahrloser, in gleicher Weise wie die Mitmenschen zu leben; man findet dannimmer Gesellschaft. Wer auf seine eigene Art sich einrichtet, wird von anderen

    nicht verstanden und findet keine Genossen. Fr Nietzsche hat die Einsamkeiteinen besonderen Reiz. Er liebt es, die Heimlichkeiten des eigenen Innernaufzusuchen. Er flieht die Gemeinschaft der Menschen. Seine Gedankengnge sindzumeist Bohrversuche nach Schtzen, die tief in seiner Persnlichkeit verborgenliegen. Das Licht, das andere ihm bieten, verschmht er; die Luft, die man da atmet,wo das Gemeinsame der Menschen, die Regel Mensch lebt, will er nichtmitatmen. Er trachtet instinktiv nach seiner Burg und Heimlichkeit, wo er von derMenge, den vielen, den allermeisten er lst ist. (Jenseits von Gut und Bse, 26.) In seiner Frhlichen Wissenschaft klagt er, da es ihm schwer ist, seineMitmenschen zu verdauen; und in Jenseits von Gut und Bse ( 282) verrt er,

    da er zumeist gefhrliche Verdauungsstrungen davontrug, wenn er sich an Tischesetzte, an denen die Kost des Allgemein-Menschlichen genossen wurde. DieMenschen drfen Nietzsche nicht zu nahe kommen, wenn er sie ertragen soll.

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    6.

    Nietzsche erklrt einen Gedanken, ein Urteil in derjenigen Form fr gltig, zu derdie freiwaltenden Lebensinstinkte ihre Zustimmung geben. Ansichten, fr die das

    Leben sich entscheidet, lt er sich durch keine logischen Zweifel nehmen.Dadurch erhlt sein Denken einen sichern, freien Zug. Es wird nicht beirrt durchBedenken wie: ob eine Behauptung auch objektiv wahr ist, ob sie die Grenzendes menschlichen Erkenntnisvermgens nicht berschreitet und so weiter. Wenn

    Nietzsche den Wert eines Urteiles fr das Lebenerkannt hat, dann fragt er nichtmehr nach einer weiteren objektiven Bedeutung und Gltigkeit desselben. Undwegen Grenzen des Erkennens macht er sich keine Sorgen. Er ist der Ansicht, daein gesundes Denken das schafft, was es schaffen kann, und sich nicht mit dernutzlosen Frage abqult: was kann ichnicht?

    Wer den Wert eines Urteils nach dem Grade bestimmen will, in dem es das Lebenfrdert, kann diesen Grad natrlich nur durch seine eigenen, persnlichenLebenstriebe und Lebensinstinkte festsetzen. Er kann nie mehr sagen wollen, als: in

    bezug auf meine Lebensinstinkte halte ich dieses bestimmte Urteil fr einwertvolles. Und Nietzsche will auch nie etwas anderes sagen, wenn er eine Ansichtausspricht. Gerade dieses sein Verhltnis zu seiner Gedankenwelt wirkt sowohltuend auf den freiheitlich gesinnten Leser. Es gibt Nietzsches Schriften denCharakter anspruchsloser, bescheidener Vornehmheit. Wie abstoend undunbescheiden klingt es daneben, wenn andere Denker glauben, ihre Person sei das

    Organ, durch das der Welt ewige, unumstliche Wahrheiten verkndet werden.Man kann in Nietzsches Werken Stze finden, die ein starkes Selbstbewutseinausdrcken, zum Beispiel: Ich habe der Menschheit das tiefste Buch gegeben, dassie besitzt, meinen Z arathustra:ich gebe ihr ber kurzem das unabhngigste. (Gtzen-Dmmerung, Streifzge eines Unzeitgemen, 51.) Was besagtdies aber aus seinem Munde? Ich habe es gewagt, ein Buch zu schreiben, dessenInhalt tiefer aus dem Wesen einer Persnlichkeit geholt ist, als das sonst beihnlichen Bchern der Fall ist; und ich werde ein Buch liefern, das unabhngigervon jedem fremden Urteil ist, als andere philosophische Schriften; denn ich werde

    ber die wichtigsten Dinge blo aussprechen, wie sich meine persnlichen Instinktezu ihnen verhalten. Das ist vornehme Bescheidenheit. Sie geht freilich denen widerden Geschmack, deren verlogene Demut sagt: ich bin nichts, mein Werk ist alles;ich bringe nichts von persnlichem Empfinden in meine Bcher, sondern ichspreche blo aus, was die reine Vernunft mich aussprechen heit. Solche Menschenwollen ihre Person verleugnen, um behaupten zu knnen, da ihre Aussprche dieeines hheren Geistes sind. Nietzsche hlt seine Gedanken fr Erzeugnisse seinerPerson und fr nicht mehr.

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    7.

    Die Fachphilosophen mgen ber Nietzsche lcheln oder ihre Meinungen ber dieGefahren seiner Weltanschauung zum besten geben. Manche dieser Geister,die nichts sind als personifizierte Lehrbcher der Logik, knnen natrlich

    Nietzsches aus den mchtigsten, unmittelbarsten Lebensimpulsen entspringendesSchaffen nicht loben. Nietzsche mit seinen khnen Gedankensprngen trifft

    jedenfalls auf tiefere Geheimnisse der menschlichen Natur, als mancher logischeDenker mit seinem vorsichtigen Kriechen. Was nutzt alle Logik, wenn sie mit ihrenBegriffsnetzen nur einen wertlosen Inhalt fngt? Wenn uns wertvolle Gedankenmitgeteilt werden, dann erfreuen wir uns an ihnen, wenn sie auch nicht mitlogischen Fden verknpft sind. Das Heil des Lebens hngt nicht allein von derLogik ab, sondern auch von der Gedankenerzeugung. Unsere Fachphilosophie istgegenwrtig unfruchtbar genug, und sie knnte die Belebung mit Gedanken eines

    mutigen, khnen Schriftstellers, wie es Nietzsche ist, sehr wohl brauchen. DieEntwickelungskraft dieser Fachphilosophie ist gelhmt durch den Einflu, den dasKantsche Denken auf sie genommen hat. Sie hat durch diesen Einflu alleUrsprnglichkeit, allen Mut verloren.Kanthat aus der Schulphilosophie seiner Zeitden Begriff von Wahrheiten, die aus der reinen Vernunft stammen, bernommen.Er hat zu zeigen versucht, da wir durch solche Wahrheit nichts wissen knnen vonDingen, die jenseits unserer Erfahrung liegen, von Dingen an sich. Seit einemJahrhundert ist nun unermelicher Scharfsinn aufgewendet worden, um diesenKantschen Gedanken nach allen Seiten durchzudenken. Die Erzeugnisse diesesScharfsinns sind allerdings oft drftig und trivial. bersetzte man die Banalittenmanches philosophischen Buches der Gegenwart aus den Schulformeln in einegesunde Sprache, so wrde sich ein solcher Inhalt gegenber manchem kurzenAphorismus Nietzsches armselig genug ausnehmen. Dieser konnte im Hinblick aufdie Philosophie der Gegenwart mit einem gewissen Recht den stolzen Satzaussprechen: Mein Ehrgeiz ist, in zehn Stzen zu sagen, was jeder andere ineinem Buche sagt was jeder andere in einem Buchemehrsagt ...

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    8.

