Gedanken über die Religion und einige andere Gegenstände · Pascal: Gedanken über die Religion 3...

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Blaise Pascal Gedanken über die Religion (Pensées sur la religion et sur quelques autres sujets) Pascal's Gedanken über die Religion und einige andere Gegenstände. Aus dem Französischen übersetzt von Karl Adolf Blech. Mit einem Vorwort von August Neander, Berlin: Wilhelm Besser, 1840. und einige andere Gegenstände

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Blaise Pascal

Gedanken über die Religion

(Pensées sur la religionet sur quelques autres sujets)

Pascal's Gedanken über die Religion und einigeandere Gegenstände. Aus dem Französischenübersetzt von Karl Adolf Blech. Mit einem

Vorwort von August Neander, Berlin: WilhelmBesser, 1840.

und einige andere Gegenstände

2Pascal: Gedanken über die Religion

Erster Theil.

Gedanken, die sich auf Philosophie, Moral undschöne Wissenschaften beziehn.

Erster Abschnitt.

Von der Autorität in Betreff der Philosophie.

Die Achtung vor dem Alterthum ist heut zu Tage,in den Gegenständen, bei welchen sie am Wenigstengelten sollte, auf dem Punkt, daß man aus allen seinenGedanken Orakel macht und selbst aus seinen Dun-kelheiten Geheimnisse, daß man nicht mehr ohne Ge-fahr etwas Neues vorbringen kann und daß die Worteeines (alten) Autors hinreichen die stärksten Gründezu zerstören.

Meine Absicht ist nicht einen Fehler durch den an-dern zu bessern und den Alten gar keine Achtung zubeweisen, weil man ihnen zu viel beweist und ich willnicht ihre Autorität verbannen um ganz allein dasSelbstdenken zu erheben, obgleich man ihre Autoritätallein zum Nachtheil des eignen Vernunftgebrauchsaufrichten will. Aber man muß erwägen, daß unterden Dingen, die wir zu kennen streben, einige alleinvom Gedächtniß abhängen und rein historisch sind,

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indem dann nur unser Zweck ist wissen zu wollen wasdie Autoren geschrieben haben; die andern aber hän-gen allein von dem Forschen der Vernunft ab und sindgänzlich dogmatisch, indem wir dann zum Zweckhaben die verborgnen Wahrheiten zu entdecken. Nachdieser Unterscheidung muß man abmessen, wie weitdie Achtung vor den Alten gehen darf.

In den Gegenständen, wo man allein erforschenwill was die Autoren geschrieben haben, wie z.B. inder Geschichte, Geographie, Sprachen, Theologie,endlich in alle denen, die entweder die einfache That-sache oder eine göttliche oder menschliche Anord-nung zur Grundlage haben, muß man nothwendigerWeise auf ihre Bücher zurückgehen, weil alles, wasman darüber wissen kann, in diesen enthalten ist, undes leuchtet ein, daß man nur da die vollkommne Er-kenntniß von diesen Dingen finden kann und daß esnicht möglich ist noch etwas hinzu zu setzen. Alsowenn die Frage ist, wer der erste König der Franzosenwar, auf welchen Ort die Geographen dem ersten Me-ridian verlegen, welche Worte in einer todten Sprachevorkommen u. d. m. welche andre Mittel giebt es daszu erfahren als die Bücher? Und wer könnte irgendetwas Neues zu dem, was sie uns darüber lehren, hin-zufügen, da man ja eben nur wissen will, was sie ent-halten? Die Autorität allein kann uns darüber aufklä-ren.

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Wo aber diese Autorität die größte Stärke hat, dasist in der Theologie, weil sie da unzertrennlich vonder Wahrheit ist und wir diese nur durch jene kennen,so daß es, um den Dingen, die für die Vernunft dieunbegreiflichsten sind, die volle Gewißheit zu geben,hinreicht in der heiligen Schrift nach zu weisen, wieman auch, um die Ungewißheit der wahrscheinlichenDinge zu zeigen, nur nach zu weisen braucht, daß sienicht darin enthalten sind. Denn die Prinzipien derTheologie sind über der Natur und Vernunft und derGeist des Menschen, zu schwach und dazu durcheigne Anstrengung zu gelangen, kann diese hohenEinsichten nicht erreichen, wenn er nicht zu ihnen er-hoben wird durch eine allmächtige und übernatürlicheKraft.

Anders ist es mit den Gegenständen der Sinne oderder Vernunft. Die Autorität ist hier unnütz, die Ver-nunft hat allein das Recht sie zu erkennen; beidehaben ihre getrennten Rechte. Jene war so lange ganzim Vortheil, hier nun kommt diese an die Reihe zumHerrschen. Und da die Gegenstände dieser Art derFassungskraft des Geistes angemessen sind, hat ervollkommne Freiheit sich hier aus zu breiten; seineunerschöpfliche Fruchtbarkeit bringt unaufhörlichhervor und seine Erfindungen können zugleich ohneEnde und ohne Unterbrechung sein.

Auf diese Weise müssen die Geometrie,

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Arithmetik, Musik, Naturlehre, Arzneikunde, Bau-kunst und alle die Wissenschaften, welche von Erfah-rung und Nachdenken abhängig sind, erweitert wer-den um vollkommen zu werden. Die Alten fanden siebloß aus dem Groben gearbeitet von denen, die ihnenvorangingen und wir werden sie denen, die nach unskommen, in einem vollendetern Zustande nachlassen,als wir sie empfangen haben. Da ihre Vervollkomm-nung von Zeit und Arbeit abhängt, so ist klar, daß,wenn auch unsre Arbeit und Zeit uns weniger erwor-ben hätte als ihre Bestrebungen von den unsren ge-trennt, doch alle beide mit einander verbunden mehrWirkung haben müssen als jede für sich besonders.

Die Aufhellung dieses Unterschiedes muß uns leh-ren die Blindheit derer beklagen, die in Sachen derNaturlehre die einzige Autorität zum Beweise auffüh-ren statt der Vernunft und der Erfahrung und muß unsAbscheu einflößen vor der Schlechtigkeit derer, die inder Theologie allein die Vernunft anwenden statt derAutorität der Schrift und der und der Kirchenväter.Man muß aufrichten den Muth jener furchtsamen See-len, die in der Naturkunde nichts Neues zu erfindenwagen und niederwerfen den Uebermuth der Vermes-senen, die in der Theologie Neues aufbringen.

Aber das ist das Unglück des Jahrhunderts, mansieht in der Theologie viele neue Meinungen, die demganzen Alterthum unbekannt waren und die mit

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Hartnäckigkeit behauptet, mit Beifall angenommenwerden; dagegen die Meinungen, die man in der Phy-sik, wenn auch nur in kleiner Anzahl neu aufstellt,scheinen der Falschheit bezüchtigt werden zu müssen,sobald sie auch nur ein wenig gegen die angenomme-nen Meinungen anstoßen; gleich als wenn die Ach-tung, die man für die alten Philosophen hat, Pflichtwäre und als wenn die Achtung, welche man vor denältesten Vätern hegt, bloß Höflichkeit wäre.

Ich überlasse es den Verständigen die Wichtigkeitdieses Mißbrauchs zu beachten, welcher die Ordnungder Wissenschaften auf so ungerechte Art umkehrtund ich glaube, daß wenige unter ihnen sein werden,die nicht wünschen, daß unsre Forschungen einen an-dern Gang nehmen möchten, da die neuen Erfindun-gen unfehlbar Irrthümer sind in theologischen Gegen-ständen, die man ungestraft entweihet, und dagegenunbedingt nothwendig sind zur Vervollkommnung sovieler anderer Gegenstände einer untergeordnetenGattung, die man jedoch nicht an zu rühren wagt.

Wir müssen unser Glauben und unser Mißtrauengerechter vetheilen und unsre Achtung vor den Alteneinschränken. Wie die Vernunft sie erzeugt, so mußsie ihr auch Maß und Ziel setzen. Wir müssen beden-ken: wenn sie die Zurückhaltung geübt hätten nichtszu den empfangenen Kenntnissen hinzu zu fügen oderwenn die Leute zu ihrer Zeit eben solche

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Schwierigkeit gemacht hätten das Neue, was sie ihnenboten, an zu nehmen, so würden sie sich und ihreNachkommen der Früchte ihrer Entdeckungen beraubthaben.

Wie sie sich der Entdeckung, die ihnen hinterlassenwaren, nur als Mittel bedient haben um neue zu ma-chen, und wie diese glückliche Kühnheit ihnen denWeg zu großen Dingen geöffnet hat, so müssen wirdie, welche sie uns erworben haben, auf dieselbeWeise nehmen und daraus nach ihrem Beispiel dieMittel und nicht den Zweck unsers Studiums machenund so streben sie zu übertreffen, indem wir sie nach-ahmen. Denn was wäre unbilliger, als wenn wir unsreVorfahren mit mehr Zurückhaltung behandelten, alssie gegen ihre Vorfahren gehabt haben und vor ihnenden unglaublichen Respect hegten, den sie sich vonuns nur darum verdient, weil sie nicht einen gleichenvor denen hegten, die denselben Vorzug vor ihnen be-saßen?

Die Geheimnisse der Natur sind verborgen. Ob-gleich sie immer handelt, entdeckt man nicht immerihre Wirkungen. Die Zeit offenbart sie von Geschlechtzu Geschlecht und wenn auch immer gleich an sich,ist sie doch nicht immer gleich gekannt. Die Erfahrun-gen, die uns die Kenntniß davon geben, vervielfälti-gen sich unaufhörlich und wie sie die einzigen Grund-lagen der Naturlehre sind, so vervielfältigen sich die

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Folgerungen im Verhältniß.In dieser Weise darf man heut zu Tage andre Mei-

nungen und neue Ansichten ergreifen, ohne die Altenzu verachten und ohne Undankbarkeit gegen sie. Dieersten Kenntnisse, die sie uns gegeben, sind zu Stufengeworden für die unsrigen und wenn wir so im Vort-heil sind, verdanken wir ihnen den Vorsprung, denwir vor ihnen haben; denn sie haben sich bis zu einergewissen Stufe erhoben und uns bis dahin gebrachtund so bringt die geringste Anstrengung uns höherund mit weniger Mühe und weniger Ehre befinden wiruns über ihnen. Von da aus können wir Dinge ent-decken, die sie unmöglich gewahr werden konnten.Unser Blick ist ausgedehnter und obgleich sie alles,was sie von der Natur zu bemerken vermochten, ebenso gut kannten als wir, so kannten sie doch nicht soviel und wir sehen mehr als sie.

Es ist merkwürdig, wie man ihre Meinungen ver-ehrt. Es wird zum Verbrechen gemacht ihnen zu wi-dersprechen und zum Frevel etwas hinzu zu fügen, alshätten sie nicht Wahrheiten hinterlassen zu erkennen.

Heißt das nicht die Vernunft des Menschen unwür-dig behandeln und sie mit dem Instinct der Thiere ineine Reihe stellen? Man nimmt den Hauptunterschiedweg, der darin besteht, daß die Leistungen der Ver-nunft ohne Aufhören zunehmen, wogegen der Instinctimmer in gleichem Zustande bleibt. Die Stöcke der

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Bienen waren vor tausend Jahren eben so wohl abge-messen als heute und jede bildet jenes Sechseck ebenso genau das erste Mal wie das letzte. Eben so ist esmit allem, was die Thiere durch diesen verborgnenTrieb hervorbringen. Die Natur unterrichtet sie, jenachdem die Nothwendigkeit sie drängt; aber dieseschwache Kunst verliert sich, sobald sie sie nichtmehr brauchen. Sie empfangen sie ohne Studium undsind nicht so glücklich sie erhalten zu können undjedes Mal, wenn sie ihnen gegeben wird, ist sie ihnenneu. Die Natur, welche nur den Zweck hat die Thierein einer beschränkten Vollkommenheit zu erhalten,flößt sie ihnen jene einfach nothwendige und immergleiche Kunst ein, damit sie nicht verkommen und ge-stattet nicht, daß sie etwas hinzuthun, damit sie nichtdie Gränzen überschreiten, welche sie ihnen vorge-schrieben hat.

Anders ist es mit dem Menschen, der nur für dieUnendlichkeit geschaffen ist. In der ersten Zeit seinesLebens ist er in Unwissenheit, aber wie er fortschrei-tet, unterrichtet er sich ohne Aufhören, denn er ziehtnicht bloß von seiner eignen Erfahrung Nutzen, son-dern auch von den Erfahrungen seiner Vorgänger,weil er die Kenntnisse, die er sich einmal erworben,immer im Gedächtniß bewahrt und weil die Kenntnis-se der Alten immer in den Büchern, die sie darübernachgelassen haben, vorhanden sind. Und wie er seine

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Kenntnisse bewahrt, so kann er sie auch leicht ver-mehren, so daß die Menschen heute in gewisser Artauf demselben Standpunkt sind, worauf jene altenPhilosophen sich befinden würden, wenn es möglichgewesen wäre, daß sie bis jetzt fortgelebt und zu denKenntnissen, die sie hatten, noch die hinzugefügt hät-ten, welche ihre Studien in so vielen Jahrhundertenihnen würden erworben haben. So kommt es denndurch ein besonderes Vorrecht der Menschen, daßnicht allein jeder von ihnen Tag für Tag in den Wis-senschaften fortschreitet, sondern daß alle zusammendarin einen ununterbrochenen Fortschritt machen, jeälter die Welt wird; denn ein Gleiches geschieht in derFolge aller Menschen wie in den verschiedenen Alter-stufen des einzelnen. Die ganze Reihefolge der Men-schen im Lauf so vieler Jahrhunderte, muß angesehenwerden als ein und derselbe Mensch, der immer be-steht und fortwährend lernt. Daraus sieht man, wieunbillig es ist, wenn wir das Alterthum in seinen Phi-losophen respectiren. Das Alter ist die Zeit, die amWeitesten von der Kindheit abliegt, und wer siehtnicht, daß also das Alter jenes Universalmenschennicht in den Zeiten, die seiner Geburt am Nächstenstehn, sondern in denen, die am Meisten von ihr ent-fernt sind, gesucht werden muß?

Diejenigen, welche wir Alte nennen, waren inWirklichkeit jung in allen Dingen und bildeten

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eigentlich die Kindheit der Menschen und da wir mitihren Kenntnissen die Erfahrung der Jahrhunderte, dieauf sie gefolgt sind, verbunden haben, so kann maneigentlich in uns jenes Alterthum finden, was wir anden andern verehren. Sie müssen bewundert werden inden Schlüssen, welche sie vortrefflich aus den weni-gen Grundgesetzen, die sie hatten, gezogen haben undsie müssen entschuldigt werden in denen, bei welcherihnen mehr das Glück der Erfahrung als die Stärkedes Denkens fehlte.

Waren sie zum Beispiel nicht zu entschuldigen inder Vorstellung, die sie von der Milchstraße hatten,wenn die Schwäche ihrer Augen noch nicht die Hilfeder Kunst empfing und sie diese Farbe einer größernDichtigkeit in dem Theil des Himmels, der das Lichtstärker zurückstralt, zuschrieben? Würden wir aber zuentschuldigen sein, wenn wir in derselben Vorstellungbleiben, jetzt da wir unterstützt von den Vortheilen,welche uns das Fernglas giebt, in der Milchstraßeeine Unzahl von kleinen Sternen entdeckt haben,deren stärkeres Licht uns erkennen läßt, was diewahre Ursache jener weißen Farbe ist?

Hatten sie nicht auch Grund zu sagen, daß alleKörper, die dem Verderben unterworfen sind, in denKreis des Mondes am Himmel eingeschlossen wären,weil sie während so vieler Jahrhunderte weder ein Un-tergehn noch ein Enstehn außer diesem Raume

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bemerkt hatten? Müssen wir aber nicht das Gegen-theil versichern, weil die ganze Erde deutlich Kome-ten hat sich entzünden und weit außerhalb jener Sphä-re verschwinden sehn?

Eben so ist es mit der Lehre vom leeren Raum. Siehatten Recht zu sagen, die Natur leide keinen leerenRaum, weil alle ihre Erfahrungen ihnen immer gezeigthatten, daß sie ihn fliehe und nicht leiden könne. Aberwenn die neuen Versuche ihnen bekannt gewesenwären, so würden sie vielleicht Veranlassung gefun-den haben, das zu bejahen, was sie Veranlassung hat-ten zu verneinen aus dem Grunde, weil das Leerenoch nicht zum Vorschein gekommen war. Auch indem Schluß, welchen sie machten, daß die Naturnichts Leeres leide, haben sie doch nur von der Natur,in so weit sie sie kannten, zu sprechen gemeint, da es,ganz im Allgemeinen gesagt, nicht genug wäre sie inzehn oder in tausend Fällen oder in irgend einer an-dern noch so großen Zahl von Fällen beharrlich beob-achte zu haben, denn wenn ein einziger Fall übrigbliebe zu erforschen, so würde dieser einzige hinrei-chen die allgemeine Entscheidung zu verhindern. Inder That bei allen den Gegenständen, deren Beweis inErfahrungen und nicht in Demonstrationen besteht,darf man daraus keine andre allgemeine Behauptungaussprechen als nur durch allgemeine Aufzählungaller Theile und aller verschiednen Fälle.

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So, wenn wir sagen, der Diamant ist der härtestevon allen Körpern, so meinen wir von allen den Kör-pern, die wir kennen und wir können und dürfen dar-unter nicht die mit begreifen, die wir nicht kennen,und wenn wir sagen, das Gold ist der schwerste vonallen Körpern, so wäre es vermessen, wenn wir in die-sen allgemeinen Satz auch die mitbegriffen, die unsnicht bekannt sind, obgleich es nicht unmöglich ist,daß sie in der Natur seien.

Also ohne den Alten zu widersprechen, können wirdas Gegentheil behaupten von dem, was sie sagtenund welches Ansehn auch das Alterthum hat, dieWahrheit muß immer den Vorzug haben, wenn sieauch kürzlich erst entdeckt worden ist; denn sie istimmer älter als alle Meinungen, die man je über siegehabt und es hieße die Natur gar nicht kennen, wennman sich einbilden wollte, sie hätte angefangen zusein zu der Zeit, da sie anfing bekannt zu werden.

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Zweiter Abschnitt.

Betrachtungen über die Mathematik imAllgemeinen.

Bei Erforschung der Wahrheit kann man dreiHauptzwecke haben, erstens sie zu entdecken, wennman sie sucht, zweitens sie zu beweisen, wenn mansie besitzt, drittens sie vom Falschen zu unterschei-den, wenn man sie untersucht.

Ich spreche nicht von dem ersten, sondern behandlebesonders den zweiten, welcher den dritten ein-schließt; denn wenn man die Methode kennt dieWahrheit zu beweisen, so hat man zugleich die Me-thode sie zu unterscheiden, denn indem man unter-sucht, ob der Beweis, den man giebt, den Regeln, dieman kennt, gemäß ist, sieht man auch, ob er genau ge-führt ist.

Die Mathematik, die in diesen drei Stücken ausge-zeichnet ist, hat die Kunst entwickelt die unbekanntenWahrheiten zu entdecken, das nennt man Analyse undes wäre überflüssig darüber zu sprechen nach so vie-len vortrefflichen Werken, die geschrieben wordensind.

Die Methode die schon gefundenen Wahrheiten zubeweisen und dieselben so auf zu hellen, daß der

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Beweis davon unwiderleglich sei, das ist die einzige,die ich angeben will und ich brauche dazu nur denGang zu entwickeln, welchen die Mathematik dabeibeobachtet; denn sie lehrt es vollkommen.

Indessen vorher muß ich einen Begriff von einernoch höhern und vollendetern Methode geben, welcheaber die Menschen nie erreichen (denn was über dieMathematik geht, übersteigt uns) und doch ist es nö-thig etwas über sie zu sagen, obgleich es unmöglichist sie auszuüben.

Diese wahre Methode, welche die Beweise in derhöchsten Vollkommenheit bilden würde, wenn esmöglich wäre sie zu erreichen, würde in zwei Haupt-sachen bestehen, erstens sich keines Ausdrucks zu be-dienen, ohne zwar genau seinen Sinn zu entwickeln,und zweitens nie einen Satz auf zu stellen ohne ihndurch schon bekannte Wahrheiten zu beweisen, dasheißt mit einem Wort, alle Ausdrücke zu definirenund alle Sätze zu beweisen.

Aber um der Ordnung, die ich entwickle, selbst zufolgen, muß ich erklären, was ich unter Definitionverstehe. In der Mathematik erkennt man allein dieDefinitionen, welche die Logiker Namenerklärungennennen, das heißt, allein die Benennungen, die manden Dingen giebt, nachdem man sie vollkommendurch bekannte Ausdrücke bezeichnet hat, und nurvon diesen allein spreche ich.

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Ihr Nutzen und ihr Gebrauch ist Aufhellung undAbstürzung der Rede, indem man mit dem bloßenNamen, den man beilegt, das ausdrückt, was sich nurmit mehren Worten sagen ließe; doch so, daß der bei-gelegte Namen von allem andern Sinn, wenn er einenhat, entkleidet bleibt um keinen andern mehr zu habenals den, wozu man ihn einzig bestimmt. Ein Beispielist folgendes. Wenn man benöthigt ist unter den Zah-len diejenigen, die durch zwei in gleiche Theile zutheilen sind, von denen, die das nicht sind, zu unter-scheiden, so giebt man, um die öftere Wiederholungdieser Bedingung zu vermeiden, einen Namen in derArt: ich nenne jede durch zwei gleich theilbare Zahleine gerade Zahl. Das ist eine mathematische Definiti-on, denn erst hat man eine Sache klar bezeichnet,nämlich jede Zahl, die durch zwei gleich theilbar ist,und darauf giebt man ihr einen Namen, den man allerandern Bedeutung, wenn er eine hat, entkleidet umihm die Bedeutung der bezeichneten Sache zu geben.

Daraus ist ersichtlich, daß die Definitionen sehrfrei sind und nie dem Widerspruch unterworfen, dennes ist nichts mehr erlaubt als einer Sache, die manklar bezeichnet hat, einen Namen zu geben, wie manwill. Man muß sich bloß in Acht nehmen, daß mandie Freiheit, die man hat, Namen bei zu legen, nichtmißbraucht, indem man denselben an zwei verschie-dene Sachen giebt. Nicht daß das nicht erlaubt wäre,

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wenn man nur die Folgerungen daraus nicht vermengtund nicht eine auf die andre ausdehnt. Verfällt manaber in diesen Fehler, so kann man ihm ein sehr sich-res und unfehlbares Mittel entgegen setzen, nämlichdaß man die Definition in Gedanken an die Stelle desDefinirten setzt und die Definition immer so gegen-wärtig hat, daß man jedes Mal, wenn man z.B. vonder geraden Zahl spricht, genau bedenkt, das sei das,was in zwei gleiche Theile zu theilen ist, und daßdiese beiden Dinge in der Vorstellung unzertrennlichverbunden seien und daß sobald die Rede das eineausspricht, der Geist unmittelbar damit das andre ver-knüpfe. Denn die Mathematiker und alle, die metho-disch zu Werke gehn, legen den Dingen nur Namenbei um die Rede ab zu kürzen und nicht um den Be-griff der Dinge, von denen sie reden, zu verkleinernoder zu verändern und sie verlangen, daß der Geistimmer die ganze Definition bei dem kurzen Ausdruckergänze, den sie nur gebrauchen um die Verwirrungzu meiden, welche die Menge von Worten hervor-bringt.

Nichts entfernt schneller und mächtiger die ver-fängliche List der Sophisten als diese Methode, dieman immer gegenwärtig haben muß und die alleinhinreicht alle Arten von Schwierigkeiten und Zwei-deutigkeiten zu verbannen.

Ist dies zu gut verstanden, so komme ich wieder auf

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die Erklärung der wahren Ordnung zurück, die, wiegesagt, darin besteht, daß man alles definirt und allesbeweist.

Gewiß wäre diese Methode schön, aber sie ist ab-solut unmöglich, denn es ist einleuchtend, daß die er-sten Ausdrücke, die man definiren möchte, andre vor-hergehende voraussetzen würden, die zu ihrer Erklä-rung dienen müßten und daß eben so auch die erstenSätze, die man beweisen möchte, andre voraussetzenwürden, die ihnen vorangingen und auf die Art istklar, daß man nie zu den ersten gelangen würde.

Treibt man auch die Nachforschungen weiter undweiter, so kommt man nothwendig auf primitive Wör-ter, die man nicht mehr definiren kann und auf Grund-sätze, die so klar sind, daß man keine andern findet,die es mehr wären um ihnen zu Beweise dienen.

Hieraus geht hervor, daß die Menschen ein natürli-ches und unveränderliches Unvermögen haben irgendeine Wissenschaft in einer absolut vollendeten Metho-de zu behandeln; aber es folgt nicht daraus, daß mandeshalb jede Art von Methode aufgeben soll.

Denn es giebt eine, nämlich die der Mathematik,die allerdings niedriger steht darin, daß sie wenigerüberzeugend, nicht aber darin, daß sie weniger gewißist. Sie definirt nicht alles und beweist nicht alles unddarin steht sie niedriger; aber sie setzt nur Dinge vor-aus, die durch den natürlichen Verstand klar und

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ausgemacht sind und daher ist sie vollkommen wahr,denn die Natur unterstützt sie, wo die Rede es nichtthut.

Diese Methode, die vollkommenste bei den Men-schen, besteht nicht darin alles zu definiren und alleszu beweisen auch nicht darin nichts zu definiren undnichts zu beweisen, sondern darin sich in der Mitte zuhalten, nicht zu definiren die klaren und von allenMenschen verstandene Dinge und alle übrigen zu de-finiren, nicht zu beweisen die bekannten Dinge undalle übrigen zu beweisen. Gegen diese Methode sün-digen eben so gut diejenigen, die alles zu definirenund alles zu beweisen versuchen als auch die, welchedas versäumen in den Dingen, die nicht von selbsteinleuchten.

Dies lehrt die Mathematik vollkommen. Sie erklärtnichts von solchen Dingen als Raum, Zeit, Bewe-gung, Zahl, Gleichheit und dergleichen weiter, derenes sehr viele giebt; weil diese Ausdrücke die Dinge,die sie bedeuten, für die, welche die Sprache verste-hen, so natürlich bezeichnen, daß die Erklärung, dieman davon machen wollte, mehr Dunkelheit als Be-lehrung schaffen würde.

Nichts ist schwächer als das Gerede derer, die sol-che primitive Wörter definiren wollen. Welche Noth-wendigkeit giebt es z.B. zu erklären, was man unterdem Wort Mensch versteht? Weiß man nicht zur

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Genüge, was für ein Ding das ist, welches man mitdiesem Ausdruck bezeichnen will? und welchen Vort-heil meinte Plato uns zu verschaffen, da er sagte: derMensch wäre ein Thier auf zwei Beinen ohne Federn?Als wenn der Begriff, den ich natürlich davon habeund den ich nicht ausdrücken kann, nicht viel schärferund sichrer wäre als der, welchen er mir durch seineErklärung giebt, die unnütz und sogar lächerlich ist,da ein Mensch nicht die Menschheit verliert, wenn erdie beiden Beine verliert und ein Kapaun sie nicht er-langt, wenn er seine Federn los wird.

Es giebt Leute, die treiben es bis zu der Absurditätein Wort durch das Wort selbst zu erklären. Ich weißMenschen, die das Licht in folgender Art definirthaben: »das Licht ist eine leuchtende Bewegung derleuchtenden Körper;« als wenn man das Wort leuch-tend verstehen könnte ohne das Wort Licht.

Eben so kann man auch das Sein nicht definirenohne in denselben Fehler zu verfallen; denn man kannkein Wort erklären ohne zu sagen »es ist,« man mögedas nun ausdrücklich sagen oder es doch dabei sagen,um also das Sein zu definiren müßte man sagen »esist« und also in der Definition das zu definirendeWort gebrauchen.

Daraus sieht man hinlänglich, daß es Worte giebt,die nicht definirt werden können und wenn die Naturdiesen Mangel nicht durch einen gleichen Begriff, den

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sie allen Menschen gegeben hat, ersetzt hätte, so wür-den alle unsre Ausdrücke verworren sein, statt daßman sie jetzt mit derselben Sicherheit und Gewißheitgebraucht, als wenn sie auf eine vollkommen unzwei-deutige Weise erklärt wären. Die Natur hat uns vonselbst ohne Worte einen Begriff davon gegeben, dergenauer ist als der, welchen die Kunst uns durch unsreErklärungen verschafft.

Nicht alle Menschen haben denselben Begriff vondem Wesen der Dinge, welche zu definiren, wie ichbehaupte, unmöglich und unnöthig ist. Z.B. die Zeitist von der Art. Wer kann sie definiren? Und warumsoll man es versuchen, da alle Menschen verstehen,was man sagen will, wenn man von der Zeit spricht,ohne daß man sie weiter bezeichnet? Und doch giebtes viel verschiedene Meinungen über das Wesen derZeit. Einer behauptet: sie sei die Bewegung eines ge-schaffenen Dinges, der andre: sie sei das Maß der Be-wegung u.s.w. Auch behaupte ich nicht, daß die Naturdieser Dinge allen bekannt ist, sondern nur die Bezie-hung des Namens und des Dinges, so daß bei diesemAusdruck Zeit alle die Gedanken auf denselben Ge-genstand richten. Das reicht hin es unnöthig zu ma-chen, daß dieses Wort definirt werde, obgleich mannachher, wenn man untersucht, was die Zeit ist, zurVerschiedenheit der Meinung kommt, sobald man an-gefangen hat weiter darüber nach zu denken, denn die

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Definitionen sind dazu da die Dinge, die man nennt,zu bezeichnen und nicht ihre Natur zu zeigen.

Es ist ganz erlaubt mit dem Namen Zeit die Bewe-gung eines geschaffenen Dinges zu benennen, dennwie gesagt, nichts ist freier als die Definitionen. Aberwenn man diese Definition aufstellt, so giebt es dannzwei Dinge, die man Zeit nennen muß, eins ist das,was alle Welt natürlich unter diesem Wort verstehtund was alle die, welche unsre Sprache sprechen, mitdiesem Ausdruck nennen, und das andre ist dann dieBewegung eines geschaffenen Dinges, denn die mußman nun mit diesem Namen nennen in Folge jenerneuen Definition. Man muß dann aber auch die Zwei-deutigkeiten meiden und nicht die Folgerungen ver-mengen, denn es folgt nicht daraus, daß die Sache, dieman natürlicher Weise unter dem Wort Zeit versteht,auch wirklich die Bewegung eines geschaffenen Dun-ges ist. Es stand frei diese beiden Sachen gleich zunennen, aber es steht nicht frei sie eben so wie imNamen auch in dem Wesen gleich zu setzen.

Wenn man also das Wort ausspricht: die Zeit istdie Bewegung eines geschaffnen Dinges, so muß ge-fragt werden, was man unter dem Worte Zeit versteht,das heißt, ob man dem Wort den gewöhnlichen undvon allen angenommenen Sinn läßt oder ob man dem-selben den nimmt um ihm für diesen Fall den Sinn:Bewegung eines geschaffnen Dinges zu geben. Wenn

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man das Wort alles andern Sinnes entkleidet, so istnichts dagegen zu sagen, es wird eine freie Definition,in Folge deren, wie gesagt, zwei Dinge diesen Namenführen werden. Aber läßt man dem Wort seine ge-wöhnliche Bedeutung und behauptet dennoch, daßdas, was man unter diesem Wort versteht, die Bewe-gung eines geschaffenen Dinges sei, dann kann wider-sprochen werden. Das ist dann nicht mehr eine freieDefinition, es ist eine Behauptung, die beweisen wer-den muß, wenn sie nicht von selbst sehr einleuchtet,und dann ist sie auch ein Grundsatz und ein Axiom,aber niemals eine Definition, denn wenn man sich soausdrückt, meint man nicht, daß das Wort Zeit ebenso viel bedeutet als die Bewegung eines geschaffnenDinges, sondern man meint, daß das, was man unterdem Worte Zeit sich denkt, die angenommene Bewe-gung sei.

Wenn ich nicht wüßte, wie nöthig es ist diesesvollkommen zu verstehen und wie alle Augenblicke inden vertraulichen Gesprächen und in den Verhandlun-gen der Wissenschaft Fälle vorkommen, die dem ge-gebenen Beispiel gleich sind, so würde ich mich nichthierbei aufhalten. Aber nach der Erfahrung, die ichvon der Verwirrung beim Streiten habe, scheint esmir, daß man nicht tief genug eindringen kann in die-sen Sinn für Genauigkeit, um deßwillen ich dieseganze Abhandlung schreibe mehr als um des

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Gegenstandes willen, den ich hier abhandle.Denn wie viele Menschen glauben die Zeit definirt

zu haben, wenn sie sagen: sie sei das Maaß der Bewe-gung, und doch dem Wort seinen gewöhnlichen Sinnlassen? Und doch haben sie einen Lehrsatz gemacht,nicht eine Definition. Wie viele glauben eben so dieBewegung definirt zu haben, wenn sie sagen: Motusnec simpliciter motus non mera potentia est; sedactus entis in potentia (die Bewegung ist weder ein-fach Bewegung noch reine Kraft, sondern die Thateines Wesens in Kraft)? Und doch wenn sie demWorte Bewegung seinen gewöhnlichen Sinn lassen,wie sie thun, so ist es nicht eine Definition, sondernein Lehrsatz. Sie vermengen so die Definitionen, diesie Namenerklärungen nennen, die die wirklichen frei-en, erlaubten und mathematischen Definitionen sind,mit denen, die sie Sacherklärungen nennen, die ei-gentlich Sätze und als solche keineswegs frei, sonderndem Widerspruch unterworfen sind. Sie nehmen sichdie Freiheit eben so gut als die andern welche zu bil-den und indem jeder dieselben Dinge auf seine Weisedefinirt mit einer Ungebundenheit, die in dieser letz-ten Art von Definitionen eben so verboten ist wie inder ersten Art erlaubt, so verwirren sie alles; sie ver-lieren alle Ordnung und alle Einsicht und verlierensich selbst und verwickeln sich in unauflöslichenSchwierigkeiten.

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Dahin wird man nie gerathen, wenn man die Me-thode der Mathematik befolgt. Diese verständige Wis-senschaft ist weit davon entfernt jene primitiven Aus-drücke Raum, Zeit, Bewegung, Gleichheit, Wahrheit,Verminderung, Alles und die übrigen, welche jeder-mann von selbst versteht, zu definiren. Aber außerdiesen sind alle übrigen Ausdrücke, deren sie sich be-dient, in ihr so erklärt und definirt, daß man keinWörterbuch braucht um einen zu verstehen, mit einemWort, alle ihre Ausdrücke sind vollkommen verständ-lich entweder durch das natürliche Licht oder durchdie Definitionen, die sie davon giebt.

Auf diese Weise vermeidet sie alle Fehler, diegegen die erste Regel, daß man allein die Sachen,welche es bedürfen, definiren soll, können begangenwerden. Eben so thut sie in Betreff der andern Regeldie nicht einleuchtenden Sätze zu beweisen. Denn so-bald sie bis zu den ersten bekannten Wahrheiten ge-langt ist, bleibt sie stehen und verlangt, daß man siezugebe, weil sie nichts Klareres hat sie zu beweisen,so daß denn alles, was die Mathematik als Lehrsatzaufstellt, vollkommen demonstrirt wird entwederdurch die natürliche Einsicht oder durch die Beweise.

Daher kommt es, daß, wenn diese Wissenschaftnicht alle Dinge definirt und demonstrirt, das alleinaus dem Grunde geschieht, weil uns das unmöglichist.

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Vielleicht wird es befremden, daß die Mathematikkeins von den Dingen, die ihre Hauptgegenständesind, definiren kann; denn sie kann weder die Bewe-gung, noch die Zahlen, noch den Raum definiren unddoch sind es diese drei, was sie ins Besondere be-trachtet, und von deren Erforschung hat sie ihre dreiverschiednen Namen Mechanik, Arithmetik und Geo-metrie, indem dieser letzte Name die ganze Wissen-schaft wie den besondern Theil bezeichnet. Aber manwird sich nicht darüber wundern, sobald man be-merkt, daß diese herrliche Wissenschaft sich nur andie einfachsten Dinge anschließt und daß eben dieseEigenschaft, welche sie würdig macht ihr Gegenstandzu sein, sie auch undefinirbar macht. Der Mangel anDefinition ist also mehr eine Vollkommenheit vonihnen als ein Fehler, denn er entsteht nicht aus ihrerDunkelheit, sondern vielmehr aus ihrer ausnehmendenKlarheit, die so groß ist, daß sie, wenn ihr auch dieUeberführungder Beweise fehlt, doch alle Gewißheitderselben hat. Die Mathematik setzt also voraus, daßman weiß, was man unter den Wörtern Bewegung,Zahl, Raum versteht und ohne sich mit der unnützenErklärung derselben aufzuhalten durchdringt sie ihreNatur und entdeckt ihre wunderbaren Eigenschaften.

Diese drei, welche das All begreifen nach demWort »Gott hat alles in Gewicht, Zahl und Maß ge-macht,« haben eine Verbindung, die gegenseitig und

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nothwendig ist. Denn man kann sich keine Bewegungdenken ohne etwas, was sich bewegt, dieses Ding isteins und diese Einheit ist der Ursprung aller Zahlen.Endlich da die Bewegung nicht ohne Raum sein kann,so sieht man diese drei Stücke in dem ersten einge-schlossen.

Die Zeit selbst ist auch darin begriffen, denn dieBewegung und die Zeit stehn in Beziehung zu einan-der, da die Schnelligkeit und die Langsamkeit, welchedie Unterschiede der Bewegung sind, eine nothwen-dige Beziehung auf die Zeit haben.

So giebt es denn Eigenschaften, die allen diesenDingen gemein sind und deren Erkenntniß öffnet denGeist den größten Wundern der Natur. Die Hauptei-genschaft begreift die beiden Unendlichkeiten, die inallen Dingen vorkommen, die der Größe und die derKleinheit.

Wie rasch auch eine Bewegung sei, so kann mansich doch eine denken, die noch rascher wäre undauch diese letzte noch beschleunigen und so immerins Unendliche ohne je zu einer Bewegung zu kom-men, die so rasch wäre, daß man nichts mehr hinzufü-gen könnte. Und so umgekehrt, wie langsam eine Be-wegung sei, so kann man sie noch langsamer machenund diese wieder langsamer und so ins Unendlicheohne je zu einem solchen Grade von Langsamkeit zugelangen, daß man nicht noch von da zu einer

28Pascal: Gedanken über die Religion

unendlichen Menge andrer Grade herabsteigen könnteohne zur Ruhe zu kommen. Eben so, wie groß eineZahl auch sei, kann man sich eine noch größere den-ken und noch eine, welche diese letzte übersteigt undso ins Unendliche ohne je zu einer zu gelangen, dienicht mehr vergrößert werden kann, und umgekehrt,wie klein auch eine Zahl sei, als der hundertste oderzehn tausendste Theil, kann man sich doch noch einegeringere denken und immer ins Unendliche ohne zurNull oder zum Nichts zu gelangen. Wie groß einRaum sei, so kann man sich einen größern vorstellenund wieder einen, der noch größer ist und so ins Un-endliche, ohne je einen zu erlangen, der nicht vergrö-ßert werden könnte, und umgekehrt, wie klein auchein Raum sei, man kann noch einen kleinern sich den-ken und immer ins Unendliche, ohne je einen untheil-baren zu erreichen, der gar keine Ausdehnung mehrhätte.

Eben so ist es mit der Zeit. Man kann sich immereine längere vorstellen ohne letzte und wieder einekürzere, ohne zu einem Augenblick und zu einemNichts von Dauer zu kommen.

Das heißt also mit einem Wort: was für Bewegung,Zahl, Raum, Zeit man sich denke, immer giebt es einGrößeres und Geringeres, so daß alle diese Dinge sichzwischen dem Nichts und dem Unendlichen halten,immer unendlich entfernt von diesen Extremen. Alle

29Pascal: Gedanken über die Religion

diese Wahrheiten lassen sich nicht beweisen und dochsind sie die Grundlagen und ersten Anfänge der Ma-thematik. Da aber die Ursache ihrer Unbeweisbarkeitgar nicht in ihrer Dunkelheit liegt, sondern vielmehrin ihrer außerordentlichen Evidenz, so ist dieser Man-gel an Beweis nicht ein Fehler, sondern vielmehr eineVollkommenheit.

Daraus ersieht man, daß die Mathematik weder dieGegenstände erklären noch die Grundgesetze bewei-sen kann, aber allein aus dem für sie günstigen Grun-de, weil die einen wie die andern eine natürliche Klar-heit haben, welche die Vernunft mächtiger überzeugt,als Worte thun würden.

Denn was kann einleuchtender sein als die Wahr-heit, daß eine Zahl, sie sei welche sie wolle, kann ver-größert werden? Man kann sie verdoppeln, kann dieSchnelligkeit einer Bewegung verdoppeln und einenRaum desgleichen. Und wer ist im Stande daran zuzweifeln, daß eine Zahl, sie sei welche sie wolle, indie Hälfte und ihre Hälfte wieder in die Hälfte getheiltwerden kann? Denn, würde nun diese Hälfte einNichts sein? Wie sollten denn diese beiden Hälften,die zwei Nullen wären, eine Zahl ausmachen?

Eben so eine Bewegung, wie langsam sie auch sei,kann sie nicht noch um die Hälfte langsamer gemachtwerden, so daß sie denselben Raum in der doppeltenZeit durchläuft, und diese letzte Bewegung läßt sie

30Pascal: Gedanken über die Religion

nicht noch verlängern? Würde das aber eine reineRuhe sein? Und wie sollte es zugehn, daß diese bei-den Hälften der Bewegung, die zwei Ruhen wären,die erste Bewegung ausmachten?

Endlich ein Raum, wie klein er sei, kann er nicht inzwei Hälften getheilt werden und diese wieder? Undwie sollte es möglich sein, daß diese Hälften untheil-bar wären, ohne alle Ausdehnung, da sie doch miteinander verbunden die erste Ausdehnung machten?

Es giebt keine natürliche Erkenntniß im Menschen,welche diesen an Klarheit voranginge und sie über-träfe. Indessen, damit es doch Beispiele gäbe vonallen, finden man Köpfe, die in allen andern Dingenausgezeichnet sind und die doch an diesen Unendlich-keiten Anstoß nehmen und auf keine Weise dem beizu stimmen vermögen. Ich habe nie jemand gesehn,der gemein: ein Raum könnte nicht vergrößert wer-den; aber ich habe einige, sonst sehr kluge Menschengesehn, die versicherten, ein Raum könnte in zweiuntheilbare Stücke getheilt werden, so abgeschmacktdas auch ist. Ich habe recht nachforscht in ihnen, wasdoch die Ursache dieser Dunkelheit sein könnte undhabe gefunden, daß es nur eine Hauptursache gab, daswar, daß sie nicht im Stande waren ein unendlichtheilbares Continuum sich vor zu stellen, woraus siedenn schließen, daß es nicht so theilbar sei.