    Wie Nietzsche in seinen eigenen Meinungen nichts geben will als ein Erzeugnisseiner persnlichen Instinkte und Triebe, so sind ihm auch fremde Ansichten nichts

    weiter als Symptome, aus denen er auf die in einzelnen Menschen oder ganzenVlkern, Rassen und so weiter vorwaltenden Instinkte schliet. Er macht sichnichts mit Diskussionen oder Widerlegungen fremder Meinungen zu schaffen.Aber er sucht die Instinkte auf, die sich in diesen Meinungen aussprechen. Er suchtdie Charaktere der Persnlichkeiten oder Vlker aus ihren Ansichten zu erkennen.Ob eine Ansicht auf das Vorwalten der Instinkte fr Gesundheit, Tapferkeit,Vornehmheit, Lebensfreude hinweist, oder ob sie aus ungesunden, sklavischen,mden, lebensfeindlichen Instinkten entspringt, das interessiert ihn. Wahrheiten ansich sind ihm gleichgltig; er kmmert sich darum, wie die Menschen ihre

    Wahrheiten ihren Instinkten gem ausbilden, und wie sie damit ihre Lebenszielefrdern. Die natrlichen Ursachen der menschlichen Ansichten will er aufsuchen.

    Nach dem Sinne jener Idealisten, die der Wahrheit einen selbstndigen Wertzuerkennen, die ihr einen reinen, hheren Ursprung als den aus den Instinktengeben wollen, ist Nietzsches Bestreben allerdings nicht. Er erklrt diemenschlichen Ansichten als das Ergebnis natrlicher Krfte, wie der Naturforscherdie Einrichtung des Auges aus dem Zusammenwirken natrlicher Ursachen erklrt.Eine Erklrung der geistigen Entwickelung der Menschheit aus besonderensittlichen Zwecken, Idealen, aus einer sittlichen Weltordnung erkennt er

    ebensowenig an, wie der Naturforscher der Gegenwart die Erklrung anerkennt,da die Natur das Auge deswegen in einer bestimmten Weise gebaut hat, weil siedenZweckhatte, dem Organismus ein Organ zum Sehen anzuerschaffen. In jedemIdeal sieht Nietzsche nur den Ausdruck fr einen Instinkt, der sich auf eine

    bestimmte Art seine Befriedigung sucht, wie der moderne Naturforscher in derzweckmigen Einrichtung eines Organes das Ergebnis organischerBildungsgesetze sieht. Wenn es gegenwrtig noch Naturforscher und Philosophengibt, die jedes Schaffen der Natur nach Zwecken ablehnen, aber vor dem sittlichenIdealismus halt machen und in der Geschichte die Verwirklichung eines gttlichen

    Willens, einer idealen Ordnung der Dinge sehen, so ist dies eine Instinkthalbheit.Solchen Personen fehlt fr die Beurteilung geistiger Vorgnge der richtige Blick,whrend sie ihn in der Beobachtung von Naturvorgngen zeigen. Wenn ein Menschglaubt, er strebe ein Ideal an, das nicht aus der Wirklichkeit stammt, so glaubt erdies nur, weil er den Instinkt nicht kennt, aus dem dieses Ideal entsteht.

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    Nietzsche ist Anti-Idealist in dem Sinne, wie der moderne Naturforscher Gegnerder Annahme von Zwecken ist, die die Natur verwirklichen soll. Er sprichtebensowenig von sittlichen Zwecken, wie der Naturforscher von Naturzweckenspricht. Nietzsche hlt es nicht fr weiser, zu sagen: der Mensch soll ein sittliches

    Ideal verwirklichen, wie zu erklren: der Stier hat Hrner, damit er stoen knne.Er betrachtet den einen wie den andern Ausspruch als Produkt einer Welterklrung,welche von gttlicher Vorsehung, weiser Allmacht, statt von natrlichenWirkungen spricht.

    Diese Welterklrung ist ein Hemmschuh fr alles gesunde Denken; sie schaffteinen erdichteten, idealen Nebel, der das natrliche, auf die Beobachtung derWirklichkeit gerichtete Sehvermgen hindert, die Weltvorgnge zu durchschauen;sie stumpft endlich vllig allen Wirklichkeitssinn ab.

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    9.

    Wenn Nietzsche sich in einen geistigen Kampf einlt, so will er nicht fremdeMeinungen als solche widerlegen, sondern er tut es, weil diese Meinungen auf

    schdliche, naturwidrige Instinkte hinweisen, die er bekmpfen will. Er hat dabeieine hnliche Absicht, wie sie jemand hat, der eine schdliche Naturwirkung

    bekmpft oder ein gefhrliches Naturwesen vertilgt. Er baut nicht auf dieberzeugende Kraft der Wahrheit, sondern darauf, da er den Gegner besiegenwird, wenn dieser die ungesunden, schdlichen Instinkte, er aber die gesunden,lebenfrdernden hat. Er sucht nach keiner weiteren Rechtfertigung eines solchenKampfes, wenn seine Instinkte die des Gegners als schdlich empfinden. Er glaubtnicht als Vertreter irgend einer Idee kmpfen zu mssen, sondern er kmpft, weilihn seine Instinkte dazu treiben. Zwar ist das bei keinem geistigen Kampfe anders,

    aber gewhnlich sind sich die Kmpfer der wirklichen Triebfedern ebensowenigbewut, wie die Philosophen sich ihres Willens zur Macht oder die Anhnger dersittlichen Weltordnung der natrlichen Ursachen ihrer sittlichen Ideale. Sieglauben, da lediglich Meinung gegen Meinung kmpft, und verhllen ihrewirklichen Motive durch Begriffsmntel. Sie nennen auch die Instinkte desGegners nicht, die ihnen unsympathisch sind, ja diese kommen ihnen vielleicht garnicht zum Bewutsein. Kurz, die Krfte, die eigentlich feindlich gegen einandergerichtet sind, treten gar nicht offen hervor. Nietzsche nennt rcksichtslos dieInstinkte des Gegners, die ihm zuwider sind, und er nennt auch die Instinkte, die erihnen entgegensetzt. Wer diesZynismusnennen will, der mag es tun. Er soll aber

    nur nicht bersehen, da es in aller menschlichen Ttigkeit niemals etwas anderesals solchen Zynismus gegeben hat, und da alle idealistischen Wahngewebe vondiesem Zynismus gewebt sind.

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    II. Der bermensch

    10.

    Alles Streben des Menschen besteht, wie das eines jeden Lebewesens, darin, vonder Natur eingepflanzte Triebe und Instinkte in der besten Weise zu befriedigen.Wenn die Menschen nach Tugend, Gerechtigkeit, Erkenntnis und Kunst streben, sogeschieht dies deshalb, weil Tugend, Gerechtigkeit und so weiter Mittel sind, durchdie die menschlichen Instinkte sich so entwickeln knnen, wie es deren Naturentsprechend ist. Die Instinkte wrden ohne diese Mittel verkmmern. Es ist nuneine Eigentmlichkeit des Menschen, da er diesen Zusammenhang seinerLebensbedingungen mit seinen natrlichen Trieben vergit und jene Mittel zueinem naturgemen, machtvollen Leben als etwas ansieht, das an sich einenunbedingten Wert hat. Der Mensch sagt dann: Tugend, Gerechtigkeit, Erkenntnis

    und so weiter mssen um ihrer selbst willen erstrebt werden. Sie haben nichtdadurch einen Wert, da sie dem Leben dienen, sondern vielmehr das Lebenerhalte erst einen Wert dadurch, da es nach jenen idealen Gtern strebt. DerMensch sei nicht dazu da, nach Magabe seiner Instinkte zu leben, wie das Tier;sondern er solle seine Instinkte dadurch adeln, da er sie in den Dienst hhererZwecke stelle. Auf diese Weise kommt der Mensch dazu, das, was er selbst erst zurBefriedigung seiner Triebe geschaffen hat, als Ideale anzubeten, die seinem Lebenerst die rechte Weihe geben. Er fordert Unterwerfungunter die Ideale, die er hherschtzt, als sich selbst. Er lst sich los von dem Mutterboden der Wirklichkeit undwill seinem Dasein einen hheren Sinn und Zweck geben. Er erfindet einenunnatrlichen Ursprung fr seine Ideale. Er nennt sie den Willen Gottes, dieewigen sittlichen Gebote. Er will die Wahrheit um der Wahrheit willen, dieTugend um der Tugend willen anstreben. Er betrachtet sich als einen gutenMenschen erst dann, wenn es ihm angeblich gelungen ist, seine Selbstsucht, dasheit seine natrlichen Instinkte zu bndigen und selbstloseinem idealen Ziele zufolgen. Einem solchen Idealisten giltderMensch als unedel und bse, der es biszu solcher Selbstberwindung nicht gebracht hat.