Das ist eine natürliche Krankheit des Menschen zu

31Pascal: Gedanken über die Religion

glauben, daß er die Wahrheit gerade zu besitzt unddaher kommt es, daß er immer geneigt ist alles zuleugnen, was er nicht begreift, da er doch in der Wirk-lichkeit auf natürliche Weise nur den Irrthum kenntund für wahr nur das nehmen darf, wovon das Gegen-theil ihm falsch scheint. Daher, so oft ein Satz unbe-greiflich ist, muß man das Urtheil darüber zurück hal-ten und ihn um dieses Merkmals willen leugnen, son-dern das Gegentheil prüfen und wenn man dieses of-fenbar falsch findet, kann man dreist den ersten Satzbehauptet, wie unbegreiflich er auch sei. Diese Regelwollen wir auf unsern Gegenstand anwenden.

Es giebt keinen Mathematiker, der nicht glaube,daß der Raum ins Unendliche theilbar ist. Ohne die-sen Grundsatz kann man eben so wenig ein Mathema-tiker sein als ohne Seele ein Mensch. Und doch giebtes keinen Mathematiker, der eine unendliche Theilungfaßt und man versichert sich dieser Wahrheit nurdurch den einzigen Grund, der freilich auch gewiß ge-nügend ist, daß man vollkommen faßt, wie falsch esist, wenn man meint einen Raum theilen und auf einUntheilbares d.h. auf etwas, das keine Ausdehnunghat, kommen zu können. Was kann absurder sein alszu meinen, wenn man einen Raum immer theile,komme man endlich zu einem Stück, was so wäre,daß, wenn man es wieder in zwei theilt, jede der Hälf-ten untheilbar und ohne Ausdehnung bleibt? Wer

32Pascal: Gedanken über die Religion

diese Meinung hat, den möchte ich fragen, ob ergenau faßt wie zwei untheilbare Dinge sich berühren;ists überall, so sind sie nur ein und dasselbe Ding undfolglich sind die beiden zusammen untheilbar, istsaber nicht überall, so ist es nur an einem Theil, alsohaben sie Theile und sind also nicht untheilbar.

Wenn sie denn nun bekennen (wie sie es wirklichgestehn, wenn man sie drängt) daß ihr Satz eben sounbegreiflich ist als der andre, so mögen sie denn an-erkennen, daß wir nicht nach unsrer Fähigkeit dieseDinge zu begreifen über ihre Wahrheit urtheilen dür-fen, denn diese zwei entgegengesetzten Sätze sind allebeide unbegreiflich und demnach ist nothwendig einervon beiden wahre.

Können sie aber nicht begreifen, wie Theile, die soklein sind, daß wir sie nicht bemerken, so viel getheiltwerden können als das Firmament, so giebt es keinbesseres Mittel als ihnen dieselben durch Vergröße-rungsgläser zu zeigen, die den seinen Punkt zu einerungeheuren Masse vergrößern. Dadurch werden sieleicht begreifen, daß man mit Hilfe eines andern, nochkünstlicher geschliffenen Glases sie vergrößern könn-te, bis sie dem Firmament gleichen, dessen Ausdeh-nung sie bewundern. Dann werden ihnen diese Ge-genstände sehr leicht als theilbar erscheinen, wenn siebedenken, daß die Natur unendlich mehr kann als dieKunst. Denn wer hat sie dessen gewiß gemacht, daß

33Pascal: Gedanken über die Religion

diese Gläser die natürliche Größe jener Dinge verän-dert haben oder, wenn sie umgekehrt die wahre Größewieder hergestellt, daß das Bild unsres Auges sie ge-ändert und verkürzt hat wie die Verkleinerungsgläser?

Zwei Nichts an Ausdehnung können nicht eineAusdehnung machen. Wenn es aber doch Leute giebt,die dieser Einsicht entgegen zu können meinen durchdie wundervolle Antwort, daß zwei Nichts an Aus-dehnung eben so gut eine Ausdehnung machen kön-nen, als zwei Einheiten, deren doch keine eine Zahlist, durch ihr Zusammenkommen eine Zahl machen,so muß man ihnen antworten, daß sie auf dieselbe Artentgegen setzen können, zwanzig tausend Mann ma-chen ein Heer, obgleich keiner von ihnen Heer ist,tausend Häuser machen eine Stadt, obgleich keinesStadt ist oder die Theile machen das Ganze, obgleichkeiner das Ganze ist. Will man von den Zahlen eineVergleichung hernehmen, die richtig darstellen, waswir an der Ausdehnung beobachten, so muß das dieBeziehung der Null zu den Zahlen sein. Das ist einwahrhaft Untheilbares der Zahl, wie das Untheilbaredie wahre Null der Ausdehnung ist. Ein gleiches Ver-hältniß wird man zwischen der Ruhe und der Bewe-gung und zwischen einem Moment und der Zeit fin-den. Alle diese Größen sind theilbar ins Unendlicheohne ins Untheilbare zu gerathen, so daß sie alle dieMitte halten zwischen dem Unendlichen und dem

34Pascal: Gedanken über die Religion

Nichts.Das ist das bewundernswürdige Verhältniß, in wel-

ches die Natur die Dinge zu einander gesetzt hat unddas sind die wunderbaren Unendlichkeiten, die sie denMenschen vorgelegt hat nicht zu begreifen, sondernzu bewundern.

Wer mit diesen Gründen nicht zufrieden ist und indem Glauben bleibt, daß der Raum nichts ins Unend-liche theilbar sei, der kann nicht auf mathematischeBeweise Anspruch machen und wie aufgeklärt er auchin andern Dingen sein mag, in jenen ist er es sehrwenig; denn man kann ganz gut ein sehr kluger Mannsein und ein schlechter Mathematiker.

Diejenigen aber, die diese Wahrheiten klar erken-nen, werden die Größe und die Macht klar erkennen,werden die Größe und die Macht der Natur in dieserdoppelten Unendlichkeit, die uns von allen Seiten um-giebt, bewundern können und aus dieser merkwürdi-gen Betrachtung sich selbst kennen lernen, indem siesich gestellt sehen zwischen einem Unendlichen undeinem Nichts der Ausdehnung, der Zahl, Bewegungund Zeit. Da kann man wohl lernen seinen wahrenWerth schätzen und sehr wichtige Betrachtungen an-stellen, die mehr werth sind als die ganze übrige Ma-thematik selbst.

Ich hielt mich verpflichtet dies so lang und weit-läuftig aus einander zu setzten zum Besten derer, die

35Pascal: Gedanken über die Religion

nicht auf den ersten Blick sogleich diese doppelte Un-endliche begreifen und doch fähig sind davon über-zeugen zu lassen. Und ob schon viele Einsicht genughaben um diese Abhandlung entbehren zu können, somag es doch wohl der Fall sein, daß sie einigen nö-thig und andern ganz unnütz sein wird.

36Pascal: Gedanken über die Religion

Dritter Abschnitt.

Von der Kunst zu überzeugen.

Die Kunst zu überzeugen steht in nothwendigerBeziehung zu der Weise, wie die Menschen in das,was man ihnen vorstellt, einstimmen und zu Bedin-gungen dessen, was man glauben machen will.

Jedermann weiß, daß es zwei Eingänge giebt, wo-durch die Meinungen sich in die Seele schleichen, dassind diese beiden Hauptvermögen: der Verstand undder Willen. Der natürlichste Eingang ist der des Ver-standes, denn man sollte beistimmen nur den bewiese-nen Wahrheiten; aber der gewöhnlichste, wenn auchwidernatürliche, ist der des Willens, denn alle Men-schen, die es nur giebt, werden beinahe immer zumGlauben hingerissen nicht durch den Beweis, sonderndurch das Wohlgefallen.

Dieser Weg ist niedrig, unwürdig und seltsam,auch leugnet jedermann ihn ab. Jeder stellt sich, alsglaube er und liebe sogar nur, was er dessen würdigerkannt hat.

Ich rede hier nicht von den göttlichen Wahrheiten,die ich nicht unter die Kunst zu überzeugen stellendarf; denn sie sind unendlich erhaben über der Natur,Gott allein kann sie in die Seelen einpflanzen und

37Pascal: Gedanken über die Religion

zwar auf die Weise, die ihm beliebt. Ich weiß, er hatgewollt, daß sie aus dem Herzen in den Geist überge-hen und nicht aus dem Geist ins Herz, um dieseshochmüthige Vermögen der Vernunft zu demüthigen,das sich anmaßt Richter zu sein über die Dinge, wel-che der Wille wählt, und um diesen kranken Willenzu heilen, der sich durch seine unwürdigen Anhäng-lichkeiten ganz verderbt hat. Und daher kommt es,wenn man von den menschlichen Dingen sagt, manmüsse sie kennen, ehe man sie liebe (was zum Sprich-wort geworden ist) so sagen die Heiligen im Gegen-theil, wenn sie von göttlichen Dingen reden, manmüsse sie lieben und sie zu kennen und man dringe indie Wahrheit nicht anders als durch die Liebe, woraussie einen ihrer heilsamsten Sprüche gemacht haben.

Hierin zeigt sich, daß Gott diese Ordnung gegrün-det hat, die übernatürlich und ganz der Ordnung ent-gegen ist, welche den Menschen in den natürlichenDingen natürlich sein sollte. Sie haben aber dieseOrdnung verkehrt, indem sie mit den weltlichen Din-gen thun, was sie mit den heiligen Dingen thun soll-ten, weil wir in der That fast nichts glauben als wasuns gefällt. Daher kommt es, daß wir so weit entferntsind den Wahrheiten der christischen Religion bei zustimmen, da sie unsern Freunden ganz entgegen ge-setzt ist. »Ganz uns angenehme Sachen und wir wer-den dir gehorchen,« sagten die Juden zu Mose, als

38Pascal: Gedanken über die Religion

wenn das Wohlgefallen die Regel für den Glaubengeben soll. Und eben um diese Unordnung zu strafennach einer Ordnung, die ihm gemäß ist, gießt Gottnicht eher sein Licht in die Seele, als bis er die Empö-rung des Willens gedämpft hat mit einer ganz himmli-schen Sanftmuth, die ihn entzückt und mitreißt.

Ich spreche also nur von den Wahrheiten, die wirfassen, und von diesen behaupte ich, daß der Verstandund das Herz gleichsam die Thüren sind, durch wel-che sie in die Seele hinein gelangen, daß aber sehrwenige durch den Verstand eingehen, wogegen sie inMenge durch die kecken Einfälle des Willens einge-führt werden ohne den Rath der Vernunft.

Diese Vermögen haben jedes ihre Prinzipien underste Urheber ihrer Handlungen.

Die des Geistes sind natürliche und aller Welt be-kannte Wahrheiten, wie z.B., daß das Ganze größerist als sein Theil und außerdem mehre besondereAxiome, die einige annehmen und andre nicht, dieaber, sobald sie zugegeben werden, wenn gleichfalsch, doch eben so mächtig sind den Glauben zu er-langen als die wahrsten.

Die des Willens sind gewisse natürliche und allenMenschen gemeine Wünsche, wie z.B., der Wunschglücklich zu sein, welchen kein Mensch nicht habenkann, und außerdem mehre besondere Gegenstände,denen jeder nachgeht um sie zu erlangen und die in

39Pascal: Gedanken über die Religion

der Kraft uns zu gefallen, wenn gleich in Wahrheitverderblich, doch eben so stark sind unsern Willenzum Handeln zu bewegen, als wenn sie sein wahresGlück machten.

Das ists, was über die Vermögen, die uns zur Zu-stimmung bewegen, gesagt werden mußte. Was aberdie Eigenschaften der dinge, von denen wir überzeu-gen wollen, anbetrifft, so sind sie sehr verschieden.

Einige entnimmt man durch eine nothwendige Fol-gerung aus den allgemeinen Grundsätzen und zuge-standenen Wahrheiten. Von diesen kann man unfehl-bar überzeugen, denn wenn man die Beziehung, diesie zu den zugestandenen Wahrheiten haben, nach-weist, so ist es eine unvermeidliche Nothwendigkeit,sie müssen überzeugen und es ist unmöglich, daß dieSeele sie nicht annimmt, sobald man sie unter jene zu-gelassene Wahrheiten hat einreihen können.

Einige haben eine enge Verbindung mit den Gegen-ständen unsers Vergnügen und diese werden auch mitGewißheit angekommen; denn sobald man der Seelebemerklich machen kann, so ist es unvermeidlich, sieergreift es mit Freuden.

Diejenigen gar, welche diese Verbindung zusam-men mit den zugestandenen Wahrheiten und mit denWünschen des Herzens haben, sind ihrer Wirkung sogewiß, daß nichts in der Welt gewisser ist, wie imGegentheil was weder zu unsern schon vorhandenen

40Pascal: Gedanken über die Religion

Ueberzeugungen noch zu unsern Wünschen eine Be-ziehung hat, uns ungelegen, falsch und gänzlich fremdist.

In allen diesen Fällen giebt es nichts zu zweifeln.Allein es giebt Fälle, wo das, was man glauben ma-chen will, sehr wohl auf anerkannten Wahrheiten be-ruht, aber auf solchen, die zu gleicher Zeit unsernliebten Freuden entgegen sind. Und dieses ist dannnach einer nur zu gewöhnlichen Erfahrung in großerGefahr das, was ich am Anfange gesagt, an den Tagzu bringen, daß diese hochmüthige Seele, die sichrühmte nur nach Vernunft zu handeln, mit einerschimpflichen und vermessenen Wahl dem nachgeht,was ein verderbter Willen begehrt, welchen Wider-stand auch der zu aufgeklärte Geist entgegen setztenmöge.

Dann beginnt ein zweifelhaftes Schwanken zwi-schen der Wahrheit und der Lust und die Erkenntnißder ersten und das Gefühl der andern erheben einenKampf, dessen Erfolg sehr ungewiß, was in dem In-nersten des Menschen vorgeht und was der Menschselbst beinahe niemals weiß.

Daraus geht dies hervor: man muß, wovon manauch überzeugen wolle, Rücksicht nehmen auf denMenschen, auf den man es abgesehen hat; man mußdessen Geist und Herz kennen, muß wissen, welchenGrundsätzen er beistimmt, welche Dinge er liebt, und

41Pascal: Gedanken über die Religion

ferner bei er Sache, um die es sich handelt, achtgeben, welche Beziehung sie hat zu den zugestande-nen Grundsätzen oder zu den Gegenständen, diewegen der Reize, die man ihnen beilegt, als köstlichangesehen werden. So besteht denn die Kunst zuüberzeugen eben so wohl in der Kunst zu überzeugeneben so wohl in der Kunst annehmlich zu machen alsin der Kunst zu überführen, so sehr lassen sich dieMenschen mehr von Einfällen sich die Menschenmehr von Einfällen als von der Vernunft regieren!

42Pascal: Gedanken über die Religion

Vierter Abschnitt.

Allgemeine Kenntniss des Menschen.

1.

Das Erste, was sich dem Menschen darbietet, wenner sich betrachtet, ist sein Leib, d.h. ein gewisserTheil der Materie, der ihm eigen zugehört. Aber umzu verstehn, was derselbe ist, muß er ihn mit allemvergleichen, was über ihm und was ihm steht, damiter seine rechten Grenzen erkenne.

Er bleibe also nicht dabei stehn einfach die Gegen-stände, die ihn umgeben, zu betrachten, er beobachte,die ganze Natur in ihrer hohen und vollen Majestät, erbeschaue jenes stralende Licht, das wie eine ewigeLampe hingestellt ist das Universum zu erleuchten,die Erde erscheine ihm wie ein Punkt im Vergleichmit der ungeheuern Bahn, welche dies Gestirn um-schreibt, und er erstaune, daß diese ungeheure Bahnselbst nur ein sehr seiner Punkt ist von der Bahn, aufwelcher die Gestirne am Firmament rollen. Aber wennunser Blick hier anhält, so gehe die Einbildungskraftdarüber hinaus. Sie wird eher müde werden zu fassenals die Natur zu geben. Alles, was wir von der Weltsehen, ist nur ein unbemerkbarer Punkt im weiten

43Pascal: Gedanken über die Religion

Reich der Natur. Kein Gedanke kommt der Ausdeh-nung ihrer Räume nach. Vergebens dehnen wir unsreGedanken aus, wir bringen nichts hervor als Atomeim Vergleich mit der Wirklichkeit der Dinge. Das isteine unendliche Kugel, deren Mittelpunkt überall,deren Umkreis nirgend ist. Genug, es ist einer dergrößten merklichen Züge der Allmacht Gottes, daßunsre Einbildungskraft sich in diesem Gedanken ver-liert.

Möge der Mensch in sich selbst zurück kehren undbetrachten was er ist im Vergleich mit dem, was ist:er sehe sich an als verirrt in diesem abgelegenen Be-zirk der Natur und wie ihm dieser kleine Kerker, inwelchem er sitzt, nämlich diese sichtbare Welt er-scheint, lerne er daraus die Erde, Die Reiche, dieStädte, sich selbst und seinen wahren Werth schätzen.

Was ist der Mensch im Unendlichen? Wer kannihn begreifen? Aber um ihm ein anders eben so stau-nenswerthes Wunder zu zeigen, suche er in dem, waser kennt, die geringfügigen Dinge auf. Eine Mildez.B. mag ihm in der Kleinheit ihres Körpers noch un-vergleichlich kleinere Theile darbieten, Beine mit Ge-lenken, Adern in diesen Beinen, Blut in diesen Adern,Feuchtigkeit in diesem Blut, Tropfen in diesemFeuchtigkeiten, Dünste in diesen Tropfen, nun theileer noch er noch diese letzten Dinge und erschöpfeseine Kräfte und Gedanken und der letzte Gegenstand,

44Pascal: Gedanken über die Religion

wohin er gelangen kann, sei nun das, wovon wir redenwollen. Vielleicht wird er meinen, das sei die äußersteKleinheit der Natur. Ich will ihm darin einen neuenAbgrund zeigen. Ich will ihm ausmalen nicht nur dasfühlbare Universum, sondern auch alles, was er imStande ist zu fassen von der Unermeßlichkeit derNatur im Umfang dieses unbemerkten Atoms. Er sehedarin eine Unzahl von Welten, von denen jede ihr Fir-mament, ihre Planeten, ihre Erde hat in gleichem Ver-hältniß wie die fühlbare Welt, auf dieser Erde Thiereund wieder Milben, in denen er wieder findet, was erin den ersten fand und auch in den andern findet ereben dasselbe ohne Ende und ohne Aufhören.

Er verliere sich in diesen Wundern, eben so erstau-nenswerth durch ihre Kleinheit als die andern durchihre Ausdehnung. Denn wer bewundert nicht, daßunser Leib, der eben erst nicht bemerkbar war in demUniversum, das selbst unbemerkbar ist im Schloß desAlls, jetzt ein Koloß ist, eine Welt oder vielmehr einAll im Betracht der letzten Kleinheit, wohin mannicht gelangen kann?

Wer sich auf diese Art betrachtet, wird erschrecken,sich in der Masse, die ihm die Natur gegeben hat,gleichsam schweben zu sehen zwischen den beidenAbgründen des Unendlichen und des Nichts, vondenen er gleich weit entfernt ist. Er wird zittern beimAnblick dieser Wunder und ich glaube: seine Neugier

45Pascal: Gedanken über die Religion

wird sich in Bewunderung verwandeln und mehr seinsie still zu beschauen als sie hochmüthig zu untersu-chen.

Denn genug, was ist der Mensch in der Natur? EinNichts im Vergleich mit dem Unendlichen, ein All imVergleich mit dem Nichts, ein Mittelding zwischenBeiden. Er ist unendlich fern von den beiden Extre-men und sein Wesen ist nicht weniger entfernt vomNichts, woraus er gezogen ist, als vom Unendlichen,worin er sich verliert.

Seine Vernunft steht in der Reihe der erkennbarenDinge auf derselben Stufe als sein Körper in der wei-ten Natur und alles, was sie vermag, ist, daß sie eini-gen Schein von der Mitte der Dinge bemerkt, in ewi-ger Verzweiflung weder ihren Anfang noch ihr Endezu kennen. Alle Dinge sind hervor gegangen aus demNichts, und streben nach dem Unendlichen. Wer kanndiese erstaunlichen Schritte verfolgen? Der Urheberdieser Wunder faßt sie, kein andrer kann das.

Dieser Zustand, der die Mitte hält zwischen denExtremen, findet sich in allen unsern Kräften. UnsreSinne fassen, findet sich in allen unsern Kräften.Unsre Sinne fassen nichts Extremes. Zu viel Lärmmacht uns taub, zu viel licht blendet uns, zu viel Ent-fernung und zu viel Nähe verhindern das Sehen, zuviel Länge und zu viel Kürze verdunkeln eine Rede,zu viel Freude wird lästig, zu viel Consonanzen

46Pascal: Gedanken über die Religion

mißfallen. Wir fühlen weder äußerste Hitze noch äu-ßerste Kälte. Die übermäßigen Eigenschaften sind unsfeindlich und nicht fühlbar; wir fühlen sie nicht mehr,wir leiden sie. Zu viel Jugend und zu viel Alter hin-dern den Geist, und zu viel und zu wenig Nahrungstören seine Verrichtungen, zu viel und zu wenig Un-terrichtet macht ihn dumm. Die extremen Dinge sindfür uns als wären sie nicht und wir sind nicht inBezug auf sie. Sie entgehn uns oder wir ihnen.

Das ist unser wahrer Zustand. Dies schließt unsreBegriffe in gewisse Grenzen ein, die wir nicht über-schreiten, unfähig alles zu wissen und alles nicht zuwissen. Wir sind auf einer ungeheuren weiter Mitte,immer ungewiß und schwebend der Unwissenheit undder Erkenntniß und wenn wir meinen weiter vorwärtszu gehen, so wankt unser Gegenstand und entwischtunsrer Fassungskraft; er entzieht sich und flieht ineiner ewigen Flucht, nichts kann ihn aufhalten. Dasist unsre natürliche Lage, die jedoch unsrer Neigungam Meisten entgegen ist. Wir brennen von Verlangenalles zu ergründen und einen Thurm auf zu bauen, dersich bis zum Unendlichen erheben soll. Aber unserganzer Bau kracht und die Erde öffnet sich bis zumAbgrund.

47Pascal: Gedanken über die Religion

2.

Ich kann mir wohl einen Menschen vorstellen ohneHände, ohne Füße und ich könnte ihn mir selbst ohneKopf vorstellen, wenn nicht die Erfahrung mich lehr-te, daß er damit denkt. Das Denken also ist es, wasdas Wesen des Menschen macht und ohne das manihn sich nicht vorstellen kann. Was fühlt in uns Ver-gnügen? Ists die Hand? der Arm? das Fleisch? dasBlut? Man wird sehen, daß es etwas Immateriellessein muß.

3.

Der Mensch ist so groß, daß seine Größe sichselbst darin zeigt, daß er sein Elend erkennt. EinBaum erkennt nicht sein Elend. Freilich es ist wahr,das ist ein Elend sein Elend zu erkennen, aber es istauch eine Größe zu erkennen, daß man elend ist. Sobeweist alle dieses Elend seine Größe, es ist ein Elendeines großen Herrn, eines entthronten Königs.

48Pascal: Gedanken über die Religion

4.

Wer fühlt sich unglücklich nicht König zu sein alsnur ein entthronten König? Fand man Aemilius Pau-lus unglücklich, weil er nicht mehr Consul war? ImGegentheil, alle Welt fand, daß er glücklich war esgewesen zu sein, weil er es seinem Stande nach nichtimmer sein konnte. Aber man fand Perseus so un-glücklich nicht mehr König zu sein, weil er es seinemStande nach immer sein konnte, so daß man es auffal-lend fand, daß er das Leben zu ertragen vermochte.Wer findet sich unglücklich nur einen Mund zuhabenund wer findet sich nicht unglücklich nur ein Auge zuhaben? Man ist vielleicht noch nie auf den Einfall ge-kommen sich zu betrüben, daß man nicht drei Augenhat, aber man ist untröstlich, wenn man nur eins hat.

5.

Wir haben einen so großen Begriff von dermenschlichen Seele, daß wir es nicht ertragen könnenvon ihr verachtet zu sein und nicht in der Achtungeiner Seele zu stehn, und alle Glückseligkeit der Men-schen besteht in dieser Achtung. Ist jene falsche Ehre,welche die Menschen suchen, von der einen Seite eingroßes Zeichen ihres Elends und ihrer Niedrigkeit, so

49Pascal: Gedanken über die Religion

ist es auch ein Zeichen ihrer Vorzüglichkeit. Dennwelche Besitzthümer ein Mensch auch der Erde habe,welcher Gesundheit und wesentlicher Bequemlichkeiter auch genieße, er ist nicht zufrieden, wenn er nichtin der Achtung der Menschen steht. Er achtet das Ur-theil des Menschen so groß, daß er, welchen Vortheiler auch in er Welt habe, sich dennoch für unglücklichhält, wenn er nicht eben so vortheilhaft in dem Urtheildes Menschen gestellt ist. Das ist die schönste Stelleder Welt, nichts kann ihn von diesem Verlangen ab-ziehen und das ist die unauslöschlichste Eigenschaftdes menschlichen Herzens. Das geht so weit, daß die,welche am meisten die Menschen verachten, und sieden Thieren gleich stellen, doch von ihnen bewundertsein wollen und sich selbst widersprechen durch ihreignes Gefühl. Die Natur, mächtiger als alle ihre Ver-nunft, überzeugt sie stärker von der Größe des Men-schen als die Vernunft sie von seiner Niedrigkeitüberzeugt.

6.

Der Mensch ist nichts als ein Rohr, das schwächsteder Natur, aber ein denkendes Rohr. Es ist nicht nö-thig, daß das ganze Universum sich rüste ihn zu zer-malmen. Ein Dunst, ein Tropfen Wasser reicht hin ihnzu zermalmen. Ein Dunst, ein Tropfen Wasser reicht

50Pascal: Gedanken über die Religion

hin ihn zu tödten. Aber wenn das Universum ihn zer-malmte, würde der Mensch noch edler sein als das,was ihn tödtet, weil er weiß, daß er stirbt und welchenSieg das Universum über ihn hat, das Universumweiß nichts davon. Also alle unsre Würde besteht imDenken. Dessen müssen wir uns rühmen, nicht desRaums und der Dauer. Wir müssen uns also bemühengut zu denken, das ist die Grundlage der Moral.

7.

Es ist gefährlich dem Menschen es zu viel vor zustellen, wie sehr er den Thieren gleich ist, ohne ihmseine Größe zu zeigen. Es ist aber auch gefährlichihm zu viel seine Größe sehen zu lassen, ohne seineNiedrigkeit. Es ist noch gefährlicher ihn unbekannt zulassen mit einem wie mit dem andern. Aber es ist sehrvortheilhaft ihm das eine wie das andre vor zu stellen.

8.

Der Mensch schätze denn seinen Werth. Er liebesich, denn er hat in sich eine Natur, die des Gutenfähig ist, aber darum liebe er nicht dies Niedrige, wasdarin ist. Er verachte sich, weil seine Fähigkeit leerist, aber darum verachte er nicht jene natürliche Fä-higkeit. Er hasse sich; er liebe sich. Er hat in sich die

51Pascal: Gedanken über die Religion

Fähigkeit die Wahrheit zu erkennen und glücklich zusein; aber er hat keine Wahrheit weder bleibend nochgenügend. Ich möchte also den Menschen dahin brin-gen, daß er verlangen sie zu finden, daß er bereit undfrei von Leidenschaften sei um ihr zu folgen, wo er siefindet und da ich weiß, wie sehr seine Vernunft sichdurch die Leidenschaften verdunkelt hat, möchte ich,daß er in sich die Begierde hassen, die jene nach sichselbst bestimmen, damit sie ihn nicht blind mache,wenn er seine Wahl trifft und ihn nicht aufhalte, wenner gewählt hat.

9.

Ich tadle gleicher Weise so wohl die, welche denEntschluß fassen den Menschen zu loben als die, wel-che sich entschließen ihn zu tadeln als auch die, wel-che sich entschließen ihn zu zerstreuen und ich kannnur die suchen mit Seufzen.

Die Stoiker sagen: Kehrt ein in euch selbst und dawerdet ihr eure Ruhe finden und das ist nicht wahr.Andre sagen: Wendet euch nach und suchet das Glückin Zerstreuung und das ist nicht wahr. Die Krankhei-ten kommen, das Glück ist weder in uns noch außeruns, es ist in Gott und in uns.

52Pascal: Gedanken über die Religion

10.

Die Natur des Menschen läßt sich auf zweierlei Artbetrachten, nach seinem Zwecke, dann ist er groß, undunbegreiflich und nach der Erscheinung, gleich gleichwie man von der Natur des Pferdes und des Hundesurtheilt, nach der Erscheinung, wie sie sich im Laufzeigen und im Muth zur Vertheidigung, und dann istder Mensch verworfen und schlecht. Das sind die bei-den Arten, die so verschiedne Urtheile und so vieleStreitigkeiten der Philosophen veranlassen. Denneiner leugnet die Voraussetzung des andern; der einesagt: er ist nicht zu jener Bestimmung geboren, dennalle seine Handlungen widerstreiten dem, der andresagt: er entfernt sich von seiner Bestimmung, wenn erjene niedrigen Handlungen thut. Zweierlei belehrt denMenschen über seine ganze Natur, der Institut und dieErfahrung.

11.

Ich fühle es, ich kann nicht gewesen sein, denn dasIch besteht in meinem Denken, mithin ich, der denkt,würde nicht gewesen sein, wenn meine Mutter getöd-tet worden wäre, ehe ich beseelt worden. Mithin binich nicht ein nothwendiges Wesen, ich bin auch weder

53Pascal: Gedanken über die Religion

ewig noch unendlich, aber ich sehe wohl, daß es inder Natur ein Wesen giebt, das nothwendig, ewig undunendlich ist.

54Pascal: Gedanken über die Religion

Fünfter Abschnitt.

Eitelkeit des Menschen. Wirkungen der Eigenliebe.

1.

Wir begnügen uns nicht mit dem Leben, das wir inuns und in unserm eignen Sein haben; wir wollen inder Idee der andern leben, ein eingebildetes Lebenund strengen uns darum an zu scheinen. Unaufhörlichmühen wir uns ab dieses imaginäre Sein zu verschö-nern und zu erhalten und vernachlässigen das wahreSein. Besitzen wir Ruhe, Großmuth oder Treue, sobeeifern wir uns es sehen zu lassen um diese Tugen-den an jenes eingebildete Sein zu heften, wir würdensie lieber von uns los machen um sie dort an zu brin-gen und wir würden mit Freunden Memmen sein umden Ruf der Tapferkeit zu erlangen. Das ist ein großesZeichen von der Nichtigkeit unsers eignen Seins, daßwir mit dem einen ohne das andre nicht zufrieden sindund oft auf das eine verzichten um des andre nicht zu-frieden sind und oft auf das eine verzichten um desandern willen. Denn wer nicht streben wollte umseine Ehre zu erhalten, der wäre ehrlos. Die Süßigkeitdes Ruhms ist so groß: woran man ihn auch knüpfe,selbst an den Tod, man liebt ihn.

55Pascal: Gedanken über die Religion

2.

Der Stolz hält all unserm Elend das Gegengewicht,denn entweder er verbirgt es oder wenn er es aufdeckt,so macht er sich eine Ehre daraus es zu erkennen. Erhält uns so natürlich im Besitz mitten in unsermElend und in unsern Irrthümern, daß wir selbst dasLeben mit Freuden verlieren, wenn nur davon spricht.

3.

Die Eitelkeit ist so fest gewurzelt im Herzen desMenschen, daß ein Packknecht, ein Küchenjunge, einLastträger sich rühmt und seine Bewundrer habenwill, und die Philosophen selbst wollen dergleichenhaben. Die, welche gegen den Ruhm schreiben, su-chen den Ruhm gut geschrieben zu haben, und die,welche es lesen, suchen den Ruhm es gelesen zuhaben, und ich, der ich dieses schreibe, habe vielleichtdiese Begierde und vielleicht die, welche es lesen wer-den, haben sie auch.

56Pascal: Gedanken über die Religion

4.

Trotz dem Anblick alles unsers Elends, das unsfaßt und an der Kehle hält, haben wir doch einenTrieb, den wir nicht unterdrücken können, der uns er-hebt.

5.

Wir sind so anmaßend, daß wir gekannt sein möch-ten von er ganzen Welt und selbst von den Menschen,die kommen werden, wenn wir nicht mehr sind, undwir sind so eitel, daß die Achtung von fünf oder sechsPersonen, die uns umgehen, uns erfreut und zufriedenmacht.

6.

Die Neugierde ist nichts als Eitelkeit. Meistentheilswill man nur wissen um davon zu sprechen. Manwürde nichts eine Reise machen übers Meer um niedavon zu reden, einzig aus Vergnügen zu sehen, ohneHoffnung sich je mit einem Menschen darüber zu un-terhalten.

57Pascal: Gedanken über die Religion

7.

Man frägt nichts darnach geachtet zu werden in denStädten, wo man bloß durchreist; aber wenn man dortauch nur kurze Bleiben soll, frägt man darnach. Wieviel Zeit gehört dazu? Eine Zeit verhältißmäßig zuunser eiteln und geringer Dauer.

8.

Die Natur der Eigentliche und dieses menschlichenIchs ist nichts zu lieben als sich und nichts zu beach-ten als sich. Aber was soll das Ich thun? Es kannnicht verhindern, daß der Gegenstand, den es liebt,voll von Mängeln und Elend ist, es will groß sein undsieht sich klein; es will glücklich sein und sieht sichelend, es will vollkommen sein und sieht sich vollUnvollkommenheiten, es will der Gegenstand derLiebe und Achtung der Menschen sein, und sieht, daßseine Mängel nichts verdienen als ihre Abneigung undVerachtung. Diese Verlegenheit, in welcher es sichbefindet, erzeugt in ihm die ungerechteste und straf-barste Leidenschaft, die man sich denken kann. Esfaßt einen tödtlichen Haß gegen diese Wahrheit, diees straft und seiner Mängel überführt. Es möchte sievernichten und da es sie nicht an sich zerstören kann,

58Pascal: Gedanken über die Religion

zerstört es sie, so viel es vermag, in seiner Erkenntnißund in der Erkenntniß der andern, d.h. es giebt sichalle Mühe seine Mängel sich und andern zu verdeckenund kann nicht leiden, daß man sie ihm zeige noch siesehe.

Es ist gewiß ein Uebel voll Mängel zu sein; aber esist noch ein größeres Uebel davon voll zu sein und sienicht erkennen zu wollen, weil dann ja noch eine frei-willige Täuschung hinzugefügt wird. Wir wollennicht, daß die andern uns betrügen, wir finden es nichtrecht, daß sie von uns mehr geachtet sein wollen alssie verdienen; es ist mithin auch nicht recht, daß wirsie betrügen und daß wir von ihnen mehr geachtetsein wollen als wir verdienen.

Also wenn sie uns allein solche Unvollkommenhei-ten und Laster, die wir wirklich haben, aufdecken, soist klar, daß sie uns kein Unrecht thun, weil sie nichtdaran Schuld sind, sondern daß sie uns etwas Gutesthun, weil sie uns helfen uns von einem Uebel befrei-en, nämlich von dem Nichterkennen jener Unvollkom-menheiten. Wir dürften nicht böse sein, daß sie sie er-kennen, da es recht ist, daß sie uns kennen so wie wirsind und uns verachtet, wenn wir verächtlich sind.

Das sind die Gesinnungen, die in einem Herzen,das billig und gerecht wäre, entstehen müßten. Wassollen wir denn von unserm Herzen sagen, wenn wirdarin eine ganz entgegen gesetzte Neigung finden?

59Pascal: Gedanken über die Religion

Denn ist es nicht wahr, daß wir die Wahrheit hassenund die, welche sie uns sagen, und daß wir es gernsehen, wenn sie sich zu unsern Gunsten täuschen, unddaß wir von ihnen geachtet sein wollen anders als wirin der That sind?

Hier ein Beweis davon, der mir Schauder macht.Die katholische Religion verpflichtet uns nicht ohneUnterschied aller Welt unsre Sünden zu entdecken,sie leidet es, daß wir vor allen andern Menschen ver-borgen bleiben, aber sie nimmt einen einzigen davonaus, vor dem sie befiehlt den Grund unsers Herzenszu enthüllen und uns sehn zu lassen, wie wir sind. Esgiebt nur diesen einzigen Menschen in der Welt, densie uns gebietet zu enttäuschen und sie verpflichtetihn zu einem unverletzlichen Geheimniß, wodurchdieses Wissen in ihm ist, als wäre es nicht in ihm.Kann man sich was Liebreicheres und Milderesdenen? Und doch ist die Verderbtheit des Menschenso groß, daß er noch Härte in diesem Gesetz findetund das ist einer der Hauptgründe, warum ein großerTheil von Europa sich gegen die Kirche empört hat.

Wie ist das Herz des Menschen ungerecht und un-vernünftig, schlecht zu finden, daß man es verpflichtetgegen einen Menschen zu thun, was in gewisser Artrecht wäre gegen alle Menschen zu thun! Denn ist esrecht, daß wir sie täuschen?

Es giebt verschiedne Grade dieser Abneigung

60Pascal: Gedanken über die Religion

gegen die Wahrheit, aber man kann sagen: sie ist inallen in gewissen Grade, weil sie unzertrennlich vonder Eigenliebe ist. Daher kommt jene nichtswürdigeDelicatesse, welche diejenigen, die in der Nothwen-digkeit sind die Andern tadeln zu müssen, dazu ver-pflichtet so viel Wendungen und Milderungen zuwählen um sie nur ja zu verletzten. Sie müssen unsreFehler verkleinern, müssen sich stellen als entschuldi-gen sie dieselben und müssen zwischenein Lobeserhe-bungen und Beweise von Zuneigung und Achtungdarunter mischen. Bei alle dem hört diese Arznei dochnicht auf bitter zu sein für die Eigenliebe. Sie nimmtdavon so wenig als möglich und immer mit Ekel undoft selbst mit einem geheimen Widerwillen gegen die,welche sie ihr darreichen.

So geschieht es, daß, wer irgend ein Interesse hatvon uns geliebt zu werden, sich davor hütet uns einenDienst zu thun, von dem er weiß, daß er uns unange-nehm ist. Man behandelt uns, wie wir behandelt seinwollen: wir hassen die Wahrheit und man verbirgt sieuns, wir wollen geschmeichelt sein und man schmei-chelt uns, wir mögen gern betrogen sein und man be-trügt uns.

Daher kommt es, daß jede Stufe des Glücks, diewir in der Welt höher steigen uns mehr von der Wahr-heit entfernt, weil man die Menschen desto mehr zuverletzen scheut, je mehr ihre Zuneigung nützlich und

61Pascal: Gedanken über die Religion

ihre Abneigung gefährlich ist. Ein Fürst kann derSpott von ganz Europa sein und er allein weiß nichtsdavon. Ich wundre mich nicht darüber: die Wahrheitsagen ist dem nützlich, dem man sie sagt, aber denennachtheilig, die sie sagen, weil sie sich gehässig ma-chen. Nun lieben aber die, welche mit dem Fürstenleben, mehr ihren Vortheil als den des Fürsten, demsie dienen und so sind weit entfernt ihm einen Vort-heil zu verschaffen, indem sie sich selbst schaden.

Dies Unglück ist gewiß größer und gewöhnlicherin den höhern Verhältnissen, aber auch die geringernsind nicht davon ausgenommen, weil es immer einenVortheil gewährt sich bei den Menschen zu machten.

So ist das menschliche Leben nichts als eine be-ständige Täuschung man thut nichts als sich gegensei-tig betrügen und sich gegenseitig schmeicheln. Nie-mand spricht von uns in unsrer Gegenwart, wie er inunsrer Abwesenheit von uns spricht. Die Einigkeit,die unter den Menschen besteht, ist nur auf diesen ge-genseitigen Betrug gegründet und wenige Freund-schaften würden Bestand halten, wenn jeder wüßte,was sein Freund von ihm sagt, wenn er nicht da ist,obgleich er doch dann aufrichtig und ohne Leiden-schaft von ihm spricht.

Der Mensch ist also nichts als Verstellung, Lügeund Heuchelei, so wohl in sich selbst als gegen dieandern. Er will nicht, daß man ihm die Wahrheit sage,

62Pascal: Gedanken über die Religion

er vermeidet sie den andern zu sagen und alle dieseNeigungen so weit entfernt von der Gerechtigkeit undvon der Vernunft, haben eine natürliche Wurzel inseinem Herzen.

63Pascal: Gedanken über die Religion

Sechster Abschnitt.

Schwäche des Menschen. Ungewissheit keinernatürlichen Erkenntniss.

1.

Worüber ich am meisten erstaune, ist zu sehn, daßniemand über seine Schwäche erstaunt. Man thut garernsthaft und jeder folgt seinem Verhältniß, nicht weiles wirklich gut ist ihm zu folgen, und weil es so Sitte,sondern als ob jeder zuverlässig wüßte, wo die Ver-nunft und das Recht sind. Wir finden uns jeden Au-genblick getäuscht und mit einer lächerlich Demuthglauben wir: das sei unser Fehler und nicht der Fehlerder Kunst, die wir uns immer zu besitzen rühmen. Esist gut, daß es viel von dergleichen Leuten giebt, umzu zeigen, daß der Mensch der ungereimtesten Mei-nungen ganz fähig ist, weil er fähig ist zu glauben, erhabe nicht jene natürliche und unvermeidliche Schwä-che; sondern im Gegentheil er besitze die natürlicheWeisheit.

64Pascal: Gedanken über die Religion

2.

Die Schwäche der menschlichen Vernunft kommtviel mehr bei denen zum Vorschein, die sie nicht ken-nen, als bei denen, die sie kennen. Wenn man zu jungist, so urtheil man nicht recht; desgleichen wenn manzu alt ist. Wenn man nicht genug nachdenkt, wennman zu viel nachdenkt, so wird man eigensinnig, undkann nicht die Wahrheit finden. Betrachten man seinWerk unmittelbar, nachdem man es gemacht, so istman noch ganz davon eingenommen, betrachtet manes zu lange nachher, so bringt man nicht mehr ein.Für Beschauung der Gemälde giebt es nur einen unt-heilbaren Punkt, der die rechte Stelle ist sie zu be-schauen, die andern sind zu nahe, zu weit, zu hoch, zuniedrig. Die Perspective weist ihn an in der Maler-kunst. Aber in der Wahrheit und in der Moral wermag ihn anweisen?

3.

Jene Meisterin des Irrthums, die man Phantasienennt und Meinung, ist um so mehr Betrügerin, weilsie es nicht immer ist, denn sie würde die untrüglicheRegel der Wahrheit sein, wenn sie die untrüglicheRegel der Lüge wäre. Allein, wenn sie auch

65Pascal: Gedanken über die Religion

meistentheils falsch ist, giebt sie gar kein Zeichenihrer Beschaffenheit, indem sie mit gleichem Merkmaldas Wahre und das Falsche bezeichnet.

Diese übermüthige Macht, die Feindin der Ver-nunft, die sich darin gefällt sie zu controliren und zubeherschen, hat, um zu zeigen wie viel sie in allenDingen vermag, im Menschen eine zweite Natur ge-schaffen. Sie hat ihre Glücklichen und Unglücklichen,ihre Gesunden und Kranken, ihre Reichen und Armen,ihre Narren und Weisen und nichts erregt uns größernWiderwillen als zu sehn, daß sie ihre Freude mit vielreicherer und völliger Genüge erfüllt als die Vernunft,indem die Weisen in der Einbildung sich ganz andersin sich selbst gefallen als die wirklich Verständigensich vernünftiger Weise gefallen können. Sie sehenauf die Menschen hochmüthig herab, sie streiten vollKühnheit und Zuversicht, die andern voll Furcht undMißtrauen und jene Fröhlichkeit des Angesicht giebtihnen oft den Vorzug in der Meinung der Zuhörer; soviel Gunst haben die eingebildeten Weisen bei ihrenBeurtheilungen von derselben Gattung. Sie kann dieNarren nicht weise machen, aber sie macht sie zufrie-den, der Vernunft zum Trotz, die ihre Freunde nurelend machen kann. Jene überhäuft sie mit Ehre, diesebedeckt sie mit Schande.

Wer theilt den Ruf aus? Wer giebt die Achtung undVerehrung den Personen, den Werke, den Großen,

66Pascal: Gedanken über die Religion

wenn nicht die Meinung? Wie sehr sind doch alleRechthümer der Erde unzureichend ohne ihre Beistim-mung!

Die Meinung verführt über alles; sie macht dieSchönheit, das Recht und das Glück, was die Welt ihrAlles nennt. Ich möchte gern das Italienische Buchsehn, von dem ich nichts als den Titel kenne, der al-lein genug Bücher werth ist. Della opinione reginadel mondo. Ich unterschreibe es ohne es zu kennen,mit Ausnahme des Schlechten, wenn was darinnen ist.

4.

Die wichtigste Angelegenheit des Lebens ist dieWahl eines Berufs. Der Zufall entscheidet darüber.Die Gewohnheit macht die Maurer, die Soldaten, dieDachdecker. Das ist ein vorzüglicher Dachdecker,sagt man und von den Soldaten sagt man: Sie sindrechte Thoren! und die Andern im Gegentheil spre-chen: Es ist nichts groß als der Krieg, alle übrige sindLumpen. Weil man nun in der Kindheit jene Ständeimmer so viel loben und die übrigen verachten hört,so wählt man; denn natürlicher Weise liebt man dieTüchtigkeit und haßt Unverstand. Diese Reden regenuns auf und man irrt bloß in der Anwendung und dieGewalt der Gewohnheit ist so groß, daß ganze Land-striche lauter Maurer, andre lauter Soldaten sind.

67Pascal: Gedanken über die Religion

Ganz gewiß ist die Natur nicht so einförmig: also istes die Gewohnheit, die das macht und die Natur mitzieht. Indessen überwiegt auch die Natur und erhältden Menschen in seinem angebornen Trieb, trotz alterGewohnheit, sie sei gut oder schlecht.

5.

Wir halten uns an die Gegenwart. Wir nehmen dieZukunft voraus, als wäre sie zu langsam und als müß-ten wir sie beeilen, oder wir rufen die Vergangenheitzurück um sie an zu halten, als wäre sie zu eilig. Wirsind so unverständig, daß wir in den Zeiten herum-schweifen, die nicht unser sind und da die einzige, dieuns gehört, nicht denken, und wir sind so eitel, daßwir uns in die Zeiten vertiefen, die nicht mehr sinduns die einzige, die ist, ohne Betrachtung entschlüp-fen lassen. Das kommt daher, weil die Gegenwart unsgewöhnlich verletzt. Wir verbergen sie vor unsermBlick, weil sie uns betrübt und wenn sie uns ange-nehm ist, bedauern wir sie entfliehen zu seyn. Wirversuchen sie fest zu halten durch die Zukunft und wirdenken die Dinge, die nicht in unsrer Gewalt sind, anzu ordnen für eine Zeit, die zu erreichen wir gar keineGewißheit haben.

Jeder prüfe seine Gedanken, er wird sie immer mitder Vergangenheiten und mit Zukunft beschäftigt

68Pascal: Gedanken über die Religion

finden. Wir denken fast gar nicht an die Gegenwartund wenn wir an sie denken, geschieht es nur um vonihr Licht zu nehmen für die Anordnung der Zukunft.Die Gegenwart ist nie unser Ziel, die Vergangenheitund die Gegenwart sind unsre Mittel, die Zukunft al-lein ist unser Zweck. Also wir leben nie, aber wir hof-fen zu leben und da wir uns immer einrichten glück-lich zu sein, so ist es keinem Zweifel unterworfen,daß wir es nie sein werden, wenn wir nicht nach eineranderen Seligkeit trachten, als nach der, welche manin diesem Leben genießen kann.

6.

Unsre Einbildungskraft vergrößert uns die gegen-wärtige Zeit, durch die fortgesetzten Betrachtungendarüber, so stark und verkleinert die Ewigkeit, ebenweil sie nicht Betrachtungen darüber anstellt, so sehr,daß wir aus der Ewigkeit ein Nichts machen und ausdem Nichts eine Ewigkeit. Und alles das hat seine solebendigen Wurzeln in uns, daß alle unsre Vernunftuns nicht dagegen wehren kann.

69Pascal: Gedanken über die Religion

7.

Cromwell war im Begriff die ganze Christenheit zuverheeren, die königliche Familie war verloren unddie seine für immer mächtig, ohne ein kleines Sand-korn, das sich in seinem Harngang ansetzte. Romstand auf dem Punkt unter ihm zu zittern, da warddieser kleiner Kies, der sonst nichts war, an diesemOrte angesetzt und er war todt, seine Familie gestürztund der König wieder eingesetzt.

8.

Man sieht fast nichts Gerechtes oder Ungerechtes,das nicht seine Verschaffenheit änderte, wenn es dasKlima ändert. Drei Grade Polhöhe werfen die ganzeJurisprudenz über den Haufen. Ein Meridian entschei-det über die Wahrheit oder wenige Jahre über Besitz.Die Grundgesetze wechseln. Das Recht hat seine Zei-ten. Eine schöne Gerechtigkeit, die ein Fluß oder einGebirge begrenzt! Wahrheit diesseit der Pyrenäen, Irr-thum jenseit.

70Pascal: Gedanken über die Religion

9.

Diebstahl, Blutschande, Mord der Kinder und derVäter, alles hat seine Stelle gefunden unter den tu-gendhaften Handlungen. Kann etwas lächerlichersein, als daß ein Mensch das Recht hat mich zu töd-ten, weil er jenseit des Wassers wohnt und weil seinFürst Streit mit dem meinen hat, obgleich ich durch-aus keinen ihn?

Es giebt ohne Zweifel natürliche Gesetze, aberdiese gute Vernunft, die verdorben ist, hat alles ver-dorben. Nichts ist mehr unser; was wir unser nennen,gehört der Kunst, nach Rathverordnung und Volksbe-schlüssen werden Verbrechen geübt; wie einst an denLastern, laboriren wir jetzt an den Gesetzen.

Aus dieser Verwirrung entsteht, daß der eine sagt:das Wesen der Gerechtigkeit sei das Ansehn des Ge-setzgebers, ein andrer: die Bequemlichkeit des Her-schers, noch ein anderer: die gegenwärtige Gewohn-heit und das ist das sicherste, bloß nach der Vernunftist nichts gerecht an sich; alles wankt mit der Zeit, dieGewohnheit macht alle Billigkeit allein dadurch, daßsie angenommen ist, das ist der geheimnißvolle Grundihres Ansehns. Wer sie auf ihr Princip zurückführt,vernichtet sie. Nichts ist so fehlerhaft als die Gesetze,welche die Fehler gut machen; wer ihnen gehorcht,

71Pascal: Gedanken über die Religion

weil sie gerecht sind, gehorcht der Gerechtigkeit, dieer sich einbildet, aber nicht dem Wesen des Gesetzes,es ist ganz in sich selbst gesammelt, es ist Gesetz undweiter nichts. Wer seinen letzten Grund erforschenwill, findet ihn so schwach und leicht, daß er, wenn ersich nicht gewöhnt hat die Wunder der menschlichenEinbildungskraft zu beobachten, in Verwunderung ge-rathen muß, wie ein Jahrhundert ihm so viel Glanzund Würde verschafft hat. Die Kunst die Staaten umzu stürzen besteht darin, daß man die bestehendenGewohnheiten erschüttert, indem man sie bis auf ihreQuelle ergründet um da ihren Mangel an Autoritätund Gerechtigkeit an zu merken. Man muß zurückgehn sagt man, zu den ersten Grundgesetzen desStaats, die eine ungerechte Gewohnheit abgeschaffthat und das ist ein sichres Spiel um alles zu verlieren;auf der Wage wird nichts richtig sein. Dennoch leihtdas Volk diesen Reden gern sein Ohr, es schüttet dasJoch ab, sobald es dasselbe erkennt und die Großenhaben den Gewinn davon seinem Verderben und zumVerderben jener neugierigen Erforscher der angekom-menen Gewohnheiten. Freilich bisweilen fallen dieMenschen in den entgegengesetzten Fehler und glau-ben mit Recht alles thun zu dürfen, was nicht ohneBeispiel ist. Daher sagte der weiseste der Gesetzge-ber: zum Wohl des Menschen müsse man oft ihn täu-schen und ein anderer guter Politiker sagt: Wenn er

72Pascal: Gedanken über die Religion

die Wahrheit, wodurch er frei werden soll, nichtkennt, so ists gut ihn zu täuschen. Er muß nicht mer-ken die Wahrheit der Usurpation, sie ist vor Altersohne Grund eingeführt worden; man muß sie ansehnlassen als rechtsgültig, ewig und muß ihren Anfangverbergen, wenn man nicht will, daß sie bald ein Endenehme.

10.

Stellt den größten Philosophen der Welt auf einePlanke, breiter als er braucht um auf seine gewöhnli-che Weise zu gehen, wenn darunter ein Abgrund ist,so mag seine Vernunft ihm noch so sehr Sicherheitnachweisen, die Einbildungskraft wird doch überwie-gen. Viele könnten nicht einmal den Gedanken daranaushalten ohne bleich zu werden und zu schwitzen;ich will nicht alle Wirkungen davon anführen. Werweiß nicht, daß es Menschen giebt, denen der Anblickvon Katzen, Ratten, das Zerdrücken einer Kohle dieVernunft aus der Fassung bringt?

73Pascal: Gedanken über die Religion

11.

Möchtet ihr nicht behaupten, daß jener Richter,dessen würdiges Alter einem ganzen Volk Ehrfurchtgebietet, sich mit einer reinen und erhabenen Vernunftbeherschet und die Dinge nach ihrer Natur beurtheilt,ohne sich bei den eiteln Umständen auf zu halten,welche nur die Einbildungskraft der Schwachen ver-letzten? Geht ihn eintreten in die Räume wo er dasRecht verwalten soll. Da sitzt er bereit zu hören miteiner exemplarischen Gravität. Wenn der Anwalt zumVorschein kommt und die Natur hat ihm etwa eineheisere Stimme gegeben und ein seltsames Gesichtoder sein Barbier hat ihn schlecht rasiert und der Zu-fall hat ihn noch beschmutzt, so wette ich: alle Gravi-tät des Richters ist fort.

12.

Der Geist des größten Mannes in der Welt ist nichtso unabhängig, daß er nicht gestört werden könntedurch den geringsten Lärm in seiner Nähe. Um seineGedanken zu hindern, dazu ist nicht das Knallen einerKanone nöthig, sondern nur das Knallen einer Wetter-fahne oder einer Winde. Verwundert euch nicht, daßer diesen Augenblick nicht vorzüglich urtheilt, eine

74Pascal: Gedanken über die Religion

Fliege um seine Ohren, das ist genug um ihn zugutem Urtheil unfähig zu machen. Wenn ihr wollt,daß er im Stande sei die Wahrheit zu finden, jagt dasThier weg, das seine Vernunft im Schach hält undjene mächtige Einsicht trübt, die Städte und Königrei-che regiert.

13.

Der Willen ist eins der vorzüglichsten Werkzeugedes Glaubens, nicht daß er den Glauben bildet, son-dern weil die dinge wahr oder falsch erscheinen, jenachdem man sie von der einen oder andern Seite be-trachtet. Der Willen, welchem die eine besser gefälltals die andre, wendet den Geist davon ab, die Eigen-schaften der Seite, die er nicht liebt, zu beschauen,und so macht, der Geist mit dem Willen gemein-schaftliche Sache und verweilt dabei, Die Seite, wel-che dieser liebt, zu betrachten, urtheilt nach dem, waser hier sieht und regelt unmerklich seinen Glaubennach der Neigung des Willens.

75Pascal: Gedanken über die Religion

14.

Wir haben noch einen andern Grund des Irrthums,nämlich die Krankheiten. Sie verderben und das Ur-theil und den Sinn, und wenn die großen Krankheitenihn merklich ändern, so zweifle ich nicht, daß diekleinen nach Verhältniß auf ihn Eindruck machen.

Unser eigner Vortheil ist auch ein wundervollesWerkzeug um uns die Augen zu blenden. Die Nei-gung oder der Haß ändern die Gerechtigkeit. Wahr-haftig ein Advokat, der gut voraus bezahlt worden ist,wieviel gerechter findet er die Sache, die er verthei-digt! Dagegen weiß ich andre, die aus einer andernSonderbarkeit des menschlichen Geistes, um nicht injene Eigenliebe zu verfallen, ganz verkehrt die Unge-rechtesten von der Welt gewesen sind. Das sichersteMittel eine ganz gerechte Sache zu verderben war das,sie ihnen durch ihre nächsten Verwandten empfehlenzu lassen.

76Pascal: Gedanken über die Religion

15.

Die Einbildungskraft vergrößert oft die kleinstenGegenstände durch eine phantastische Schätzung, sodaß sie gar damit unsre Seele füllt und mit vermesse-nem Uebermuth verkleinert sie die größten bis zu un-serm Maß.

16.

Die Gerechtigkeit und die Wahrheit sind zwei sofeine Spitzen, daß unsre Instumente zu stumpf sind,um sie genau zu berühren. Wenn sie ankommen, somachen sie die Spitze glatt und ruhen rund herum,mehr auf dem Falschen als auf dem Wahrheit.

17.

Die alten Eindrücke sind nicht allein im Stande unszu erfreuen, die Reize der Neuheit haben dieselbeKraft.

Daher kommen alle Streitigkeiten der Menschen,die sich einander verwerfen, daß sie entweder den fal-schen Eindrücken ihrer Kindheit folgen oder leichtsin-nig den neuen nachlaufen.

Wer hält die rechte Mitte? Er zeige sich und

77Pascal: Gedanken über die Religion

beweise es. Es giebt keinen Grundsatz, wie natürlicher auch sein möge, selbst von der Kindheit her, denman nicht ausgebe für einen falschen Eindruck baldder Erziehung, bald der Sinne. Weil du, sagst man,von Kindheit an geglaubt hast, daß ein Kasten leerwar, wenn du nichts darin sahst, so hast du das Leerfür möglich gehalten, das ist eine Täuschung deinerSinne, welche die Gewohnheit befestigt hat und wel-che Wissenschaft widerlegen muß. Und die andernsagen im Gegentheil: Weil man dir in der Schule ge-sagt, daß es nichts Leeres giebt, so hat man deinengefunden Menschenverstand verdorben, der es sodeutlich begriff, ehe jener schlechte Eindruck auf dichgemacht wurde, den mußt du widerlegen und zu dei-ner ersten natürlichen Ansicht zurückkehren. Wer hatdich dann betrogen, die Sinne oder die Erziehung?

18.

Alle Beschäftigungen der Menschen gehen daraufhin Gut zu erlangen und der Titel unter dem sie es be-sitzen, ist seinem Ursprunge nach nur ein Einfallderer, welche die Gesetze gemacht haben. Sie habenauch durchaus keine Gewalt es sicher zu besitzen,tausend Zufälle rauben es ihnen. Eben so ist es mitder Wissenschaft, die Krankheit nimmt sie uns.

78Pascal: Gedanken über die Religion

19.

Was sind unsre natürlichen Grundsätze anders alsunsre angewöhnten Grundsätze? bei den Kindern sindes die, welche sie durch die Angewöhnung ihrer Väterangenommen haben, wie das Jagen bei den Thieren.

Eine verschiedene Gewohnheit wird andre natürli-che Grundsätze geben. Das lernt man aus Erfahrung.Und giebt es natürliche Grundsätze, welche die Ge-wohnheit nicht auslöschen kann, so giebt es auchGrundsätze aus der Gewohnheit, welche die Naturnicht auszulöschen vermag. Das hängt von der Dispo-sition ab.

Die Väter fürchten, daß die natürliche Liebe derKinder erlösche, Was für eine Natur ist das denn, diezu erlöschen im Stande ist? Die Gewohnheit ist einezweite Natur, welche die erste zerstört. Warum ist dieGewohnheit nicht natürlich? Ich fürchte sehr, daßdiese Natur selbst eine erste Gewohnheit sei, wie dieGewohnheit eine zweite Natur ist.

79Pascal: Gedanken über die Religion

20.

Wenn wir alle Nächte dieselbe Sache träumten, sowürde sie uns vielleicht eben so viel Eindruck machenals die Gegenstände, die wir alle Tage sehn. Undwenn ein Handwerker gewiß wäre alle Nächte zwölfStunden lang zu träumen, daß er König ist, ich glaubeer würde beinahe eben so glücklich sein als einKönig, der alle Nächte zwölf Stunden lang träumte,daß er ein Handwerk wäre. Träumten wir alle Näch-ste, daß wir von Feinden verfolgt und von ängstlichenTrugbildern umhergetrieben würden und brächten wiralle Tage in verschiedenen Beschäftigungen hin, wiewenn man eine Reise macht, so würden wir fast ebenso viel leiden, als wenn das wirklich wäre und würdenuns scheuen zu schlafen, wie man das Erwachenscheut, wenn man fürchtet wirklich in solche unglück-lichen Zustände ein zu treten. In der That diese Träu-me würden uns fast dieselben Leiden bereiten wie dieWirklichkeit. Aber weil die Träume alle verschiedensind und wechseln, so macht das, was wir in ihnensehen, viel weniger Eindruck auf uns, als was wir wa-chend sehen, da dieses ununterbrochen anhält. Frei-lich ist es nicht so anhaltend und gleich, daß es nichtauch wechsele, aber das geschieht doch wenigerrasch, außer in seltenen Fällen, wie wenn man reist

80Pascal: Gedanken über die Religion

und dann sagt man: Mir ist als träume ich. Denn dasLeben ist ein Traum, nur etwas weniger unbeständig.

21.

Wir setzen voraus, daß alle Menschen die Gegen-stände, die sich ihnen darbieten, auf gleiche Art auf-fassen und empfinden; aber wir setzen das ohne ei-gentlichen Grund voraus, denn wir haben gar keinenBeweis dafür. Ich weiß wohl, daß man dieselbenWorte bei denselben Gelegenheiten gebraucht unddaß allemal, wenn zwei Menschen z.B. den Schneesehen, alle beide den Anblick Gegenstandes mit den-selben Worten ausdrücken, indem sie einer wie derandre sagen: er ist weiß; und aus dieser Gleichmäßig-keit des Gebrauchs gewinnt man eine mächtige Ver-muthung von Gleichmäßigkeit der Ideen, aber das istnicht unbedingt beweisen, obgleich sich für die Beja-hung wohl wetten ließe.

22.

Sehen wir eine Wirkung immer auf dieselbe Weiseerfolgen, so schließen wir auf eine natürliche Noth-wendigkeit wie z.B. daß morgen ein Tag sein wirdu.s.w. aber oft straft die Natur uns Lügen und befolgtnicht ihre eigenen Gesetze.

81Pascal: Gedanken über die Religion

23.

Manchen Dingen, die gewiß sind, wird widerspro-chen, manche falsche läßt man ohne Widerspruch hin-gehn, so ist weder der Widerspruch ein Zeichen vonUnwahrheit noch die Widerspruchslosigkeit ein Zei-chen von Wahrheit.

24.

Wer recht unterrichtet ist, begreift, daß fast alleDinge, da die Natur den Stempel ihres Urhebers inallen eingegraben trägt, etwas von seiner zwiefachenUnendlichkeit sind in der Ausdehnungen. Denn werzweifelt daran, daß die Mathematik z.B. eine unendli-che Zahl von Sätzen auf zu stellen hat? Eben so un-endlich ist sie Anhäufung und Schärfung der Gründefür diese Sätze; denn wer sieht nicht, daß die Gründe,welche man als die letzten aufstellt, nicht für sichselbst stehen, sondern auf andern gestützt sind, diewieder anderer zur Stütze haben, und nie einen denletzten sein lassen?

Man sieht auf den ersten Blick, daß die Arithmetikallein unzählige Gründe liefert und jede Wissenschaf-ten desgleichen.

Aber da die Unendlichkeit im Kleinen viel weniger

82Pascal: Gedanken über die Religion

sichtlich ist, haben die Philosophen um so eher ge-meint dahin zu gelangen und da eben sind sie alle ge-stolpert. Das hat zu jenen so gewöhnlichen TitelnAnlaß gegeben, »von den Principien der Dinge« »vonden Principien der Philosophie« und zu andern ähnli-chen die, wenn auch nicht dem Scheine nach, doch inder That eben so hochfahren sind als der in die Augenspringende »de omni scibili«.

laßt uns denn keine Sicherheit und Gewißheit su-chen. Unsre Vernunft wird immer betrogen durch dieUnbeständigkeit der Erscheinungen; nichts kann dieEndlichkeit fixiren zwischen den beiden Unendlich-keiten, die sie einschließen und sie fliehen. Wenn mandas recht gefaßt hat, wird man glaube ich, in Ruhebleiben, jeder indem Stande, wohin die Natur ihn ge-stellt hat. Da diese Mitte, die uns zugefallen, immervon den Extremen gleich absteht, was ist daran gele-gen, daß der Mensch ein wenig mehr Erkenntniß derDinge hat? Wenn er sie hat, nimmt er die Dinge einwenig höher. Ist er aber nicht doch immer noch un-endlich fern von den Extemen? Und die Dauer unsreslängsten Lebens ist sie nicht unendlich fern von derEwigkeit?

Im Vergleich mit diesen Unendlichkeiten sind alleEndlichkeiten gleich und ich sehe nicht, warum seineEinbildungskraft mehr auf der einen als auf der an-dern der andern ruhen lassen soll. Schon allein die

83Pascal: Gedanken über die Religion

Vergleichungen, die wir zwischen uns und dem Endli-chen anstellen mach uns Pein.

25.

Die Wissenschaften haben zwei Extreme, die sichberühren, das erste ist die reine natürliche Unwissen-heit, in der sich alle Menschen befinden, so weit siegeboren werden. Das andre Extrem ist dasjenige,wohin die großen Geister gelangen, die alles, was dieMenschen wissen können, durchgemacht haben undfinden, daß sie nichts wissen und sich in derselbenUnwissenheit begegnen, von der sie ausgegangen.Aber das ist eine wissende Unwissenheit, die sichselbst kennt. Diejenigen, welche zwischen beiden Ex-tremen in der Mitte schweben, die aus der natürlichenUnwissenheit herausgetreten sind und zu der anderndoch nicht gelangen konnten, haben einen Abstrichvon jener genügenden Wissenschaft und machen dieKlugen. Diese eben verwirren die Welt und urtheilenschlechter über alles als die andern. Das Volk und dieKlugen ordnen gewöhnlich den Gang der Welt, dieandern verachtet die Welt und werden von ihr verach-tet.

84Pascal: Gedanken über die Religion

26.

Man hält sich natürlich viel eher fähig, zum Mittel-punkt der Dinge zu gelangen als ihren Umkreis zuumfassen. Die sichtbare Ausdehnung der Welt über-ragt uns sichtbar; dagegen weil wir die kleinen Dingeüberragen, halten wie uns eher fähig sie zu fassen siezu fassen und doch gehört nicht weniger Fähigkeitdazu um bis zum All. Sie muß bei dem einen wie beidem andern unendlich sein und wer die letzten Grün-de der Dinge begriffen hätte, der würde, scheint mir,auch bis zur Erkenntniß des Unendlichen gelangenkönnen. Eins hängt vom andern ab und eins führt zumandern. Die Extreme berührten sich und vereinigensich, je weiter sie sich entfernt haben und finden wie-der in Gott und in Gott allein.

Wenn der Mensch damit anfinge sich selbst zu er-forschen, so würde er sehen, wie sehr er unfähig istdarüber hinaus zu gehen. Wie wäre es möglich, daßein Theil das Ganze könnte? Vielleicht wird er trach-ten wenigstens die Theile zu kennen, mit denen er imVerhältniß steht. Aber die Theile der Welt haben alleeine solche Beziehung und eine solche Verkettungunter einander, daß ich es unmöglich halte den einenzu kennen ohne den andern und ohne das Ganze.

Der Mensch z.B. hat Beziehung zu allen, was er

85Pascal: Gedanken über die Religion

kennt. Er braucht des Raums um ihn aufzunehmen,der Zeit um zu dauern, der Bewegung um zu leben,der Urstoffe um ihn zusammen zu setzen, der Wärmeund der Nahrungsmittel um ihn zu nähern, der Luftum zu athmen. Er sieht das Licht, er fühlt die Körper,genug alles kommt mit ihm in Verbindung.

Also um den Menschen zu kennen muß man wis-sen, woher es kommt, daß er der Luft bedarf um zubestehn und um die Luft zu kennen, muß man wissen,wie sie Bezug hat auf das Leben des Menschen.

Die Flamme besteht nicht ohne die Luft, also umdie eine zu kennen muß man die andre kennen.

Also da alle Dinge gewirkt sind und wirkend, mit-telbar und unmittelbar und alle sich gegenseitig haltendurch ein natürliches und unfühlbares Band, das diefernsten und verschiedensten zusammenknüpft, soscheint es mir unmöglich die Theile zu kennen ohnedas Ganze und eben so das Ganze zu kennen ohne dieTheile im Einzelnen.

Und was vielleicht unser Unvermögen die Dinge zuerkennen noch vollendet, ist, daß sie an sich einfachsind und wir zusammengesetzt aus zwei entgegenge-setzten und verschiedenartigen Naturen, aus Seele undLeib; denn unmöglich ist der Theil, der in uns denkt,anders als geistig und wenn man behauptet wollte,daß wir bloß körperlich wären, so würde uns dasnoch vielmehr von der Erkenntniß der Dinge

86Pascal: Gedanken über die Religion

ausschließen, denn es wäre nichts so unbegreiflich alsdie Behauptung, daß die Materie sich selbst zu erken-nen vermöge.

Diese Zusammensetzung von Geist und Körper hatgemacht, daß fast alle Philosophen die Begriffe derDinge durcheinander geworfen haben und den Kör-pern zugeschrieben was nur den Geistern zukommt,und den Geistern was nur den Körpern zukommenkann. Denn sie sagen dreist, daß die Körper nachunten streben, nach dem Mittelpunkt trachten, ihreZerstörung fliehen, das Leere fürchten, Neigungen,Sympathien, Antipathien haben, alles Dinge, die nurden Geistern zukommen. Und wenn sie von den Gei-stern reden, betrachten sie sie als an einem Ort undschreiben ihnen die Bewegung von einer Stelle zurandern zu, Dinge, die nur den Körpern zukommenu.s.w.

Statt die Begriffe der dinge in uns auf zu nehmen,färben wir mit den Eigenschaften unsers zusammen-gesetzten Wesens alle die einfachen Dinge, die wirbetrachten.

Wer sollte nicht glauben, wenn er nur alle Dingeaus Geist und Körper zusammensetzen sieht, daßdiese Mischung uns sehr begreiflich sein müßte? Den-noch ist dies gerade was man am Wenigsten begreift.Der Mensch ist für sich selbst der wunderbarste Ge-genstand der Natur, denn er kann nicht fassen, was

87Pascal: Gedanken über die Religion

Körper ist und noch weniger, was Geist ist und nochweniger als irgend etwas, wie ein Körper mit einemGeist vereint sein kann. Das ist der Gipfel des Unbe-greiflichen für ihn und doch ists sein eignes Wesen.»Die Art, wie der Geist mit den Körpern verbundenist, kann von den Menschen nicht begriffen werdenund doch ist das der Mensch.«

27.

Der Mensch ist also nichts als ein Wesen voll Irr-thümer, die unvertilgbar sind ohne die Gnade. Nichtszeigt ihm die Wahrheit, alles täuscht ihn. Die beidenErkenntnißquellen der Wahrheit, die Vernunft und dieSinne, noch außerdem, daß es ihnen oft an Aufrichtig-keit fehlt, täuschen sich gegenseitig ein das andre. DieSinne täuschen die Vernunft durch falschen Scheinund denselben Betrug, den sie ihr spielen, erfahren sieihrerseits von ihr; sie rächt sich dafür, die Leiden-schaften der Seele verwirren die Sinne und machenwiderwärtige Eindrücke auf sie, sie lügen und betrü-gen sich um die Wette.

88Pascal: Gedanken über die Religion

Siebenter Abschnitt.

Elend des Menschen.

1.

Nichts ist mehr geeignet uns in die Kenntniß desmenschlichen Elends zu leiten, als die Betrachtungder wahren Ursache von der beständigen Unruhe, inwelcher die Menschen ihr Leben hinbringen.

Die Seele ist in den Leib gesetzt um darin kurzeZeit zu wohnen. Sie weiß, daß dieses nur ein Ueber-gang ist zu einer Reise in die Ewigkeit und daß ihrnur die kurze Zeit, die das Leben dauert, gegeben istum sich darauf vor zu bereiten. Die Bedürfnisse derNatur rauben ihr einen sehr großen Theil dieser Zeitund es bleibt ihr davon nur sehr wenig, worüber sieverfügen kann. Aber dies wenige, was ihr bleibt, fälltihr so sehr zur Last, und setzt sie so sonderbar in Ver-legenheit, daß sie nur dran denkt es zu verlieren. Esist ihr eine unerträgliche Pein, daß sie genöthigt istmit sich zu leben und an sich zu denkt. So ist es ihreeinzige Sorge sich selbst zu vergessen und diese Zeit,die so kurz und so kostbar ist, verfliegen zu lasenohne Betrachtung, unter der Beschäftigung mit Din-gen, die sie hindern daran zu denken.

89Pascal: Gedanken über die Religion

Daraus entstehen alle leidenschaftlichen Beschäfti-gungen der Menschen und alles, was man Belustigungoder Zeitvertreib nennt, in welchen man eigentlichnichts anders zum Zweck hat als die Zeit vergehn zulassen, ohne sie zu fühlen oder vielmehr ohne sichselbst zu fühlen und diesen Theil des Lebens zu ver-lieren, um so der Bitterkeit und dem innern Ekel zuentgehn, welche die nothwendige Folge sein würden,wenn man während der Zeit die Beobachtung auf sichselbst richten wollte. Die Seele findet nicht in sichwas sie befriedigt, sie sieht da nichts, was sie nichtbekümmert, wenn sie daran denkt. Das zwingt siesich nach Außen zu verbreiten und in der Hingebungan äußere Dinge die Erinnerung an ihren wahren Zu-stand zu verlieren. Ihre Freude besteht in diesem Ver-gessen und um sie elend zu machen genügt es sie zunöthigen, daß sie sehe und mit sich allein sei.

Man legt den Menschen von Kindheit von Kindheitan die Sorge auf für ihre Ehre, für ihre Güter undsogar für das Gut und die Ehre ihrer Verwandten undFreunde. Man überladet sie mit dem Studium derSprachen, Wissenschaften, Leibesübungen und Kün-ste. Man bürdet ihnen Geschäfte auf, und thut ihnendar, wie sie nicht glücklich sein werden, wenn sienicht durch ihre Betriebsamkeit und ihre Sorgfalt ma-chen, daß ihr Vermögen und ihre Ehre und selbst dasVermögen und die Ehre ihrer Freunde in gutem

90Pascal: Gedanken über die Religion

Stande sei, und wie sie unglücklich werden, wennihnen ein einziges von diesen Dingen fehlt. So giebtman ihnen Aemter und Geschäfte, die ihnen zu schaf-fen vom Morgen bis an den Abend. Das, sagt ihr, isteine seltsame Art sie glücklich zu machen. Was könn-te man Besseres thun, sie unglücklich zu machen?Fragt ihr, was man thun könnte? Man brauchte ihnennur alle diese Sorgen zu nehmen, denn alsdann wür-den sie sich selbst sehen und an sich selbst denken,und das eben ist ihnen unerträglich. Auch nachdemsie sich mit so vielen Geschäften beladen, wenn sienoch einige Zeit der Erholung haben, suchen sie auchdiese zu verlieren in irgend einem Vergnügen, das sieganz in Besitz nimmt und sie sich selbst entreißt.

Darum, wenn ich anfing das mannigfaltige Hin-und Hertreiben der Menschen zu betrachten, wie sichden Gefahren und Mühseligkeiten aussetzen, amHofe, im Kriege, bei der Verfolgung ihrer ehrgeizigenAnsprüche und wir daraus so viele Zwistigkeit, Lei-denschaften und gefährliche und verderbliche Unter-nehmung entspringen, dann habe ich oft gesagt, allesUnglück der Menschen kommt davon her, daß sienicht verstehn sich ruhig in einer Stube zu halten. EinMensch, der Güter genug hat um zu leben, wenn erbei sich daheim zu bleiben verstände, würde sichnicht heraus machen um aufs Meer zu gehn oder zurBelagerung einer Festung und wenn einfach nur zu

91Pascal: Gedanken über die Religion

leben suchte, bedürfte man dieser so gefahrvollen Be-schäftigung wenig.

Aber wenn ich es näher betrachtete, fand ich: daßdie Menschen so entfernt davon sind in der Ruhe undbei sich selbst zu bleiben, das hat eine sehr wahre Ur-sache, nämlich das natürliche Unglück unsers Zustan-des, der schwach und sterblich ist und so elend, daßnichts uns trösten kann, wenn nichts uns hindert daranzu denken und wir nichts sehn als uns.

Ich rede nur von denen, die sich betrachten ohneirgend Rücksicht auf Religion zu nehmen. Denn frei-lich das ist einer von den Vorzügen der ChristlichenReligion, daß sie den Menschen mit sich selbst ver-söhnt, indem sie ihn mit Gott versöhnt, daß sie ihmden Augenblick seiner selbst erträglich macht, undbewirkt, daß die Einsamkeit und die Ruhe vielen an-genehmer sind als das rastlose Treiben und der Um-gang der Menschen. Auch bringt sie alle diese wun-dervollen Wirkungen nicht dadurch hervor, daß sieden Menschen auf sich selbst beschränkt, sondern nurindem sie ihn bis zu Gott erhebt und ihn indem Ge-fühl seines Elends aufrecht hält durch die Hoffnungeines andern Lebens, das ihn ganz davon befreiensoll.

Aber diejenigen, die nur nach den Regungen han-deln, die sie in sich ihrer Natur finden, können injener Ruhe, die ihnen Anlaß giebt sich zu betrachten

92Pascal: Gedanken über die Religion

und sich zu sehen, unmöglich aushalten, ohne unab-lässig von Kummer und Traurigkeit ergriffen zu wer-den. Der Mensch, der nur sich liebt, haßt nichts sosehr als mit sich allein zu sein; er sucht nichts als nurfür sich und flieht nichts so sehr als sich, denn wenner sich sieht, sieht er sich nicht so wie er sich wünschtund findet in sich eine Masse von unvermeidlichenSchwächen und einen Mangel an wahren und sichernGütern, den er nicht im Stande ist aus zu füllen.

Man wähle welches Verhältniß man wolle, undvereinige darin alle Güter und alle Freuden, die einenMenschen scheinen befriedigen zu können; wenn der,welchen man in diesen Stand versetzt, ohne Beschäfti-gung ist und ohne Zerstreuung und man läßt ihn Be-trachtungen anstellen über das, was er ist, so wirdjene schwache Glückseligkeit ihn nicht aufrecht hal-ten. Er wird nothwendig fallen bei den betrübendenAussichten der Zukunft und wenn man ihn nicht außersich beschäftigt, ist er nothwendiger Weise unglück-lich.

Die königliche Würde, ist sie nicht an groß genugum den, der sie besitzt, glücklich zu machen durchden Bloßen Anblick dessen, was er ist? Wird es nochnöthig sein auch ihn von diesem Gedanken ab zu len-ken wie den gemeinen Mann? Ich sehe wohl, daß maneinen Menschen glücklich macht, wenn man ihn vomAnblick seines häuslichen Elends abwendet und seine

93Pascal: Gedanken über die Religion

Gedanken ganz erfüllt mit dem Eifer schön zu tanzen.Aber wird es derselbe Fall mit einem König sein? undwird er glücklicher sein, wenn er solchen eiteln Er-götzlichkeiten nachhängt, als wenn er seine Größe an-schaut? Welche befriedigernden Gegenstand könnteman seinem Geiste geben? Thäte man nicht seinerFreude Abbruch, wenn man seine Seele damit be-schäftigte zu denke, wie er sein Schritte nach demTakt einer Melodie messen oder geschickt einen Ballschlagen soll, statt ihn in Ruhe die Betrachtung dermajestätischen Glorie, die ihn umgiebt, genießen zulassen? Man mache den Versuch, man lasse einenKönig ganz allein, ohne eine Befriedigung der Stim-me, ohne eine Sorge der Seele, ohne Gesellschaft, mitaller Muße an sich denken und man wird sehen, daßein König, der sich sieht, ein Elend ist und es fühltwie ein andrer. Auch vermeidet man dies sorgfältigund nie fehlt neben der Person des Königs eine großeZahl von Leuten, die darüber machen, daß immer dasVergnügen den Geschäften folge und die alle seineMußezeit beobachten um ihm Vergnügen und Spielezu verschaffen, damit nur keine Leere eintrete d.h. erist umgeben von Menschen, die mit einer bewun-dernswürdigen Sorgfalt verhüten, daß der König al-lein sei und im Stande an sich selbst zu denken, dennsie wissen, wenn er daran denkt, wird er unglücklichsein, obschon er König ist.

94Pascal: Gedanken über die Religion

Auch liegt die Hauptsache, warum die Menschendie großen, sonst so beschwerlichen Würden ertragen,darin, daß sie ohne Unterlaß abgehalten an sich zudenken.

Gebt nur darauf Acht. Oberintendant, Kanzler, er-ster Präsident zu sein, was ist das anders als eineMenge Leute haben, die von allen Seiten kommen umihnen nicht eine Stunde im Tage zu lassen, wo sie ansich selbst denken könnten? Und sind sie in Ungnadeund man schickt sie nach ihren Landhäusern, woihnen weder Vermögen noch Dienerschaft fehlen umalle ihre Bedürfnisse zu befriedigen, so bleibt es dochnicht aus daß, sie unglücklich sind, weil niemandmehr sie hindert an sich zu denken.

Daher kommt es, daß so viele Menschen sich ver-gnügen beim Spiel, auf der Jagd und in andern Zer-streuungen, die ihre ganze Seele beschäftigen. Nichtals ob in der That Glück enthalten wäre in dem, wasman durch diese Spiele erlangen kann, oder als obman sich einbildete, die wahre Seligkeit läge imGelde, das man im Spiel gewinnen kann, oder in demHafen, den man jagt. Man würde das nicht habenwollen, wenn es angeboten würde. Nicht diesenweichlich und ruhigen Besitz, er uns an unsern un-glücklichen Zustand denken läßt, sucht man, sonderndas Gewirr, was uns abhält daran zu denken.

Daher kommt es, daß die Menschen so sehr den

95Pascal: Gedanken über die Religion

Lärm und das Getümmel der Welt lieben, daß das Ge-fängniß eine so furchtbare Strafe ist und daß es so we-nige Menschen giebt, die im Stande wären die Ein-samkeit zu ertragen.

Das ist alles was die Menschen haben erfindenKönnen um sich glücklich zu machen. Und diejeni-gen, die sich bloß damit ergötzen die Eitelkeit undNiedrigkeit der menschlichen Vergnügungen zu zei-gen, kennen ganz gut einen Theil ihres Elends, denndas ist ein sehr großes Elend an so niedrigen und ver-ächtlichen Dingen Freude finden zu können, aber siekennen nicht den Grund davon, der ihnen diesesElend selbst nöthig macht, so lange sie nicht geheiltsind von jenem innern und natürlichen Elend, welchesdarin besteht, daß sie nicht den Anblick ihrer selbstzu ertragen vermögen. Jener Hase, wenn sie ihn ge-kauft hätten, würde sie nicht vor diesem Anblick be-wahren, aber die Jagd bewahrt sie davor. Also wennman ihnen vorwirft, daß, was sie mit so viel Eifer su-chen, sie nicht befriedigen werde, daß nichts niedrigerund eitler sei und sie antworteten, wie sie, wenn sierecht darüber nachdächten, antworten müßten, sowürden sie ganz einstimmen, aber sie würden zu-gleich sagen, daß sie darin nur eine heftige und stür-mische Beschäftigung suchen, die sie vom Anblickihrer selbst abwende, und daß sie eben darum sicheinen anziehenden Gegenstand wählen, der sie reize

96Pascal: Gedanken über die Religion

und ganz einnehme. Indessen sie antworten nicht so,weil sie sich nicht selbst kennen. Ein Edelmannglaubt aufrichtig, daß etwas Großes und Edles an derJagd sei; er wird sagen: es ist ein königliches Vergnü-gen. Eben so ist es mit andern Dingen, mit denen diemeister Menschen sich beschäftigen. Man bildet sichein, es sei etwas Wahres und Bleibendes in den Din-gen selbst. Man überredet sich: hätte man jenes Amterlangt, so würde man sich nachher mit Vergnügen inRuhe setzen und man fühlt nicht die unersättlicheNatur seiner Begierde. Man glaubt aufrichtig dieRuhe zu suchen und sucht in der That nur die Unruhe.