    Nun stammen ursprnglich alle Ideale aus natrlichen Instinkten. Auch was der

    Christ als Tugend ansieht, die ihm Gott geoffenbart hat, ist ursprnglich vonMenschen erfunden, um irgendwelche Instinkte zu befriedigen. Der natrlicheUrsprung ist vergessen und der gttliche hinzugedichtet worden. hnlich verhlt essich mit den Tugenden, die die Philosophen und Moralprediger aufstellen.

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    Wenn die Menschen blo gesundeInstinkte htten und diesen gem ihre Idealebestimmten, so wrde der theoretische Irrtum ber den Ursprung dieser Ideale nichtschaden. Die Idealisten htten zwar falsche Ansichten ber die Herkunft ihrerZiele, aber diese Ziele selbst wren gesund, und das Leben mte gedeihen. Aber

    es gibt ungesunde Instinkte, die nicht auf Strkung, Frderung des Lebens, sondernauf dessen Schwchung, Verkmmerung abzielen. Diese bemchtigen sich desgenannten theoretischen Irrtums und machen ihn zum praktischen Lebenszwecke.Sie verleiten den Menschen, zu sagen: ein vollkommener Mensch ist nichtderjenige, der sich selbst, seinem Leben dienen will, sondern derjenige, der sich derVerwirklichung eines Ideals hingibt. Unter dem Einflu dieser Instinkte bleibt derMensch nicht blo dabei stehen, irrtmlich seinen Zielen einen un- oderbernatrlichen Ursprung anzudichten, sondern er macht sich wirklich solcheIdeale zurecht oder bernimmt sie von anderen, die nichtden Bedrfnissen des

    Lebens dienen. Er strebt nicht mehr darnach, die in seiner Persnlichkeit liegendenKrfte ans Tageslicht zu ziehen, sondern er lebt nach einem seiner Naturaufgezwungenen Musterbilde. Ober dieses Ziel einer Religion entnimmt, oder ober es selbst auf Grund gewisser, nichtin seiner Natur liegenden Voraussetzungen

    bestimmt: darauf kommt es nicht an. Der Philosoph, der einen allgemeinen Zweckder Menschheit im Auge hat und aus diesem seine sittlichen Ideale ableitet, legt dermenschlichen Natur ebenso Fesseln an, wie der Religionsstifter, der den Menschensagt: dies ist das Ziel, das euch Gott gesetzt hat; und dem mt ihr folgen. Es istauch gleichgltig, ob der Mensch sich vorsetzt, ein Ebenbild Gottes zu werden,oder ob er ein Ideal des vollkommenen Menschen erfindet und diesem mglichst

    hnlich werden will. Wirklich ist nur der einzelne Mensch und die Triebe undInstinkte dieses einzelnen Menschen. Nur wenn er auf die Bedrfnisse seinereigenen Person sein Augenmerk richtet, kann der Mensch erfahren, was seinemLeben frommt. Der einzelne Mensch wird nicht vollkommen, wenn er sichverleugnet und einem Vorbilde hnlich wird, sondern wenn er das verwirklicht,was in ihm zur Verwirklichung drngt. Die menschliche Ttigkeit erhlt nicht ersteinen Sinn, wenn sie einem unpersnlichen, ueren Zwecke dient; sie hat ihrenSinn in sich selbst.

    Der Anti-Idealist wird zwar auch in der ungesunden Abkehr des Menschen vonseinen ureigenen Instinkten noch eine Instinktuerung erblicken. Er wei, da derMensch selbst das Instinktwidrige nur aus Instinkt vollbringen kann. Er wird aberdoch die Instinktwidrigkeit bekmpfen, wie der Arzt eine Krankheit bekmpft,trotzdem er wei, da sie naturgem aus bestimmten Ursachen entstanden ist. Esdarf also dem Anti-Idealisten nicht der Einwurf gemacht werden: du behauptest,alles, was der Mensch erstrebt, also auch alle Ideale, seien naturgem entstanden;dennoch bekmpfst du den Idealismus.

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    Gewi entstehen Ideale ebenso naturgem wie Krankheiten; aber der Gesundebekmpft den Idealismus, wie er die Krankheit bekmpft. Der Idealist aber sieht die

    Ideale als etwas an, das gehegt und gepflegt werden mu.

    Der Glaube, da der Mensch vollkommen erst wird, wenn er hheren Zweckendient, ist, nach Nietzsches Meinung, etwas, das berwunden werden mu. DerMensch mu sich auf sich selbst besinnen und erkennen, da er Ideale nurerschaffen hat, um sich zu dienen. Naturgem leben, ist gesnder, als Idealennachjagen, die angeblich nicht aus der Wirklichkeit stammen. Den Menschen, dernicht unpersnlichen Zielen dient, sondern der den Zweck und Sinn seines Daseinsin sich selbst sucht, der solche Tugenden zu den seinigen macht, die seinerKraftentfaltung, seiner Machtvollkommenheit dienen diesen Menschen stellt

    Nietzsche hher als den selbstlosen Idealisten.

    Dies ist es, was er durch seinen Zarathustra verkndet. Das souverneIndividuum, das wei, da es nur aus seiner Natur heraus leben kann, und das ineiner seinem Wesen entsprechenden Lebensgestaltung sein persnliches Ziel sieht,ist fr Nietzsche derbermensch, im Gegensatz zu dem Menschen, der glaubt:ihm sei das Leben geschenkt, um einem auer ihm selbst liegenden Zwecke zudienen.

    Den bermenschen, das heit den Menschen, der naturgem zu leben versteht,lehrt Zarathustra. Er lehrt die Menschen, ihre Tugenden als ihre Geschpfebetrachten; er heit sie diejenigen verachten, die ihre Tugenden hher als sichselbst achten.

    Zarathustra ist in die Einsamkeit gegangen, um sich frei zu machen von der Demut,in der sich die Menschen beugen vor ihren Tugenden. Er geht erst wieder unterMenschen, als erdieTugenden verachten gelernt hat, die das Leben bndigen undnicht dem Leben dienen wollen. Er bewegt sich nun leicht wie ein Tnzer, denn erfolgt nur sich und seinem Willen und achtet nicht auf die Linien, die ihm von den

    Tugenden vorgezeichnet werden. Nicht schwer mehr lastet der Glaube auf seinemRcken, da es unrecht sei, nur sich selbst zu folgen. Zarathustra schlft nun nichtmehr, um von Idealen zu trumen; er ist ein Wachender, der der Wirklichkeit sichfrei gegenberstellt. Ein schmutziger Strom ist ihm der Mensch, der sich selbstverloren hat und vor seinen eigenen Geschpfen im Staube liegt. Der bermenschist ihm ein Meer, das diesen Strom aufnimmt, ohne selbst unrein zu werden.

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    Denn der bermensch hat sich selbst gefunden; er erkennt sich als Herrn undSchpfer seiner Tugenden. Zarathustra hat das Groe erlebt, da ihm alle Tugendzum Ekel geworden ist, dieberden Menschen gesetzt wird.

    Was ist das Grte, das ihr erleben knnt? Das ist die Stunde der groenVerachtung. Die Stunde, in der euch auch euer Glck zum Ekel wird und ebensoeure Vernunft und eure Tugend.

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    11.