Die Menschen haben einen geheimen Trieb, der siedazu bringt das Vergnügen und die Beschäftigungaußen zu suchen, der aus dem Gefühl ihres beständi-gen Elends hervorgeht. Und sie haben einen andernGeheimen Trieb, der von der Größe ihrer ersten Naturübrig ist, der ihnen zu erkennen giebt: das Glück seiin Wahrheit nur in der Ruhe. Und aus diesen beidenwiderstreitenden Trieben bildet sich in ihnen ein ver-worrner Lebensplan, der sich ihrem Blick in der Tiefeihrer Seele verbirgt, der sie veranlaßt durch unruhigeGeschäftigkeit nach der Ruhe zu streben und sichimmer ein zu bilden: die Befriedigung, die sie nichthaben, werde kommen, wenn sie einige Schwierigkei-ten, die sie vor Augen sehen, übersteigen und sich da-durch die Pforte zur Ruhe eröffnen können.

97Pascal: Gedanken über die Religion

So verfließt das ganze Leben. Man sucht die Ruhe,indem man einige Hindernisse bekämpft und wennman sie überstiegen hat, wird die Ruhe unerträglich.Denn man denkt entweder an die Uebel, die man hat,oder an die, von welchen man bedroht wird. Undwenn man sich auch von allen Seiten sicher sähe, sowürde doch die Langeweile nicht säumen in eignerKraft aus dem Grund des Herzens, wo sie natürlicheWurzeln hat, hervor zu kommen und den Geist mitihrem Gift zu erfüllen.

Darum als Pyrrhus sich vernahm mit seinen Freun-den der Ruhe zu genießen, wenn er zuvor einen gro-ßen Theil der Welt erobert haben würde und Cineasihm sagte, daß er besser thun würde sein Glück zu be-schleunigen um gleich auf der Stelle dieser Ruhe zugenießen ohne es erst durch so viele Mühseligkeitenzu suchen, so gab er ihm einen Rath, der an großenSchwierigkeiten litt und der nicht viel vernünftigerwar als der Plan jenes ehrgeizigen Jünglings. Der einewie der andre setzte voraus, daß der Mensch an sichselbst und an seinen gegenwärtigen Gütern sich genü-gen lassen kann ohne die Leere seines Herzens aus zufüllen mit eingebildeten Hoffnungen und das zu füllenkonnte weder vor noch nach Eroberung der Weltglücklich sein und vielleicht war das weichlicheLeben, wozu ihm sein Minister rieth, noch wenigergeeignet ihn zu befriedigen als die Unruhe so vieler

98Pascal: Gedanken über die Religion

Kämpfe und so vieler Züge, auf die er sann.Man muß also anerkennen: der Mensch ist so un-

glücklich, daß er sich selbst peinigen würde ohne ir-gend eine äußre Ursache zum Mißbehagen durch deneigenen Zustand seiner natürlichen Lage, er ist beidem allen zugleich so eitel und so leichtsinnig, daßbei tausend wesentlichen Ursachen zur Pein, die ge-ringste Kleinigkeit hinreicht ihn zuvergnügen; so daßer, wenn man es ernstlich betrachtet, noch mehr zubeklagen ist, weil er sich an so eiteln und niedrigenDingen vergnügen kann, als weil er sich über seinwirkliches Elend bekümmert und seine Vergnügungensind unendlich weniger vernünftig als sein Mißbeha-gen.

2.

Woher kommt es, daß jener Mann, der seit kurzemseinen einzigen Sohn verloren hat und er unter einerLast von Prozessen und Streitigkeiten diesen Morgenso voll Unruhe war, jetzt nicht daran denkt? Verwun-dert euch nicht darüber, er ist ganz beschäftigt zusehen, wo ein Hirsch vorbeikommen wird, den seineHunde hitzig verfolgen seit sechs Stunden. Mehrbraucht ein Mensch nicht, wie voll Trauer er auch sei.Kann man es über ihn gewinnen, daß er sich auf einVergnügen einläßt, so ist er die Zeit über glücklich;

99Pascal: Gedanken über die Religion

aber das ist ein falsches und eingebildetes Glück, dasnicht von dem Besitz irgend eines wahren und blei-benden Guts herrührt, sondern von einer Leichtigkeitdes Sinnes, in welcher er das Andenken seines wirkli-chen Elends vergießt um sich an niedre und lächerli-che Dinge zu hängen, die seiner Bemühung und nochmehr seiner Liebe unwürdig sind. Das ist die Freudeeines Kranken und Wahnsinnigen, die nicht von derGesundheit seiner Seele herrührt, sondern von seinerVerwirrtheit; das ist ein Lachen der Tollheit und Täu-schung. Denn es ist befremden, wenn man betrachtetwas den Menschen gefällt in den Spielen und Vergnü-gen. Freilich indem sie den Geist beschäftigen, wen-den sie ihn ab von dem Gefühl seiner Leiden, und dasist reell; aber sie Beschäftigen ihn nur, weil er sichdaraus einen eingebildeten Gegenstand der Leiden-schaft bildet, an den er sich hängt.

Was meint ihr der Gegenstand jener Leute, die mitso viel Anstrengung des Geistes und Bewegung desLeibes Ball spielen? Sich den andern Tag unter ihrenFreunden zu rühmen, daß sie besser gespielt habenals ein andrer. Das ist der Grund ihres Eifers. Soschwitzen andre auf ihren Stuben um den Gelehrtenzu zeigen, daß sie eine Aufgabe der Algebra gelösthaben, die bis dahin nicht gelöst werden konnte. Undso viele andre setzen sich den größten Gefahren ausum sich nachher zu rühmen, daß sie eine Festung

100Pascal: Gedanken über die Religion

gewonnen haben, meines Bedünkens eben so thöricht.Und noch andre gar arbeiten sich zu Tode um allediese Dinge auf zu zeichnen, nicht um dadurch weiserzu werden, sondern bloß um zu zeigen, daß sie die Ei-telkeit dieser Dinge erkennen und diese sind die größ-ten Thoren der Ganzen Rotte, weil sie es mit Wissensind, statt daß man den andern denken kann, sie nichtdie Thoren sein würden, wenn sie jene Erkenntnißhätten.

3.

Derselbe Mensch, den man unglücklich machenwürde, wenn man ihm alle Morgen das Geld, das erjeden Tag gewinnen kann, geben wollte unter der Be-dingung nicht zu spielen, derselbe bringt sein Lebenohne Mißbehagen hin, indem er alle Tage um eineKleinigkeit spielt. Man wird vielleicht sagen: er suchedas Vergnügen des Spiels und nicht den Gewinn.Aber man lasse ihn um nichts spielen, und er wirdnicht warm dabei werden und sich dabei langweilen.Also nicht das Vergnügen allein sucht er, ein mattesVergnügen ohne Leidenschaft langweilt ihn. Er mußdabei in Feuer gerathen und sich selbst aufregen,indem er sich einbildet: er würde so glücklich sein zugewinnen, was er sich nicht geben lassen möchteunter der Bedingung nicht zu spielen, er muß sich

101Pascal: Gedanken über die Religion

einen Gegenstand der Leidenschaft bilden, der seinVerlangen reizt, seinen Zorn, seine Furcht, seineHoffnung.

So sind die Ergötzlichkeiten, die das Glück desMenschen ausmachen, nicht nur niedrig, sie sind auchfalsch und betrügerisch, d.h. sie haben zum Gegen-stand Phantome und Täuschungen, die unmöglich denGeist des Menschen beschäftigen könnten, wenn ernicht das Gefühl und den Geschmack des wahrenGlücks verloren hätte und wenn er nicht voll wäre vonNiedrigkeit, Eitelkeit, Leichtsinn, Stolz und unzähli-gen andern Lastern und sie helfen uns unser Elend tra-gen nur dadurch, daß sie uns ein wahres und wirkli-ches Elend verursachen. Dies ist es nämlich, was unshauptsächlich verhindert an uns zu denken und wasuns veranlaßt unmerklich die Zeit zu verlieren. Ohnedieses würden wir nur Mißbehagen empfinden unddies Mißbehagen würde uns treiben irgend ein sichre-res Mittel zu suchen um demselben zu entgehen. Aberdir Zerstreuung betrügt uns, ergötzt uns und bringtund unmerklich bis zum Tode.

102Pascal: Gedanken über die Religion

4.

Da die Menschen kein Heilmittel entdecken konn-ten gegen den Tod, das Elend, die Unwissenheit, sosind sie darauf verfallen um sich glücklich zu machennicht daran zu denken. Das ist alles, was sie erfindenkonnten um sich über so viel Uebel zu trösten. Aberdas ist ein sehr elender Trost, weil er darauf hingeht,nicht das Uebel zu heilen, sondern es bloß kurze Zeitzu verbergen und indem er es verbirgt, macht er, daßman nicht daran denkt es wirklich zu heilen. So ge-schieht es durch eine seltsame Verkehrtheit der Naturdes Menschen, daß das Mißbehagen, sein empfind-lichstes Uebel, in gewisser Art sein größtes Gut ist,weil es mehr als alles andre dazu beitragen kann, ihnseine wahre Heilung suchen zu machen und daß dasVergnügen, welches er als sein größtes Gut ansieht,in der That sein größtes Uebel ist, weil es mehr alsalles andre ihn davon abhält das Heilmittel für seinUebel zu suchen. Das eine wie das andre ist ein vor-züglicher Beweis von dem Elend und dem Verderbendes Menschen und zugleich von seiner Größe; dennnur deshalb fühlt der Mensch sich bei allem unbehag-lich und sucht diese Menge von Beschäftigungen,weil er die Vorstellung des Glücks hat, das er verlo-ren. Da er es in sich nicht findet, sucht er es umsonst

103Pascal: Gedanken über die Religion

in den äußern Dingen, ohne je sich zufrieden stellenzu können, weil es weder in uns noch in den Ge-schöpfen ist, sondern in Gott allein.

5.

Da die Natur uns immer unglücklich macht in allenZuständen, so malen unsre Begierden uns einenglücklichen Zustand aus, dadurch, daß sie mit demZustande, in dem wir sind, die Freuden des Zustandesverbinden, in dem wir nicht sind und wenn wir zu die-sen Freuden gelangen sollten, würden wir darum nichtglücklich sein, weil wir andre Begierden, einem neuenZustande gemäß, haben würden.

6.

Man denke sich eine Anzahl Menschen in den Ket-ten und alle zum Tode verurtheilt, die einen werdenjeden Tag vor den Augen der andern erwürgt und die,welche bleiben, sehen ihre eigne Lage in der Lageihrer Genossen und sich einer den andern mitSchmerz und ohne Hoffnung betrachtend, erwartensie, daß die Reihe an sie komme. Das ist das Bild vonder Lage der Menschen.

104Pascal: Gedanken über die Religion

Achter Abschnitt

Gründe einiger Volksmeinungen

1.

Ich will hier meine Gedanken aufschreiben, ohneOrdnung und doch vielleicht nicht in Verwirrung,ohne Plan; das ist die wahre Ordnung, die auch immerdurch die Unordnung selbst meinen Zweck bezeich-nen wird.

Wir werden sehn, daß alle Volksmeinungen rechtverständig sind, daß das Volk nicht so töricht ist alsman sagt und das also die Meinung, welche dieVolksmeinung zerstört, selbst untergehen muß.

2.

In einem gewissen Sinne ist es wahr, wenn mansagt, daß alle Welt in der Täuschung ist; denn ob-gleich die Meinungen des Volkes verständig sind, sosind sie es doch nicht in seinem Kopfe, weil es glaubt,daß die Wahrheit da sei, wo sie nicht ist. Die Wahr-heit ist wohl in ihren Meinungen, aber nicht auf demPunkt, wo sie sich denken.

105Pascal: Gedanken über die Religion

3.

Das Volk verehrt die Personen von hoher Geburt.Die Halbgebildeten verachten sie und sagen: die Ge-burt sei nicht ein Vorzug der Person, sondern des Zu-falls. Die Gebildeten ehren sie nicht nach der Ansichtdes Volks, sondern nach einer höhern Ansicht. EinigeEiferer, die nicht viel Kenntniß besitzen, verachten sietrotz jenes Ansehns, das sie den Gebildeten vereh-renswerth macht, weil sie dafür nach einem neuenLicht, das ihnen ihre Frömmigkeit giebt, urtheilen.Aber die vollkommenen Christen ehren sie nacheinem andern höhern Licht. So wechseln die Meinun-gen und folgen sich dafür und dagegen, je nachdemman Einsicht hat.

4.

Das größte aller Uebel ist der Bürgerkrieg. Er istgewiß, wenn man das Verdienst belohnen will, dennalle würden sagen sie haben Verdienst. Das Uebel,das zu befürchten steht von einem albernen Men-schen, der durch das Recht der Geburt nachfolgt, istweder noch so groß noch so gewiß.

106Pascal: Gedanken über die Religion

5.

Warum folgt man der Mehrheit? Weil sie mehrRecht hat? Nein, sondern weil sie mehr Gewalt hat.

Warum folgt man den alten Gesetzen und den altenMeinungen? Weil sie verständiger sind? Nein, son-dern sie sind einzig und benehmen uns den Grund zurVerschiedenheit der Ansichten.

6.

Das Reich, das auf die Meinung und Einbildunggegründet ist, herscht einige Zeit, es ist sanft und frei-willig. Das Reich der Gewalt herscht immer.

So ist die Meinung gleichsam de Königinn derWelt, aber die Gewalt ist ihr Herr.

7.

Wie wohl hat man daran gethan die Menschenmehr nach dem Aeußern zu unterscheiden als nachden innern Eigenschaften!

Wer von uns beiden soll vorangehn? wer soll demandern den Platz räumen? der weniger Kluge? Aberich bin eben so klug als er. Wir werden uns darumschlagen müssen. Er hat vier Dinge und ich nur einen,

107Pascal: Gedanken über die Religion

das ist zu sehen, man braucht nur zu zählen. Also ichmuß weichen und ich bin ein Narr, wenn ich streite.

Durch dieses Mittel sind wir in Frieden, was dasGrößte aller Güter ist.

8.

Die Gewohnheit die Könige von Garden, Trommel-schlägern, Officieren und von allen Dingen, die dasGanze zu Ehrfurcht und Schrecken beugen, umgebenzu sehen, macht, daß ihr Antlitz, wenn es bisweilenallein und ohne diese Begleitung ist, ihren Untertha-nen Ehrfurcht und Schrecken einflößt, denn mantrennt nicht in Gedanken ihre Person von ihrem Ge-folge, das man gewöhnlich mit ihnen sieht. Die Welt,die nicht weiß, daß diese Wirkung ihren Ursprung injener Gewohnheit hat, glaubt sie komme von einer na-türlichen Kraft und daher die Redensarten: »der Zugder Göttlichkeit ist seinem Antlitz ausgedrückt«u.s.w.

Die Macht der Könige ist gegründet auf die Ver-nunft und auf die Thorheit des Volks und zwar weitmehr auf die Thorheit. Das Größte und Wichtigste inder Welt hat zur Grundlage die Schwäche und dieseGrundlage ist bewunderswürdig sicher; denn nichtsist sichrer als daß das Volk schwach sein wird. Wasallein auf die Vernunft gegründet ist, steht sehr

108Pascal: Gedanken über die Religion

schlecht gegründet, wie z.B. die Achtung der Weis-heit.

9.

Unsre obrigkeitlichen Personen haben dieses Ge-heimniß wohl erkannt. Ihre rothen Röcke, ihre Her-melinmäntel, in welche sie sich einwickeln wie ver-mummte Katzen, die Paläste, wo sie richten, die Lili-en, alle diese erhabne Zurüstung war nöthig und wenndie Aerzte nicht lange Röcke und große Schuhe unddie Doctoren nicht viereckige Mützen und Roben, zuweit für ihre viere, hätten, so würden sie nie die Weltgefoppt haben, doch solchen authentischen sichernProbe kann sie nicht widerstehn. Bloß die Kriegsleutehaben sich nicht so vermummt, weil allerdings ihrTheil mehr wesentlich ist. Sie befestigen sich durchdie Gewalt, die andern durch Verstellung.

Daher haben auch unsre Könige diese Verhüllun-gen nicht gesucht. Sie haben sich nicht mit außeror-dentlichen Kleidern maskiert um als Könige zu er-scheinen; aber sie lassen sich begleiten von Leibwa-chen und Hellebardirern, von diesen pausbackigenWaffenknechten, die Hände und Kraft nur für siehaben. Die Trompeter und die Trommelschläger, dievorausgehen, und die Legionen, die sie umgeben, ma-chen die festesten Gemüther zittern. Sie haben nicht

109Pascal: Gedanken über die Religion

allein das Kleid, sie haben die Gewalt. Man mußeinen sehr freien Geist haben um den Großherrn inseinem prächtigen Serail von vierzig tausend Jani-tscharen umgeben an zu sehn wie einen andren Men-schen.

Hätten die obrigkeitlichen Personen die wahre Ge-rechtigkeit, hätten die Aerzte die wahre Kunst zu hei-len, so brauchten sie nichts mehr als viereckige Müt-zen. Das Ansehn jener Wissenschaft würde von selbstehrwürdig genug sein. Da sie aber nur eingebildetesWissen haben, so müssen sie zu jenen eiteln Aus-schmückungen greifen, welche die Einbildungskraft,mit de sie es zu thun haben, anregen und dadurch ver-schaffen sie sich denn in der That Achtung.

Wir sind im Stande einen Advokaten in dem langenRock und mit der Mütze auf dem Kopfe zu sehen,ohne eine vorteilhafte Meinung von seiner Tüchtigkeitzu fassen. Die Schweizer ärgern sich, wenn sie Adligegenannt werden und beweisen ihr bürgerliches Her-kommen um großer Aemter würdig gehalten zu wer-den.

110Pascal: Gedanken über die Religion

10.

Ein Schiff zu führen wählt man nicht den unter denReisenden aus, der vom besten Hause ist.

Jedermann sieht, daß man für's Ungewisse arbeitet,auf der See, in der Schlacht u.s.w., aber niemandkennt die Regel des Spiels, die zeigt, warum man essoll. Montaigne hat eingesehn, daß man Anstoßnimmt an einem hinkenden Geist und daß die Ge-wohnheit alles thut; aber er hat nicht den Grund ein-gesehn, warum das so ist.

Die, welche nur die Wirkungen sehen und nicht dieUrsachen, sind im Vergleich mit denen, welche dieUrsachen entdecken, wie diejenigen, welche nurAugen haben im Vergleich mit denen, die Geisthaben. Denn die Wirkungen sind gleichsam fühlbarund die Gründe sind sichtbar nur dem Geiste und ob-gleich es der Geist ist, durch den diese Wirkungen er-kannt werden, so ist doch dieser Geist im Vergleichmit dem, welcher die Ursachen sieht, wie die leibli-chen Sinne sind im Vergleich mit dem Geiste.

111Pascal: Gedanken über die Religion

11.

Woher kommt es, daß ein Hinkender uns nicht er-zürnt, aber wohl ein hinkender Geist? Das kommtdaher, weil ein Hinkender erkennt, daß wir rechtgehen und ein hinkender Geist sagt, daß wir es sind,die hinken, wäre das nicht, so würden wir mehr Mit-leid als Zorn gegen ihn fühlen.

Epiktet fragt auch, warum wir nicht böse werden,wenn man sagt, daß wir Kopfschmerzen haben, aberwohl, wenn man sagt, daß wir schlecht urtheilen oderschlecht wählen? Das kommt daher, weil wir ganzgewiß sind nicht Kopfschmerzen zu haben und nichtzu hinken. Aber wir sind nicht eben so sicher, daß wirdas Wahre wählen. Wir haben dafür keine andere Si-cherheit, als daß wir es nach unsrer besten Einsichterkennen; wenn nun ein andrer nach seiner bestenEinsicht das Gegentheil erkennt, so macht uns dasschwankend und stutzig und das noch mehr, wenntausend andre über unsre Wahl spotten, denn wir sol-len dann unsre Einsicht der Einsicht von so vielen an-dern vorziehn und das ist kühn und schwer. Nie giebtes einen solchen Widerspruch in den Sinnen in Betreffeines Hinkenden.

112Pascal: Gedanken über die Religion

12.

Der Respect sagt: »Mache dir Ungelegenheit.« Dasist eitel dem Scheine nach, aber ganz recht, denn esheißt so viel als: ich würde mir Ungelegenheit ma-chen, wenn du es brauchtest, da ich es thue, ohne daßes dir nützt. Außerdem dient auch die Ehrerbietungum die Großen aus zu zeichnen. Wenn es Respectwäre in einem Lehnstuhl zu sitzen, so würde man alleWelt ehren, und also nicht auszeichnen, aber indemman sich Ungelegenheit macht, zeichnet man sehrwohl aus.

13.

Prächtig gekleidet zu sein ist nicht so ganz eitel,man zeigt damit, daß eine große Zahl von Leuten füruns arbeiten, man zeigt durch seine Haare, daß maneinen Kammerdiener hat, einen Parfümeur u.s.w.durch seinen Kragen den Faden und die Borte u.s.w.

Es ist aber nicht ein oberflächliches Wesen, nichtein bloßes Kleid viel Arme zu seinen Diensten zuhaben.

113Pascal: Gedanken über die Religion

14.

Das ist wunderbar: man will nicht, daß ich einenMenschen ehre, der in Brokatell gekleidet ist und demsieben oder acht Lakaien folgen. Ach was! er wird mirdie Peitsche geben lassen, wenn ich ihn nicht grüße.Dieses Kleid, das ist eine Macht; anders ist es miteinem wohl aufgeschirrten Pferde im Vergleich zueinem andern.

Montaigne ist lächerlich, daß er nicht sieht, was fürein Unterschied es ist zu bewundern, daß man hiereinen findet und nach dem Grunde davon zu fragen.

15.

Das Volk hat sehr gesunde Meinungen, z.B. daß esdas Vergnügen und die Jagd lieber gewählt hat als diePoesie. Die Halbgelehrten spotten darüber und thunsich was darauf zu gut darin seine Thorheit zu zeigen;aber es hat Recht aus einem Grunde, den sie nicht er-gründen.

Es thut auch wohl die Menschen nach dem Aeußer-lichen zu unterschieden, als z.B. nach der Geburt odernach dem Besitz. Die Welt thut sich wieder gleich-falls etwas darauf zu gut zu zeigen, wie unvernünftigdas sei, aber das ist sehr vernünftig.

114Pascal: Gedanken über die Religion

16.

Es ist so ein Vortheil von Stande zu sein. EinMensch von achtzehn oder zwanzig Jahren kommt da-durch in eine solche Stellung, gekannt und geehrt, wieein andrer von funfzig Jahren sich vielleicht verdienenmag. Das sind dreißig Jahre gewonnen ohne Mühe.

17.

Es giebt Leute, die, um zu zeigen, daß man unrechtthut sie nicht zu achten, nie unterlassen das Beispielvon angesehenen vornehmen Personen, die auf sieetwas halten, an zu führen. Ich möchte ihnen antwor-ten: Zeigt uns das Verdienst, wodurch ihr euch dieAchtung jener Personen zugezogen habt, und wir wer-den euch ebenso achten.

18.

Wenn sich ein Mensch an das Fenster setzt um dieVorübergehenden zu betrachten und ich gehe da vor-bei, kann ich sagen, daß er sich dahin gesetzt hat ummich zu sehen? Nein, denn er denkt nicht an mich be-sonders.

Aber der, welcher ein Weib liebt um ihrer

115Pascal: Gedanken über die Religion

Schönheit willen, liebt er sie? Nein; denn die Pocken,die ihr die Schönheit rauben ohne sie zu tödten, erdenmachen, daß er sie nicht mehr liebt; und wenn manmich liebt um meines Urtheils oder meines Gedächt-nisses willen, liebt man mich? Nein; denn ich kanndiese Eigenschaften verlieren ohne auf zu hören zusein.

Was ist denn dies Ich, wenn es nicht im Leibe undnicht in der Seele ist? Und wie mag man den Leiboder die Seele anders lieben als um dieser Eigenschaf-ten willen, die nicht das Ich machen, weil sie vergäng-lich sind? Denn würde man wohl die Substanz derSeele eines Menschen abstract lieben, welche Eigen-schaften auch an ihr währen? Das geht nicht und wäreungerecht.

Man liebt also nie die Person, sondern allein dieEigenschaften, oder wenn man die Person liebt, somuß man sagen, daß die Vereinigung der Eigenschaf-ten die Person ausmacht.

19.

Das, was uns am Meisten am Herzen liegt, ist amHäufigsten nichts, wie z.B. zu verbergen, daß manwenig hat. Das ist ein Nichts, was unsre Einbildungzu einem Berge vergrößert. Eine andre Wendung derEinbildung läßt uns das ohne Mühe entdecken.

116Pascal: Gedanken über die Religion

Diejenigen, welche im Stande sind zu erfinden,sind selten; diejenigen, welche nichts erfinden, sind inviel größerer Zahl und folglich die Stärksten und sosieht man, daß sie gewöhnlich, den Erfindern die Ehreversagen, welche sie verdienen und durch ihre Erfin-dungen suchen. Bestehen sie darauf sie zu begehren,und diejenigen, welche nicht erfinden, mit Verachtungzu behandeln, so ist alles, was sie damit gewinnen,daß man ihnen Spottnamen giebt und sie wie Schwär-mer behandelt. Man muß sich also wohl hüten aufdiesen Gewinn, so groß er ist, erspricht zu sein undman soll sich begnügen von der kleinen Zahl derer,die den Werth der Erfindung kennen, geschätzt zuwerden.

117Pascal: Gedanken über die Religion

Neunter Abschnitt

Zerstreute Gedanken über Moral

1.

Alle guten Leute sind in der Welt, man unterläßtnur sie an zu wenden. Man zweifelt zum Beispielnicht, daß man sein Leben Preis geben müsse für dasöffentliche Wohl und viel thun es. Aber beinahe nie-mand thut es für die Religion.

Es ist nöthig, daß Ungleichheit unter den Men-schen sei, aber wird das zugegeben, so ist damit dieThür geöffnet nicht nur zur höchsten Oberherschaft,sondern zur höchsten Tyrannei. Es ist nöthig sein Ge-müth zu ergötzen, aber das öffnet die Thür zu dengrößten Ausschweifungen.

Man merke hier auf die Gränzen. Es giebt keineGränzen in den Dingen, die Gesetze wollen Gränzensetzen und der Geist kann sie nicht dulden.

118Pascal: Gedanken über die Religion

2.

Die Vernunft befiehlt uns viel gebietrischer als einHerr, denn wenn wir diesem nicht gehorchen, sind wirunglücklich, gehorchen wir jener nicht, so sind wirThoren.

3.

Warum willst du mich tödten? - Wie? wohnst dudenn nicht auf der andern Seite des Wassers? MeinFreund, wenn du auf dieser Seite wohntest, so würdeich ein Mörder sein, das wäre unrecht dich so zu töd-ten; aber weil du auf der andern Seite wohnest, so binich ein Tapfrer und es ist recht, daß ich dich tödte.

4.

Diejenigen, die unordentlich leben, sagen zu denen,die in der Ordnung sind, daß sie sich von der Naturentfernen und glauben selbst ihr zu folgen; gleichwiedie, welche in einem Schiffe sind, glauben, daß dieam Ufer sich entfernen. Die Sprache ist gleich auf bei-den Seiten. Man muß einen festen Punkt haben dar-über zu urtheilen. Der Hafen entscheidet für die imSchiff, wo aber finden wir diesen Punkt für die

119Pascal: Gedanken über die Religion

Moral?

5.

Wie die Mode die Annehmlichkeit macht, so machtsie auch das Recht. Wenn der Mensch wahrhaft dasRecht kännte, so würde er nicht diesen Grundsatz,den allgemeinsten, den es unter den Menschen giebt,aufgestellt haben: »jeder folge den Sitten seines Lan-des;« hellleuchtend würde die wahre Billigkeit sichalle Völker unterworfen haben und die Gesetzgeberwürden sich nicht statt jenes beständigen Rechts diePhantasien und Einfälle der Perser und der Deutschenzum Muster genommen haben, man würde es durchalle Staaten der Welt und in allen Zeiten aufgepflanzthaben.

6.

Das Recht ist, was festgestellt ist und so werdenalle unsre festgestellten Gesetze nothwendig für ge-recht gehalten, ohne untersucht zu werden, weil siefestgestellt sind.

120Pascal: Gedanken über die Religion

7.

Die einzigen allgemeinen Regeln sind die Gesetzedes Landes für die gewöhnlichen Dinge, und für dieandern die Mehrheit. Woher kommt das? Von derKraft, die darin liegt.

Daher kommt es auch, daß die Könige, die anderswoher die Gewalt haben, nicht der Mehrheit ihrer Mi-nister folgen.

8.

Ohne Zweifel ist die Gleichheit der Güter gerecht.Aber da man nicht machen konnte, daß der Menschgezwungen wäre der Gerechtigkeit zu gehorchen, sohat man ihn der Gewalt gehorchen lassen; da mannicht dem Recht die Gewalt verleihen konnte, hat mander Gewalt Recht verliehen, damit beide, Recht undGewalt, zusammen wären und Frieden bestünde, denner ist das höchste Gut. Summum jus summa injuria.(Das höchste Recht das höchste Unrecht.)

Die Mehrheit ist der beste Weg, weil sie sichtbarist und Gewalt hat Gehorsam zu erzwingen, indessenist dies der Weg der weniger Einsichtsvollen.

Hätte man gekonnt, so würde man die Gewalt indie Hände der Gerechtigkeit gegeben haben, aber da

121Pascal: Gedanken über die Religion

die Gewalt sich nicht handhaben läßt, wie man will,weil sie eine handgreifliche Eigenschaft ist, währenddas Recht eine geistige ist, über die man verfügt, wieman will, so hat man das Recht in die Hände der Ge-walt gegeben und nennt so Recht, was Gewalt zwingtzu beobachten.

9.

Es ist recht dem, was Recht ist, zu folgen, es istnothwendig dem zu folgen, was das Stärkste ist. DasRecht ohne die Gewalt ist unvermögend, die Machtohne das Recht ist tyrannisch. Das Recht ohne dieGewalt wird bestritten, weil es immer schlechte Men-schen giebt; die Gewalt ohne das Recht wird ange-klagt. Darum muß die das Recht und die Gewalt zu-sammengestellt werden, damit das, was recht ist, starksei und das, was stark ist, gerecht sei.

Das Recht ist dem Streit unterworfen, die Gewaltist wohl zu erkennen und ohne Streit. So braucht mandenn nur dem Recht die Gewalt zu geben. Da mannicht im Stande war was recht ist stark zu machen, sohat man gemacht, daß das Starke recht sei.

122Pascal: Gedanken über die Religion

10.

Es ist gefährlich dem Volk zu sagen, daß die Ge-setze nicht gerecht sind, denn es gehorcht nur, weil essie für gerecht hält. Daher muß man ihm zu gleicherZeit sagen, daß es den Gesetzen gehorchen muß, weilsie Gesetze sind, wie den Ohren gehorcht werdenmuß, nicht weil sie gerecht, sondern weil sie Oberesind. Damit ist aller Empörung vorgebeugt, wennman dies begreiflich machen kann. Das ist alles,worin eigentlich die Definition des Rechts besteht.

11.

Es wäre gut, wenn man den Gesetzen und Gewohn-heiten gehorchte, weil sie Gesetze sind und wenn dasVolks begriffe, daß das sie gerecht macht. Auf dieseWeise würde man sie nie verlassen; hingegen wennman ihre Gerechtigkeit von etwas anderm abhängigmacht, ist es leicht sie zweifelhaft zu machen und dasverursacht, daß die Völker zur Empörung geneigtsind.

123Pascal: Gedanken über die Religion

12.

Wenn die Frage ist, ob man Krieg machen und soviele Menschen tödten, so viele Spanier zum Todeverdammen soll, so urtheilt darüber ein einzigerMensch und noch dazu einer, der dabei interessiertist. Das müßte ein unpartheiischer Dritter sein.

13.

Diese Reden sind falsch und tyrannisch: ich binschön, darum soll man mich fürchten; ich bin stark,darum soll man mich lieben; ich bin... das ist Tyran-nei etwas auf einem Wege haben zu wollen, was mannur auf dem andern haben kann. Verschiednen Ver-diensten giebt man verschiedne Ehren, die Ehre derLiebe dem Reiz der Liebenswürdigkeit, die Ehre derFurcht der Gewalt, die Ehre des Glaubens der Wis-senschaft u.s.w. Man muß diese Ehren geben und manist ungerecht, wenn man sie verweigert und ungerecht,wenn man andre verlangt.

Und eben so ist es falsch und tyrannisch zu sagen:Er ist nicht stark, darum achte ich ihn nicht, er istnicht geschickt, darum fürchte ich ihn nicht. Die Ty-rannei besteht in dem Verlangen nach einer allgemei-nen Herschaft außer ihren Schranken.

124Pascal: Gedanken über die Religion

14.

Es giebt Laster, die nur durch andre Laster an unshängen, und die, wenn man den Stamm wegnimmt,sich wegbrechen lassen wie Zweige.

15.

Wenn die Schlechtigkeit ein Mal die Vernunft aufihrer Seite hat, so wird sie stolz und breitet die Ver-nunft in all ihrem Glanze aus und wenn die Kasteiungund das strenge Leben erfolglos war zum wahrenWohl und man muß wieder dazu zurück kehren derNatur zu folgen, so wird sie stolz durch die Rückkehr.

16.

Das heißt nicht glücklich sein, wenn man im Stan-de ist durch das Vergnügen erfreut zu werden; denndies kommt von außen und ist also abhängig undfolglich der Störung unterworfen durch tausend Zufäl-le, aus welchen die unvermeidlichen Trübsale entste-hen.

125Pascal: Gedanken über die Religion

17.

Der größte Geist wird der Thorheit beschuldigt,wie die größte Schwäche. Nicht gilt für gut als dieMittelmäßigkeit. Das hat die Mehrheit so festgesetztund sie fällt über jeden her, der aus der Mitte entwi-schen will, an welchem Ende es sei.

Ich werde mich dem nicht entgegensetzen, ich binzufrieden, wenn man mich hinstellt und wenn ichmich weigere am untern Ende zu sein, so geschiehtdas nicht, weil es unten ist, sondern weil es Ende ist;denn ich würde eben so mich weigern, wenn manmich an das Ende stellte. Der scheidet aus derMenschheit, der aus der Mitte scheidet. Die Größe dermenschlichen Seele besteht darin, daß man sich hierzu erhalten weiß und so wenig besteht ihre Größedarin von hier fort zu gehen, daß sei vielmehr darinsich zeigt gar nicht von hier zu weichen.

18.

Die Welt glaubt nicht, daß man sich auf Verse ver-stehe, wenn man nicht das Schild des Poeten ausge-hängt hat, noch daß man in der Mathematik was weiß,wenn man nicht das Schild des Mathematikers hat.Aber die wahrhaft vernünftigen Leute wollen kein

126Pascal: Gedanken über die Religion

Aushängeschild und machen wenig Unterschied zwi-schen dem Handwerk des Poeten und des Gold-stickers. Sie heißen weder Poeten noch Mathematiker;aber sie urtheilen von allen diesen. Man erräth sienicht. Sie sprechen von den Dingen, von denen mansprach, als sie eintraten. Man bemerkt in ihnen nichteine Eigenschaft eher als die andre, außer wenn es nö-thig ist, davon Gebrauch zu machen; aber dann erin-nert man sich deren, denn es gehört das beides gleichzu diesem Charakter, daß man von ihnen nicht sagt:sie sprechen gut, wenn nicht die Rede von Sprechenist und daß man es von ihnen sagt, wenn davon dieRede ist.

Das ist also ein falsches Lob, wenn man von einemMenschen, sobald er eintritt, sagt: er sei sehr ge-schickt in der Poesie und es ist ein schlechtes Zeichen,wenn man sich nur dann an ihn wendet, sobald es sichdarum handelt über einige Berufe zu urtheilen.

Der Mensch hat viel Bedürfnisse, er liebt nur den,der sie erfüllen kann. »Das ist ein guter Mathemati-ker, wird man sagen, aber ich habe mit Mathematiknichts zu thun. Das ist ein Mann, der gut den Kriegversteht, aber ich will keinen führen, gegen niemand.«Es gehört also ein vernünftiger Mann dazu um für alleunsre Bedürfnisse zu passen.

127Pascal: Gedanken über die Religion

19.

Wenn man sich wohl befindet, so begreift mannicht, wie man thun würde, wenn man krank wäre,und wenn man es ist, nimmt man mit Freuden Arznei,das Uebel bringt dazu. Man hat nicht mehr die Lei-denschaften und die Wünsche nach Vergnügen undHerumgehen, welche die Gesundheit einflößte undwelche mit den Bedürfnissen der Krankheit unverträg-lich sind.

Die Natur stößt dann Leidenschaften und Wünscheein die für den gegenwärtigen Zustand geeignet sind.Aengstliche Vorstellungen, die wir uns selbst machenund nicht die Natur, die allein sind es, die uns betrü-ben, denn sie verknüpfen mit dem Zustande, in wel-chem wir sind, die Leidenschaften des Zustandes, inwelchem wir nicht sind.

20.

Die Reden von Demuth sind Stoff zum Hochmuthfür die Hoffärtigen und zur Demuth für die Demüthi-gen. So sind die Reden des Pyrrhonismus und desZweifels Stoff zur Beglaubigung für die Glaubenden.

Wenige Menschen sprechen von der Demuth de-müthig, wenige von der Keuschheit keusch, vom

128Pascal: Gedanken über die Religion

Zweifel zweifelnd. Wir sind nichts als Lüge, Dopple-sinn, Widerspruch. Wir verbergen uns und wir ver-stellen uns vor uns selbst.

21.

Die schönen Handlungen, die verborgen sind, sinddie achtungswerthesten. Sehe ich dergleichen in derGeschichte, so gefallen sie mir sehr. Aber sie sinddoch nicht ganz verborgen gehalten, weil sie bekanntgeworden sind und dieses Wenige, wodurch sie ansLicht gekommen, vermindert ihren Werth. Denn dasist das Schönste, daß man es hat verbergen wollen.

22.

Ein Witzbold, ein schlechter Mensch.

23.

Das Ich ist hassenswerth und so sind diejenigenimmer hassenswerth, die es nicht wegräumen, sonderndie sich begnügen es nur zu verhüllen. »Keineswegs,werdet ihr sagen, denn wenn wir handeln, wie wirthun, dienstfertig gegen alle Welt, so hat man keinenGrund uns zu hassen.« Das ist wahr; wenn wir in demIch nichts mehr haßten als das Mißvergnügen, was

129Pascal: Gedanken über die Religion

uns von demselben herkommt. Aber wenn ich eshasse, weil es ungerecht ist und sich zum Mittelpunktvon allem macht, so muß ich es immer hassen.

Mit einem Wort, das Ich hat zwei Eigenschaften: esist ungerecht an sich darin, daß es sich zum Mittel-punkt von allem macht, es ist den andern lästig darin,daß es sich dienstbar machen will; denn jedes Ich istder Feind und wäre gern der Tyrann von allen andern.

Ihr nehmt daraus das Lästigsein weg und nicht dieUngerechtigkeit und so macht ihr es noch nicht lie-benswürdig für die, welche daran die Ungerechtigkeithassen, sondern nur für die Ungerechten, die darinnicht mehr ihren Feind sehen und so bleibt ihr unge-recht und könnt auch nur den Ungerechten gefallen.

24.

Ich bewundere nicht einen Mann, der eine Tugendin ihrer ganzen Vollkommenheit besitzt, wenn ernicht auch zu gleicher Zeit in gleichem Grade die ent-gegengesetzte Tugend hat. So war Epaminondas, erverband die höchste Tapferkeit mit der höchstenMilde. Denn sonst ist kein Steigen, sondern ein Fal-len.

Man zeigt seine Größe nicht dadurch, daß man andem einen Ende ist, sondern dadurch, daß man beideEnden berührt und alles zwischen beiden ausfüllt.

130Pascal: Gedanken über die Religion

Vielleicht ist es aber auch nur ein plötzliches Ver-wegen der Seele von dem einen Extrem zum andernund sie ist in Wirklichkeit immer nur an einem Punkt,wie der Feuerbrand, den man herumdreht. Indessenzeigt das doch wenigstens die Beweglichkeit derSeele, wenn auch nicht ihre Ausdehnung.

25.

Wäre unser Zustand wirklich glücklich, so müßteman uns nicht davon abbringen an ihn zu denken.

Wenig tröstet uns, weil wenig uns betrübt.

26.

Ich hatte lange mit dem Studium abstracter Wis-senschaften zugebracht, aber ich verlor den Ge-schmack daran, weil es so wenig Menschen gab, mitdenen man darüber sich besprechen konnte. Als ichaber das Studium des Menschen anfing, sah ich, daßjene abstracte Wissenschaften ihm nicht angemessensind und daß ich in sie mich vertiefend mich mehr vonmeiner Bestimmung entfernte als die andern, indemsie nichts von ihnen wissen, und ich vergab ihnen,daß sie sich nicht darum kümmern. Aber ich glaubtewenigstens viel Genossen bei dem Studium des Men-schen zu finden, weil dieses doch das ihm

131Pascal: Gedanken über die Religion

angemessene Studium ist. Ich habe mich getäuscht.Es sind noch wenige Menschen, welche dies studiren,als welche Mathematik treiben.

27.

Wenn alles sich gleichmäßig bewegt, so scheintsich nichts zu bewegen, wie auf einem Schiff. Wennalle zur Unordnung sich wenden, scheint keiner sichdahin zu wenden. Wer stille steht, macht die Bewe-gung der andern bemerkbar wie ein fester Punkt.

28.

Die Philosophen halten sich für sehr fein, weil sieihre ganze Moral unter gewisse Abtheilungen einge-zwängt haben. Aber wozu will man sie lieber in vierals in sechs eintheilen? wozu lieber vier als zehnArten von Tugenden machen? wozu sie lieber in ab-stine et sustine (Verbote und Gebote) einzwängen alsin irgend etwas anders? »Aber, sagt ihr, so ist alles ineinem Wort eingeschlossen.« - Allerdings. Aber dasist unnütz, wenn man es nicht erklärt und wenn mandaran geht es zu erklären und diese Lehre, die alle an-dern enthält, eröffnet, so kommen sie daraus eben inder ersten Verwirrung hervor, die ihr vermeiden woll-test, also wenn alle Lehren in eine eingeschlossen

132Pascal: Gedanken über die Religion

sind, so sind sie darin verborgen und unnütz und so-bald man sie entwickeln will, erscheinen sie wieder inihrer natürlichen Verwirrung.

Die Natur hat sie alle festgestellt jede für sich, undwenn man sie auch eine in die andre einschließenkann, so bestehn sie doch unabhängig von einander.Also haben alle diese Theilungen und Worte wenigandern Nutzen, als daß sie dem Gedächtnis helfen undzur Hinweisung dienen um zu finden was sie ein-schließen.

29.

Will man mit Nutzen tadeln, und einem andern zei-gen, daß er sich irrt, so muß man beobachten, vonwelcher Seite er die Sache ansieht, denn von der Seiteist sie gewöhnlich wahr und muß ihm diese Wahrheitzugestehen. Er ist damit zufrieden, weil er sieht, daßer sich nicht geirrt und nur unterlassen hat alle Seitenzu sehn. Nun schämt man sich nicht, daß man nichtalles sieht; aber man will sich nicht geirrt haben undvielleicht kommt das daher, weil natürlicher Weiseder Geist von der Seite, von welcher er es ansieht,sich nicht täuschen kann, wie alle Wahrnehmungender Sinne immer wahr sind.

133Pascal: Gedanken über die Religion

30.

Die Tugend des Menschen muß man nicht nach sei-nen Anstrengungen messen, sondern nach dem, was ergewöhnlich thut.

31.

Die Großen und die Kleinen haben dieselben Er-eignisse, dieselben Widerwärtigkeiten, dieselben Lei-denschaften, aber die einen sind auf der Höhe desRades, und die andern näher am Mittelpunkt und sowerden sie weniger umgetrieben durch dieselben Be-wegungen.

32.

Wenn Menschen auch nicht bei dem, was siesagen, interessirt sind, so muß man daraus doch nichtgeradezu schließen, daß sie nicht lügen; denn es giebtLeute, die lügen bloß um zu lügen.

134Pascal: Gedanken über die Religion

33.

Das Beispiel der Keuschheit Alexanders hat nichtso viele Enthaltsame gemacht als das Beispiel seinerTrunksucht Unmäßige gemacht hat. Weniger tugend-haft zu sein als er schämt man sich nicht und esscheint zu entschuldigen, wenn man nicht lasterhafterist als er. Man glaubt nicht ganz und gar die Fehlerdes gemeinen Haufens zu haben, wenn man an sichdie Fehler jener großen Männer sieht und doch be-merkt man nicht, daß sie darin eben zum gemeinenHaufen gehören. Man hält sich zu ihnen an dem Ende,wo sie sich zum Volk halten. Wie hoch sie auchseien, sie sind doch mit den übrigen Menschen ver-knüpft an irgend eine Stelle. Sie schweben nicht inder Luft, getrennt von unsrer Gemeinschaft. Wenn siegrößer sind als wir, so besteht das darin, daß ihrHaupt höher ist, aber ihre Füße sind eben so niedrigals die unsrigen. Sie sind alle auf gleichem Boden undstützen sich auf dieselbe Erde und mit den Füßen sindsie so niedrig als wir, als die Kinder, als die Thiere.

135Pascal: Gedanken über die Religion

34.

Der Kampf gefällt uns und nicht der Sieg. Manmag wohl die Kämpfe der Thiere gern sehen, nichtden blutgierigen Sieger auf dem Besiegten. Was woll-te man denn sehen, wenn nicht das Ende des Sieges?Und sobald er erfolgt ist, hat man genug. So ist esauch im Spiel, so im Erforschen der Wahrheit. Gernsieht man in den Streitigkeiten den Kampf der Mei-nungen; aber die gefundne Wahrheit betrachten, dasgeschieht nicht. Will man machen, daß sie mit Ver-gnügen betrachtet werde, so muß man sie zeigen, wiesie aus dem Streit hervorgeht. Eben so ist es mit denLeidenschaften. Es ist ein Vergnügen zwei entgegen-gesetzte sich stoßen zu sehn, aber sobald eine dieHerrin ist, so ist es nicht mehr die Rohheit.

Wir suchen nie die Dinge, sondern das Suchen derDinge. So gelten auch im Schauspiel die ruhigen Sze-nen ohne Furcht nichts, eben so wenig das äußersteElend ohne Hoffnung, noch die rohe Liebe.

136Pascal: Gedanken über die Religion

35.

Man lehrt die Menschen nicht vernünftige recht-schaffende Leute sein und alles Uebrige lehrt man sieund dennoch sind sie auf nichts so sehr aus als hier-auf. So sind sie gerade darauf aus das Einzige zu wis-sen, was sie gar nicht lernen.

36.

Welch ein thörichter Gedanke war es von Montai-gne sich selbst zu schildern! und das nicht im Vor-übergehen und wider seine Grundsätze, wie es jedemwiderfährt sich zu verirren, sondern aus eignenGrundsätzen und nach einem ursprünglichen, ange-legten Plan. Denn Thorheiten zufällig und ausSchwachheit zu sagen, das ist ein gewöhnlichesUebel, aber mit Absicht welche zu sagen, das ist un-erträglich, und doch dazu solche!

137Pascal: Gedanken über die Religion

37.

Die Unglücklichen zu beklagen ist nicht gegen dieSelbstsucht; im Gegentheil, man ist sehr zufriedendamit sich dieses Zeugniß von Menschlichkeit gebenund sich den Ruf der zarten Empfindung zuziehen zukönnen, ohne daß es etwas kostet. Das ist nicht viel.

38.

Wer die Freundschaft des Königs von England, desKönigs aus Polen und der Königinn von Schwedenbesessen hätte, würde der geglaubt haben, ihm könnteje ein Zufluchtsort und ein Asyl in der Welt fehlen?

39.

Die Dinge haben verschiedene Eigenschaften unddie Seele verschiedene Neigungen; denn nichts vondem, was sich der Seele darbietet, ist einfach und dieSeele bietet sich keinem Gegenstand einfach dar. Sokommt es, daß man bisweilen weint und lacht überdieselbe Sache.

138Pascal: Gedanken über die Religion

40.

Es giebt verschiedene Gattungen von starken, vonschönen, von guten Geistern und von Frommen, jedervon ihnen muß bei sich herschen, nicht anderswo. Zu-weilen begegnen sie sich und der starke und der schö-ne schlagen sich thörichter Weise, wer von ihnen derHerr ein soll; ihre Herschaft ist von verschiedenerGattung. Sie verstehen sich nicht und ihr Fehler istüberall herschen zu wollen. Nichts kann das, selbstnicht die Gewalt; denn sie schafft nichts im Reich derGelehrten, sie ist nur Herrin der äußern Handlungen.

41.

Ferox gens nullam esse vitam sine armis putat.(»Das wilde Geschlecht meint, es sei kein Leben ohneWaffen.«) Sie lieben mehr den Tod als den Frieden,die andern mehr den Tod als den Krieg. Jede Meinungkann über das Leben gesetzt werden, zu welchemdoch die Liebe so stark und so natürlich scheint.

139Pascal: Gedanken über die Religion

42.

Wie schwer ist es die Sache dem Urtheil eines an-dern vor zu legen, ohne sein Urtheil zu bestechendurch die Art, wie man sie vorlegt! Sagt man: Ichfinde es schön, ich finde es dunkel, so zieht man dieVorstellung zu diesem Urtheil hin oder reizt sie zumentgegengesetzten. Es ist besser gar nichts zu sagen;denn dann urtheilt er, wie er ist, d.h. wie er dann istund wie die andern Umstände, die man nicht gemachthat, ihn eben gestimmt haben; wenn nicht auch diesesStillschweigen seine Wirkung thut nach der Wendungund Auslegung, die er geneigt sein mag ihm zu geben,oder nach dem, was er aus dem Zug im Gesicht unddem Ton der Stimme vermuthet. So leicht ist es einUrtheil aus seiner natürlichen Lage zu bringen, odervielmehr so wenig giebt es feste und selbstständigeUrtheile.

43.

Montaigne hat Recht: die Gewohnheit muß befolgtwerden, sobald sie Gewohnheit ist und man sie einge-führt findet, ohne zu fragen, ob sie vernünftig ist odernicht; es versteht sich immer von dem, was nichtgegen das natürliche oder göttliche Recht ist.

140Pascal: Gedanken über die Religion

Allerdings befolgt das Volk die Gewohnheit nur ausdem einzigen Grunde, daß es sie für recht hält, sonstwürde es sie nicht mehr befolgen; denn man will nurder Vernunft oder dem Recht unterworfen sein. DieGewohnheit ohne dieses würde für Tyrannei gelten,während die Herschaft der Vernunft und des Rechtseben so wenig Tyrannei ist als die der Lust.

44.

Zur Zeit der Trübsal wird uns die Kenntniß der äu-ßern Dinge nicht trösten über die Unbekanntschaftmit der Moral; aber die Kenntniß der Sitten wird unsimmer trösten über die Unbekanntschaft mit den äu-ßern Dingen.

45.

Die Zeit dämpft die Betrübnisse und die Streitig-keiten, weil man selbst sich ändert und gleichsam eineandre Person wird. Weder der Beleidiger noch der Be-leidigte sind mehr dieselben. Es ist wie wenn man einVolk gereizt hat und sähe es nach zwei Generationenwieder. Es sind noch die Franzosen, aber nicht diesel-ben.

141Pascal: Gedanken über die Religion

46.

Zustand des Menschen: Unbeständigkeit, Lange-weile, Unruhe. Wer vollkommen die Eitelkeit desMenschen kennen lernen will, braucht nur die Ursa-chen und die Wirkungen der Liebe zu betrachten. DieUrsache ist ein »Ich weiß nicht was« (Corneille) unddie Wirkungen sind furchtbar. Dieses »Ich weiß nichtwas«, etwas so Geringes, daß man es nicht zu erken-nen vermag, bewegt die ganze Erde, die Fürsten, dieHeere, die weite Welt. Wäre das Netz der Cleopatrakleiner gewesen, so wäre die ganze Gestalt der Erdeanders geworden.

47.

Cäsar war zu alt, wie es mir scheint, um sich einVergnügen daraus zu machen die Welt zu erobern.Dieses Vergnügen war gut für Alexander, das war einjunger Mensch, schwer an zu halten; aber Cäsarmußte reifer sein.

142Pascal: Gedanken über die Religion

48.

Das Gefühl von der Falschheit der Freuden, die wirhaben, und die Unbekanntschaft mit der Eitelkeit derFreuden, die wir nicht haben, bewirken die Unbestän-digkeit.

49.

Die Fürsten und die Könige treiben auch mitunterKurzweil. Sie sind nicht immer auf ihren Thronen, dawürden sie sich langweilen. Es ist nöthig die Größezu verlassen um sie zu empfinden.

50.

Meine Laune hängt wenig vom Wetter ab. Ich habemeinen Nebel und mein schönes Wetter in mir. Selbstdas Wohl und Weh meiner Angelegenheiten machtdabei wenig. Ich sträube mich zuweilen aus mir selbstgegen das böse Geschick und die Ehre es zu dämpfenmacht mich es freudig dämpfen, wogegen ich zu and-rer Zeit mich gleichgültig stelle gegen das gute Ge-schick, als möchte ich es nicht haben.

143Pascal: Gedanken über die Religion

51.

Während ich meinen Gedanken ausschreibe, ent-geht er mir bisweilen; aber das erinnert mich an meineSchwäche, die ich alle Augenblick vergesse und dasbelehrt mich eben so viel als mein vergessener Gedan-ke, denn ich strebe allein darnach mein Nichts zu er-kennen.

52.

Es ist unterhaltend zu sehen, daß es Menschen inder Welt giebt, die allen Gesetzen Gottes und derNatur entsagt und nur sich selbst welche gemachthaben, denen sie gewissenhaft gehorchen, als z.B. dieRäuber u.s.w.

53.

»Dieser Hund gehört mir,« sagten jene armen Kin-der. »Das ist hier mein Platz an der Sonne.« Das istder Anfang und das Bild von der Usurpation der gan-zen Erde.

144Pascal: Gedanken über die Religion

54.

»Sie sehen übel aus, entschuldigen Sie gütigst.« -Ohne diese Entschuldigung würde ich nicht gemerkthaben, daß hier eine Beleidigung ist. Mit Erlaubnißzu sagen, es ist nichts übel als nur die Entschuldi-gung.

55.

Gewöhnlich stellt man sich Plato und Aristotelesnicht andres als in großen Gewändern vor, immerernst und ehrbar. Sie waren ehrliche Leute, die, wieandre, mit ihren Freunden lachten und wenn sie ihreGesetze und ihre Abhandlungen über die Staatskunstabfaßten, so war das, während sie lustig waren undum sich zu zerstreuen. Das war der wenigst philoso-phische und der wenigst ernsthafte Theil ihres Le-bens; der am Meisten philosophische Theil war ein-fach und ruhig zu leben.

145Pascal: Gedanken über die Religion

56.

Der Mensch liebt die Bosheit, aber nicht gegen dieUnglücklichen, sondern gegen die übermüthigenGlücklichen und wenn man anders darüber urtheilt,täuscht man sich.

Martials Epigramm auf die Einäugigen taugtnichts, weil es sie nicht tröstet und nur einen Witzgiebt, zum Ruhm des Verfassers. Alles, was nur fürden Autor ist, taugt nichts. Ambitiosa recidet orna-menta (Der Dichter wird die anspruchsvollen Aus-schmückungen wegschneiden.) man muß denen gefal-len, die menschliche und sanfte Gesinnungen habenund nicht den rohen und unmenschlichen Seelen.

57.

Ich habe mich übel befunden und von Höflichkei-ten: »Ich habe Ihnen viel Mühe gemacht. Ich fürchteSie zu belästigen. Ich fürchte, es wird zu lange.« Ent-weder man zieht mich mit oder man bringt mich auf.

146Pascal: Gedanken über die Religion

58.

Ein wahrer Freund ist ein großer Vortheil, selbstfür die großen Herren, damit er Gutes von ihnen redeund sie in ihrer Abwesenheit unterstütze, so daß siealles thun müssen um einen zu haben. Aber sie müs-sen, um einen zu haben. Aber sie müssen auch gutwählen. Denn wenn sie alle ihre Anstrengungen füreinen Thoren machen, so ist ihnen das unnütz, was erauch Gutes von ihnen rede, ja, er wird nicht ein MalGutes reden, wenn er findet, daß er der Schwächsteist; denn er hat kein Ansehn und so wird er noch zurGesellschaft mit lästern.

59.

Willst du, daß man Gutes von dir rede? Sage duselbst nichts der Art.

60.

Man spottet nicht über diejenigen, welche sichdurch Aemter und Würden ehren lassen; denn manliebt jedermann nur um geborgter Eigenschaften wil-len. Alle Menschen hassen sich von Natur. Ich be-haupte: wenn sie genau wüßten, was sie einer vom

147Pascal: Gedanken über die Religion

andern sagen, so gäbe es nicht vier Freunde in derWelt. Das zeigt sich in den Streitigkeiten, welche sicherheben, wenn man zuweilen unbedachte Mittheilun-gen von dem Gesprochenen macht Der Tod ist vielleichter zu ertragen ohne daran zu denken als der Ge-danke des Todes ohne Gefahr.

62.

Daß etwas so Sichtliches als die Eitelkeit der Weltso wenig gekannt ist, daß es seltsam und überra-schend erscheint, wenn man sagt: es sei Thorheit dieGröße zu suchen, das ist bewundernswerth.

Wer nicht die Eitelkeit der Welt sieht, ist selbstsehr eitel. Aber wer sieht sie auch nicht, ausgenom-men die jungen Leute, die ganz im Getümmel, imVergnügen und ohne Gedanken an die Zukunft sind?Nehmt ihnen ihre Vergnügungen, so seht ihr sie ver-schmachten vor langer Weile; sie fühlen dann ihrNichts ohne es zu kennen. Denn das heißt doch sehrunglücklich sein, wenn man eine unerträgliche Trau-rigkeit fühlt, sobald man dahin gebracht ist sich selbstzu betrachten, ohne davon abgekehrt zu werden.

148Pascal: Gedanken über die Religion

63.

Jede Sache ist zum Theil wahr und zum Theil un-wahr. Die wesentliche Wahrheit ist nicht so, sie istganz rein und ganz wahr. Diese Mischung entehrt undvernichtet sie. Nichts ist wahr, nämlich wenn man esvon dem reinen Wahren versteht. Man wird sagen: derMensch ist schlecht. Ja, denn wir kennen das Böseund Falsche. Aber was will man behaupten, daß esgut sei? die Keuschheit? Ich sage: nein, denn dieMenschheit würde aufhören. Das Heirathen? Nein;denn die Enthaltsamkeit ist besser. Nicht zu tödten?Nein, denn die Unordnung würde furchtbar sein unddie Bösen würden die Guten tödten. Zu tödten? Nein;denn das zerstört die Natur.

Wir haben Wahres und Gutes nur zum Theil undgemischt mit Bösem und Falschem.

64.

Das Böse ist leicht zu finden, denn es ist eineMenge da; das Gute ist beinahe einzig. Aber eine ge-wisse Art des Bösen ist ebenso schwer zu finden alsdas, was man gut nennt und oft macht man unter die-sem Namen das besondere Böse als Gutes gelten....Es gehört sogar eine außerordentliche Größe der

149Pascal: Gedanken über die Religion

Seele dazu um es zu erreichen, wie um das Gute zuerreichen.

65.

Die Bande, welche die Ehrfurcht der einen an dieandern knüpfen, sind im Allgemeinen Bande derNothwendigkeit. Denn verschiedne Stufen müssensein, da alle Menschen herschen wollen und nicht allees können, sondern nur einige. Aber die Bande, wel-che die Ehrfurcht an diesen und jenen ins Besondereknüpfen, sind Bande der Einbildung.

66.

Wir sind so unglücklich, daß wir uns nie anders aneiner Sache erfreuen dürfen als allein unter der Bedin-gung uns zu ärgern, wenn sie schlecht ausfällt, wastausend Dinge bewirken können und alle Augenblickbewirken. Wer das Geheimniß gefunden hätte sichdes Guten zu freuen ohne vom entgegengesetztenBösen berührt zu werden, der hätte den Punkt getrof-fen.

150Pascal: Gedanken über die Religion

Zehnter Abschnitt

Verschiedene Gedanken über Philosophie undLiteratur.

1.

Je mehr Geist man hat, desto mehr Originalmen-schen findet man. Der große Haufe findet keinen Un-terschied unter den Menschen.

2.

Man kann einen richtigen Verstand haben und dochihn nicht zu allen Dingen gleich anwenden; denn esgiebt Menschen, die für eine gewisse Klasse von Din-gen einen richtigen Verstand haben und doch in denübrigen sich verwirren. Die einen ziehen ganz gut dieFolgerungen aus wenigen Grundsätzen, die andernziehen gut die Folgerungen aus den Dingen, bei denenviele Grundsätze sind. So z.B. einige begreifen sehrgut die Wirkungen des Wassers, wobei es wenigGrundsätze giebt, deren Folgerungen aber so feinsind, daß nur ein scharfer Blick im Stande ist sie zudurchdringen, und eben diese Menschen würden viel-leicht nicht große Mathematiker sein, weil die

151Pascal: Gedanken über die Religion

Mathematik eine große Menge von Grundsätzen um-faßt und weil die Natur eines Geistes so eingerichtetsein kann, daß er sehr wohl wenig Principien bis aufden Grund durchdringen mag und doch nicht dieDinge durchdringen kann, bei welchen viel Principiensind.

Es giebt also zwei Arten von Geistern: der einedurchdringt lebhaft und tief die Folgen der Grundsät-ze, und das ist der Geist der richtigen Beobachtung:der andre umfaßt eine große Zahl von Grundsätzenohne sich zu vermengen, und das ist der Geist derMathematik. Das eine ist Stärke und Richtigkeit desGeistes, das andre Ausdehnung des Geistes, eins kannohne das andre sein, der Geist kann stark sein undenge, weit und schwach.

Es ist ein großer Unterschied zwischen dem Geistder Mathematik und dem Geist der feinen Beobach-tung. Bei dem ersten sind die Grundgesetze handgreif-lich, kommen aber nicht im gemeinen Gebrauch vor,so daß es schwer ist das Auge nach der Seite hin zukehren, weil man nicht daran gewöhnt ist, kehrt mansich aber hin, so sieht man die Gesetze völlig vor sichund man müßte einen gänzlich irrigen Verstand habenum falsch zu schließen nach Gesetzen, die so in dieAugen fallen, daß sie uns fast unmöglich entgehenkönnen.

Dagegen wo es auf feine Beobachtung ankommt,

152Pascal: Gedanken über die Religion

sind die Grundgesetze im gemeinen Gebrauch und vorden Augen aller Welt. Man hat nur sich um zu schau-en und braucht sich keine Gewalt zu thun. Es fragtsich nur, ob man einen guten Blick hat. Gut muß ersein, denn die Principien sind hier sehr zart und es istbeinahe unmöglich, daß uns nicht eins entgeht. Aberdas Auslassen eines Gesetzes führt zum Irrthum; alsomuß man einen recht scharfen Blick haben um alle zusehen und dann einen richtigen Verstand um nach denerkannten nicht falsch zu schließen.

So würden denn alle Mathematiker feine Beobach-ter sein, wenn sie einen guten Blick hätten, denn sieschließen nicht falsch aus den Grundsätzen, die siekennen und die feinen Beobachter würden gute Ma-thematiker sein, wenn sie ihren Blick auf die unge-wohnten Sätze der Mathematik wenden könnten.

Daß nun manche feine Beobachter keine Mathema-tiker sind, das kommt daher, weil sie durchaus nichtim Stande sind sich zu den Sätzen der Mathematikhin zu kehren und daß die Mathematiker nicht fein be-obachten, das kommt daher, weil sie nicht sehen wasvor ihnen liegt, weil sie an die klaren und in dieAugen fallenden Principien der Mathematik gewöhntsind und immer, ehe sie urtheilen, erst ihre Principienwohl zu betrachten und zu handhaben pflegen, so ver-lieren sie sich in den Gegenständen der feinen Beob-achtung, bei denen sich die Grundgesetze nicht auf

153Pascal: Gedanken über die Religion

diese Weise handhaben lassen. Man sieht sie kaum,man fühlt sie mehr als man sie sieht; es ist unendlichschwer, sie denen fühlbar zu machen, die sie nichtvon selbst fühlen, es sind Dinge so zart und zahlreich,daß es ein recht feiner und klarer Sinn dazu gehört siezu fühlen und meistens ohne daß man sie der Ord-nung nach beweisen kann wie in der Mathematik,weil man nicht so die Grundgesetze davon besitzt undsie zu suchen eine unendliche Arbeit sein würde. Miteinem Mal muß man die Sache sehen mit einem einzi-gen Blick und nicht durch fortschreitendes nachden-ken, wenigstens bis auf einen gewissen Grad.

Daher ist es selten, daß die Mathematiker feine Be-obachter und die feinen Beobachten Mathematikersind. Die Mathematiker wollen die Dinge, die fein be-obachtet werden müssen, mathematisch behandelnund machen sich lächerlich, indem sie mit Definitio-nen anfangen und dann mit den Principien kommen.Das ist nicht die Art, wie bei dergleichen Scharfsinnzu Werke geht. Nicht daß der Geist es nicht thäte,aber er thut es stillschweigend, natürlich und ohneKunst; denn die Beschreibung davon ist allen Men-schen zu hoch und das Gefühl davon gehört nur fürwenige.

Die feinen Geister im Gegentheil, gewöhnt miteinem Blick zu urtheilen, sind ganz erstaunt, wennman ihnen Sätze vorbringt, in denen sie nichts

154Pascal: Gedanken über die Religion

verstehen und wenn sie, um ein zu dringen, sichdurcharbeiten müssen durch unfruchtbare Definitio-nen und Principien, die sie nicht gewöhnt sind sogenau zu besehen: und so schaudern die davor undfassen ein Widerwillen.

Freilich die falschen Geister sind weder feine Be-obachter noch Mathematiker.

Die Mathematiker, die nichts als das sind, habenalso einen richtigen Verstand, aber nur sobald manihnen alle Dinge recht mit Definitionen und Princi-pien erklärt, sonst sind sie irrig und unerträglich, dennsie haben richtigen Verstand nur für wohl erklärtePrincipien. Und die feinen Geister, die nur fein sind,können nicht die Geduld haben bis zu den erstenGrundgesetzen der spekulativen und abstractenDinge, welche sie nie in der Welt und im Gebrauchgesehen haben, sich zu versteigen.

3.

Oft nimmt man zum Beweis für gewisse DingeBeispiele, die so sind, daß man wieder jene Dingezum Beweis für diese Beispiele nehmen könnte. Dashat aber doch seine Wirkung. Denn da man immerglaubt, daß die Schwierigkeit in dem ist, was man be-weisen will, so findet man die Beispiel klarer. Sowenn man eine allgemeine Sache darthun will, giebt

155Pascal: Gedanken über die Religion

man die Regel für einen besondern Fall; will manaber einen besondern Fall darthun, so fängt man mitder allgemeinen Regel an. Man findet immer dieSache, die man beweisen will, dunkel und die klar,deren man sich zum Beweise bedient; denn wenn mansich vorsetzt eine Sache zu beweisen, so erfüllt mansich von vorne herein mit der Vorstellung, daß siealso dunkel ist, und daß dagegen die, welche sie be-weisen soll, klar ist und so versteht man sie leicht.

4.

All unser Denken kommt darauf zurück, daß wirdem Gefühl weichen. Aber die Einbildung ist demGefühl ähnlich und entgegen, ähnlich weil sie nichtnach denkt, entgegen, weil sie unwahr ist. Daher ist essehr schwer zwischen diesen beiden Gegensätzen zuunterscheiden. Jemand sagt: mein Gefühl sei Einbil-dung und seine Einbildung sei Gefühl und ich sageein Gleiches von meiner Seite. Man brauchte dazueine Regel, die Vernunft bietet sich wohl dar, aber sieist für alle Sinne biegsam und so giebt es keine Regel.

156Pascal: Gedanken über die Religion

5.

Wer über ein Werk nach Regeln urtheilt ist im Ver-gleich zu den andern, wie einer, der eine Uhr hat, imVergleich zu denen, die keine haben. Einer sagt: »Wirsind zwei Stunden hier.« Der andre sagt: »Es sind nurdrei Viertelstunden.« Ich sehe nach meiner Uhr undsage zu dem einen: »Du langweilst dich« und zum an-dern: »Die Zeit wird dir nicht lang, denn es ist andert-halb Stunden« und ich lache über die, welche sagen:die Zeit komme mir nur so vor und ich urtheile nachmeiner Einbildung. Sie wissen nicht, daß ich darübernach meiner Uhr urtheile.

6.

Es giebt Leute, die sprechen gut, schreiben abernicht so. Das kommt daher, daß der Ort, die gegen-wärtigen Personen u.s.w. sie in Feuer setzen und ausihrem Geist mehr herausziehen als sie ohne Hitzedarin finden würden.

157Pascal: Gedanken über die Religion

7.

Was Montaigne Gutes hat ist nur schwer zu erlan-gen; was er Schlechtes hat (ich meine abgesehen vonder Moral,) hätte in einem Augenblick können gebes-sert werden, wenn man ihn darauf aufmerksam ge-macht hätte, daß er so viel erzählt und zu viel vonsich redet.

8.

Es ist ein großes Uebel der Ausnahme zu folgenstatt der Regel. Man muß strenge sein und der Aus-nahme widerstehn. Da es aber nichts desto wenigerAusnahmen von der Regel giebt, so muß man strengdarüber urtheilen, doch gerecht.

9.

Es giebt Leute, die wollen, daß ein Schriftstellernie von Dingen rede, über welche schon andre gespro-chen haben; sonst klagt man ihn an nichts Neues zusagen. Aber wenn auch die Gegenstände, die er be-handelt, nicht neu sind, ist doch die Anordnung neu.Wenn man Ball spielt, so ist es derselbe Ball, mitwelchem der eine wie der andre spielt, aber der eine

158Pascal: Gedanken über die Religion

schlägt ihn besser als der andre. Ich würde es eben sonatürlich finden ihn an zu klagen, daß er sich deralten Worte bedient. Als wenn nicht dieselben Gedan-ken durch eine verschiedne Anordnung ein andresGanzes bildeten, eben so gut als dieselben Wortedurch die verschiednen Anordnungen andre Gedankenbilden.

10.

Gewöhnlich überzeugt man sich besser durch dieGründe, die man selbst gefunden hat, als durch die,welche den andern eingefallen sind.

11.

Der Geist glaubt von Natur und der Willen liebtvon Natur, so daß sie, wenn ihnen wahre Gegenständefehlen, sich an falsche hängen müssen.

12.

Die großen Anstrengungen des Geistes, zu denensich die Seele zuweilen erhebt, sind Punkte, wo siesich nicht erhält. Sie macht nur einen Sprung, um so-gleich wieder zurück zu fallen.

159Pascal: Gedanken über die Religion

13.

Der Mensch ist weder Engel, noch Thier; und dasUnglück ist, daß wer Engel sein will, Thier wird.

14.

Sobald man nur die herschende Leidenschaft vonjemand kennt, so ist man sicher ihm zu gefallen unddoch hat jeder seine Einfälle, die seinem eignen Wohlselbst in dem Begriff, den er von Wahl hat, entgegensind. Das ist eine Wunderlichkeit, welche diejenigen,die ihre Neigung gewinnen wollen, in Verwirrungsetzt.

15.

Ein Pferd sucht nicht die Bewunderung seines Ge-nossen zu erregen. Man sieht wohl an ihnen eine Artvon Wetteifer im Lauf, aber das ist ohne weitere Be-deutung, denn im Stall wird darum doch der schwer-ste und schlechteste Gaul nicht dem andern seinenHaber lassen. Anders ists mit den Menschen, ihre Tu-gend genügt sich nicht selbst und sie sind nicht zu-frieden, wenn sie nicht daraus einen Vortheil ziehnzum Nachtheil der andern.

160Pascal: Gedanken über die Religion

16.

Wie man sich den Verstand verdirbt, so auch ver-dirbt man sich das Gefühl. Man bildet sich den Ver-stand und das Gefühl, durch die Unterhaltungen; guteoder schlechte bilden oder verderben ihn. Es kommtdaher alles darauf an gut zu wählen, um sich ihn zubilden und nicht zu verderben, und man kann dieseWahl nicht treffen, wenn man ihn nicht schon gebildetund nicht verdorben hat. So macht das einen Kreisund glücklich sind die, welche da heraus kommen.

17.

Wenn es unter den Dingen der Natur, deren Kennt-niß uns nicht nöthig ist, etwas giebt, von dessenWahrheit wir nichts wissen, so ist es vielleicht nichtübel, daß ein allgemeiner Irrtuhm den Geist der Men-schen beruhigt, wie man z.B. dem Monde die Verän-derung des Wetters zuschreibt, das Fortschreiten derKrankheiten u.s.w. Denn es ist eine von den Haupt-krankheiten des Menschen, daß er eine unruhige Neu-gierde hat nach den Sachen, die er nicht wissen kann,und ich weiß nicht ob es für ihn nicht ein geringeresUebel ist über Dinge dieser Art im Irrthum zu sein alsin jener unnützen Neugierde zu schweben.

161Pascal: Gedanken über die Religion

18.

Fiele der Blitz auf die niedrigen Stellen, so würdenden Poeten und denen, die nur nach Dingen dieser Artzu raisonniren wissen, Beweise fehlen.

19.

Der Geist hat seine Ordnung, nämlich durchGrundsätze und Beweisführungen, das Herz hat eineandre Ordnung. Man beweist nicht, daß man geliebtwerden soll, indem man der Ordnung nach die gründezur Liebe ausführt; das würde lächerlich sein.

Jesus Christus und der heilige Paulus sind weitmehr der Ordnung des Herzens gefolgt, (das ist derOrdnung der Liebe,) als der Ordnung des Geistes;denn ihr Hauptzweck war nicht zu belehren, sondernzu erwärmen. Eben so der heilige Augustin.

Diese Ordnung besteht hauptsächlich darin, daßman auf jeden Punkt, der einen Bezug aufs Ende hat,abschweifen um es immer vor Augen zu stellen.

162Pascal: Gedanken über die Religion

20.

Es giebt Leute, welche die Natur maskiren. Beiihnen giebt es keinen König sondern einen erhabnenMonarchen, kein Paris sondern eine Hauptstadt desReichs. Aber an Stellen muß man Paris Paris nennenund an andern muß man es Hauptstadt des Reichsnennen.

21.

Wenn in einer Abhandlung sich Wörter wiederho-len und man findet, wen man sie ändern will, sie sopassend, daß man die Rede verderben würde, so mußman sie stehen lassen. Das ist das Zeichen und das istdie Sache des Neides, der blind ist und nicht weiß,daß diese Wiederholung an diesem Ort kein Fehlerist. Denn es giebt keine allgemeine Regel.

22.

Wer Gegensätze macht, indem er die Wortezwängt, gleich denen, die um der Symmetrie willenfalsche Fenstern machen. Ihr Gesetz ist nicht, richtigzu reden, sondern richtige Figuren zu bilden.

163Pascal: Gedanken über die Religion

23.

Eine Sprache im Vergleich mit der andern ist eineGeheimschrift, worin die Worte in Worte verwandeltsind und nicht die Buchstaben in Buchstaben. Also istjede unbekannte Sprache zu entziffern.

24.

Es giebt ein Muster der Lieblichkeit und Schönheit,das besteht in einer gewissen Uebereinstimmung uns-rer schwachen oder starken Natur, wie sie nun ist, mitder Sache, die uns gefällt. Alles, was nach diesemMuster gebildet ist, gefällt uns wohl, Haus, Gesang,Rede, Vers, Prosa, Weiber, Vögel, Flüsse, Bäume,Zimmer, Kleider. Alles, was nicht das diesem Musterist, mißfällt denen, die guten Geschmack haben.

25.

Wie man sagt: poetische Schönheit, sollte manauch sagen mathematische Schönheit oder medicini-sche Schönheit. Allein man sagt es nicht und derGrund davon ist, daß man wohl weiß, was der Gegen-stand der Mathematik und der Medicin ist, nicht aberweiß, worin das Wohlgefallen, welches der

164Pascal: Gedanken über die Religion

Gegenstand der Poesie ist, besteht. Man weiß nicht,was jenes natürliche Muster ist, welches man nachah-men muß und weil man das nicht weiß, hat man ge-wisse verschrobene Redensarten erfunden »das goldneZeitalter,« »das Wunder unsrer Tage,« »unseligerLorbeer,« »schönes Gestirn,« u.s.w. und diesen Wort-schwall nennt man poetische Schönheit. Aber wersich nach diesem Muster eine Frau gekleidet denkt,der wird ein schönes Mädchen ganz bedeckt mit Spie-geln und messingenen Ketten sehen und statt siehübsch zu finden, wird er sich nicht enthalten könnenüber sie zu lachen, weil man besser weiß, worin derLiebreiz eines Weibes, als worin der Reiz eines Ge-dichtes besteht. Diejenigen aber, welche sich nichtdarauf verstehen, würden sie vielleicht in diesem Auf-zuge bewundern und es giebt genug Dörfer, wo mansie zur Königinn nehmen würde. Darum nennen auchmanche die Sonnette, die nach diesem Muster ge-macht sind, Dorfköniginnen.

26.

Wenn eine natürliche Darstellung eine Leiden-schaft malt oder eine Begebenheit, so findet man sichselbst die Wahrheit von dem, was man hört. Sie warin uns, ohne daß man es wußte und man fühlt sich ge-drungen den zu lieben, der sie uns fühlbar macht;

165Pascal: Gedanken über die Religion

denn er giebt uns nicht eine Probe von seinem Gut,sondern von dem unsern und diese Wohlthat machtihn uns liebenswürdig; wozu noch kommt, daß dieseGemeinschaft der Einsicht, die wir mit ihm haben,unser Herz geneigt macht ihn zu lieben.

27.

In der Beredsamkeit muß Angenehmes und Wahressein; aber dieses Angenehme muß wahr sein.

28.

Wenn man die natürliche Sprache findet, wird manganz überrascht und hingerissen, denn man erwarteteeinen Autor zu sehn und findet einen Menschen. Da-gegen die, welche guten Geschmack haben und wel-che, wenn sie ein Buch sehen, einen Menschen zu fin-den meinen, die sind ganz betroffen einen Autor zufinden; plus poetice quam humane locutus est (er hatmehr dichterisch als menschlich geredet).

Die ehren recht die Natur, welche sie lehren, daßsie von allem sprechen könne, selbst von der Theolo-gie.

166Pascal: Gedanken über die Religion

29.

Was man zuletzt findet, wenn man ein Werk ab-faßt, ist die Einsicht, was man zuerst stellen muß.

30.

Im Gespräch muß man den Geist nicht von einerSache auf die andre wenden, es sei denn ihm zur Er-holung; aber zur gelegenen Zeit und sonst nicht, dennwer außer der gelegenen Zeit Erholung geben will, derermüdet. Man wird abgeschreckt und läßt alles liegen.So schwer ist es, vom Menschen etwas zu erlangenanders als durchs Vergnügen; das ist die Münze, fürdie wir alles geben, was man will.

31.

Welch ein leeres Ding ist doch ein Gemälde, dasBewunderung erregt wegen Aehnlichkeit der Dinge,deren Originale man nicht bewundert.

167Pascal: Gedanken über die Religion

32.

Ein gleicher Sinn ändert sich nach den Worten, dieihn ausdrücken. Der Sinn erhält von den Worten seineBedeutung statt sie ihnen zu geben.

33.

Wer gewohnt ist nach dem Gefühl zu urtheilen be-greift nichts von den Gegenständen des Denkens,denn er will sogleich mit einem Blick eindringen undist nicht gewöhnt erst die Principien zu suchen. Dieandern hingegen, die gewohnt sind nach Grundsätzenzu denken, begreifen nichts von den Sachen des Ge-fühls, indem sie darin Principien suchen und nicht imStande sind mit einem Blick zu sehen.

34.

Die wahre Beredsamkeit spottet über die Bered-samkeit, die wahre Moral spottet über die Moral, d.h.die Moral der Vernunft spottet über die Moral desVerstandes, die ohne Regel ist.

168Pascal: Gedanken über die Religion

35.

Alle die falschen Schönheiten, die wir an Cicerotadeln, haben Bewunderer in großer Zahl.

36.

Ueber die Philosophie spotten, das ist wahrhaftphilosophiren.

37.

Es giebt viele Leute, die hören die Predigt eben sowie sie die Vesper hören.

38.

Die Flüsse sind Wege, die gehen und die tragenwohin man gehen will.

169Pascal: Gedanken über die Religion

39.

Zwei ähnliche Gesichter, von denen keins für sichbesonders zum Lachen reizt, die erregen neben einan-der durch ihre Aehnlichkeit Gelächter.

40.

Die Astrologen, die Alchimisten u.s.w. haben eini-ge Principien, aber sie mißbrauchen sie. Der Miß-brauch der Wahrheiten muß aber eben so sehr gestraftwerden als die Einführung der Lüge.

41.

Das kann ich Descartes nicht vergeben: er wäregern in seiner ganzen Philosophie ohne Gott fortge-kommen; aber er konnte sich nicht enthalten ihn einenAnstoß geben zu lassen um die Welt in Bewegung zusetzen, nachher hat er nichts mehr mit Gott zu thun.

170Pascal: Gedanken über die Religion

Elfter Abschnitt

Ueber Epiktet und Montaigne

1.

Epiktet ist einer von den Philosophen der Welt, deram Besten die Pflichten der Menschen erkennt hat. Erwill vor allen Dingen: er soll Gott als seinen Haupt-gegenstand betrachten, soll überzeugt sein, daß eralles mit Gerechtigkeit regiere, soll sich ihm freudigunterwerfen und soll freiwillig in allem ihm folgen alsdem, der alles nur mit sehr großer Weisheit thut, undso soll diese Stimmung alle Klagen und alles Murrenanhalten und seinen Geist vorbereiten die traurigstenEreignisse ruhig zu ertragen. Er spricht: »Sage nie:Ich habe das verloren, sage vielmehr: Ich habe es zu-rück gegeben, mein Sohn ist gestorben, ich habe ihnzurück gegeben; meine Frau ist gestorben, ich habesie zurück gegeben. So sprich auch von den Güternund von allem Uebrigen. Aber, sagst du, der, welcheres mir nimmt, ist ein böser Mensch. Warum küm-merst du dich darum, durch wen der, welcher es dirgeliehen hat, es zurück fordern läßt? So lange es dirden Gebrauch davon gewährt, so habe darauf Acht alsauf ein Gut, das einem andern zugehört, wie ein

171Pascal: Gedanken über die Religion

Reisender in einer Herberge thut.«»Du darfst nicht, sagte er weiter, begehren, daß die

Dinge gehen, wie du es willst, sondern du mußt wol-len, daß sie geschehen wie sie geschahen. Bedenke,setzt er hinzu, daß du hier einem Schauspieler gleichstund deine Rolle im Stück spielst, wie es dem Herrngefällt sie dir zu geben. Giebt er dir eine kurze, sospiele sie kurz, giebt er dir eine lange, so spiele sielang; sei auf der Bühne, so lange es ihm gefällt, er-scheine darauf reich oder arm, nachdem er es angeord-net. Dein Geschäft ist es die Rolle gut zu spielen, diedir gegeben ist; sie zu wählen ist das Geschäft einesandern. Halte dir alle Tage vor Augen den Tod unddie Uebel, welche die unerträglichsten scheinen unddu wirst nie etwas Niedriges denken und nichts unmä-ßig wünschen.«

Er zeigt auf tausenderlei Art was der Mensch thunsoll. Er will, er soll demüthig sein, soll seine gutenEntschlüsse, besonders am Anfange, verborgen haltenund sie im Geheimen ausführen; denn nichts zerstörtsie mehr als wenn man sie ans Licht bringt. Er wirdnicht müde zu wiederholen, daß alles Forschen undVerlangen des Menschen darauf gehen soll den Wil-len Gottes zu erkennen und ihm zu folgen.

So vorzüglich waren die Einsichten dieses großenGeistes, der so gut die Pflichten der Menschen ge-kannt hat. Glücklich wäre er gewesen, hätte er nur

172Pascal: Gedanken über die Religion

seine Schwachheit gekannt. Aber nachdem er so wohlverstanden hat, was man thun soll, verliert er sich indem Dunkel von dem, was man kann. »Gott, sagt er,hat jedem Menschen die Mittel gegeben alle seinePflichten zu erfüllen, diese Mittel sind immer in sei-ner Macht. Die Glückseligkeit muß man nur in denDingen suchen, die immer in unsrer Gewalt sind, weilGott sie uns zu dem Ende gegeben hat. Man mußsehen was in uns frei ist. Die Güter, das Leben, dieAchtung sind nicht in unsrer Macht und führen nichtzu Gott, aber der Geist kann nicht gezwungen werdendas zu glauben, wovon er weiß, daß es falsch ist,noch der Willen das zu lieben, wovon er weiß, daß esihn unglücklich macht. Diese beiden Kräfte sind alsovöllig frei und durch sie allein können wir uns voll-kommen machen, Gott vollkommen erkennen, ihn lie-ben, ihm gehorchen und gefallen, alle Laster überwin-den, alle Tugenden erwerben und so uns heilig ma-chen und in Gemeinschaft mit Gott treten.« Diesestolzen Grundsätze führen Epiktet zu andern Irrthü-mern als z.B., daß die Seele ein Theil der göttlichenSubstanz ist, daß der Schmerz und der Tod keineUebel sind, daß man sich tödten darf, wenn man soverfolgt wird, daß man glauben kann Gott rufe unsu.s.w.