    Die Weisheit Zarathustras ist nicht nach dem Sinne der modernen Gebildeten.Sie mchten alle Menschen einander gleich machen. Wenn alle nur nach einem

    Ziele streben, sagen sie, dann ist Zufriedenheit und Glck auf Erden. Der Menschsoll zurckhalten, so fordern sie, seine besonderen persnlichen Wnsche und nurder Allgemeinheit, dem gemeinsamen Glcke dienen. Friede und Ruhe wird dannauf der Erde herrschen. Wenn jeder die gleichen Bedrfnisse hat, dann strt keinerdie Kreise des andern. Nicht sich und seine individuellen Ziele soll der Einzelne imAuge haben, sondern nach der einmal bestimmten Schablone sollen alle leben.Verschwinden soll alles einzelne Leben, und Glieder der gemeinsamenWeltordnung sollen alle werden.

    Kein Hirt und Eine Herde! Jeder will das gleiche, jeder ist gleich: wer andersfhlt, geht freiwillig ins Irrenhaus.

    Ehemals war alle Welt irre sagen die Feinsten und blinzeln.

    Man ist klug und wei alles, was geschehn ist: so hat man kein Ende zu spotten.Man zankt sich noch, aber man vershnt sich bald; sonst verdirbt es den Magen.

    Zarathustra ist zu lange Einsiedler gewesen, um solcher Weisheit zu huldigen. Erhat die eigenartigen Tne gehrt, die aus dem Innern der Persnlichkeit erklingen,

    wenn der Mensch abseits steht von dem Lrm des Marktes, wo einer nur die Wortedes andern nachspricht. Und er mchte es den Menschen in die Ohren rufen: hretauf die Stimmen, die nur in jedem Einzelnen von euch erklingen. Denn die nur sindnaturgem, die nur sagen jedem, was er vermag. Ein Feind des Lebens, desreichen, vollen Lebens, ist derjenige, welcher diese Stimmen ungehrt verhallenlt und auf das gemeinsame Geschrei der Menschen hrt. Zu den Freunden derGleichheit aller Menschen will Zarathustra nicht sprechen. Sie knnten ihn nurmiverstehen. Denn sie wrden glauben, da sein bermensch jenes idealeMusterbild sei, dem alle gleich werden sollen. Aber Zarathustra will den Menschenkeine Vorschriften darber machen, wie sie sein sollen; er will nur jeden Einzelnen

    auf sich selbst verweisen und ihm sagen: berlasse dich dir selbst, folge nur dirallein, stelle dich ber Tugend, Weisheit und Erkenntnis. Zu solchen, die sichsuchen wollen, spricht Zarathustra; nicht einer Menge, die ein gemeinsames Zielsucht, sondern solchen Gefhrten gelten seine Worte, die gleich ihm einen eigenenWeg gehen. Sie allein verstehen ihn, denn sie wissen, da er nicht sagen will: seht,dies ist der bermensch, werdet wie er, sondern: seht, ich habe michgesucht; so

    bin ich, wie ich es euch lehre; geht hin und sucht euch ebenso, dann habt ihr denbermenschen.

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    Den Einsiedlern werde ich mein Lied singen und den Zweisiedlern; und wer nochOhren hat fr Unerhrtes, dem will ich sein Herz schwer machen mit meinemGlcke.

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    12.

    Zwei Tiere: die Schlange, als das klgste, und der Adler, als das stolzeste Tier,begleiten Zarathustra. Sie sind die Symbole seiner Instinkte. Klugheit schtzt

    Zarathustra, denn sie lehrt den Menschen, die verschlungenen Pfade derWirklichkeit finden; sie lehrt ihn kennen, was er zum Leben braucht. Und auch denStolz liebt Zarathustra, denn der Stolz bringt die Selbstachtung des Menschenhervor, durch die dieser dazu kommt, sich selbst als den Sinn und Zweck seinesDaseins zu betrachten. Der Stolze stellt seine Weisheit, seine Tugend nicht bersich selbst. Der Stolz bewahrt den Menschen davor, sich selbst zu vergessen berhheren, heiligeren Zielen. Lieber noch als den Stolz mchte Zarathustra dieKlugheit verlieren. Denn die Klugheit, die nicht von Stolz begleitet ist, sieht sichnicht als Menschenwerk an. Wem der Stolz und die Selbstachtung fehlt, der glaubt,

    seine Klugheit sei ihm vom Himmel geschenkt. Ein solcher sagt: ein Tor ist derMensch, und er hat nur so viel Weisheit, als ihm der Himmel schenken will.

    Und wenn mich einst meine Klugheit verlt: ach, sie liebt es, davonzufliegen! mge mein Stolz dann noch mit meiner Torheit fliegen!

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    13.

    Drei Verwandlungen mu der menschliche Geist durchmachen, bis er sich selbstgefunden hat. Dies lehrt Zarathustra. Ehrfrchtig ist der Geist zuerst. Er nennt

    Tugend, was auf ihm lastet. Er erniedrigt sich, um seine Tugend zu erhhen. Ersagt: alle Weisheit ist bei Gott, und Gottes Wegen mu ich folgen. Gott legt mir dasSchwerste auf, um meine Kraft zu prfen, ob sie auch stark sei und geduldigausharre. Nur der Geduldige ist stark. Gehorchen will ich, sagt der Geist auf dieserStufe, und ausfhren die Gebote des Weltengeistes, ohne zu fragen, was der Sinndieser Gebote ist. Der Geist fhlt den Druck, den eine hhere Macht auf ihn ausbt.

    Nicht seine Wege geht der Geist, sondern die Wege dessen, dem er dient. Eskommt die Zeit, wo der Geist inne wird, da kein Gott zu ihm redet. Dann will erfrei sein und Herr in seiner eigenen Welt. Er sucht nach einer Richtschnur fr seine

    Geschicke. Er frgt nicht mehr den Weltengeist, wie er sein Leben einrichten solle.Aber nach einem festen Gesetz, nach einem heiligen du sollst strebt er. Er suchtnach einem Mastab, um den Wert der Dinge zu messen; er sucht nach einemUnterscheidungszeichen von Gut und Bse. Es mu eine Regel fr mein Lebengeben, die nicht von mir, von meinem Willen abhngt, so spricht der Geist aufdieser Stufe. Dieser Regel will ich mich fgen. Frei bin ich, meint der Geist, abernur frei, um einer solchen Regel zu gehorchen.

    Auch diese Stufe berwindet der Geist. Er wird wie das Kind, das bei seinemSpielen nicht fragt: wie soll ichdies oder jenes machen, sondern das nur seinen

    Willen ausfhrt, das nur sich selbst folgt.SeinenWillen will nun der Geist, seineWelt gewinnt sich der Weltverlorene. Drei Verwandlungen nannte ich euch desGeistes: wie der Geist zum Kamele ward, und zum Lwen das Kamel, und derLwe zuletzt zum Kinde. Also sprach Zarathustra.

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    14.

    Was wollen die Weisen, die die Tugend ber den Menschen stellen? fragtZarathustra. Sie sagen: die Ruhe der Seele kann nur haben, wer seine Pflicht getan

    hat, wer dem heiligen du sollst gefolgt ist. Tugendhaft soll der Mensch sein,damit er nach getaner Pflicht trumen knne von erfllten Idealen und keineGewissensbisse fhle. Ein Mensch mit Gewissensbissen gleicht, sagen dieTugendhaften, einem Schlafenden, dem bse Trume die Nachtruhe stren.Wenige wissen das: aber man mu alle Tugenden haben, um gut zu schlafen.Werde ich falsch Zeugnis reden? Werde ich ehebrechen? Werde ich mich gelstenlassen meines Nchsten Magd? Das alles vertrge sich schlecht mit gutem SchlafeFriede mit Gott und dem Nachbar: so will es der gute Schlaf Und Friede auch nochmit des Nachbars Teufel! Sonst geht er bei dir des Nachts um.

    Nicht was sein Trieb ihn heit, tut der Tugendhafte, sondern was Seelenruhebewirkt. Er lebt, um in Ruhe ber das Leben trumen zu knnen. Noch lieber ist esihm, wenn den Schlaf, den er Seelenruhe nennt, gar kein Traum strt. Das heit:dem Tugendhaften ist es am liebsten, wenn er irgendwoher die Regeln seinesHandelns erhlt und im brigen seine Ruhe genieen kann. Seine Weisheit heit:wachen, um gut zu schlafen. Und wahrlich, htte das Leben keinen Sinn, undmte ich Unsinn whlen, so wre auch mir dies der whlenswrdigste Unsinn,spricht Zarathustra.

    Auch fr Zarathustra gab es eine Zeit, da er glaubte, ein auerhalb der Weltwohnender Geist, ein Gott, habe die Welt geschaffen. Einen unzufriedenen,leidenden Gott dachte sich Zarathustra. Um sich eine Befriedigung zu verschaffen,um von seinem Leiden loszukommen, habe Gott die Welt erschaffen, meinte einstZarathustra. Aber er hat einsehen gelernt, da es ein Wahnbild war, das er sichselbst geschaffen hatte. Ach, ihr Brder, dieser Gott, den ich schuf, warMenschen-Werk und Menschen-Wahnsinn gleich allen Gttern! Zarathustra hatseine Sinne gebrauchen und die Welt betrachten gelernt. Und zufrieden wurde ermit der Welt; nicht mehr schweiften seine Gedanken ins Jenseits. Blind war erehemals und konnte die Welt nicht sehen, deshalb suchte er sein Heil auerhalb derWelt. Aber Zarathustra hatsehengelernt und erkennen, da die Welt in sich selbstihren Sinn habe. Einen neuen Stolz lehrte mich mein Ich, den lehre ich dieMenschen: nicht mehr den Kopf in den Sand der himmlischen Dinge zu stecken,sondern frei ihn zu tragen, einen Erden-Kopf, der der Erde Sinn schafft!

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    15.

    In Leib und Seele haben die Idealisten den Menschen gespalten, in Idee undWirklichkeit haben sie alles Dasein geteilt. Und sie haben die Seele, den Geist, die

    Idee zu einem besonders Wertvollen gemacht, um die Wirklichkeit, den Leibumsomehr verachten zu knnen. Zarathustra aber sagt: NureineWirklichkeit, nureinen Leib gibt es, und die Seele ist nur etwas am Leibe, die Idee nur etwas an derWirklichkeit. Eine E inheitsind Leib und Seele des Menschen; aus einer Wurzelentspringen Krper und Geist. Der Geist ist nur da, weil ein Krper da ist, derKrfte hat, an sich den Geist zu entwickeln. Wie die Pflanze an sich die Blte, soentfaltet der Krper an sich den Geist.

    Hinter deinen Gedanken und Gefhlen, mein Bruder, steht ein mchtiger Gebieter,

    ein unbekannter Weiser der heit Selbst. In deinem Leibe wohnt er, dein Leib ister.

    Wer einen Sinn hat fr das Wirkliche, der sucht den Geist, die Seele in und an demWirklichen, er sucht die Vernunft in dem Wirklichen; nur wer die Wirklichkeit frgeistlos, fr blo natrlich, fr roh hlt, der gibt dem Geiste, der Seele ein

    besonderes Dasein. Er macht die Wirklichkeit zur bloen Wohnung des Geistes.Einem solchen fehlt aber auch der Sinn fr die Wahrnehmung des Geistes selbst.

    Nur weil er den Geist in der Wirklichkeit nicht sieht, sucht er ihn anderswo.

    Es ist mehr Vernunft in deinem Leibe, als in deiner besten Weisheit Der Leib isteine groe Vernunft, eine Vielheit mit Einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden,eine Herde und ein Hirt. Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine Vernunft,mein Bruder, die du Geist nennst, ein kleines Werk- und Spielzeug deiner groenVernunft.

    Ein Tor ist, wer die Blte von der Pflanze reit und glaubt, die abgerissene Bltewerde nun sich noch zur Frucht entwickeln. Ein Tor ist ebenso, wer den Geist vonder Natur absondert und glaubt, ein solcher abgesonderter Geist knne nochschaffen.

    Menschen mit kranken Instinkten haben die Scheidung von Geist und Krpervorgenommen. Ein kranker Instinkt nur kann sagen: mein Reich ist nicht von dieserWelt. Eines gesunden Instinktes Reich ist nur diese Welt.

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    16.

    Was fr Ideale haben sie doch geschaffen, diese Verchter der Wirklichkeit! Fassenwir sie ins Auge, die Ideale der Asketen, die da sagen: wendet ab euren Blick vom

    Diesseits und schaut nach dem Jenseits! Was bedeuten asketische Ideale? Mitdieser Frage und den Vermutungen, mit denen er sie beantwortet, hat uns Nietzscheam tiefsten hineinblicken lassen in sein von der abendlndischen neueren Kulturunbefriedigtes Herz. (Genealogie der Moral, 3. Abhandlung.)

    Wenn einKnstler, wie zum Beispiel Richard Wagner, in der letzten Zeit seinesSchaffens, Anhnger des asketischen Ideales wird, so hat das nicht viel zu

    bedeuten. Der Knstler steht sein ganzes Leben hindurch berseinen Schpfungen.Er sieht von oben herab auf seine Wirklichkeiten. Er schafft Wirklichkeiten, die

    nicht seineWirklichkeit sind. Ein Homer htte keinen Achill, ein Goethe keinenFaust gedichtet, wenn Homer ein Achill, und wenn Goethe ein Faust gewesenwre. (Genealogie, 3. Abhandlung, 4.) Wenn nun ein solcher Knstler seineigenes Dasein einmal ernst nimmt, sich selbst und seine persnlichen Ansichten inWirklichkeit umsetzen will, so ist es kein Wunder, wenn etwas sehr Unrealesentsteht. Richard Wagner hat ber seine Kunst vollstndig umgelernt, als ihm diePhilosophie Schopenhauers bekannt wurde. Vorher hielt er die Musik fr einAusdrucksmittel, das etwas braucht, dem es Ausdruck verschafft, das Drama. Inseiner Schrift Oper und Drama, die 183 1 geschrieben ist, spricht er aus, da dergrte Irrtum, dem man sich in bezug auf die Oper hingeben kann, der ist, daein

    Mittel des Ausdrucks (die Musik) zum Zwecke, der Zweck des Ausdrucks (dasDr ama) aber zum M ittel gemacht war.

    Er bekannte sich zu einer andern Ansicht, nachdem er Schopenhauers Lehre vonder Musik kennen gelernt hatte. Schopenhauer ist der Ansicht, da durch die Musikdas Wesen der Dinge selbst zu uns spricht. Der ewige Wille, der in allen Dingenlebt, er wird in allen anderen Knsten nur in seinen Abbildern, in den Ideen,verkrpert; die Musik ist kein bloes Bild des Willens: in ihr gibt sich der Willeunmittelbar kund. Was uns in allen unseren Vorstellungen nur im Abglanzerscheint: der ewige Grund alles Seins, der Wille, ihn glaubt Schopenhauer in denKlngen der Musik unmittelbar zu vernehmen. Kunde aus dem Jenseits bringt frSchopenhauer die Musik. Diese Ansicht wirkte auf Richard Wagner. Nicht mehrals Ausdrucksmittel wirklicher menschlicher Leidenschaften, wie sie im Dramaverkrpert sind, lie er die Musik gelten, sondern als eine Art Mundstck des An-sich der Dinge, ein Telephon des Jenseits.

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    Richard Wagner glaubte jetzt nicht mehr die Wirklichkeit in Tnen auszudrcken;er redete frderhin nicht nur Musik, dieser Bauchredner Gottes, er redeteMetaphysik: was Wunder, da er endlich eines Tages asketische I dealeredete?...(Genealogie, 3. Abhandlung, 5.)

    Htte Richard Wagner blo seine Ansicht ber die Bedeutung der Musik gendert,so htte Nietzsche keinen Anla, ihm etwas vorzuwerfen. Nietzsche knnte dannhchstens sagen: Wagner hat auer seinen Kunstwerken auch noch allerleiverkehrte Theorien ber die Kunst geschaffen. Da aber Wagner in der letzten Zeitseines Schaffens den Schopenhauerschen Jenseitsglauben auch in seinenKunstwerken verkrpert hat, da er seine Musik dazu verwendet hat, die Flucht vorder Wirklichkeit zu verherrlichen: das ging Nietzsche wider den Geschmack.