173Pascal: Gedanken über die Religion

2.

Montaigne, in einem christlichen Staat geboren, be-kennt sich zur katholischen Religion und darin istnichts Besonderes; aber weil er darauf ausging eineMoral zu suchen, die auf die Vernunft gegründet wäreohne das Licht des Glaubens, so faßt er seine Grund-sätze nach dieser Voraussetzung und betrachtet denMenschen als verlassen, abgesehen von aller Offenba-rung. Er stellt daher alle Dinge so allgemein in Zwei-fel, daß der Mensch zuletzt selbst zweifelt, ob erzweifelt und seine Ungewißheit sich um sich selbstdreht in einem beständigen Zirkel, ohne Rast, und aufgleich Weise tritt er denen entgegen, die sagen, daßalles ungewiß sei, wie denen, die alles für gewiß hal-ten, weil er nicht behaupten will. In diesem Zweifel,der an sich selbst zweifelt, und in diesem Nichtwis-sen, das von nichts weiß, darin besteht das Wesentli-che seiner Meinung. Er kann sie mit keinem positivenWort ausdrücken, denn wenn er sagt, daß er zweifelt,wird er sich untreu, da er doch wenigstens sein Zwei-feln behauptet. Das ist nun förmlich gegen seine Ab-sicht und so ist er genöthigt sich durch Fragen zu er-klären, und da er nicht sagen will: »Ich weiß nicht,«sagt er: »Was weiß ich?« das hat er sich zum Wahl-spruch genommen und hat ihn in die Schaalen einer

174Pascal: Gedanken über die Religion

Waage eingegraben, welche die Gegensätze wiegend,sich immer in vollkommnem Gleichgewicht befindet.Mit einem Wort, er ist reiner Pyrrhonist. Alle seineAbhandlungen, alle seine »Versuche« drehen sich umdiesen Grundsatz und das ist das einzige, was er rechtfest stellen will. Gefühllos zerstört er alles, was unterden Menschen als das Gewisseste gilt, nicht um dasGegentheil auf zu stellen mit einer Gewißheit (welcheallein er haßt), sondern nur um zu machen, daß wenndie Wahrscheinlichkeit auf beiden Seiten gleich ist,man nicht wisse, worauf man seinen Glauben setzensoll.

In diesem Geist spottet er über alle Behauptungen.Er bekämpft z.B. diejenigen, welche durch die Mengeund vermeintliche Gerechtigkeit der Gesetze gemeinthaben ein großes Mittel gegen die Prozesse ein zuführen, als wenn man die Wurzel der Zweifel, worausdie Prozesse hervorsprosse, abschneiden könnte, alswenn es Dämme gäbe, welche den Strom der Unge-wißheit auf zu halten und die Vermuthungen zu be-zwingen im Stande wären. Er sagt bei dieser Gelegen-heit, es würde eben so viel nützen seine Sache demersten Vorübergehenden zu unterwerfen als den Rich-tern, die mit dieser Menge von Verfügungen gerüstetsind. Er hat nicht den Ehrgeiz die Ordnung des Staa-tes ändern zu wollen, er maßt sich nicht an, daß seineAnsicht besser sei, er hält keine für gut. Er will bloß

175Pascal: Gedanken über die Religion

die Nichtigkeit der am Meisten angenommenen Mei-nungen beweisen, indem er zeigt, daß die Verwerfungaller Gesetze eher die Zahl der Händel vermindernwürde als diese Menge von Gesetzen, die nur dazudienen sie zu vermehren, weil die Schwierigkeitenwachsen, je mehr man sie wägt und die Dunkelheitensich durch die Commentare vermehren, und daß dassicherste Mittel eine Rede zu verstehen das sei, sienicht zu untersuchen, sondern sie zu nehmen, wie sieauf den ersten Anblick erscheint; denn sobald man siebeobachtet, verliert sich alle ihre Klarheit.

Nach diesem Grundsatz urtheilt er auf gut Glücküber alle Handlungen der Menschen und über ein-zelne Stücke der Geschichte, bald in der einen, bald inder andern Weise, indem er seiner ersten Ansicht freifolgt, ohne seine Gedanken in die Gesetze der Ver-nunft zu zwängen, die, nach ihm, nur falsche Regelnhat. Er ist froh an seinem eignen Beispiel die Wider-sprüche eines und desselben Geistes in diesem ganzfreien ungebundenen Wesen zu zeigen und so ist esihm gleich sich beim Streiten zu ereifern oder nicht,denn er hat immer durch das eine wie durch das andreBeispiel ein Mittel die Schwäche der Meinungen zuzeigen und ist bei diesem allgemeinen Zweifel so sehrim Vortheil, daß er sich darin durch seinen Sieg wiedurch seine Niederlage gleich fest macht.

Von diesem Standpunkt aus, so schwebend und

176Pascal: Gedanken über die Religion

schwankend er ist, bekämpft er mit unbesiegbarer Fe-stigkeit die Ketzer seiner Zeit, weil sie behauptetenallein den wahren Sinn der Schrift zu kennen und vonda aus donnert er gegen die gräßliche Frechheit derer,die zu behaupten wagen, daß kein Gott ist. Er nimmtsie besonders in der Apologie Raimunds von Sabundevor. Er findet sie freiwillig aller Offenbarung beraubt,ihrem natürlichen Licht überlassen, allen Glauben beiSeite setzend und so fragt er sie, aus welcher Machtsie es unternehmen über dieses höchste Wesen zuurtheilen, das nach seiner eignen Definition unendlichist, sie, die nicht eine einzige von den geringsten Din-gen der Natur wahrhaft kennen! Er fragt sie, auf wel-che Grundsätze sie sich stützen und drängt sie ihm siezu zeigen. Er untersucht alle, die sie vorbringen kön-nen, und dringt mit dem Talent, worin er ausgezeich-net ist, so weit vor, daß er die Nichtigkeit aller derGrundsätze zeigt, die für die klarsten und festestengelten. Er fragt: ob die Seele etwas erkennt, ob siesich selbst erkennt, ob sie Substanz oder Accidentsist, Leib oder Geist, was jedes von diesen Dingen ist,und ob es nichts giebt, was nicht zu einer von diesenClassen gehört, ob sie ihren eignen Leib kennt, ob sieweiß was Materie ist, wie sie denken kann, wenn sieMaterie ist und wie sie wieder mit einem besondernLeibe verbunden sein und dessen Empfindungen mit-fühlen kann, wenn sie geistiger Natur ist. Wann hat

177Pascal: Gedanken über die Religion

sie angefangen zu sein? mit oder vor dem Leibe?endet sie mit ihm oder nicht? irrt sie sich nie? weißsie, wann sie sich irrt? Da das Wesen des Irrthumsdarin besteht ihn zu verkennen.

Er fragt weiter: ob die Thiere überlegen, denken,sprechen, wer entscheiden könne, was die Zeit, derRaum, die Ausdehnung, die Bewegung, die Einheitist, alles Dinge die uns umgeben und ganz unerklär-lich sind, was Gesundheit, Krankheit, Tod, Leben,Böses, Gerechtigkeit, Sünde ist, wovon wir alle Stun-den reden, ob wir in uns Principien des Wahren habenund ob sie die, Welche wir glauben und welche manAxiome nennt, oder Begriffe, die allen Menschen ge-mein sind, mit der wesentlichen Wahrheit überein-stimmen. Da wir allein durch den Glauben wissen,daß ein vollkommen gutes Wesen sie uns als wahr-hafte gegeben hat, indem er uns schuf, um die Wahr-heit zu erkennen, wer kann ohne dieses Licht desGlaubens wissen, ob unsre Begriffe, aufs Gerathe-wohl gebildet, nicht unsicher sind, oder ob sie, voneinem falschen und bösen Wesen gebildet, uns vondemselben nicht falsch gegeben worden sind um unszu verführen? Er zeigt damit, daß Gott und das Wahreunzertrennlich sind und daß, wenn das eine ist odernicht ist, wenn es gewiß oder ungewiß ist, das andrenothwendig eben so sein muß. Wer weiß, ob der ge-meine Menschenverstand, den wir gewöhnlich zum

178Pascal: Gedanken über die Religion

Richter über das Wahre nehmen, zu diesem Amte be-stimmt worden ist von dem, der ihn geschaffen hat?Wer weiß was Wahrheit ist und wie kann man sichversichern sie zu haben, wenn man sie nicht kennt?Wer weiß selbst was ein Wesen ist, weil es unmög-lich definirt werden kann, weil es nichts Allgemeinesgiebt und man sich, um es zu erklären des Wesensselbst bedienen mußte, wenn man sagt: es ist diesoder jenes Ding? Da wir denn nicht wissen, wasSeele, Leib, Geist, Raum, Bewegung, Wahrheit, Gutund selbst nicht was Wesen ist, und eben so wenigden Begriff, den wir uns davon machen, erklären kön-nen, wie werden wir uns versichern, daß er derselbeist in allen Menschen? Wir haben dafür kein andresAnzeichen als die Gleichmäßigkeit der Folgerungen,die nicht immer ein Zeichen von der Gleichmäßigkeitder Principien ist; denn diese können sehr verschiedensein und doch zu denselben Schlüssen führen, wie jajedermann weiß, daß oft das Wahre sich aus dem Fal-schen schließen läßt.

Endlich untersucht Montaigne bis auf den Grunddie Wissenschaften, die Mathematik, deren Unsicher-heit er zu zeigen sucht an den Axiomen und den Aus-drücken, die sie gar nicht definirt, als Ausdehnung,Bewegung u.s.w. die Physik und Medicin, die er aufunzählige Art herabsetzt, die Geschichte, die Politik,die Moral, die Jurisprudenz u.s.w. So könnten wir,

179Pascal: Gedanken über die Religion

nach ihm, ohne die Offenbarung glauben, daß dasLeben ein Traum ist, aus welchem wir erst im Todeerwachen und so lange es dauert, haben wir eben sowenig die Principien des Wahren als während des na-türlichen Schlafs.

In dieser Art schilt er die vom Glauben entblößteVernunft so stark und so schonungslos, daß er ihrzweifelhaft macht, ob sie vernünftig ist und ob dieThiere es sind oder nicht, ob sie es mehr oder wenigerals der Mensch sind; er zwingt sie herab zu steigenvon der Höhe, die sie sich beigemessen hat, und setztsie aus Gnaden in Parallele mit den Thieren, ohne ihrzu gestatten diese Ordnung zu verlassen, bis sie durchihren Schöpfer selbst unterrichtet sei von ihrem Rang,den sie nicht kennt. Er droht ihr gar, wenn sie muckt,sie zu aller unterst zu stellen, was ihm eben so leichtscheint als das Gegentheil, und giebt ihr Macht zuhandeln, doch nur mit aufrichtiger Demuth ihreSchwäche zu erkennen statt sich mit thörichter Eitel-keit zu erheben.

Man kann nicht ohne Freude sehen, wie bei diesemSchriftsteller die übermüthige Vernunft so unwider-stehlich mit ihren eignen Waffen zerschmettert wirdund wie eine so blurige Empörung des Menschengegen den Menschen sich erhebt, welche ihn aus derGemeinschaft mit Gott, zu der er sich durch die Leh-ren seiner schwachen Vernunft empor schwang, herab

180Pascal: Gedanken über die Religion

stürzt in den Stand der Thiere und den Diener eines sogroßen Rächeramtes würde man von ganzem Herzenlieben, wenn er, durch den Glauben ein demüthigerJünger der Kirche, die Gesetze der Moral befolgt unddie Menschen, die er so heilsam gedemüthigt, getrie-ben hätte nicht mit neuen Frevelthaten den zu entzür-nen, der allein sie aus den Sünden ziehen kann, wel-che sie, wie er ihnen bewiesen hat, nicht ein Mal zuerkennen im Stande sind. Aber er thut im Gegentheilals ein Heide; wir wollen seine Moral betrachten.

Aus dem Grundgesetz, daß außer dem Glaubenalles in Ungewißheit ist und in Betracht der langenZeit, da man das Wahre und das Gute sucht ohne ir-gend einen Erfolg zur Beruhigung schließt er, mansoll das andern überlassen sich darum zu kümmern,man soll in Ruhe bleiben und leicht über diese Dingehingehen um nicht ein zu brechen, wenn man fest auf-tritt, soll das Wahre und das Gute nehmen wie es zu-erst erscheint, ohne es zu pressen, weil diese Dinge sowenig fest sind, daß sie, wenn man die Hand nur einwenig zudrückt, zwischen den Fingern fortgeht undsie leer lassen. Er folgt also der Aussage der Sinneund den gemeinen Vorstellungen, weil er sich Gewaltanthun müßte sie zu verleugnen und er nicht weiß, ober dabei gewinnen würde, da er nicht weiß, wo daWahre ist. Er flieht auch den Schmerz und Tod, weilsein Instinct ihn dazu treibt und er aus demselben

181Pascal: Gedanken über die Religion

Grunde dem nicht widerstehen will. Aber er trautauch nicht zu sehr diesen Bewegungen der Furcht undmöchte nicht so dreist sein aus ihnen zu schließen,daß diese wahrhafte Uebel seien, weil man ja auchBewegungen der Freude fühlt, die man als schlechtanklagt, obgleich die Natur, sagt er, das Gegentheilspricht. »So habe ich denn, fährt er fort, nichts Ab-weichendes in meiner Lebensweise, ich handle wiedie andern, und alles, was sie thun in der thörichtenMeinung, daß sie dem wahren Glück folgen, das thueich auch aus einem andern Grundsatz, nämlich weildie Wahrscheinlichkeiten von der einen wie von derandern Seite gleich sind und das Beispiel und die Be-quemlichkeit die Gegengewichte sind, die mich mit-ziehen.«

Er befolgt die Sitten seines Landes, weil die Ge-wohnheit ihn mitreißt; er besteigt sein Pferd, weil dasPferd es leidet, aber ohne zu glauben, daß es mitRecht sei, im Gegentheil weiß er nicht, ob diesesThier nicht das Recht hat sich seiner zu bedienen. Erthut sich sogar einige Gewalt an um gewisse Lasterzu vermeiden; er bewahrt die eheliche Treue wegender Noth, welche den Ausschweifungen folgt. DieRegel seiner Handlungen ist in allem die Bequemlich-keit und die Ruhe. Weit weg wirft er jene stoische Tu-gend, welche man mit einer strengen Miene malt, miteinem grimmigen Blick, mit sträubenden Haaren, mit

182Pascal: Gedanken über die Religion

gerunzelter Stirn und mit Schweiß, in einer mühseli-ger und gespreizter Stellung, fern von den Menschen,in düsterm Schweigen und allein auf der Spitze einesFelsens, ein Phantom, sagt Montaigne, das gut ist dieKinder zu erschrecken und nichts thut als mit einerunausgesetzten Arbeit eine Ruhe suchen, zu der er niegelangt, wogegen seine Tugend naiv, vertraulich,munter, aufgeräumt und so zu sagen kurzweilig ist.Sie verfolgt was sie reizt und scherzt nachlässig mitden guten und schlechten Begegnissen, weich gelagertim Schoß der ruhigen Muße, von wo sie den Men-schen, die das Glück mit so viel Mühe suchen, zeigt,daß es nur da ist, wo sie ruht und daß das Nichtwis-sen und das Nichtwissenwollen zwei weiche Kissensind für einen schönen Kopf, wie er selbst sagt.

3.

Wenn man Montaigne liest und ihn mit Epiktetvergleicht, kann man sich nicht verhehlen, daß siegewiß die beiden größten Vertheidiger der beiden be-rühmtesten Parteien der ungläubigen Welt sind, unddaß diese Parteien unter denen, welche die Menschenohne das Licht der Religion bilden, die einzigen sind,die in gewisser Art Zusammenhang und Consequenzhaben. In der That, was kann man ohne die Offenba-rung anders thun als dem einen oder dem andern

183Pascal: Gedanken über die Religion

dieser beiden Systeme folgen? Das erste lautet so: esgiebt einen Gott, also er ist der Schöpfer des Men-schen, er hat ihn geschaffen für sich selbst, er ha ihngeschaffen, wie er sein mußte um gerecht zu sein undglücklich zu werden, also kann der Mensch die Wahr-heit erkennen und er ist nahe daran sich durch dieWeisheit bis zu Gott zu erheben, der sein höchstesGut ist. Das zweite System lautet so: Der Menschkann sich nicht bis zu Gott erheben, seine Neigungenwidersprechen dem Gesetz, er fühlt sich gedrungensein Glück in den sichtlichen Gütern zu suchen undselbst in der größten Schande, die es giebt; alles er-scheint also ungewiß und ungewiß ist auch das wahreGlück, was uns darauf zurück zu führen scheint, daßwir weder eine fest Regel für die Sitten, noch eine Ge-wißheit in den Wissenschaften haben.

Es macht ein großes Vergnügen in diesen ver-schiednen Raisonnements zu bemerken, worin dieeinen und die andern etwas von der Wahrheit, die siezu erkennen versuchen, gewahr geworden sind. Dennwenn es angenehm ist in der Natur das Verlangen zubeobachten, welches sie hat Gott ab zu bilden in allenseinen Werken, die einige Züge von ihm zeigen, weilsie Bilder von ihm sind, wie vielmehr ist es recht inden Erzeugnissen der Geister die Anstrengungen zubetrachten, die sie machen um zur Wahrheit zu gelan-gen und Acht zu geben, worin sie dahin kommen und

184Pascal: Gedanken über die Religion

worin sie sich verirren? Das ist der Hauptnutzen, denman von seinem Lesen ziehen soll.

Die Quelle der Irrthümer Epiktets und der Stoikereinerseits und Montaigne's und der Epikuräer andrer-seits scheint das zu sein, da sie nicht gewußt haben,daß der Zustand des Menschen gegenwärtig verschie-den ist von dem Zustande bei seiner Schöpfung. Dieeinen bemerkten einige Spuren seiner ersten Größeund wußten nichts von seinem Verderben und behan-delten so die Natur als gesund und als bedürfe sie kei-nes Wiederherstellers; und das führt sie auf den Gip-fel des Stolzes. Die andern erfahren sein gegenwärti-ges elend und wissen nichts von seiner ersten Würdeund behandeln so die Natur als nothwendig schwachund unverbesserlich und das stürzt sie in die Ver-zweiflung nie ein wahres Glück zu erlangen und vonda in eine tiefe Niedrigkeit. Diese beiden Zuständemußte man zusammen erkennen um die Wahrheit zufinden und nur getreu erkannt, führen sie nothwendigzu einem von diesen beiden Fehlern, zum Stolz oderzur Trägheit, worin unfehlbar alle Menschen vor derGnade versunken sind, weil sie ihre Laster, wennnicht aus Schlaffheit, nur aus Eitelkeit verlassen undimmer Sklaven der Geister der Bosheit sind, denenman, wie der heilige Augustin anmerkt, in sehr vielenWeisen opfert.

Durch diese unvollständige Einsicht geschieht es

185Pascal: Gedanken über die Religion

also, daß die einen, die das Unvermögen und nicht diePflicht kennen, in Gemeinheit herabsinken, und dieandern, die nur die Pflicht kennen und nicht das Un-vermögen, sich in ihrem Stolz erheben. Vielleichtmöchte man meinen, daß man eine vollkommneMoral bilden könnte, wenn man sie verbände, aberaus ihrer Verknüpfung würde statt jenes Friedens nurein Krieg und eine allgemeine Zerstörung erfolgen,denn, da die einen die Gewißheit, die andern denZweifel, die einen die Größe des Menschen, die an-dern die Schwäche aufstellen, so können sie sich nichtvereinigen und sich vertragen, sie können weder alleinbestehn wegen ihren Mängel noch sich vereinigenwegen des Gegensatzes ihrer Meinungen.

4.

Aber sie müssen sich zerscheitern und sich vernich-ten um Raum zu geben der Wahrheit der Offenba-rung. Sie ists, welche die förmlichsten Widersprüchein Uebereinstimmung bringt mit einer rein göttlichenKunst. Indem sie alles vereint, was es Wahres giebt,und alles vertreibt, was falsch ist, lehrt sie mit einerwahrhaft himmlischen Weisheit den Punkt, wo dieentgegen gesetzten Principien, die in den rein mensch-lichen Systemen unvereinbar erscheinen, zusammen-stimmen. Der Grund davon ist dieser: die Weisen der

186Pascal: Gedanken über die Religion

Welt haben die Widersprüche in ein und dasselbeSubjekt gesetzt, der eine schrieb der Natur die Stärke,der andre eben der Natur die Schwäche zu, was nichtzusammen bestehen kann; dagegen der Glauben lehrtuns sie in verschiedne Subjekte zu verlegen, alleSchwäche gehört der Natur, alle Kraft dem BeistandeGottes. Das ist die Vereinigung, erstauenswerth undneu, die ein Gott allein lehren konnte, die er alleinschaffen konnte und die nur ein Bild und eine Wir-kung von der unaussprechlichen Vereinigung zweierNaturen in der eine Person eines Gottmenschen ist.

Auf diesem Wege führt die Philosophie unmerklichzur Theologie und es ist schwer sie nicht zu betrete,welche Wahrheit man auch behandle, denn sie ist derMittelpunkt aller Wahrheiten und das tritt hier voll-kommen hervor, weil sie so sichtbar das enthält, wasin jenen entgegengesetzten Meinungen Wahres ist.Auch sieht man nicht, wie einer von ihnen eigentlichsich weigern kann ihr zu folgen. Sind sie voll von derGröße des Menschen, welche Vorstellungen haben siesich davon gemacht, die nicht wichen den Verheißun-gen des Evangeliums, welche nichts anders sind, alsder würdige Preis für den Tod eines Gottes? Undhaben sie ihr Gefallen daran die Gebrechlichkeit derNatur zu beschauen, so kommt ihr Begriff gar nichtgleich dem Begriff der wahren Schwäche der Sünde,für welche derselbe Tod das Heilmittel gewesen ist.

187Pascal: Gedanken über die Religion

Beide Parteien finden hier mehr als sie verlangten undfinden, was zu bewundern ist, eine bleibende Vereini-gung, sie, die sich nicht verbinden konnten auf einerunendlich niedrigen Stufe!

5.

Die Christen brauchen im Allgemeinen wenig diesephilosophischen Schriften zu lesen. Indessen Epiktethat eine bewundernswürdige Kunst die Ruhe derer,die in den Außenwendigen die Ruhe suchen, zu störenund sie zu zwingen, daß sie erkennen, wie sie wahreSklaven und erbärmliche Blinde sind und wie es un-möglich ist den Irrthum und den Schmerz, die sie flie-hen, zu vermeiden, wenn sie sich nicht ohne RückhaltGott ganz allein hingeben. Montaigne ist unvergleich-lich um den Stolz derer, die, ohne den Glauben, sicheiner wahrhaften Gerechtigkeit rühmen, zu Schandenzu machen, um diejenigen, welche ihre Meinung fest-halten und unabhängig von dem Dasein und den Ei-genschaften Gottes in den Wissenschaften unerschüt-terliche Wahrheiten finden wollen, aus ihrem Irrthumzu reißen und um die Vernunft von der Geringfügig-keit ihres Lichts und von ihren Verirrungen so gut zuüberzeugen, daß nicht leicht darnach die Versuchungentsteht, die Geheimnisse wegen der Widersprüche,die man darin zu finden glaubt, zu verwerfen, denn

188Pascal: Gedanken über die Religion

der Geist ist dadurch so gedemüthigt, daß er weit ent-fernt ist darüber zu urtheilen, ob die Geheimnissemöglich sind, was der große Haufen nur zu oft thut.

Aber Epiktet, indem er die Trägheit bekämpft,führt zum Stolz und könnte schädlich werden für die,welche nicht von der Verderbtheit aller Gerechtigkeit,die nicht aus dem Glauben kommt, überzeugt sind.Montaigne aber ist unbedingt verderblich für diejeni-gen, die einigen Hang zur Gottlosigkeit und zu denLastern haben.

Daher muß das Lesen dieser Schriften mit sehr vielSorgfalt, Unterscheidung und Rücksicht auf den Zu-stand und die Sitten derer, die es unternehmen, gere-gelt werden. Aber wenn man sie verbindet, könnensie, scheint es, nur einen guten Erfolg haben, weil dieeine das Böse der andern aufhebt. Freilich können sienicht die Tugend geben, aber sie beunruhigen in denLastern, denn der Mensch findet, daß die Gegensätze,von denen der eine den Stolz, der andre die Trägheitvertreibt, ihn bekämpfen, und kann in keinem vondiesen Lastern durch seine Vernünfteleien sich beru-higen und doch auch nicht alle fliehen.

189Pascal: Gedanken über die Religion

Zwölfter Abschnitt.

Ueber den Stand der Großen.

1.

Um zur wahren Kenntniß von Ihrem Stande zu ge-langen, betrachten Sie ihn in folgendem Bilde.

Ein Mensch wurde durch den Sturm auf eine unbe-kannte Insel geworfen, deren Einwohner in Nothwaren ihren König zu finden, der sich verloren hatte,und da dieser Mensch zufällig viel Aenlichkeit an Ge-stalt und Gesicht mit jenem König besaß, so wurde erfür diesen gehalten und von dem ganzen Volke alsKönig anerkannt. Anfangs wußte er nicht, was er thunsollte, aber zuletzt beschloß er sich seinem gutenGlück zu überlassen. Er nahm also alle die Ehren an,die man ihm bezeugen wollte und ließ sich als Königbehandeln.

Aber da er doch seinen natürlichen Stand nicht ver-gessen konnte, dachte er zu gleicher Zeit, wenn erdiese Ehrenbezeugungen empfing, daß er nicht derKönig wäre, welchen das Volk suchte und daß diesesReich ihm nicht zugehörte. So hatte er denn einendoppelten Gedanken, nach dem einen handelte er alsKönig, nach dem andern erkannte er seinen wahren

190Pascal: Gedanken über die Religion

Zustand und sah ein, daß nur der Zufall ihn an dieStelle, wo er war, geführt hatte. Er verbarg diesenletzten Gedanken und offenbarte den ersten; nach demersten verfuhr er mit dem Volk und nach dem letztenmit sich selbst.

Meinen Sie nicht, daß das ein geringerer Zufall sei,wodurch Sie die Reichthümer, über die Sie gebieten,gefunden haben, als der Zufall, durch welchen jenerMensch den Thron fand. Sie haben daran kein Rechtweder von sich selbst noch von Ihrer Natur, eben sowenig als jener und Sie sind nicht bloß Sohn einesHerzogs, sondern sind auch selbst in der Welt nurdurch eine Menge von Zufällen. Ihre Geburt hängt abvon einer Verheirathung oder vielmehr von allen denVerheirathungen derer, von denen Sie abstammen.Aber wovon hängen diese Verheirathungen ab? Voneinem gelegentlichen Besuch, von einem Gespräch imFreien, von tausend unvorhergesehenen Gelegenhei-ten.

Sie besitzen, sagen Sie, Ihre Reichthümer vonIhren Vorfahren. Aber gehörten dazu nicht tausendZufälligkeiten, daß Ihre Vorfahren sie erworben undsie Ihnen erhalten haben? Tausend andre, eben sotüchtig wie Sie, konnten sie nicht erwerben oderhaben sie wieder verloren, nachdem sie sie erworben.Denken Sie vielleicht auch, daß diese Güter auf einemnatürlichen Wege von Ihren Vorfahren auf Sie

191Pascal: Gedanken über die Religion

übergegangen sind? Das ist nicht wahr.Diese Ordnung beruht nur allein auf dem Willen

der Gesetzgeber, die ihre guten Gründe gehabt habenkönnen sie fest zu stellen, aber keiner von diesenGründen ist gewißlich von einem natürlichen Rechthergenommen, welches Sie an diese Dinge habenmöchten. Wenn es ihnen gefallen hätte zu verordnen,daß diese Güter, nachdem die Väter sie während ihresLebens besessen, wieder nach ihrem Tode an denStaat zurück fallen sollten, so würden Sie keinenGrund haben sich darüber zu beklagen.

Auf diese Weise ist jeder Titel, durch welchen SieIhr Gut besitzen nicht auf die Natur, sondern auf einemenschliche Einrichtung gegründet. Eine andre Wen-dung in den Gedanken derer, welche die Gesetze ab-gefasst haben, hätte Sie arm gemacht und nur diesesZusammentreffen des Zufalls, durch den Sie geborenwurden, mit der Laune der Gesetze, was sich für Sieso günstig gefunden hat, ist es, was Sie in den Besitzaller dieser Güter setzt.

Ich will nicht behaupten, daß sie Ihnen nicht ge-setzmäßig zugehören und daß es einem andern freistünde sie Ihnen zu nehmen, denn Gott, welcher derHerr über die Güter ist, hat den Gesellschaften erlaubtGesetze über deren Vertheilung zu machen und wenndiese Gesetze ein Mal festgestellt sind, ist es Unrechtsie zu übertreten. Das unterscheidet Sie ein wenig von

192Pascal: Gedanken über die Religion

jenem Mann, von welchem wir erst sprachen, welchersein Königreich nur durch den Irrthum des Volks be-sitzen würde, denn Gott würde diesen Besitz nicht be-stättigen und würde ihn verpflichten demselben zuentsagen, statt daß er den Ihrigen bestättiget. Aberwas Sie ganz mit jenem gemein haben, ist, daß IhrRecht daran, eben so wenig als das seinige gegründetist auf irgend eine Eigenschaft und irgend ein Ver-dienst, das in Ihnen ist und Sie dessen würdig macht.Ihre Seele und Ihr Leib stehen an sich selbst gleichwenig im Verhältniß zum Stand eines Kahnschiffersoder eines Herzogs und es giebt kein natürlichesBand, welches Sie mehr an den einen als an den an-dern Stand knüpfen sollte.

Was folgt daraus? Sie müssen wie jener Mann, vondem wir gesprochen, einen doppelten Gedankenhaben und wenn Sie äußerlich mit den Menschen nachIhrem Range umgehen, müssen Sie verborgner aberwahrer bei sich denken, daß Sie von Natur nichts vorihnen voraus haben. Wenn der öffentliche GedankeSie über den großen Hausen erhebt, so erniedrige Sieder andre und halte Sie in einer vollkommnen Gleich-heit mit den Menschen; denn das ist Ihr natürlicherStand.

Das Volk, welches Sie bewundert, kennt vielleichtnicht dies Geheimniß. Es glaubt, daß der Adel einewirkliche Größe ist und betrachtet beinahe die

193Pascal: Gedanken über die Religion

Großen, als wären sie andere Wesen als die andernMenschen. Klären Sie ihnen diesen Irrthum nicht auf,wenn Sie wollen; aber mißbrauchen Sie nicht dieseErhebung mit Uebermuth und vorzüglich verkennenSie nicht selbst, daß Sie glauben sollten, Ihr Wesenwäre etwas Erhabeneres als das der andern Menschen.

Was würden Sie von jenem Manne sagen, derdurch den Irrthum des Volkes König geworden, wenner nun so sehr seinen natürlichen Stand vergäße, daßer sich einbildete, das Königreich käme ihm zu, erverdiente es und es gehörte ihm von Rechtswegen?Sie würden seine Narrheit und Tollheit bewundern.Aber ist die geringer bei den Großen, die in einem soseltsamen Vergessen ihres natürlichen Standes dahinleben?

Wie wichtig ist diese Warnung! Denn alle die Hef-tigkeit, alle die Gewaltthätigkeit und alle der Stolz derGroßen kommen nur davon her, daß sie nicht erken-nen was sie sind. Wer ist innerlich allen Menschengleich stellt und überzeugt ist nichts in sich zu haben,was jene kleinen Vorzüge verdient, die Gott ihm vorden andern Menschen gegeben hat, der wird nichtleicht sie mit Uebermuth behandeln. Dazu muß mansich selbst vergessen und muß glauben einen wirkli-chen Vorzug vor ihnen zu haben, und darin bestehteben diese Täuschung, die ich Ihnen zu enthüllen ver-suche.

194Pascal: Gedanken über die Religion

2.

Es ist gut, daß Sie wissen was man Ihnen schuldigist, damit Sie sich nicht anmaßen von den Menschenzu fordern was Ihnen nicht gebührt; denn das wäreeine offenbare Ungerechtigkeit und doch ist sie sehrhäufig bei Leuten Ihres Standes, weil sie dessen Naturnicht kennen.

In der Welt sind zwei Arten von Größe, durchMenschen eingesetzte und natürliche Größe. Die ein-gesetzte Größe hängt vom Willen der Menschen ab,die, mit Grund, gemeint haben gewisse Stände achtenund an sie gewisse Ehren knüpfen zu müssen. DieWürden und der Adel sind von dieser Gattung. Ineinem Lande ehrt man die Adeligen, im andern dieBürgerlichen, in jenem die Altern, in diesem die Jun-gen. Warum das? Weil es den Menschen so gefallenhat. Die Sache war gleichgiltig vor der Einsetzung,nachdem diese erfolgt, wird es recht, weil es unrechtist sie zu stören.

Die natürliche Größe ist die, welche unabhängig istvon der Laune der Menschen, weil sie in den wirkli-chen und wahrhaften Eigenschaften der Seele und desLeibes besteht, welche die eine oder den andern schät-zenswerther machen, als z.B. die Wissenschaften, dieEinsicht, der Geist, die Tugend, die Gesundheit, die

195Pascal: Gedanken über die Religion

Kraft.Wir sind der einen Größe sowohl als der andern

etwas schuldig, aber da sie verschiedene Natur haben,sind wir ihnen auch verschiedene Achtung schuldig.Der Größe der Einsetzung sind wir auch Ehren derEinsetzung, schuldig, d.h. gewisse äußere Gebräuche,die indessen, wie wir gezeigt haben, von einer innerli-chen Anerkenntniß der Gerechtigkeit dieser Ordnungbegleitet sein müssen, die uns aber keine wirklicheEigenschaft erkennbar machen in denen, welche wirin dieser Art ehren. Mit den Königen muß man kniendsprechen, in dem Zimmer der Fürsten muß man ste-hen. Es ist eine Thorheit und eine Gemeinheit desGeistes ihnen diese Pflichten zu verweigern.

Aber die natürlichen Ehren, die in der Achtung be-stehen, die sind wir nur der natürlichen Größe schul-dig und im Gegentheil Verachtung und Abscheu sindwir schuldig den Eigenschaften, welche jener natürli-chen Größe entgegengesetzt sind.

Weil Sie Herzog sind, ist es nicht nothwendig, daßich Sie achte, aber es ist nöthig, daß ich Sie grüße.Sind Sie ein Herzog und ein ehrenwerther Mann, sowerde ich der einen und der andern dieser Eigenschaf-ten geben, was ich ihr schuldig bin. Ich werde Ihnennicht die Höflichkeiten verweigern, die Ihrem Standeals Herzog gebüren, noch die Achtung, welche demehrenwerthen Mann zukommt. Wären Sie aber

196Pascal: Gedanken über die Religion

Herzog ohne ein ehrenwerther Mann zu sein, sowürde ich Ihnen auch Ihr Recht thun, ich würde Ihnendie äußern Gebräuche, welche die Ordnung der Men-schen an Ihren Stand geknüpft hat, gewähren unddabei nicht unterlassen gegen Sie die innere Verach-tung zu hegen, welche die Niedrigkeit Ihres Geistesverdiente.

Hierin besteht die Gerechtigkeit jener Pflichten unddie Ungerechtigkeit besteht darin, daß man die natür-lichen Ehren an die eingesetzte Größe knüpft, oderdie Ehren der Einsetzung für die natürliche Größe for-dert. Herr N. ist ein größrer Mathematiker als ich. Indieser Eigenschaft will er vor mir den Vorrang haben,ich werde ihm sagen, daß er davon nichts versteht.Die Mathematik ist eine natürliche Größe, sie ver-langt einen Vorzug der Achtung; aber einen äußernVorzug haben die Menschen damit nicht verbunden.Ich werde also vor ihm den Rang einnehmen undwerde ihn mehr achten als mich, in seiner Eigenschaftals Mathematiker. Eben so wenn Sie als Herzog undPair nicht damit zufrieden wären, daß ich vor Ihnenunbedeckt bleibe, und wollten noch, daß ich Sie ach-tete, so würde ich Sie bitten mir die Eigenschaften zuzeigen, die meine Achtung verdienen. Thun Sie das,so haben Sie sie erworben und ich könnte sie Ihnenmit Recht nicht verweigern; thun Sie es aber nicht, sowären Sie ungerecht sie von mir zu begehren, und

197Pascal: Gedanken über die Religion

wahrhaftig Sie würden es auch nicht erlangen undwenn Sie der größte Fürst der Welt wären.

3.

Ich will Sie also Ihren wahren Stand erkennen leh-ren, denn das ists, was die Personen Ihrer Art vonallem in der Welt am Wenigsten kennen. Was heißtdas nach Ihrer Meinung ein großer Herr sein? Dasheißt Herr sein über mehre Gegenstände der Begierdefür die Menschen und sodann die Bedürfnisse undWünsche vieler befriedigen können. Eben diese Be-dürfnisse und Wünsche ziehen sie in Ihre Nähe undmachen sie Ihnen unterwürfig; ohne das würden sieSie nicht ein Mal ansehen; aber sie hoffen durch dieseDienste und diese Ehrerbietigkeit, die sie Ihnen erwei-sen, einen Theil von den Gütern zu erlangen, die siebegehren und über welche Sie, wie sie sehen, verfü-gen.

Gott ist umgeben von Menschen voll Liebe, welchevon ihm die Güter der Liebe, die in seiner Macht sind,erflehen, so ist er ganz eigentlich der König derLiebe.

Sie sind eben so umringt von einer kleinen Anzahlvon Menschen, über die Sie in ihrer Art König sind.Diese Leute sind voll Begierde, und bitten Sie um dieGüter der Begierde. Es ist die Begierde, was dieselbe

198Pascal: Gedanken über die Religion

an Sie knüpft, Sie sind also eigentlich ein König derBegierde. Ihr Reich hat wenig Ausdehnung, aber inder Art des Königthums sind Sie den größten Köni-gen der Erde gleich. Diese sind wie Sie Könige derBegierde. Die Begierde ist es, was ihre Stärke macht,d.h. der Besitz der Dinge, welche die Begehrlichkeitder Menschen wünscht.

Aber indem Sie Ihren natürlichen Stand erkennen,gebrauchen Sie die Mittel, die demselben eigen sindund wollen Sie nicht durch ein andres Mittel her-schen als durch das, welches Sie zum König macht.Nicht Ihre Kraft und Ihre natürliche Gewalt machtIhnen alle diese Menschen unterthan. Denken Sie alsonicht sie mit Gewalt zu beherschen noch mit Härte zubehandeln. Befriedigen Sie ihre gerechten Wünsche,schaffen Sie ihnen Erleichterung in ihren Nöthen, set-zen Sie Ihr Vergnügen darin wohltätig zu sein, för-dern Sie sie, so viel Sie können und Sie werden alswahrer König der Begierde handeln.

Was ich Ihnen sage, geht nicht sehr weit und wennSie dabei stehn bleiben, so werden Sie sich gewiß zuGrunde richten; aber wenigstens werden Sie es alsEhrenmann thun. Es giebt Leute, die sich so thörichtins Verderben stürzen durch Geiz, durch Rohheit,durch Ausschweifung, durch Gewaltthat; durch Hef-tigkeit, durch Lästerung. Der Weg, den ich Ihnen er-öffne, ist ohne Zweifel ehrenwerther; aber es ist

199Pascal: Gedanken über die Religion

immer eine große Thorheit sich ins Verderben zu stür-zen, und darum müssen Sie nicht hier stehen bleiben.Verachten müssen Sie die Begierde und deren König-reich und streben nach jenem Reich der Liebe, wo alleUnterthanen nur Liebe athmen und nichts begehrenals die Güter der Liebe. Dahin werden andere als ichIhnen den Weg weisen; mir genügt es Sie von jenenrohen Wegen abgebracht zu haben, auf welchem ichviele Personen von Stande sehe, die sich hinreißenlassen, weil sie deren wahre Natur nicht recht kennen.

200Pascal: Gedanken über die Religion

Zweiter Theil.

Gedanken, welche sich unmittelbar auf die Religionbeziehen.

Erster Abschnitt.

Auffallende Widersprüche, die sich in der Natur desMenschen finden, in Betreff der Wahrheit, des

Glücks und mehrer anderer Dinge.

1.

Nichts ist auffallender in der Natur des Menschenals die Widersprüche, die man an ihr in Betreff allerDinge entdeckt. Er ist gemacht die Wahrheit zu erken-nen, er begehrt sie heiß, er sucht sie und doch, wenner sie zu erfassen strebt, verblendet und verwirrt ersich dergestalt, daß er Anlaß giebt ihm ihren Besitzstreitig zu machen. Daraus sind die beiden Parteiender Pyrrhonisten und der Dogmatisten entstanden, vondenen jene dem Menschen alle Erkenntniß der Wahr-heit hat rauben wollen und diese sie ihm zu sichernsucht; aber jede mit so wenig wahrscheinlichen Grün-den, daß sie die Verwirrung und Verlegenheit desMenschen noch vermehren, wenn er kein andres Licht

201Pascal: Gedanken über die Religion

hat als das, welches er in seiner Natur findet.Die Hauptgründe der Pyrrhonisten sind folgende:

außer dem Glauben und der Offenbarung haben wirkeine Gewißheit von der Wahrheit der Principien alsnur, daß wir sie von Natur in uns fühlen. Dieses na-türliche Gefühl aber ist nicht ein überzeugender Be-weis von ihrer Wahrheit, denn es giebt außer demGlauben keine Gewißheit, ob der Mensch geschaffenist von einem guten Gott oder von einem bösenDämon, ob er von jeher gewesen ist oder durch Zufallentstanden, und so bleibt es zweifelhaft, ob uns indiesen Principien wahre oder falsche oder ungewissegegeben sind, je nachdem unser Ursprung ist. Fernerhat niemand außer dem Glauben eine Sicherheit, ob erwacht oder schläft, indem man während des Schlafsnicht weniger fest glaubt zu wachen, als wenn manwirklich wacht. Man glaubt die Räume, die Gestalten,die Bewegungen zu sehn, man merkt, wie die Zeitverläuft, man mißt sie, kurz man handelt ganz wiewach. Also da die Hälfte des Lebens nach unserm eig-nen Zugeständniß im Schlaf vergeht, wo wir, obgleiches uns so scheint, doch keine Idee des Wahren haben,indem dann alle unsre Empfindungen Täuschungensind, wer weiß, ob jener andre Theil des Lebens, wowir zu wachen meinen, nicht ein vom ersten nuretwas verschiedener Schlaf ist, aus dem wir erwachen,wenn wir zu schlafen meinen, wie man oft träumt, daß

202Pascal: Gedanken über die Religion

man träume und so Traum auf Traum häuft?Ich übergehe, was die Pyrrhonisten sagen gegen die

Eindrücke der Gewohnheit, der Erziehung, der Sitten,der Länder und andre ähnliche Dinge, von welchendoch die meisten Menschen bestimmt werden, die nurauf diesen Grundlagen ihre Dogmen aufbauen.