    Aber der Fall Wagner besagt nichts, wenn es sich um die Bedeutung derVerherrlichung des Jenseits auf Kosten des Diesseits, wenn es sich um dieBedeutung der asketischen Ideale handelt. Knstler stehen nicht auf eigenen Fen.Wie Richard Wagner von Schopenhauer abhngig ist, so waren die Knstler zuallen Zeiten Kammerdiener einer Moral oder Philosophie oder Religion.

    Anders ist es, wenn die Philosophen fr die Verachtung der Wirklichkeit, fr dieasketischen Ideale eintreten. Sie tun das aus einem tiefen Instinkte heraus.

    Schopenhauer hat diesen Instinkt verraten durch die Beschreibung, die er von dem

    Schaffen und Genieen eines Kunstwerkes gibt. Da also das Kunstwerk dieAuffassung der Ideen, in welcher der sthetische Genu besteht, so sehr erleichtert,beruht nicht blo darauf, da die Kunst durch Hervorhebung des Wesentlichen undAussonderung des Unwesentlichen die Dinge deutlicher und charakteristischerdarstellt, sondern ebenso sehr darauf, da das zur rein Objektiven Auffassung desWesens der Di nge er for derte gnzli che Schweigen des Wi ll ens am sicherstendadurch erreicht wir d, dadas angeschaute Objekt selbst gar ni cht im Gebieteder Di nge li egt, welche einer Beziehung zum Wi ll en fhi g sind.(Ergnzungenzum 3. Buch der Welt als Wille und Vorstellung, Kap. 30.) Wann aber uererAnla oder innere Stimmung uns pltzlich aus dem endlosen Strome des Wollens

    heraushebt, die Erkenntnis dem Sklavendienste des Willens entreit, dieAufmerksamkeit nun nicht mehr auf die Motive des Wollens gerichtet wird,sondern die Dinge frei von ihrer Beziehung auf den Willen auffat, also ohneI nteresse, ohne Subjektivitt, rein objektiv sie betrachtet, ihnen ganz hingegeben,sofern sie blo Vorstellungen, nicht sofern sie Motive sind: dann ist... derschmerzenlose Zustand, den Epikuros als das hchste Gut und als den Zustand derGtter pries, eingetreten:

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    denn wir sind fr jenen Augenblick des schnden Willensdranges entledigt, wirfeiern den Sabbat der Zuchthausarbeit des Wollens, das Rad des Ixion steht still.(Welt als Wille und Vorstellung, 38.)

    Dies ist eine Beschreibung einer Art des sthetischen Genusses, die nur bei demPhilosophen vorkommt. Nietzsche stellt ihr gegenber eine andere Beschreibung,die einwir klicherZuschauer und Artist gemacht hat Stendhal, der das Schneune promesse de bonheur nennt. Schopenhauer mchte alles Willensinteresse,alles wirkliche Leben ausschalten, wenn es sich um die Betrachtung einesKunstwerkes handelt, und nur mit dem Geiste genieen; Stendhal sieht in demKunstwerke ein Versprechen von Glck, also einen Hinweis auf das Leben, undsieht in diesem Zusammenhang der Kunst mit dem Leben den Wert der Kunst.

    Kant fordert vom schnen Kunstwerk, da esohne I nteresse gefal le,das heit daes uns heraushebe aus dem wirklichen Leben und einen rein geistigen Genugewhre.

    Was sucht der Philosoph in dem knstlerischen Genu? Er lsung von derWirklichkeit. In eine Wirklichkeit-fremde Stimmung will der Philosoph durch dasKunstwerk versetzt werden. Er verrt dadurch seinen Grundinstinkt. Der Philosophfhlt sich in den Augenblicken am wohlsten, in denen er von der Wirklichkeitloskommen kann. Seine Ansicht vom sthetischen Genu zeigt, da er dieWirklichkeit nicht liebt.

    Nicht was der dem Leben zugewandte Zuschauer von dem Kunstwerke verlangt,sagen uns die Philosophen in ihren Theorien, sondern nur, was ihnen selbstangemessen ist. Und dem Philosophen ist die Abkehr von dem Leben sehrfrderlich. Er will sich seine verschlungenen Gedankenwege nicht durchkreuzenlassen von der Wirklichkeit. Das Denken gedeiht besser, wenn sich der Philosophvon dem Leben abkehrt. Es ist nun kein Wunder, wenn dieser philosophischeGrundinstinkt geradezu zu einer lebensfeindlichen Stimmung wird. Wir finden einesolche Stimmung bei der Mehrzahl der Philosophen ausgebildet. Und nahe liegt es,da der Philosoph seine eigene Antipathie gegen das Leben zu einer Lehre

    ausbildet und fordert, da sich alle Menschen zu einer solchen Lehre bekennen.Schopenhauer hat dieses getan. Er fand, da der Lrm der Welt seineGedankenarbeit strte. Er empfand, da man ber die Wirklichkeit am bestennachdenkenkann, wenn man dieser Wirklichkeit entflieht. Zugleich verga er, daalles Denken ber die Wirklichkeit doch nur dann einen Wert hat, wenn es ausdieser Wirklichkeit entspringt.

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    Er beachtete nicht, da das Zurckziehen des Philosophen von der Wirklichkeit nurgeschehen kann, damit die entfernt von dem Leben entstandenen philosophischenGedanken dann dem Leben um so besser dienen knnen. Wenn der Philosoph denGrundinstinkt, der nur ihm als Philosophen frderlich ist, der ganzen Menschheit

    aufdrngen will, dann wird er zu einem Feinde des Lebens.

    Der Philosoph, der die Weltflucht nicht als Mittel betrachtet, umweltfreundlicheGedanken zu schaffen, sondern als Zweck, als Ziel, kann nur Wertloses schaffen.Der wahre Philosoph flieht auf der einen Seite die Wirklichkeit nur, um sich auf derandern um so tiefer in sie einzubohren. Aber es ist begreiflich, da dieserGrundinstinkt den Philosophen leicht dazu verfhren kann, die Weltflucht alssolche fr wertvoll zu halten. Dann wird der Philosoph zu einem Anwalt derWeltverneinung. Er lehrt Abkehr vom Leben, asketisches Ideal. Er findet: Ein

    gewisser Asketismus... eine harte und heitere Entsagsamkeit besten Willens gehrtzu den gnstigen Bedingungen hchster Geistigkeit, insgleichen auch zu derennatrlichsten Folgen: so wird es von vornherein nicht wundernehmen, wenn dasasketische Ideal gerade von den Philosophen nie ohne einige Voreingenommenheit

    behandelt worden ist. (Genealogie der Moral, 3. Abhandlung, 9.)

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    17.

    Einen andern Ursprung haben die asketischen Ideale derPriester. Was bei demPhilosophen durch das berwuchern eines bei ihm berechtigten Triebes entsteht,

    das bildet das Grundideal des priesterlichen Wirkens. Der Priester sieht in derHingabe des Menschen an das wirkliche Leben einen Irrtum; er verlangt, da mandieses Leben gering achte gegenber einem andern Leben, das von hheren als

    blo natrlichen Krften gelenkt wird. Der Priester leugnet, da das wirklicheLeben einen Sinn in sich selbst habe, und er fordert, da ihm dieser Sinn verliehenwerde durch Einimpfung eines hheren Willens. Er sieht das Leben in derZeitlichkeit als unvollkommen an und stellt ihm ein ewiges, vollkommenes Lebengegenber. Abkehr von der Zeitlichkeit und Einkehr in das Ewige, Unwandelbarelehrt der Priester. Ich mchte als besonders bezeichnend fr die priesterliche

    Denkweise einige Stze aus dem berhmten Buche Die deutsche Theologieanfhren, das aus dem 14. Jahrhundert stammt und von dem Luther sagt, da er auskeinem Buche, die Bibel und den heiligen Augustin ausgenommen, mehr gelernthabe, was Gott, Christus und der Mensch sei, als aus diesem. Auch Schopenhauerfindet, da der Geist des Christentums in diesem Buche vollkommen und krftigausgesprochen ist. Nachdem der Verfasser, der uns unbekannt ist,auseinandergesetzt hat, da alle Dinge der Welt nur ein Unvollkommenes undGeteiltes seien gegenber dem Vollkommenen, das in sich und in seinem Wesenalle Wesen begriffen und beschlossen hat, und ohne das und auer dem keinwahres Wesen ist und in dem alle Dinge ihr Wesen haben, fhrt er aus, da der

    Mensch in dieses Wesen nur eindringen kann, wenn er Kreatrlichkeit,Geschaffenheit, Ichheit, Selbstheit und dergleichen alles verloren und in sichzunichte gemacht hat. Was von dem Vollkommenen ausgeflossen ist und was derMensch alsseinewirkliche Welt erkennt, das wird folgendermaen charakterisiert:Das ist kein wahres Wesen und hat kein Wesen anders denn in demVollkommenen, sondern es ist ein Zufall oder ein Glanz und ein Schein, der keinWesen ist oder kein Wesen hat anders als in dem Feuer, wo der Glanz ausfliet,oder in der Sonne, oder in einem Lichte. Die Schrift spricht und der Glaube unddie Wahrheit: Snde sei nichts anders, denn da sich die Kreatur abkehrt von dem

    unwandelbaren Gute und kehret sich zu dem wandelbaren, das ist: da sie sichkehrt von dem Vollkommenen zu dem Geteilten und Unvollkommenen undallermeist zu sich selber. Nun merke. Wenn sich die Kreatur etwas Gutes annimmt,als Wesens, Lebens, Wissens, Erkennens, Vermgens und krzlich alles dessen,das man gut nennen soll, und meint, dasie das sei oder daes das I hre sei oderihr zugehre oder daes von ihr sei: so oft un d vi el das geschieht, so kehrt siesich ab.(1)

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    Was tat der Teufel anders asketische Priester ist der Trster und Arzt derjenigen,die am Leben leiden. Er trstet sie dadurch, da er ihnen sagt: dieses Leben, andem ihr leidet, ist nicht das wahre Leben; das wahre Leben ist denjenigen, die andiesem Leben leiden, viel leichter erreichbar als den Gesunden, die an diesem

    Leben hngen und sich ihm hingeben. Durch solche Aussprche zchtet derPriester die Verachtung, die Verleumdung dieses wirklichen Lebens. Er bringtendlich die Gesinnung hervor, die sagt: um das wahre Leben zu erreichen, mudieses wirkliche Lebenverneintwerden. In der Verbreitung dieser Gesinnung suchtder asketische Priester seine Strke. Er beseitigt durch die Zchtung dieserGesinnung eine groe Gefahr, die den Gesunden, Starken, Selbstbewuten von denVerunglckten, Niedergeworfenen, Zerbrochenen droht. Die letzteren hassen dieGesunden und die leiblich und seelisch Glcklichen, die ihre Krfte aus der Naturnehmen. Diesen Ha, der sich dadurch uern mte, da die Schwachen gegen die

    Starken einen fortwhrenden Vernichtungskrieg fhrten, sucht der Priesterniederzuhalten. Er stellt deshalb die Starken als diejenigen hin, die ein wertloses,menschenunwrdiges Leben fhren und behauptet dagegen, da das wahre Lebenallein denen erreichbar ist, die von dem Erdenleben geschdigt werden. Derasketische Priester mu uns als der vorherbestimmte Heiland, Hirt und Anwalt derkranken Herde gelten: damit erst verstehen wir seine ungeheure historischeMission. Die H errschaft ber L eidende ist sein Reich, auf sie weist ihn seinInstinkt an, in ihr hat er seine eigenste Kunst, seine Meisterschaft, seine Art vonGlck. (Genealogie, 3. Abhandlung, 15.) Es ist kein Wunder, wenn einesolche Denkweise endlich dazu fhrt, da ihre Anhnger nicht nur das Leben

    verachten, sondern geradezu auf seine Zerstrung hinarbeiten. Wenn den Menschengesagt wird, nur der Leidende, der Schwache kann wirklich zu einem hherenLeben kommen, so wird endlich das Leiden, die Schwche gesuchtwerden. Sichselbst Schmerz zuzufgen, den Willen in sich ganz ertten, das wird Ziel desLebens werden. Die Opfer dieser Gesinnung sind die Heiligen. VlligeKeuschheit und Entsagung aller Wollust fr den, welcher eigentliche Heiligkeitanstrebt; Wegwerfung alles Eigentums, Verlassung jedes Wohnortes, allerAngehrigen, tiefe, gnzliche Einsamkeit, zugebracht in stillschweigenderBetrachtung, mit freiwilliger Bue und schrecklicher, langsamer Selbstpeinigung,

    zur gnzlichen Mortifikation des Willens, welche zuletzt bis zum freiwilligen Todegeht durch Hunger, auch durch Entgegengehen den Krokodilen, durchHerabstrzen vom geheiligten Felsengipfel im Himalaya, durch lebendigBegrabenwerden, auch durch Hinwerfung unter die Rder des unter Gesang, Jubelund Tanz der Bajaderen die Gtterbilder umherfahrenden ungeheuren Wagens,dies sind die letzten Frchte der asketischen Gesinnung. (Schopenhauer, Welt alsWille und Vorstellung, 68.)

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    Diese Denkweise ist dem Leiden am Leben entsprungen, und sie richtet ihreWaffen gegen das Leben. Wenn der Gesunde, Lebensfrohe von ihr angesteckt wird,dann tilgt sie bei ihm die gesunden, starken Instinkte aus. Nietzsches Werk gipfelt

    darinnen, dieser Lehre gegenber etwas anderes geltend zu machen, eine Ansichtfr Gesunde, Wohlgeratene. Mgen die Miratenen, Verdorbenen in der Lehre derasketischen Priester ihr Heil suchen; die Gesunden will Nietzsche um sich sammelnund ihnen eine Meinung sagen, die ihnen besser zu Gesichte steht, als jedeslebensfeindliche Ideal.

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    18.

    Auch in den Pflegern dermodernen Wissenschaftsteckt noch das asketische Ideal.Zwar rhmt sich diese Wissenschaft, alle alten Glaubensvorstellungen ber Bord

    geworfen zu haben und sich nur an die Wirklichkeit zu halten. Sie will nichts geltenlassen, was sich nicht zhlen, berechnen, wgen, sehen und greifen lt. Da manauf diese Weise das Dasein zu einer Rechenknechts-bung und Stubenhockereifr Mathematiker herabwrdigt, ist den modernen Gelehrten gleichgltig.(Frhliche Wissenschaft, 373.) Ein Recht, die vor seinen Sinnen und seinerVernunft vorberziehenden Vorkommnisse der Welt zu interpretieren, so da er siemit seinem Denken beherrschen kann, schreibt sich ein solcher Gelehrter nicht zu.Er sagt: die Wahrheit mu von meiner Interpretationskunst unabhngig sein, undich habe die Wahrheit nicht zu schaffen, sondern ich mu sie mir von den

    Erscheinungen der Welt diktieren lassen.Wozu diese moderne Wissenschaft zuletzt gelangt, wenn sie sich allesZurechtlegens der Welterscheinungen enthlt, das hat ein Anhnger dieserWissenschaft (Richard Wahle)in einem soeben erschienenen Buche (Das Ganzeder Philosophie und ihr Ende) ausgesprochen: Was knnte der Geist, der, insWeltgehuse sphend und in sich die Fragen nach dem Wesen und dem Ziele desGeschehens herumwlzte, endlich als Antwort finden? Es ist ihm widerfahren, daer, wie er so scheinbar im Gegensatze zur umgebenden Welt dastand, sich auflsteund in einer Flucht von Vorkommnissen mit allen Vorkommnissen zusammenflo.