Die einzige Festung der Dogmatisten ist die: wennman aufrichtig und offen redet, kann man nicht zwei-feln an den natürlichen Principien. Wir erkennen,sagen sie, die Wahrheit nicht bloß durch Vernunft,sondern auch durch Gefühl und durch eine lebendigeund klare Anschauung und gerade auf diese letzteWeise erkennen wir die ersten Principien. Umsonstversucht die Vernunft, die an ihnen keinen Theil hat,sie zu bekämpfen. Die Pyrrhonisten, welche nur diesbeabsichtigen, geben sich vergebliche Mühe. Wirwissen, daß wir nicht träumen, wie unvermögend wirauch sind es mit der Vernunft zu beweisen. DiesesUnvermögen beweist nichts als die Schwäche unsrerVernunft, aber nicht die Ungewißheit aller unsrer Er-kenntnisse, wie jene behaupten, denn die Erkenntnißder ersten Principien wie z.B. daß es Raum, Zeit, Be-wegung, Zahl, Materie giebt, ist ebenso gewiß wiejede von denen, die unsre Vernunftschlüsse unsgeben. Und auf diese Erkenntnisse der Anschauungund des Gefühls muß die Vernunft sich stützen undalle ihre Aussage gründen. Ich fühle, daß es drei

203Pascal: Gedanken über die Religion

Ausdehnungen im Raum giebt und daß die Zahlen un-endlich sind; und die Vernunft beweist hinterher, daßes nicht zwei Quadratzahlen giebt, von denen die einedas Doppelte der andern wäre. Die Principien fühltman, die Lehrsätze schließt man, alles mit Gewißheit,obgleich auf verschiedenen Wegen. Und es ist ebensolächerlich, wenn die Vernunft vom Gefühl und vonder Anschauung Beweise dieser ersten Principienverlangt, um ihnen bei zu stimmen, als es lächerlichsein würde, wenn die Anschauung von der Vernunftverlangte ein Gefühl aller der Lehrsätze, die sie be-weist. Dieses Unvermögen kann also nur dienen dieVernunft zu demüthigen, die über alles urtheilenmöchte, nicht aber unsere Gewißheit zu bestreiten, alswäre nur die Vernunft fähig uns zu belehren. WollteGott wir hätten im Gegentheil ihrer nie von Nöthenund erkännten alle Dinge durch Instinct und Gefühl!Aber die Natur hat uns dieses Gut versagt und uns nursehr wenige Erkenntnisse dieser Art verliehn; alle an-dern können nur durch Vernunftschlüsse erlangt wer-den.

So ist denn offener Krieg unter den Menschen.Jeder muß Partei ergreifen und sich nothwendig ent-weder zum Dogmatismus oder zum Pyrrhonismus hal-ten, denn wer neutral zu bleiben gedächte, würde ebenrecht ein Pyrrhonist sein. Diese Neutralität ist dasWesen des Pyrrhonismus, wer nicht gegen sie ist, ist

204Pascal: Gedanken über die Religion

eben recht für sie. Was wird denn der Mensch in die-ser Lage thun? Wird er zweifeln an allem? Wird erzweifeln, ob er wacht, ob man ihn kneift, ob man ihnbrennt? Wird er zweifeln, ob er zweifelt? Wird erzweifeln, ob er ist? Dahin bringt man es nicht und ichbehaupte, daß es niemals einen wirklichen und voll-kommenen Pyrrhonisten gegeben hat. Die Natur un-terstützt die ohnmächtige Vernunft und verhindert siebis zu dem Punkt auszuschweifen. Wird er im Gegen-theil sagen, daß er gewiß die Wahrheit besitzt, er, der,wenn man ihm nur ein wenig drängt, keinen Besitzti-tel derselben nachweisen kann und gezwungen ist abzu stehen?

Wer wird diese Verwirrung lösen? Die Natur wi-derlegt die Pyrrhonisten und die Vernunft widerlegtdie Dogmatisten. Was wird denn aus dir, o Mensch,der du deine wahrhafte Stellung zu erkennen strebstdurch deine natürliche Vernunft? Du kannst keine die-ser Parteien fliehen, noch in einer verbleiben. Das istder Mensch in Betreff der Wahrheit.

Laßt ihn uns jetzt betrachten in Betreff der Glück-seligkeit, die er mit solchem Eifer sucht in allen sei-nen Handlungen. Denn alle Menschen verlangenglücklich zu sein; das ist ohne Ausnahme. Was fürverschiedene Mittel sie anwenden, sie streben allenach diesem Ziel. Was macht, daß der eine in denKrieg geht und der andre nicht, das ist eben dieses

205Pascal: Gedanken über die Religion

gleiche Verlangen, welches in beiden ist, verbundenmit verschiedenen Ansichten. Der Willen thut nie denkleinsten Schritt als nur gegen dieses Ziel hin. Das istder Beweggrund von allen Handlungen der Menschen,selbst derer, die sich tödten und hängen. Und dennochseit einer so großen Reihe von Jahren ist nie einer,ohne den Glauben, zu diesem Punkt gelangt, zu demalle unablässig streben. Alle klagen: Fürsten und Un-terthanen, Vornehme und Geringe, Greise und Jüng-linge, Starke und Schwache, Gelehrte und Unwis-sende, Gesunde und Kranke, in allen Ländern, allenZeiten, allen Altern, und allen Verhältnissen.

Eine so lange, so ununterbrochene und so gleichbleibende Erfahrung sollte uns wohl überzeugen wieunvermögend wir sind zum Glück zu gelangen durchunsere Anstrengungen. Aber das Beispiel belehrt unsnicht. Es ist nie so vollkommen gleich, daß nicht ir-gend ein feiner Unterschied dabei wäre und da ebenerwarten wir, daß unsere Hoffnung in diesem Fallenicht wie in dem andern werde getäuscht werden. So,da die Gegenwart uns nie berfriedigt, reizt uns dieHoffnung und führt uns von Unglück zu Unglück biszum Tode, dem Gipfel alles Unglücks in Ewigkeit.

Das ist befremdend, daß es nichts in der Naturgiebt, was nicht im Stande gewesen wäre die Stelledes Zwecks und Glücks für den Menschen ein zu neh-men, Gestirne, Elemente, Pflanzen, Thiere, Insekten,

206Pascal: Gedanken über die Religion

Krankheiten, Kriege, Laster, Verbrechen u.s.w. Nach-dem der Mensch von seinem natürlichen Stande her-abgefallen ist, giebt es nichts, dem er nicht fähig wäresich zu ergeben. Seitdem er das wahre Gut verlorenhat, kann ihm gleichmäßig alles als solches erschei-nen, selbst seine eigene Vernichtung, so sehr sie auchder Vernunft und der Natur zugleich entgegen ist.

Einige haben die Glückseligkeit gesucht im An-sehn, andere in den Seltenheiten und in den Wissen-schaften, noch andere in den Wollüsten. Diese dreiBegierden haben drei Parteien erzeugt und die, welcheman Philosophen nennt, haben eigentlich nichts ge-than, als daß sie einer von den dreien sich ergaben.Die, welche der Glückseligkeit am Nächsten gekom-men sind, haben erwogen, daß das allgemeine Gut,welches alle Menschen begehren und an welchem alleTheil haben sollen, nothwendiger Weise nicht bestehtin irgend einem von den besondern Dingen, die nurvon einem Einzelnen besessen werden können unddie, wenn sie getheilt werden, ihren Besitzer mehr be-trüben durch die Entbehrung des Theils, den er nichthat, als sie ihn befriedigen durch den Genuß desTheils, der ihm zugehört. Sie haben eingesehn, daswahre Gut muß so beschaffen sein, daß alle es zu-gleich besitzen können ungeschmälert und ohne Neidund daß niemand es wider seinen Willen verlierenkann. Sie haben es eingesehn, aber sie haben es nicht

207Pascal: Gedanken über die Religion

finden können und statt eines sichern und wirklichenGuts haben sie nur das ferne Bild einer phantasti-schen Tugend umfaßt.

Durch unsern Instinct fühlen wir, daß wir unserGlück in uns suchen müssen. Unsere Leidenschaftendrängen uns nach außen, selbst wenn die Gegenständesich nicht darböten sie auf zu regen. Die Gegenständeder Außenwelt versuchen uns von selbst und reizenuns, sogar wenn wir nicht an sie denken. So sagen diePhilosophen umsonst: Kehre ein in dich selbst, da fin-dest du dein Glück! Man glaubt ihnen nicht und die,welche ihnen glauben, sind die leersten und einfältig-sten Köpfe. Denn was kann lächerlicher und nichtigersein als die Lehrsätze der Stoiker und was falscher alsalle ihre Forderungen? Sie schließen so: man könneimmer was man bisweilen kann und weil die Begierdedes Ruhms die, welche sie beherscht, wohl treibt,etwas zu leisten, so werden das andere auch vermö-gen. Das sind fieberhafte Bewegungen, welche dieGesundheit nicht nachahmen kann.

208Pascal: Gedanken über die Religion

2.

Der innere Krieg der Vernunft gegen die Leiden-schaften hat gemacht, daß die, welche den Friedenhaben wollten, sich in zwei Parteien getheilt haben.Die einen wollten den Leidenschaften entsagen undGötter werden, die andern wollten der Vernunft entsa-gen und Thiere werden. Aber sie haben es nicht ge-konnt, weder die Einen noch die Andern; die Vernunftbleibt immer und klagt die Niedrigkeit und Ungerech-tigkeit der Leidenschaften an und stört die Ruhe derer,die sich hingeben, und die Leidenschaften sind immerlebendig, in denen selbst, die ihnen entsagen wollen.

3.

Das ist es, was der Mensch vermag aus sich selbstund durch seine eignen Anstrengungen in Betreff derWahrheit und des Glücks. Wir haben ein Unvermö-gen zu beweisen, unbesiegbar für allen Dogmatismus,wir haben eine Idee der Wahrheit, unbesiegbar fürallen Pyrrhonismus. Wir verlangen nach der Wahrheitund finden in uns nichts als Ungewißheit. Wir suchendas Glück und finden nur Elend. Wir sind unfähignicht zu begehren die Wahrheit und das Glück undwir sind unfähig sowohl der Gewißheit als des

209Pascal: Gedanken über die Religion

Glücks. Dies Verlangen ist uns gelassen eben so sehrum uns zu strafen als um uns fühlbar zu machen, vonwelcher Höhe wir herabgefallen sind.

4.

Ist der Mensch nicht gemacht für Gott, warum ister nicht glücklich als in Gott? Ist der Mensch gemachtfür Gott, warum ist er so wider Gott?

5.

Der Mensch weiß nicht, auf welche Stufe er sichstellen soll. Offenbar ist er verirrt und fühlt in sichUeberreste eines glücklichen Zustandes, von dem erherabgefallen ist und den er nicht wieder erlangenkann. Er sucht ihn überall mit Unruhe und ohne Er-folg, in undurchdringlicher Finsterniß.

Aus dieser Quelle entspringen die Kämpfe der Phi-losophen, von denen die einen es sich zur Aufgabe ge-macht haben, den Menschen zu erhöhen, indem sieseine Größe hervorheben, die andern ihn zu erniedri-gen, indem sie sein Elend darstellen. Das Sonderbar-ste dabei ist, daß jede Partei sich die Gründe der an-dern bedient um ihre Meinung zu begründen. Denndas Elend des Menschen beweist sich aus seinerGröße und seine Größe beweist sich aus seinem

210Pascal: Gedanken über die Religion

Elend. Daher haben die einen um so besser das Elenddargethan, wenn sie zum Beweise dafür die Größe ge-nommen und die andern haben die Größe um so stär-ker dargethan, wenn sie dieselbe aus dem Elend selbstgefolgert. Alles, was die einen haben sagen könnenum die Größe zu zeigen, hat nur den andern zum Be-weise für das Elend gedient, weil man um so vielelender ist, von je größerer Höhe man gefallen und soumgekehrt. Sie haben sich einer über den andern er-hoben in einem Kreise ohne Ende, denn das ist gewiß:je nachdem die Menschen mehr Einsicht haben, ent-decken sie mehr und mehr im Menschen Elend undGröße. Mit einem Wort, der Mensch erkennt, daß erelend ist. Er ist also elend, weil er es erkennt; aber erist sehr groß, weil er erkennt, daß er elend ist.

Welche Chimäre ist denn der Mensch! Welche son-derbare Erscheinung, welches Chaos, welcher Gegen-stand des Widerspruchs! Richter über alle Dinge,schwacher Wurm von Erde, im Besitz des Wahren,voll von Ungewißheit, Preis und Auswurf des Univer-sums! Wenn er sich rühmt, erniedrige ich ihn, wenn ersich erniedrigt, rühme ich ihn und widerspreche ihmimmer, bis er begreife, daß er ein unbegreiflichesMonstrum ist.

211Pascal: Gedanken über die Religion

Zweiter Abschnitt.

Nothwendigkeit die Religion zu studiren.

Möchten die, welche die Religion bekämpfen, we-nigstens lernen, welcher Art sie ist, ehe sie sie be-kämpfen. Wenn diese Religion sich rühmte eine klareKenntniß von Gott zu haben und sie unverhüllt undohne Schleier zu besitzen, so wäre sie schon be-kämpft, wenn man sagte, daß man in der Welt nichtssieht, was ihn mit Evidenz zeigt. Aber weil sie im Ge-gentheil sagt, daß die Menschen in der Finsterniß undin der Entfernung von Gott sind, daß er sich ihrer Er-kenntniß verborgen hat und daß dies selbst der Nameist, den er sich in der Schrift giebt, der verborgeneGott und endlich wenn sie sich gleichmäßig Mühegiebt diese beiden Stücke fest zu stellen, daß Gott inder Kirche merkliche Zeichen niedergelegt hat umsich von denen erkennen zu lassen, die ihn aufrichtigsuchen würden und daß er diese Zeichen dennoch aufsolche Weise verhüllt hat, daß er nur von denen wirdbemerkt werden, die ihn suchen von ganzem Herzen:welchen Vortheil können sie davon ziehen, wenn sienach ihrem offnen Geständniß die Wahrheit zu suchenverabsäumen und dann wehklagen, daß nichts sieihnen zeigt, indem diese Dunkelheit, in welcher sie

212Pascal: Gedanken über die Religion

sind und die sie der Kirche vorwerfen, eben das einevon den Stücken, die sie behauptet, nur noch mehrfeststellt, ohne das andre zu rühren und ihre Lehre be-stätigt, weit entfernt sie um zu stoßen?

Um sie zu bekämpfen, müßten sie klagen, daß siealle Anstrengungen gemacht haben, sie zu suchenüberall und selbst in dem, was die Kirche aufstellt,um sich davon zu unterrichten, aber ohne die gering-ste Befriedigung. Wenn sie so sprächen, so würdensie doch wirklich eine ihrer Behauptungen bekämp-fen. Aber ich hoffe hier zu zeigen, daß es keinen ver-nünftigen Menschen giebt, der so sprechen könne undich wage sogar zu sagen, daß nie einer es gethan hat.Man weiß genugsam in welcher Art die handeln, diedieses Geistes sind. Sie glauben große Anstrengungengemacht zu haben, um sich zu unterrichten, wenn sieeinige Stunden auf das Lesen der Schrift verwendetund irgend einen Geistlichen über die Wahrheiten desGlaubens befragt haben. Darnach rühmen sie sich ge-sucht zu haben ohne Erfolg, in den Büchern und unterden Menschen. Aber in Wahrheit ich kann mich nichtenthalten ihnen zu sagen was ich oft gesagt habe, daßdiese Nachlässigkeit nicht zu ertragen ist. Es handeltsich hier nicht um das flüchtige Interesse für einefremde Person, es handelt sich hier um uns selbst undum unser Alles.

Die Unsterblichkeit der Seele ist eine Sache, die

213Pascal: Gedanken über die Religion

uns soviel angeht und die uns so tief berührt, daß manalles Gefühl verloren haben muß um gleichgiltig dar-über zu sein, ob man weiß was daran ist. Alle unsereHandlungen und alle unsere Gedanken müssen so ver-schiedene Richtungen nehmen, je nachdem es ewigeGüter zu hoffen giebt oder nicht, so daß es unmöglichist einen Schritt zu thun mit Sinnen und Vernunftohne ihn zu bestimmen durch die Hinsicht auf diesenPunct, der unser erster Gegenstand der Betrachtungsein muß.

Also unser erstes Interesse und unsere erste Pflichtist es uns auf zu klären über diesen Gegenstand, vondem unsere ganze Lebensweise abhängt. Deswegenbei denen, die davon nicht überzeugt sind, mach icheinen großen Unterschied zwischen denen, die mitallen ihren Kräften sich zu unterrichten arbeiten unddenen, die leben ohne sich darum Mühe zu machenund ohne daran zu denken.

Ich kann nur Mitleid haben mit denen, die aufrich-tig seufzen in diesem Zweifel, die ihn für das äußersteUnglück ansehn, die nichts sparen um daraus zu ent-kommen und aus dieser Untersuchung ihre hauptsäch-liche und ernstlichste Beschäftigung machen. Aberdie, welche ihr Leben hinbringen ohne an dieses letzteEnde des Lebens zu denken und die aus dem Grundeallein, weil sie nicht in sich überzeugende Einsichtenfinden, es vernachlässigen sie anderwärts zu suchen

214Pascal: Gedanken über die Religion

und bis auf den Grund zu erforschen, ob diese Mei-nung eine von denen ist, die das Volk mit einer leicht-gläubigen Einfalt annimmt, oder eine von denen, die,obgleich an sich dunkel, nichts desto weniger einensehr festen Grund haben, die sehe ich auf eine ganzverschiedene Weise an. Diese Nachlässigkeit in einerSache, wo es sich handelt um sie selbst, um ihreEwigkeit, um ihr Alles, erzürnt mich mehr, als siemich rührt, sie setzt mich in Erstaunen und erschrecktmich, es ist mir eine Unnatur. Ich sage das nicht indem frommen Eifer einer geistlichen Verzückung. Ichverlange im Gegentheil, daß die Eigenliebe, daß dasmenschliche Interesse, daß der einfachste Schimmerder Vernunft uns diese Gesinnungen geben soll. Manbraucht dazu nur zu sehn, was die am wenigstengeistreichen Menschen sehn.

Man braucht nicht einen sehr hohen Geist zu habenum zu begreifen, daß es hier keine wahrhafte und blei-bende Befriedigung giebt, daß alle unsere Freuden nureitel, unsere Uebel unendlich sind und daß zuletzt derTod, der uns jeden Augenblick drohet, in wenig Jah-ren oder in wenig Tagen uns versetzen muß in einenewigen Zustand des Glücks oder des Unglücks oderder Vernichtung. Zwischen uns und dem Himmel, derHölle oder dem Nichts ist also nur das Leben, daszerbrechlichste Ding der Welt und da der Himmelgewiß nicht für die ist, welche zweifeln, ob ihre Seele

215Pascal: Gedanken über die Religion

unsterblich ist, so haben sie nur die Hölle oder dasNichts zu erwarten.

Nichts ist wahrer als das, nichts schrecklicher.Mögen wir uns so keck stellen als wir wollen, das istdas Ende, was das schönste Leben der Welt erwartet.

Umsonst wenden sie ihre Gedanken von jener Herr-lichkeit ab, die sie erwartet, als könnten sie sie zunichts machen dadurch, daß sie nicht daran denken.Sie besteht trotz ihnen, sie rückt vor und der Tod, dersie ihnen aufschließen muß, wird sie unfehlbar in kur-zer Zeit in die furchtbare Nothwendigkeit versetzenewig entweder vernichtet oder unglücklich zu sein.

Das ist ein Zweifel von furchtbarer Wichtigkeit undes ist gewiß schon ein großes Unglück in diesemZweifel zu sein, aber es ist wenigstens eine unerläßli-che Pflicht zu suchen, wenn man darinnen ist. Alsoder, welcher zweifelt und sucht nicht, ist zugleich sehrungerecht und sehr unglücklich. Und wenn er dabeiruhig und zufrieden ist, daß er das geradezu bekenntund noch gar sich daraus eine Ehre macht und in die-sem Zustande selbst den Gegenstand seiner Freudeund Eitelkeit findet, ich habe keine Worte um ein soungereimtes Geschöpf zu bezeichnen.

Wo kann man diese Gesinnungen hernehmen?Welchen Grund zur Freude findet man darin nichts alsElend ohne Hilfe zu erwarten? Welchen Grund zurEitelkeit sich in undurchdringlichen Dunkelheiten zu

216Pascal: Gedanken über die Religion

sehn? Welchen Trost nie einen Tröster zu hoffen?Diese Ruhe in dieser Unwissenheit ist eine Unna-

türlichkeit, deren Ungereimtheit und Unverstand mandenen, die darin ihr Leben hinbringen, fühlbar ma-chen muß, indem man ihnen zeigt, was in ihnen vor-geht, um sie durch den Anblick ihrer Thorheit zuschlagen. Denn in folgender Art urtheilen die Men-schen, wenn sie erwählen zu leben ohne zu wissen,was sie sind und ohne darüber Aufklärung zu suchen.

Ich weiß nicht, wer mich in die Welt gesetzt hat,noch was die Welt ist, noch was ich bin. Ich befindemich in einer erschrecklichen Unkenntniß aller Dinge.Ich weiß nicht: was ist mein Leib, meine Sinne, meineSeele und selbst dieser Theil von mir, der denkt wasich sage und der über alles und über sich selbst Be-trachtungen anstellt, kennt sich nicht mehr als allesUebrige. Ich sehe diese Staunen erregenden Räumedes Universums, die mich umschließen und findemich gebannt in einen Winkel dieser weiten Ausdeh-nung ohne zu wissen, warum ich vielmehr an diesenOrt gestellt bin als an einen andern, noch warum diekurze Zeit, die mir gegeben ist zu leben, mir vielmehran diesem Punct angewiesen ist als an einem andernin der ganzen Ewigkeit, die mir voran gegangen istund die mir folgt. Von allen Seiten sehe ich nichts alsUnendlichkeiten, die mich verschlingen wie ein Atomund wie einen Schatten, der nur einen Augenblick

217Pascal: Gedanken über die Religion

dauert ohne Rückkehr. Alles, was ich weiß, ist, daßich bald sterben muß, aber was ich am Meisten nichtweiß, ist dieser Tod selbst, dem ich nicht zu entgehenim Stande bin.

Wie ich nicht weiß, woher ich komme, weiß ichauch nicht, wohin ich gehe und ich weiß bloß: wennich aus dieser Welt gehe, falle ich für immer entwederin das Nichts oder in die Hände eines erzürnten Got-tes ohne zu wissen, welches von diesen beiden Ver-hältnissen mir ewig zu Theil werden soll.

So ist mein Zustand voll von Elend, von Schwäche,von Dunkelheit. Und aus alle dem schließe ich, daßich also alle Tage meines Lebens hinbringen soll,ohne an das was mir begegnen wird zu denken unddaß ich nur meinen Neigungen folgen soll ohne Nach-denken und ohne Unruhe, indem ich alles Gehörigethue, um in das ewige Elend zu sinken, im Fall das,was man davon sagt, wahr ist. Vielleicht könnte ichin meinen Zweifeln einige Aufklärung finden, aber ichwill mir um sie nicht Mühe geben noch einen Schrittthun sie zu suchen und mit Verachtung behandle ichdiejenigen, welche sich an dieser Sorge abarbeitenund will ohne Voraussehn und ohne Fürchten einemso großen Ereigniß entgegen gehen und mich geduldigzum Tode führen lassen, in der Ungewißheit über dieEwigkeit meines künftigen Zustandes.

Wahrlich es ist ehrenvoll für die Religion so

218Pascal: Gedanken über die Religion

unvernünftige Menschen zu Feinden zu haben undderen Widerspruch ist ihr so wenig gefährlich, daß ervielmehr dient zur Bestättigung der hauptsächlichstenWahrheiten, die sie uns lehrt. Denn der christlicheGlauben geht hauptsächlich nur darauf hin diese bei-den Stücke fest zu stellen, das Verderben der Naturund die Erlösung Jesu Christi. Nun denn, dienen sienicht die Wahrheit der Erlösung zu zeigen durch dieHeiligkeit ihrer Sitten, so dienen sie doch vortrefflichdas Verderben der Natur zu zeigen durch so unnatür-liche Gesinnungen.

Nichts ist so wichtig für den Menschen, als seinZustand, nichts ist ihm so furchtbar als die Ewigkeit.Also, wenn sich Menschen finden, die gleichgültigsind gegen den Verlust ihres Seins und gegen die Ge-fahr einer Ewigkeit voll Elend, so ist das gar nicht na-türlich. Sie sind ganz anders im Betreff aller andernDinge, sie fürchten selbst für die geringsten Kleinig-keiten, sie sehen sie voraus und empfinden sie undderselbe Mensch, der Tage und Nächte in Wuth undin Verzweiflung zubringt wegen des Verlusts einerStelle oder wegen einer eingebildeten Verletzung sei-ner Ehre, ist derselbe, der weiß, daß er alles verlierenwird durch den Tod und der nichts desto weniger ohneUnruhe bleibt, ohne Sorge und ohne Bewegung. Dieseseltsame Unempfindlichkeit für die schrecklichstenDinge in einem Herzen, das so empfindlich ist für die

219Pascal: Gedanken über die Religion

unbedeutendsten, ist ein Unding, eine unbegreiflicheVerzauberung, eine übernatürliche Einschläferung.

Wenn ein Mensch in einem Kerker nicht weiß, obsein Urtheil gefällt ist und nur noch eine Stunde hatum es zu erfahren und diese Stunde wäre hinreichend,wenn er weiß daß es gefällt ist, den Widerruf zu be-wirken, so ist es gegen die Natur, wenn er diese Stun-de anwendet, nicht um sich zu erkundigen, ob diesesUrtheil gefällt ist, sondern um zu spielen und sich zuvergnügen. Das ist der Zustand, in welchem sich jeneMenschen befinden, mit dem Unterschied, daß dieUebel, von denen sie bedroht werden, weit andre sindals der bloße Verlust des Lebens und eine vorüberge-hende Strafe, welche der Gefangene zu fürchten habenwürde. Indessen sie laufen ohne Sorge in den Ab-grund, nachdem sie sich etwas vor die Augen gebun-den haben, um ihn nicht sehn zu können und sie spot-ten derer, die sie auf denselben aufmerksam machen.

Also nicht nur der Eifer derer, die Gott suchen, be-weist die wahre Religion, sondern auch die Blindheitderer, die ihn nicht suchen und die in dieser gräßli-chen Nachlässigkeit leben. Es muß eine seltsame Um-kehrung der menschlichen Natur Statt finden um indiesem Zustand zu leben und noch mehr um sich des-sen zu rühmen. Denn wenn sie eine völlige Gewißheithätten, daß sie nach dem Tode nichts zu fürchtenhaben als in das Nichts zu fallen, wäre das nicht ein

220Pascal: Gedanken über die Religion

Gegenstand vielmehr des Verzweifelns als des Rüh-mens? Ist es denn nicht eine undenkbare Thorheit sichnun, da man dessen nicht sicher ist, eine Ehre darauszu machen, daß man zweifelt?

Und dennoch ist es gewiß: der Mensch ist so entar-tet, daß in seinem Herzen ein Keim von Freude hier-über liegt. Dieses gleichsam thierische Ruhigseinzwischen der Furcht der Hölle und des Nichts scheintso schön, daß nicht bloß die, welche wirklich in die-sem unseligen Zweifel sind, sich dessen rühmen, son-dern daß selbst die, welche nicht darin sind, glauben,es sei ihnen rühmlich sich zu stellen, als wären siedarin. Denn die Erfahrung lehrt uns, daß die Mehrzahlderer, die sich dazu zählen, zu dieser letzten Gattunggehören, daß es Leute sind, die sich verstellen und dienicht so sind, wie sie scheinen wollen. Das sind Men-schen, die gehört haben, daß der gute Ton der Weltdarin bestehe auf solche Art seine Kühnheit zu zei-gen. Das nennen sie das Joch abgeschüttelt haben unddie Mehrzahl thut es nur um den andern nach zuahmen.

Aber wenn sie nur, sei es auch noch so wenig, ge-funden Menschenverstand haben, ist es nicht schwerihnen begreiflich zu machen, wie sehr sie sich irren,indem sie dadurch Achtung zu erlangen suchen. Dasist nicht das Mittel Achtung zu erwerben, ja, selbstnicht unter den Weltleuten, die verständig über die

221Pascal: Gedanken über die Religion

Dinge urtheilen und die wissen, daß der einzige Wegdazu zu gelangen ist: sich rechtlich zeigen, treu, ver-ständig und fähig seinen Freunden mit Nutzen zu die-nen; weil die Menschen natürlicher Weise nur das lie-ben, was ihnen nützlich sein kann. Also welchenVortheil gewährt es uns einen Menschen sagen zuhören, wie er das Joch abgeschüttelt hat, wie er nichtglaubt, daß es einen Gott giebt, der über seine Hand-lungen wacht, wie er sich als alleinigen Herrn seinesThuns betrachtet, wie er davon nur sich Rechenschaftzu geben denkt? Meint er uns so dahin gebracht zuhaben, daß wir seitdem rechtes Vertrauen zu ihm füh-len und von ihm erwarten Trost, Rath und Hilfe beiden Bedürfnissen des Lebens? Meint er uns recht er-götzt zu haben, wenn er uns sagte, daß er zweifelt, obunsere Seele etwas anders ist als ein wenig Wind undRauch und besonders wenn er uns das mit einem stol-zen und selbstzufriedenen Ton sagte? Ist das denneine Sache lustig zu sagen und nicht vielmehr eineSache traurig zu sagen wie die traurigste Sache vonder Welt?

Dächten sie ernstlich darüber nach, so würden siesehn, daß das so falsch aufgefaßt ist, so wider allengesunden Sinn, so entgegengesetzt aller Rechtlichkeit,und in jeder Art so entfernt von jenem guten Ton, densie suchen, daß nichts mehr dazu geeignet ist ihnendie Verachtung und den Abscheu der Menschen zu zu

222Pascal: Gedanken über die Religion

ziehen und sie als Leute ohne Geist und ohne Urtheilzu zeigen. Und in der That, wenn man sie auffordert,Rechenschaft zu geben von ihren Meinungen und vonden Gründen, die sie haben an der Religion zu zwei-feln, werden sie so schwache und seichte Dinge vor-bringen, daß sie vielmehr vom Gegentheil überzeugenwerden. Das sagte ihnen einmal jemand sehr passend:Wenn ihr fortfahret so zu sprechen, sagte er, so wer-det ihr mich wahrlich bekehren. Und er hatte Recht,denn wer möchte sich nicht scheuen Meinungen zuhaben, in denen man so verächtliche Menschen zuGenossen hat?

Also diejenigen, welche diese Meinungen bloß vor-geben, sind recht unglücklich, daß sie ihrer Natureinen Zwang anthun um sich zu den Ungereimtestenunter den Menschen zu machen. Sind sie ärgerlich imInnersten ihres Herzens, daß sie nicht mehr Einsichthaben, so mögen sie es nicht verheimlichen. DieserErklärung brauchen sie sich nicht zu schämen. Manbraucht sich über nichts zu schämen, als wenn mankeine Scham hat. Nichts entdeckt mehr eine wunderli-che Geistesschwäche, als wenn man nicht erkennt,wie groß das Unglück ist eines Menschen ohne Gott.Nichts bezeichnet mehr eine recht tiefe Niedrigkeitdes Gemüths, als wenn man nicht verlangt nach derWahrheit der ewigen Verheißungen. Nichts ist feigerals sich dreist stellen gegen Gott. Mögen sie denn

223Pascal: Gedanken über die Religion

diese Gottlosigkeiten denen überlassen, die unseliggenug sind ihrer wirklich fähig zu sein; mögen sie we-nigstens rechtliche Leute sein, wenn sie noch nichtChristen sein können und mögen sie endlich erken-nen, daß es nur zwei Arten von Menschen giebt, dieman vernunftig nennen kann; die, welche Gott dienenvon ganzem Herzen, weil sie ihn kennen und die, wel-che ihn suchen von ganzem Herzen, weil sie ihn nochnicht kennen.

Also nur für diejenigen, welche aufrichtig Gott su-chen und ihr Elend erkennend wahrhaftig aus demsel-ben heraus zu kommen verlangen, nur für die ist esrecht zu arbeiten, um ihnen zu helfen, daß sie dasLicht finden, welches sie nicht haben.

Aber diejenigen, welche leben ohne ihn zu kennenund ohne ihn zu suchen, halten sich selbst so wenigihrer eignen Sorge werth, daß sie fremder Sorge nichtwerth sind, und man muß alle die Liebe der Religion,die sie verachten, besitzen um sie nicht so sehr zu ver-achten, daß man sie in ihrer Thorheit verläßt. Aberweil diese Religion uns verpflichtet sie immer, solange sie in diesem Leben sind, an zu sehn als derGnade fähig, die sie erleuchten kann und zu glauben,daß sie in kurzer Zeit mehr voll Glauben sein könnenals wir es sind und daß wir umgekehrt verfallen kön-nen in die Blindheit, in der sie sich finden: so müssenwir für sie thun, was wir wünschen würden, daß man

224Pascal: Gedanken über die Religion

für uns thäte, wenn wir an ihrer Stelle wären undmüssen sie auffordern Mitleid mit sich selbst zuhaben und wenigstens einige Schritte zu thun um zuversuchen, ob sie nicht Licht finden werden. Mögensie dem Lesen dieses Buchs einige von den Stundenschenken, die sie sonst anderswo so unnütz verwen-den! Vielleicht werden sie hier etwas antreffen, oderwenigstens werden sie dabei nicht viel verlieren. Abervon denen, die eine vollkommene Aufrichtigkeit undein wahrhaftes Verlangen nach Erkenntniß der Wahr-heit dazu mitbringen, hoffe ich, daß sie hier Befriedi-gung finden sollen und daß sie von den Beweiseneiner so göttlichen Religion, die hier zusammengetra-gen sind, sollen überzeugt werden.

225Pascal: Gedanken über die Religion

Dritter Abschnitt.

Daß es schwer ist das Dasein Gottes durch dienatürlichen Geisteskräfte zu beweisen; aber daß das

Sicherste ist es zu glauben.

1.

A. Wir wollen nach der natürlichen Erkenntnißsprechen. Giebt es einen Gott, so ist er unendlich, un-begreiflich, weil er, ohne Theile und ohne Grenzen,keine Verbindung mit uns hat, wir sind also unfähigzu erkennen, weder was er ist noch ob er ist. Wenndas so ist, wer mag sich unterfangen diese Frage zuentscheiden? Wir dürfen das nicht, die wir keine Ver-bindung mit ihm haben.

2.

B. Ich werde hier nicht unternehmen durch natürli-che Vernunftgründe zu beweisen das Dasein Gottesoder die Dreieinigkeit oder die Unsterblichkeit derSeele, noch sonst etwas der Art, nicht allein weil ichmich nicht stark genug fühlen möchte in der Natur zufinden, womit ich verstockte Atheisten überzeugenkönnte, sondern auch weil diese Erkenntniß ohne

226Pascal: Gedanken über die Religion

Jesum Christum unnütz ist und unfruchtbar. Wenn einMensch überzeugt würde, daß die Zahlenverhältnisseimmaterielle ewige Wahrheiten sind, die von einer er-sten Wahrheit, in der sie bestehen und die man Gottnennt, abhangen, so fände ich ihn noch nicht sehr vor-geschritten zu seinem Heil.

3.

A. Es ist wunderbar, daß nie ein biblischer Schrift-steller sich der Natur bedient hat um Gott zu bewei-sen, alle streben dahin zu machen, daß man an ihnglaube, und nie haben sie gesagt: Es giebt keineLeere, also giebt es einen Gott. Sie mußten klügersein als die klügsten Leute, die seitdem gewesen sind,denn die haben sich doch alle dieses Beweises immerbedient.

B. Wenn das ein Zeichen der Schwäche ist Gottdurch die Natur zu beweisen, so verachtet nicht dieSchrift; und ist es ein Zeichen der Kraft diese Wider-sprüche anerkannt zu haben, so achtet darum dieSchrift.

227Pascal: Gedanken über die Religion

4.

A. Eine Einheit zum Unendlichen hinzugesetzt ver-mehrt es um nichts, ebenso wenig als ein Fuß zueinem unendlichen Maß hinzugesetzt. Das Endlicheverschwindet vor dem Unendlichen und wird ein rei-nes Nichts. So unser Geist vor Gott, so unsere Ge-rechtigkeit vor der göttlichen Gerechtigkeit. Es istnicht ein so großes Mißverhältniß zwischen der Ein-heit und dem Unendlichen als zwischen unserer Ge-rechtigkeit und der Gerechtigkeit Gottes.

5.

B. Wir wissen, daß es ein Unendliches giebt undkennen seine Natur nicht. So z.B. wir wissen: es istfalsch, daß die Zahlen endlich sind, also ist es wahr,daß es eine unendliche Zahl giebt. Aber wir wissennicht was das ist. Es ist falsch, daß sie gerade undfalsch, daß sie ungerade sei, denn, wenn man die Ein-heit hinzusetzt, verändert sie doch ihr Wesen nicht.Und dennoch ist es eine Zahl und jede Zahl ist entwe-der gerade oder ungerade; es ist wahr, daß sich dasvon allen endlichen Zahlen versteht.

Man kann also wohl erkennen, daß es einen Gottgiebt ohne zu wissen was er ist und ihr dürft nicht

228Pascal: Gedanken über die Religion

schließen: es giebt keinen Gott, deshalb weil wir nichtvöllig sein Wesen kennen.

Um euch von seinem Dasein zu überzeugen werdeich mich nicht des Glaubens bedienen, durch den wires sicher erkennen, noch alle der andern Beweise, diewir davon haben, weil ihr sie nicht annehmen wollt.Ich will mit euch nur nach euern eignen Principienverhandeln und ich hoffe durch die Art, mit welcherihr alle Tage über die unbedeutendsten Dinge urtheilt,euch anschaulich zu machen, in welcher Weise ihrüber diese Sache urtheilen sollt und welches Theil ihrergreifen sollt in der Entscheidung über diese wich-tige Frage vom Dasein Gottes. Ihr sagt also, daß wirunfähig sind zu erkennen, ob es einen Gott giebt. In-dessen es ist gewiß, daß Gott ist oder daß er nicht ist,es giebt kein Drittes. Aber nach welcher Seite werdenwir uns neigen? Die Vernunft, sagt ihr, kann abernichts entscheiden. Es ist ein unendliches Chaos, daszwischen uns liegt und wir spielen hier ein Spiel indieser unendlichen Entfernung von einander, wo Kopfoder Wappen fallen wird. Was wollt ihr wetten? Nachder Vernunft könnt ihr weder das eine noch das andrebehaupten; nach der Vernunft könnt ihr keins von bei-den leugnen. So werfet denn nicht denen Irrthum vor,die eine Wahl getroffen, denn ihr wißt nicht, ob sieUnrecht haben, und ob sie schlecht gewählt.

A. Ich werfe ihnen vor, nicht daß sie diese, sondern

229Pascal: Gedanken über die Religion

daß sie überhaupt eine Wahl getroffen haben; werKopf und wer Wappen nimmt, alle beide haben Un-recht, das Rechte ist gar nicht wetten.

B. Ja, aber es muß gewettet werden, das ist nichtfreiwillig, ihr seid einmal im Spiel und nicht wetten,daß Gott ist, heißt wetten, daß er nicht ist. Was wolltihr also wählen? Laßt uns erwägen: was euch am We-nigsten werth ist. Ihr habt zwei Dinge zu verlieren,die Wahrheit und das Glück und zwei Dinge zu ge-winnen, eure Vernunft und euern Willen, eure Er-kenntniß und eure Seligkeit, und zwei Dinge hat eureNatur zu fliehen, den Irrthum und das Elend. Wettedenn, daß er ist, ohne dich lange zu besinnen, deineVernunft wird nicht mehr verletzt, wenn du das eineals wenn du das andre wählst, weil nun doch durchausgewählt werden muß. Hiemit ist ein Punkt erledigt.Aber eure Seligkeit? Wir wollen Gewinn und Verlustabwägen, setze du aufs Glauben, wenn du gewinnst,gewinnst du alles, wenn du verlierst, verlierst dunichts. Glaube also, wenn du kannst.

A. Das ist wunderbar, ja man muß glauben, aberich wage vielleicht zu viel.

B. Wir wollen sehen. Weil gleiche Wahrscheinlich-keit des Gewinns und Verlusts ist, so könntest dunoch wetten, wenn du nur zwei Leben zu gewinnenhättest für eines. Und wären zehn zu gewinnen, sowürdest du unverständig sein nicht dein Leben ein zu

230Pascal: Gedanken über die Religion

setzen um zehn zu gewinnen in einem Spiel, wo dieWahrscheinlichkeit des Verlusts und Gewinns gleichist. Nun aber ist hier eine Unzahl von unendlichglücklichen Leben zu gewinnen mit gleicher Wahr-scheinlichkeit des Verlustes und des Gewinnes undwas du einsetzest, ist so wenig und von so kurzerDauer, daß es eine Tollheit wäre es bei dieser Gele-genheit zu sparen.

Denn das dient zu nichts, wenn man sagt: es sei un-gewiß, ob man gewinnen wird, aber gewiß, daß manwagt und der unendliche Abstand zwischen der Ge-wißheit dessen, was man wagt und der Ungewißheitdessen, was man gewinnen soll, mache das endlicheGut, welches man gewiß wagt, dem unendlichengleich, das ungewiß ist. Dem ist nicht so: jeder Spie-ler wagt mit Gewißheit um zu gewinnen mit Unge-wißheit und doch wagt er gewiß das Endliche um un-gewiß das Endliche zu gewinnen, ohne deshalb gegendie Vernunft zu sündigen. Es ist kein unendlicher Ab-stand zwischen der Gewißheit dessen, was man wagtund der Ungewißheit des Gewinns, das ist falsch. Esgiebt zwar einen unendlichen Abstand zwischen derGewißheit zu gewinnen und zwischen der Gewißheitzu verlieren. Aber die Ungewißheit des Gewinnes istim Verhältniß zur Gewißheit dessen, was man wagt,nach dem Verhältniß der Wahrscheinlichkeit von Ge-winn und Verlust und daher kommt es, daß, wenn

231Pascal: Gedanken über die Religion

eben so viel Wahrscheinlichkeit von der einen Seiteist wie von der andern, das Spiel gleich gegen gleichsteht und dann ist die Gewißheit dessen, was manwagt, der Ungewißheit des Gewinnes gleich, so wenigist jene unendlich fern von dieser. Und so ist unserSatz von unendlicher Stärke, wenn man in einemSpiel, wo es gleiche Wahrscheinlichkeit von Gewinnund Verlust giebt, nur das Endliche wagen und dasUnendliche gewinnen kann. Das ist beweisen undwenn die Menschen irgend welche Wahrheiten fassenkönnen, müssen sie diese fassen.