    Er wute nicht mehr die Welt; er sagte, ich bin nicht sicher, da Wissende dasind, sondern Vorkommnisse sind da schlechthin. Sie kommen freilich in solcherWeise, da der Begriff eines Wissens vorschnell, ungerechtfertigt, entstehenkonnte.

    Und Begriffe huschten empor, um Licht in die Vorkommnisse zu bringen, aber eswaren Irrlichter, Seelen der Wnsche nach Wissen, erbrmliche, in ihrer Evidenznichtssagende Postulate einer unausgefllten Wissensform. U nbekannte F aktorenmssen im Wechsel walten.ber ihre Natur war Dunkel gebreitet. Vorkommnissesind der Schleier des Wahrhaften.

    Da die menschliche Persnlichkeit in die Vorkommnisse der Wirklichkeit einenSinn hineinlegen knne und die unbekannten F aktoren, die im Wechsel derEreignisse walten, aus eigenem Vermgen ergnzen knne, daran denken diemodernen Gelehrten nicht. Sie wollen nicht die Flucht der Erscheinungen durch dieIdeen interpretieren, die aus ihrer Persnlichkeit stammen.

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    Sie wollen die Erscheinungen blo beobachten und beschreiben, aber nicht deuten.Sie wollen bei dem Tatschlichen stehen bleiben und es der schpferischenPhantasie nicht gestatten, sich ein in sich gegliedertes Bild von der Wirklichkeit zumachen.

    Wenn ein phantasievoller Naturforscher, wie zum Beispiel Ernst Haeckel,aus denErgebnissen einzelner Beobachtungen ein Gesamtbild der Entwickelung desorganischen Lebens auf der Erde entwirft, dann fallen diese Fanatiker derTatschlichkeit ber ihn her und zeihen ihn der Versndigung an der Wahrheit. DieBilder, die er von dem Leben in der Natur entwirft, knnen sie nicht mit Augensehen, oder mit Hnden greifen. Ihnen ist das unpersnliche Urteil lieber, als dasdurch den Geist der Persnlichkeit gefrbte. Sie mchten bei ihren Beobachtungenam liebsten die Persnlichkeit ganz ausschalten.

    Es ist das asketische Ideal, das die Fanatiker der Tatschlichkeit beherrscht. Siewollen eine Wahrheit jenseitsdes persnlichen, individuellen Urteiles. Was derMensch in die Dinge hineinphantasieren kann, bekmmert sie nicht; dieWahrheit ist ihnen etwas absolut Vollkommenes, ein Gott; der Mensch soll sieentdecken, sich ihr ergeben, aber sie nicht schaffen. Die Naturforscher und dieGeschichtsschreiber sind gegenwrtig von dem gleichen Geiste des asketischenIdeals beseelt. berall Aufzhlen, Beschreiben von Tatsachen, und nichts darber.Jedes Zurechtlegen der Tatsachen ist verpnt. Alles persnliche Urteilen sollunterbleiben.

    Unter diesen modernen Gelehrten finden sich auch Atheisten. Diese Atheisten sindaber keine freieren Geister als ihre Zeitgenossen, die an Gott glauben. Mit denMitteln der modernen Wissenschaft lt sich das Dasein Gottes nicht beweisen. Hatsich doch eine der Leuchten moderner Wissenschaft (Du Bois-Reymond)ber dieAnnahme einer Weltseele also geuert: bevor der Naturforscher sich zu einersolchen Annahme entschliet, verlangt er, da ihm irgendwo in der Welt, in

    Neuroglia gebettet und mit warmem arteriellen Blut unter richtigem Druckegespeist, ein dem geistigen Vermgen solcher Seele an Umfang entsprechendesKonvolut von Ganglien-Kugeln und Nervenfasern gezeigt werde (Grenzen des

    Naturerkennens). Die moderne Wissenschaft lehnt den Glauben an Gott ab, weildieser Glaube neben dem Glauben an die objektive Wahrheit nicht bestehenkann. Diese objektive Wahrheit ist aber nichts anderes als ein neuer Gott, derber den alten gesiegt hat.

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    Der unbedingte redliche Atheismus ( und seine Luft allein atmen wir, wirgeistigeren Menschen dieses Zeitalters!) steht demgem nicht im Gegensatz zu

    jenem [asketischen] Ideale, wie es den Anschein hat; er ist vielmehr nur eine seinerletzten Entwickelungsphasen, eine seiner Schluformen und inneren Folge-richtigkeiten, er ist die Ehrfurcht gebietende Katastrophe einer zweitausend-

    jhrigen Zucht zur Wahrheit, welche am Schlusse sich die Lge im Glauben anGott verbietet. (Genealogie, 3. Abhandlung, 27.) Der Christ sucht dieWahrheit in Gott, weil er Gott fr den Quell aller Wahrheit hlt; der moderneAtheist lehnt den Glauben an Gott ab, weil ihm seinGott, sein Ideal von Wahrheitdiesen Glauben verbietet. Der moderne Geist sieht in Gott eine menschlicheSchpfung; in der Wahrheit sieht er etwas, was ohne alles menschliche Zutun

    durch sich selbst besteht. Der wirklich freie Geist geht noch weiter. Er fragt:Was bedeutet aller Wille zur Wahrheit?Wozu Wahrheit? Alle Wahrheitentsteht doch dadurch, da der Mensch ber die Erscheinungen der Weltnachdenkt, sich Gedanken ber die Dinge bildet. Der Mensch selbst ist derSchpfer der Wahrheit. Der freie Geist kommt zum Bewutsein seines Schaffensder Wahrheit. Er betrachtet die Wahrheit nicht mehr als etwas, dem er sichunterordnet; er betrachtet sie als sein Geschpf.

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    19.

    Die mit schwachen, miratenen Erkenntnisinstinkten ausgestatteten Menschenwagen es nicht, aus der Begriffe bildenden Macht ihrer Persnlichkeit heraus den

    Welterscheinungen einen Sinn unterzulegen. Sie wollen, da ihnen dieGesetzmigkeit der Natur als Tatbestand vor die Sinne trete. Ein subjektives,der Einrichtung des menschlichen Geistes gem geformtes Weltbild scheint ihnenwertlos. Aber die bloe Beobachtung der Vorkommnisse in der Welt liefert uns nurein zusammenhangloses und doch nicht in Einzelheiten gesondertes Weltbild. Dem

    bloen Beobachter der Dinge erscheint kein Gegenstand, kein Geschehniswichtiger, bedeutungsvoller als das andere. Das rudimentre Organ einesOrganismus, das vielleicht dann, wenn wir darber nachgedacht haben, ohne alleBedeutung fr die Entwickelung des Lebens erscheint, steht gerade mit demselben

    Anspruch auf Beachtung da, wie der edelste Teil des Organismus, so lange wir bloden objektiven Tatbestand beschauen. Ursache und Wirkung sind aufeinander-folgende Erscheinungen, die ineinander berflieen, ohne durch etwas getrennt zusein, so lange wir sie blobeobachten. Erst wenn wir mit unserem Denkeneinsetzen, die ineinander flieenden Erscheinungen sondern und gedanklichaufeinander beziehen, wird ein gesetzmiger Zusammenhang sichtbar. Erst dasDenken erklrt die eine Erscheinung fr die Ursache, die andere fr die Wirkung.Wir sehen einen Regentropfen auf den Erdboden fallen und eine Vertiefunghervorrufen. Ein Wesen, das nicht denken kann, wird hier nicht Ursache undWirkung sehen, sondern nur eine Aufeinanderfolge von Erscheinungen. Ein

    denkendes Wesen isoliert die Erscheinungen, bringt