A. Ich gestehe es, ich gebe es zu. Aber sollte esdenn kein Mittel geben den Ausgang des Spiels vor-aus zu sehn?

B. Ja, durch das Mittel der Schrift und durch alledie andern Beweise der Religion, die unendlich sind.

A. Du wirst sagen: die, welche ihr Heil hoffen, sinddarin glücklich; aber sie haben zum Gegengewicht dieFurcht vor der Hölle.

B. Allein wer hat mehr Ursache die Hölle zu fürch-ten, derjenige, welcher in der Ungewißheit ist, ob eseine Hölle giebt und in der Gewißheit der Verdamm-niß, wenn es eine giebt, oder derjenige, welche in derfesten Ueberzeugung lebt, daß es eine Hölle giebt undin der Hoffnung erlöst zu werden, wenn sie ist?

Wer nicht mehr als acht Tage zu leben hätte undnicht urtheilte das sicherste Theil wäre zu glauben,

232Pascal: Gedanken über die Religion

daß alles das nicht ein bloßer Glückwurf ist, dermüßte gänzlich den Verstand verloren haben. Nunwenn die Leidenschaften uns nicht fesselten, achtTage und hundert Jahre sind gleichviel.

Was wird dir Uebeles widerfahren, wenn du diesTheil ergreifst? Du wirst treu sein, rechtschaffen, de-müthig, dankbar, wohlthätig, aufrichtig, wahrhaftig.Freilich wirst du nicht in den verpesteten Freudenleben, in der Ehre, in den Wollüsten. Aber wirst dunicht andre Freuden haben? Ich sage dir: du wirst ge-winnen, noch in diesem Leben und mit jedem Schritt,den du auf diesem Wege machst, wirst du so viel Ge-wißheit des Gewinnens sehn und so viel Nichtigkeitin dem, was du wagst, daß du am Ende erkennenwirst, wie du gewettet hast auf ein gewisses und un-endliches Ding und wie du nichts gegeben hast um eszu erlangen.

A. Ja, aber meine Hände sind gebunden und meinMund ist stumm, man zwingt mich zu wetten und ichbin nicht in Freiheit; man läßt mich nicht loß. Ich binnun so, daß ich nicht glauben kann. Was willst du?Was soll ich thun?

B. Lerne wenigstens, daß du unvermögend bist zuglauben, weil die Vernunft dich dazu treibt und du esdoch nicht kannst. Arbeite denn dich zu überzeugennicht durch Häufung der Beweise von Gott, sonderndurch Verminderung deiner Leidenschaften. Du willst

233Pascal: Gedanken über die Religion

nach dem Glauben gehn und weißt nicht den Wegdahin; du willst dich heilen von dem Unglauben undfragst nicht nach den Heilmitteln dazu. Lerne sie vondenen, die gewesen sind wie du und die gegenwärtigkeinen Zweifel haben. Sie wissen den Weg, den dunehmen möchtest und sie sind geheilt von einemUebel, von dem du willst geheilt werden. Frage an,wie sie angefangen haben, ahme ihre äußerlichenHandlungen nach, wenn du noch nicht in ihre innernZustände ein zu geben vermagst, gieb auf jene eitelnVergnügungen, die dich völlig beschäftigen.

Ich würde diese Freuden bald aufgeben, sagst du,wenn ich den Glauben hätte. Und ich sage dir, duwürdest bald den Glauben haben, hättest du nur erstdiese Freuden aufgegeben. Nun es ist an dir an zu fan-gen. Wenn ich könnte, würde ich dir den Glaubengeben, ich kann es nicht und kann folglich auch nichtdie Wahrheit von dem, was du sagst, versuchen; aberdu kannst ganz gut diese Freuden aufgeben und versu-chen, ob das, was ich sage, wahr ist.

A. Dieses Wort entzückt mich, reißt mich hin.B. Gefällt dir dieses Wort und scheint es dir stark,

so wisse, es wird gesprochen von einem Manne, dersich vorher und nachher auf die Knie geworfen hat,um das unendliche und untheilbare Wesen, dem er alldas Seine unterwirft, an zu flehen, daß er sich auchdas Deine unterwerfe zu deinem eignen Glück und zu

234Pascal: Gedanken über die Religion

seiner Ehre und so stimmt die Stärke mit dieser Er-niedrigung zusammen.

6.

Man muß sich nicht verkennen, wir sind eben soviel Leib als Geist und daher kommt es, daß das Mit-tel, durch welches die Ueberzeugung sich bildet, nichteinzig die Beweisführung ist. Wie giebt es doch sowenig bewiesene Dinge! Die Beweise überzeugen nurden Geist. Die Gewohnheit schafft unsere stärkstenBeweise. Sie neigt die Sinne, welche den Geist mit-ziehn, ohne daß er es denkt. Wer hat bewiesen, daßmorgen auch ein Tag sein wird und daß wir sterbenwerden? und doch, was wird allgemeiner geglaubt?Also die Gewohnheit überzeugt uns davon, sie ists,die so viel Türken und Heiden macht, sie ists die dieHandwerker macht, die Soldaten u.s.w. Freilich mußman nicht mit ihr anfangen um die Wahrheit zu fin-den; aber man muß zu ihr die Zuflucht nehmen, wennder Geist ein Mal gesehn hat, wo die Wahrheit ist,damit sie uns erfrische und stärke mit jenem Glauben,der uns jede Stunde entschwindet, denn die Beweisefür denselben immer gegenwärtig zu haben ist zu vielverlangt. Man muß sich einen geläufigern Glaubenverschaffen, das ist der Glauben der Gewohnheit, dieohne Heftigkeit, ohne Kunst, ohne Beweis uns die

235Pascal: Gedanken über die Religion

Dinge glauben macht und alle unsere Kräfte zu die-sem Glauben hinneigt, so daß unsere Seele von selbsthineingeräth. Das ist nicht genug nur durch die Kraftder Beweisführung zu glauben, wenn die Sinne unsdrängen, das Gegentheil zu glauben. Wir müssen alsounsere beiden Theile gleichen Schritt halten lassen,den Geist durch die Gründe, die ein Mal im Leben er-kannt zu haben genügt, und die Sinne durch die Ge-wohnheit und zwar indem man ihnen nicht erlaubtsich nach der entgegengesetzten Seite zu neigen.

236Pascal: Gedanken über die Religion

Vierter Abschnitt.

Kennzeichen der wahren Religion.

1.

Die wahre Religion muß zum Kennzeichen haben,daß sie verpflichtet, Gott zu lieben. Das ist sehr rich-tig und doch hat keine als die unsere es geboten. Siemuß ferner erkannt haben die Begierde des Menschenund sein Unvermögen aus sich selbst die Tugend zuerwerben. Sie muß dazu die Mittel herbeigeschaffthaben, unter denen das Gebet das vorzügliche ist.Unsre Religion hat alles das gethan und keine andrehat jemals von Gott begehrt ihn zu lieben und ihm zudienen.

2.

Soll eine Religion wahr sein, so muß sie unsereNatur erkannt haben. Denn die wahre Natur des Men-schen, sein wahres Glück, die wahre Tugend und diewahre Religion sind Dinge, deren Erkenntniß un-trennbar ist. Sie muß erkannt haben die Größe und dieNiedrigkeit des Menschen und den Grund der einenwie der andern. Welche andere Religion als die

237Pascal: Gedanken über die Religion

christliche hat dies Alles erkannt?

3.

Die andern Religionen z.B. die heidnischen sindviel mehr fürs Volk, denn sie bestehen alle in Aeußer-lichkeiten, aber sie sind nicht für die Gebildeten. Einerein geistige Religion würde mehr für die Gebildetengeeignet sein, aber sie würde nicht dem Volke nützen.Die christliche Religion allein ist für alle geeignet, dasie gemischt ist aus Aeußerlichem und Innerlichem.Sie erhebt das Volk zum Innerlichen und erniedrigtdie Stolzen zum Aeußerlichen und ist nicht vollkom-men ohne beides. Denn das Volk muß den Geist desBuchstabens vernehmen und die Gebildeten müssenihren Geist dem Buchstaben unterwerfen und ausübenwas äußerlich ist.

4.

Wir sind hassenswerth, davon überzeugt uns dieVernunft. Aber keine andre Religion als die christli-che lehrt sich zu hassen. Keine andre Religion kannalso angenommen werden von denen, die wissen, daßsie nichts als Haß verdienen. Keine andre Religionals die christliche hat erkannt, daß der Mensch das

238Pascal: Gedanken über die Religion

herrlichste Geschöpf ist und zugleich das elendste.Die Einen haben gut erkannt die Realität seiner Herr-lichkeit und haben die Gefühle der Niedrigkeit, wel-che der Mensch von Natur aus sich selbst hat, alsFeigheit und Undank angesehn und die andern habengut erkannt, wie sehr diese Niedrigkeit wirklich istund haben diese Gefühle von Größe, die dem Men-schen so natürlich sind, als einen lächerlichen Stolzbehandelt. Keine Religion als die unsere hat gelehrt,daß der Mensch in Sünde geboren wird. Keine Parteiunter den Philosophen hat es gesagt. Keine hat alsowahr geredet.

5.

Da Gott verborgen ist, so ist jede Religion, dienicht sagt, daß Gott verborgen ist, nicht die wahreund jede Religion, die nicht den Grund davon angiebt,ist nicht belehrend, die unsere thut das alles. DieseReligion, die darin besteht zu glauben, daß derMensch von einem Stande der Ehre und der Gemein-schaft mit Gott herabgefallen ist zu einem Stande derTraurigkeit, Buße und Entfernung von Gott, aber daßer endlich wieder hergestellt werden wird durch einenMessias, der kommen soll, ist immer auf der Erde ge-wesen. Alle Dinge sind vorüber gegangen, aber sie,für die alle Dinge sind, ist bestehn geblieben. Denn

239Pascal: Gedanken über die Religion

Gott wollte sich ein heiliges Volk bilden, das er vonallen andern Nationen absondern, von seinen Feindenbefreien und an einen Ort der Ruhe versetzen wollte,er hat verheißen es zu thun und dazu in die Welt zukommen und hat durch seine Propheten die Zeit unddie Art seiner Zukunft vorausgesagt. Und doch um dieHoffnung seiner Erwählten in allen Zeiten fest zu ma-chen hat er ihnen immer davon Bilder und Vorbilderzu schauen gegeben und hat sie nie ohne Versicherun-gen seiner Macht und seines Rathschlusses zu ihremHeil gelassen. Denn bei der Schöpfung des Menschenwar Adam der Zeuge und Empfänger der Verheißungdes Heilands, der vom Weibe geboren werden sollte.Und obgleich die Menschen, noch so nahe an derSchöpfung, nicht vergessen haben konnten ihreSchöpfung und ihren Fall und die Verheißung einesErlösers, die Gott ihnen gegeben, dennoch da sie indiesem ersten Alter der Welt sich zu allen Arten vonSünden hinreißen ließen, gab es doch unter ihnen Hei-lige wie Henoch, Lamech u. a. die in Geduld erwarte-ten den Christum, der von Anbeginn der Welt verhei-ßen war. Darnach hat Gott Noah gesandt, welcher dieBosheit der Menschen aufs Höchste gestiegen sah undhat ihn errettet, indem er die ganze Erde über-schwemmte, durch ein Wunder, das genugsam bewiessowohl die Macht, die er hatte die Welt zu retten, alsauch den Willen, den er hatte es zu thun und vom

240Pascal: Gedanken über die Religion

Weibe geboren werden zu lassen den, welchen er ver-heißen. Dies Wunder genügte um die Hoffnung derMenschen fest zu machen und da noch das Andenkendaran ganz frisch unter ihnen war, that Gott demAbraham, der ganz von Götzendienern umringt war,Verheißungen und ließ ihn erkennen das Geheimnißdes Messias, den er senden wollte. Zur Zeit von Isaakund Jakob hatte der Greuel sich über die ganze Erdeverbreitet, aber diese Heiligen lebten im Glauben undJakob, da er starb und seine Kinder segnete, rief ineiner Verzückung, die seine Rede unterbrach: Ichwarte, o mein Gott, auf den Heiland, den du verheißenhast. Herr, ich warte auf dein Heil. (1. Mose 49. 18.)

Die Aegypter waren durch Götzendienst und durchZauberei verunreinigt; das Volk Gottes selbst wurdemitgerissen von ihrem Beispiel. Aber Moses undandre sahen doch den, den sie nicht sahen und bete-ten ihn an, bedenkend die ewigen Güter, die er ihnenbereitete.

Die Griechen und die Römer verbreiteten darnachdie Herrschaft der falschen Gottheiten; die Dichterhaben verschiedene Götterlehren gemacht; die Philo-sophen haben sich in tausend verschiedene Parteiengetheilt und doch gab es immer im Herzen von Judäaauserwählte Menschen, welche die Zukunft jenesMessias vorher sagten, der nur von ihnen gekanntwar.

241Pascal: Gedanken über die Religion

Er ist endlich gekommen in der Erfüllung der Zei-ten und seitdem hat man so viel Kirchentrennungenund Ketzereien entstehen sehn, so viel Staatsumwäl-zungen, so viel Veränderungen in allen Dingen, aberdiese Kirche, die den anbetet, der immer angebetetworden ist, hat bestanden ohne Unterbrechung. Unswas bewunderswerth ist, unvergleichlich und ganzgöttlich, das ist, daß diese Religion, die immer be-standen hat, immer bekämpft worden ist. TausendMal ist sie einer allgemeinen Zerstörung ganz nahegewesen und alle Mal, wenn sie in diesem Zustandwar, hat Gott sie wieder erhoben durch außergewöhn-liches Hineingreifen seiner Macht, das ist zum Erstau-nen und um so mehr, da sie sich behauptet hat ohnesich zu beugen und zu schmiegen unter den Willender Tyrannen.

6.

Die Staaten würden untergehn, wenn man nicht oftdie Gesetze sich nach der Nothwendigkeit schmiegenließe. Aber nie hat die Religion das gelitten und nieso verfahren. Auch braucht man entweder diese Anbe-quemungen oder Wunder. Es ist nichts Besonders,daß man sich erhält, wenn man sich schmiegt und dasheißt eigentlich nicht sich behaupten. Und doch gehendie Staaten zuletzt auch noch ganz unter, es giebt

242Pascal: Gedanken über die Religion

keinen, der funfzehn Jahrhunderte gedauert hätte.Aber daß diese Religion sich immer behauptet hatund zwar unbeugsam, das ist göttlich.

7.

Es wäre zu viel Finsterniß, wenn die Wahrheitnicht sichtbare Kennzeichen hätte. Das ist nun ein be-wundernswürdiges Kennzeichen, daß sie sich immererhalten hat in einer Kirche und einer sichtbaren Ge-meinschaft. Es wäre zu viel Helligkeit, wenn es nureine Meinung in dieser Kirche gäbe, aber um zu er-kennen, welches das Wahre ist, braucht man nur zusehn was immer darin gewesen ist; denn es ist gewiß,daß das Wahre immer und nie das Falsche darin Be-stand gehabt hat. So ist immer an den Messias ge-glaubt worden. Die Ueberlieferung von Adam warnoch neu in Noah und in Mose. Die Propheten habenihn voraus verkündigt, indem sie immer auch nochandre Dinge voraus sagten, deren Ausgang von Zeitzu Zeit vor den Augen der Menschen sich ereignend,die Wahrheit ihrer Sendung bewies und folglich auchdie Wahrheit ihrer Verheißungen in Betreff des Mes-sias. Sie haben alle gesagt: das Gesetz, welches siehatten, wäre nur einstweilen gegeben bis auf das Ge-setz des Messias, bis dahin wäre es in Kraft, aber dasandre würde ewig dauern und so würde ihr Gesetz

243Pascal: Gedanken über die Religion

oder das des Messias, von dem es die Verheißungwar, immer auf der Erde sein. Wahrlich es hat immergedauert und Jesus Christus ist unter allen den vorausgesagten Umständen gekommen. Er hat Wunder ge-than und so auch die Apostel, welche die Heiden be-kehrt haben und da die Prophezeiungen dadurch er-füllt worden sind, ist der Messias für immer bewährt.

8.

Ich sehe mehre Religionen, einander entgegen ge-setzt und folglich alle falsch, ausgenommen eine. Jedefordert Glauben auf ihre eigne Autorität und drohetden Ungläubigen. Ich glaube ihnen darin doch nicht,jeder kann das sagen, jeder kann sich einen Prophetennennen. Aber ich sehe die christliche Religion undfinde in ihr erfüllte Weissagungen und eine Anzahlvon Wundern so wohl beglaubigt, daß man vernünfti-ger Weise nicht daran zweifeln kann und das finde ichnicht in den andern.

244Pascal: Gedanken über die Religion

9.

Die Religion allein, die wider die Natur in ihremgegenwärtigen Zustande ist, die alle unsre Freudenbekämpft und die auf den ersten Anblick gegen dengemeinen Menschenverstand zu sein scheint, ist dieeinzige, die immer gewesen ist.

10.

Die ganze Einrichtung der Dinge muß zum Zweckhaben die Befestigung und die Größe der Religion,die Menschen müssen in sich Gesinnungen haben,welche dem, was sie uns lehrt, gemäß sind, genug, siemuß so sehr der Gegenstand und der Mittelpunkt sein,zu dem alle Dinge hinstreben, daß wer ihre Principienversteht, im Stande sein muß Auskunft zu geben überdie ganze Natur des Menschen im Besondern undüber die ganze Einrichtung der Welt im Allgemeinen.

Von diesem Punkt aus nehmen die Gottlosen Anlaßdie christliche Religion zu läßtern, weil sie sieschlecht kennen. Sie bilden sich ein, daß sie einfachallein in der Anbetung eines Gottes bestehe, der alsgroß, mächtig und ewig verehrt wird. Das ist eigent-lich der Deismus, der fast eben so entfernt ist von derchristlichen Religion als der Atheismus, der ihr

245Pascal: Gedanken über die Religion

gänzlich entgegen sieht. Und daraus schließen sie,daß diese Religion nicht wahr sei, weil, wenn sie eswäre, Gott sich den Menschen durch so fühlbare Er-weisungen offenbaren müßte, daß unmöglich jemandihn verkennen könnte.

Aber mögen sie daraus schließen was sie wollengegen den Deismus, sie werden nichts daraus schlie-ßen gegen die christliche Religion, welche erkennt,daß seit dem Sündenfall Gott sich den Menschendurchaus nicht mehr so augenscheinlich zeigt, wie eres thun könnte und welche eigens besteht in dem Ge-heimniß des Erlösers, der in sich die zwei Naturen,göttliche und menschliche, vereinigend die Menschenvon dem Verderben der Sünde zurück gezogen hat umsie wieder mit Gott zu versöhnen in seiner göttlichenPerson.

Sie lehrt also die Menschen diese zwei Wahrheiten,daß es einen Gott giebt, den sie fassen können unddaß es ein Verderben in der Natur giebt, das sie seinerunwürdig macht. Es ist für den Menschen gleichwichtig sowohl das eine wie das andere dieser bei-den Stücke zu kennen und es ist ihm gleich gefährlich,Gott zu kennen ohne sein Elend und sein Elend zukennen ohne den Erlöser, der ihn davon heilen kann.Eine von diesen Kenntnissen allein macht entwederder Hochmuth der Philosophen, die Gott gekannthaben und nicht ihr Elend oder die Verzweiflung der

246Pascal: Gedanken über die Religion

Atheisten, die ihr Elend kennen ohne Erlöser. Undalso wie es gleiche Nothwendigkeit für den Men-schen ist diese beiden Stücke zu kennen, so ist esgleiche Barmherzigkeit Gottes, daß er sie uns erken-nen ließ. Das thut die christliche Religion, geradedarin besteht sie. Man untersuche die Ordnung derWelt in dieser Hinsicht und sehe, ob nicht alle Dingedarauf hingehen die beiden Hauptstücke dieser Reli-gion fest zu stellen.

11.

Sieht man nicht, daß man voll ist von Stolz, Hoch-muth, Begierde, Schwäche, Elend, Ungerechtigkeit,so ist man sehr blind. Und wenn man es erkennt undnicht wünscht davon befreit zu werden, was soll manvon einem unvernünftigen Menschen sagen? Wiekann man denn anders als Achtung haben vor einerReligion, die so gut die Fehler des Menschen kennt,wie anders als Verlangen nach der Wahrheit einer Re-ligion, die dafür so wünschenswerthe Heilmittel ver-spricht?

247Pascal: Gedanken über die Religion

12.

Es ist unmöglich alle Beweise für die christlicheReligion zusammen auf ein Mal ins Auge zu fassenohne ihre Stärke zu empfinden, welcher kein vernünf-tiger Mensch widerstehen kann.

Man betrachte ihre Gründung; daß eine Religion,so gegen die Natur, sich gegründet hat durch sichselbst, so sanft, ohne alle Gewalt noch Zwang unddennoch so stark, daß keine Qualen die Märtyrer ver-hindern konnten sie zu bekennen und daß alles dassich gemacht hat nicht bloß ohne den Beistand irgendeines Fürsten, sondern trotz allen Fürsten der Erde,die sie bekämpft haben.

Man betrachte die Heiligkeit, die Erhabenheit unddie Demuth eines christlichen Gemüths. Die heidni-schen Philosophen haben sich bisweilen über die üb-rigen Menschen erhoben durch eine mehr geregelteArt zu leben und durch Gesinnungen, die einigeUebereinstimmung mit denen des Christenthums hat-ten. Aber sie haben nie als Tugend erkannt was dieChristen Demuth nennen und sie würden sie sogar fürunverträglich mit den andern Tugenden, zu denen siesich bekannten, gehalten haben. Nur die christlicheReligion hat gewußt Dinge zu vereinigen, die bisdahin so entgegengesetzt erschienen; nur sie hat die

248Pascal: Gedanken über die Religion

Menschen gelehrt, daß die Demuth weit davon ent-fernt ist, mit den andern Tugenden unverträglich zusein, daß vielmehr ohne sie alle andre Tugendennichts als Laster und Fehler sind.

Man betrachte die wunderbaren Herrlichkeiten derheiligen Schrift, die unzählig sind, die Größe und diemehr als menschliche Erhabenheit der Dinge, die sieenthält und die bewundernswürdige Einfachheit ihrerSprache, die nichts Geziertes, nichts Gesuchtes hatund einen Charakter der Wahrheit an sich trägt, denman nicht ableugnen kann.

Man betrachte die Person Christi im Besondern.Welche Meinung man auch von ihm habe, man kannnicht in Abrede stellen, daß er einen sehr großen undsehr hohen Geist besaß, von welchem er schon in sei-ner Kindheit Beweise gegeben hatte vor den Schrift-gelehrten und doch, statt nun sorgfältig seine Fähig-keiten durch Studium und Umgang mit den Gelehrtenaus zu bilden, bringt er dreißig Jahre seines Lebensmit Händearbeit und in einer gänzlichen Zurückgezo-genheit von der Welt zu und während der drei Jahreseines Predigtamts beruft er zu seinen Gefährten undwählt zu seinen Aposteln Menschen ohne Wissen-schaft, ohne gelehrte Bildung, ohne Ansehn undmacht sich zu Feinden diejenigen, welche für die ge-lehrtesten und weisesten seiner Zeit galten. Das ist einwunderliches Benehmen für einen Mann, der die

249Pascal: Gedanken über die Religion

Absicht hat eine neue Religion zu stiften.Man betrachte im Besondern diese Apostel, die

Jesus gewählt hat, diese Leute ohne Wissenschaft,ohne Gelehrsamkeit und die mit einem Mal sich ge-lehrt genug finden um die klügsten Philosophen zuschlagen und stark genug um den Königen und Tyran-nen zu widerstehen, die sich der Gründung der vonihnen verkündigten christlichen Religion entgegen-setzten.

Man betrachte diese herrliche Reihe von Propheten,die sich einander zweitausend Jahre lang gefolgt sind,und die in so vielfach verschiedener Weise alles vor-aus gesagt haben bis auf die geringsten Umständevom Leben Jesu Christi, von seinem Tode, von seinerAuferstehung, von der Sendung der Apostel, von derPredigt des Evangelii, von der Bekehrung der Völker,und von mehren andern Dingen in Betreff der Grün-dung des Christenthums und Abschaffung des Judais-mus.

Man betrachte die bewunderungswürdige Erfüllungdieser Prophezeiungen, die so vollkommen mit derPerson Jesu Christi zusammentreffen, daß es unmög-lich ist ihn nicht zu erkennen, wenn man sich nichtselbst blind machen will.

Man betrachte den Zustand der Jüdischen Nationvor und nach der Erscheinung Jesu, ihren blühendenZustand vor der Erscheinung des Heilandes und ihren

250Pascal: Gedanken über die Religion

Zustand voll Elend, seitdem sie ihn verworfen haben;denn sie sind noch heute ohne irgend ein äußerlichesKennzeichen von Religion, ohne Tempel, ohne Opfer,zerstreut über die ganze Erde, verachtet und zurück-gewiesen von allen Völkern.

Man betrachte die beständige Dauer der christli-chen Religion, die immer da gewesen ist seit Anbe-ginn der Welt, sowohl in den Heiligen des alten Te-staments, die in der Erwartung Jesu Christi lebten vorseiner Erscheinung, als auch in denen, die ihn ange-nommen und an ihn geglaubt haben seit seiner Er-scheinung, wogegen keine andere Religion die bestän-dige Dauer hat, die das Hauptkennzeichen der wahrenReligion ist.

Endlich betrachte man die Heiligkeit dieser Religi-on, ihre Lehre, die Grund giebt von allem selbst vonden Widersprüchen im Menschen und alle die andernungewöhnlichen, übernatürlichen und göttlichenDinge, die darin von allen Seiten hervorstralen.

Und nach alle dem urtheile man, ob es möglich seizu zweifeln, daß die christliche Religion die einzigewahre ist, und ob je eine andere etwas gehabt hat, wasihr nahe käme.

251Pascal: Gedanken über die Religion

Fünfter Abschnitt.

Die wahre Religion bewiesen durch dieWidersprüche im Menschen und durch die

Erbsünde.

1.

Die Größe und das Elend des Menschen ist sosichtlich, daß nothwendig die wahre Religion uns leh-ren muß: wie in ihm ein großer Keim von Größe undzu gleicher Zeit ein großer Keim von Elend liegt.Denn die wahre Religion muß unsere Natur bis aufden Grund kennen d.h. sie muß kennen alles, was sieGroßes hat und was sie Elendes hat und den Grundvon dem einen wie von dem andern. Sie muß ferneruns Auskunft geben über die erstaunlichen Wider-sprüche, die hier vorkommen. Giebt es einen einzigenUrgrund von Allem, ein einziges Ende von Allem, somuß die wahre Religion uns lehren nur dies an zubeten und zu lieben. Aber da wir uns unvermögendfinden an zu beten was wir nicht kennen und was an-ders als uns zu lieben, so muß die Religion, welcheuns über diese Pflichten belehrt, uns auch über diesesUnvermögen belehren und uns die Heilmittel dawidergeben.

252Pascal: Gedanken über die Religion

Sie muß, um den Menschen glücklich zu machen,ihm zeigen, daß ein Gott ist, daß man verpflichtet istihn zu lieben, daß unsere wahre Glückseligkeit darinbesteht ihm an zu gehören und unser einziges Un-glück darin von ihm getrennt zu sein. Sie muß unslehren, daß wir voll Finsterniß sind, die uns verhin-dert ihn zu kennen und zu lieben und daß wir also,indem unsre Pflichten uns verbinden Gott zu liebenund unsre böse Lust uns davon abwendet, voll Unge-rechtigkeit sind. Sie muß uns Auskunft geben überden Widerstand, den wir gegen Gott und gegen unsereignes Wohl ausüben. Sie muß uns die Heilmittel leh-ren und die Wege diese Heilmittel zu erlangen. Manprüfe in dieser Hinsicht alle Religionen der Welt undsehe, ob es eine außer der christlichen giebt, die hieringenüge.

Sollte es etwa die sein, welche die Philosophenlehrten, die uns als einziges Glück ein Glück aufstel-len, das in uns ist? Ist das das wahre Glück? Habensie das Heilmittel gefunden für unsre Uebel? Heißtdas den Hochmuth des Menschen heilen, wenn manihn Gott gleich stellt? Und wiederum die, welche unsden Thieren gleichstellen und uns die Freuden derErde als einziges Glück bezeichneten, haben sie dasHeilmittel geschaffen für unsre Begierden? Erhebedeine Augen zu Gott, sagen die einen, da ist der, demdu gleichst und der dich gemacht hat um ihn an zu

253Pascal: Gedanken über die Religion

beten, du kannst dich ihm ähnlich machen, die Weis-heit wird dich ihm gleichstellen, wenn du ihr folgenwillst. Die andern sagen: Schlage deine Augen zurErde nieder, armseliger Wurm, der du bist und siehedie Thiere an, du bist ihres Gleichen.

Was wird denn aus dem Menschen? Wird er gleichsein Gott oder den Thieren? Welcher entsetzliche Ab-stand! Was wird dann aus uns? Welche Religion wirduns lehren den Hochmuth heilen und die Begierde?Welche Religion wird uns lehren unser Glück, unsrePflichten, die Schwächen, die uns davon abwenden,die Heilmittel, die sie heilen können, und den Wegdiese Mittel zu erlangen? Wir wollen hören, was unshierüber die Weisheit Gottes sagt, die in der christli-chen Religion zu uns spricht.

Umsonst, o Mensch, suchst du in dir selbst dasHeilmittel für dein Elend. Alle deine Geisteskräftekönnen nicht weiter kommen als bis zu der Erkennt-niß, daß du nicht in dir die Wahrheit und das Glückfinden wirst. Die Philosophen haben es dir verspro-chen, sie haben es aber nicht leisten können. Sie wis-sen weder, welches dein wahres Glück noch welcherdein wahrer Zustand ist. Wie hätten sie Heilmittel fürdeine Leiden geben sollen, da sie sie nicht ein Mal er-kannt haben? Deine hauptsächlichen Krankheiten sindder Hochmuth, der dich Gott entzieht und die Begier-de, die dich an die Erde heftet und sie haben nichts

254Pascal: Gedanken über die Religion

weiter gethan als zum wenigsten eine von diesenKrankheiten unterhalten. Haben sie dir Gott zum Ge-genstand der Betrachtung gegeben, so ist das nur ge-wesen um den Hochmuth zu üben. Sie machten dichglauben, daß du ihm durch deine Natur ähnlich seist.Und diejenigen, welche die Eitelkeit dieser Anma-ßung einsahn, haben dich in den andern Abgrund ge-stürzt, indem sie dir zeigten, daß deine Natur derNatur der Thiere gleich sei und haben dich dazu ge-bracht dein Glück in den Begierden zu suchen, welchedas Theil der Thiere sind. Das ist nicht der Weg dichüber deine Ungerechtigkeiten zu belehren. Erwartealso von den Menschen weder Wahrheit noch Trost.Ich bins, die dich geschaffen hat und die allein dichlehren kann, wer du bist. Du bist jetzt nicht mehr indem Stande, in welchem ich dich geschaffen habe. Ichschuf den Menschen heilig, unschuldig, vollkommen.Ich erfüllte ihn mit Licht und Vernunft. Ich offenbarteihm meine Ehre und meine Wunder. Das Auge desMenschen sah dazumal die Herrlichkeit Gottes. Erwar nicht in der Finsterniß, die ihn blind macht, nochhatte er die Sterblichkeit und das Elend, die ihn quä-len. Aber er hat so viel Ehre nicht tragen können ohnein Uebermuth zu fallen. Er wollte sich zum Mittel-punkt von sich selbst machen und unabhängig seinvon meiner Hilfe. Er entzog sich meiner Herschaftund da er sich mir gleichstellte aus Verlangen seine

255Pascal: Gedanken über die Religion

Glückseligkeit in sich selbst zu finden, da habe ichihn sich selbst überlassen und habe alle Geschöpfe,die ihm unterworfen waren, aufgereizt und ihm zuFeinden gemacht, so daß jetzt der Mensch den Thie-ren ähnlich geworden ist und in einer solchen Entfer-nung von mir steht, daß ihm kaum noch ein ungewis-ser Schimmer von seinem Urheber bleibt; so viel vonseinen Erkenntnissen sind ausgelöscht und getrübtworden! Die Sinne, unabhängig von der Vernunft undoft Herren der Vernunft, haben ihn mitgerissen denFreuden nach zu jagen. Alle Geschöpfe plagen oderversuchen ihn und herschen über ihn, indem sie ihnentweder unterwerfen durch ihre Stärke und ihn be-drücken durch ihre Reize, was eine noch schreckli-chere und noch gebieterischere Herschaft ist.

Das ist der Zustand, in welchem die Menschen jetztsind. Ihnen bleibt ein mächtiger Trieb nach Glück vonihrer ersten Natur und sie sind versunken im Elendihrer Blindheit und ihrer Begierde, das ihre zweiteNatur geworden ist.

256Pascal: Gedanken über die Religion

2.

Aus diesen Principien, die ich dir hier darlege,kannst du erkennen die Ursache von so vielen Wider-sprüchen, die alle Menschen in Erstaunen gesetzt undsie in Parteien getheilt haben. Beobachte nun alle dieEmpfindungen von Größe und Ehre, welche das Ge-fühl von so viel Elend nicht ersticken kann und siehe:ob nicht die Ursache davon eine andre Natur seinmuß.

3.

Erkenne also, Hochmüthiger, welch ein Räthsel dudir selber bist! Demüthige dich, du ohnmächtige Ver-nunft, schweige, du gebrechliche Natur, wisse, daßder Mensch unendlich den Menschen übersteigt undlerne von deinem Herrn deinen wahren Stand, den dunicht kennst.

Denn genug, wäre der Mensch nie verderbt worden,so würde er der Wahrheit und der Glückseligkeit mitSicherheit genießen. Und wäre der Mensch nie andersals verderbt gewesen, so würde er keinen Begriffhaben weder von der Wahrheit noch von der Selig-keit. Aber unglücklich wie wir sind und unglücklicherals wenn es nichts Großes in unserm Wesen gäbe,

257Pascal: Gedanken über die Religion

haben wir eine Vorstellung vom Glück und könnennicht dahin gelangen, wir empfinden einen Schimmervon Wahrheit und besitzen nur die Lüge, gleich unfä-hig nicht zu wissen und zuverlässig zu wissen, so sehrist es offenbar, daß wir auf einer Stufe von Vollkom-menheit gewesen sind, von der wir unglücklich herab-fallen.

Was predigt uns denn dies heiße Verlangen unddieses Unvermögen, was anders als, daß es einstmalsim Menschen ein wahres Glück gab, von welchemihm jetzt nichts übrig ist als die Erinnerung und dieganz leere Spur, die er vergebens mit allem, was ihnumgiebt, aus zu füllen unternimmt, indem er in denDingen, die nicht da sind, die Hilfe sucht, welche ervon den gegenwärtigen nicht erhält und welche wederdie einen noch die andern im Stande sind ihm zugeben, weil dieser unendliche Abgrund nur ausgefülltwerden kann durch einen unendlichen und unverän-derlichen Gegenstand?

4.

Und doch ist es zum Erstaunen, daß das Geheim-niß, welches unsrer Erkenntniß am Fernsten liegt,nämlich das Geheimniß von der Fortpflanzung derErbsünde, eine Sache ist, ohne die wir keine Erkennt-niß unser selbst haben können! Denn ohne Zweifel ist

258Pascal: Gedanken über die Religion

nichts so sehr unsrer Vernunft anstößig, als wenn mansagt, daß die Sünde des ersten Menschen strafbar ge-macht habe diejenigen, die, so weit ab von jenem Ur-sprung, unfähig scheinen daran Theil zu nehmen.Diese Fortpflanzung scheint uns nicht allein unmög-lich, sie scheint uns sogar sehr ungerecht. Denn waskann mehr den Gesetzen unsrer erbärmlichen Gerech-tigkeit zuwider sein als ewig ein des Wollens unfähi-ges Kind zu verdammen um einer Sünde willen, ander es so wenig Theil zu haben scheint, da sie began-gen ist sechstausend Jahre, bevor es da war? Gewiß,nichts berührt uns unsanfter als diese Lehre. Unddoch ohne dieses Geheimniß, das unbegreiflichste vonallen, sind wir uns selbst unbegreiflich. Der Knotenunsers Wesens schürzt sich hin und her in diesem Ab-grund; so daß der Mensch ohne dieses Geheimniß vielunbegreiflicher wird als dieses Geheimniß selbst ihmunbegreiflich ist.

Die Erbsünde ist eine Thorheit vor den Menschen,aber man giebt sie nicht dafür aus. Man darf dahernicht den Mangel der Vernunft in dieser Lehre zumVorwurf machen, weil man ja nicht behauptet, daß dieVernunft sie erreichen könne. Aber diese Thorheit istviel weiser als alle Weisheit der Menschen; denn diegöttliche Thorheit ist weiser denn die Menschen sind(1. Cor. 1. 25.). Denn ohne diese Lehre, was sollman sagen, daß der Mensch sei? Sein ganzer Zustand

259Pascal: Gedanken über die Religion

hängt von diesem Punkte ab, der unbegreiflich ist.Und wie sollte er dessen gewahr sein durch seine Ver-nunft, da es eine Sache ist, die über seine Vernunfthinausgeht, und da seine Vernunft, weit entfernt esdurch ihre Mittel zu erdenken, sich noch davon ent-fernt, wenn man es ihr darbietet?

5.

Da diese beiden Stände der Umstände der Un-schuld und der Verderbtheit und offen vorliegen, soist es unmöglich, daß wir sie nicht erkennen sollten.Laßt uns die Bewegungen unsers Herzens verfolgen,und selbst beobachten und sehen: ob wir da nicht dielebendigen Züge dieser beiden Naturen finden wer-den. So viel Widersprüche, sollten die sich in einemeinfachen Wesen vorfinden?

Diese Doppelwesen des Menschen ist so sichtlich,daß schon einige geglaubt haben: wir hätten zweiSeelen; ein einfaches Wesen schien ihnen unfähig sogroßer und so plötzlicher Verschiedenheiten, einerschrankenlosen Anmaßung bei einem erschrecklichenKleinmuth des Herzens.

So sind denn eben alle die Widersprüche, welchedie Menschen, wie es schien, am Weitesten von derErkenntniß einer Religion entfernen sollten, sie sindes, was sie vielmehr zur wahren Religion führen muß.

260Pascal: Gedanken über die Religion

Ich für meinen Theil bekenne: sobald die christli-che Religion dieses Princip enthüllt, daß die Naturder Menschen verdorben und von Gott abgefallen ist,so öffnet das die Augen überall das Merkzeichen die-ser Wahrheit zu sehn. Denn die Natur ist so beschaf-fen, daß sie überall einen verlorenen Gott anzeigt so-wohl im Menschen als außer dem Menschen.

Ohne jene göttliche Belehrungen was haben dieMenschen anders thun können als entweder sich erhe-ben in dem ihnen noch übriggebliebenen innern Ge-fühl ihrer vergangenen Größe oder zusammensinkenim Augenblick ihrer gegenwärtigen Schwachheit?Denn da sie nicht die Wahrheit ganz sehen, konntensie nicht zu einer vollkommenen Tugend gelangen.

Die einen betrachten die Natur als unverdorben, dieandern als unverbesserlich und so konnten sie nichtdem Stolz oder nicht der Trägheit entgehn, welchesdie beiden Quellen aller Laster sind, weil sie nicht an-ders konnten als sich ihnen hingeben aus Feigheitoder ihnen entgehen aus Stolz. Denn erkannten siedie Herrlichkeit des Menschen, so kannten sie nichtsein Verderben, so daß sie wohl die Trägheit vermie-den, aber sie gingen unter im Stolz. Und erkannten siedie Gebrechlichkeit der Natur, so erkannten sie nichtihre Würde, so daß sie wohl die Eitelkeit vermeidenkonnten, aber nur indem sie sich in die Verzweiflungstürzten.

261Pascal: Gedanken über die Religion

Daraus entstehn die verschiednen Parteien der Stoi-ker und der Epikuräer, der Dogmatisten und der Aca-demiker u.s.w. Die christliche Religion allein hatdiese beiden Laster heilen können, nicht das einedurch das andre vertreibend mit irdischer Weisheit,sondern das eine durch das andre vertreibend mit derEinfachheit des Evangelii. Denn sie lehrt die Gerech-ten, die sie bis zum Theilhaben an der Göttlichkeitselbst erhebt, daß sie in diesem erhabenen Zustandenoch mit sich tragen den Keim von alle dem Verder-ben, durch das sie während des ganzen Lebens demIrrthum, dem Elend, dem Tode und der Sünde unter-worfen sind und sie ruft auch den Gottlosesten zu,daß sie der Gnade ihres Erlösers fähig sind. So, da siezittern macht welche sie rechtfertigt und tröstet, wel-che sie verdammt, mäßigt sie die Furcht wie die Hoff-nung durch jene doppelte Fähigkeit zur Gnade undzur Sünde, die allen gemein ist, mit solcher weisenGleichmäßigkeit, daß sie unendlich mehr demüthigals die Vernunft allein es vermag, aber ohne zur Ver-zweiflung zu bringen und unendlich mehr erhebt alsder natürliche Hochmuth, aber ohne auf zu blähenund so zeigt sie uns, daß es ihr, die einzige frei vonIrrthum und Sünde ist, allein zukommt die Menschenzu belehren und zu bessern.

262Pascal: Gedanken über die Religion

6.

Wir fassen weder den herrlichen Stand Adams nochdas Wesen seiner Sünde, noch die Fortpflanzungderselben bis zu uns. Das sind Dinge, die sich ineinem von dem unsern ganz verschiedenen Zustandeder Natur zugetragen haben und die unsre jetzige Fas-sungskraft übersteigen. Auch ist uns das alles unnützum zu wissen, wie wir aus unserm Elend kommenmögen, und alles, was uns wichtig ist zu wissen, ist,daß wir durch Adam elend sind, verderbt, getrenntvon Gott, aber erlöst Jesum Christum, und davonhaben wir bewundernswerthe Beweise auf der Erde.

7.

Das Christenthum ist seltsam! Es gebeut dem Men-schen zu bekennen, daß er böse ist, ja sogar abscheu-lich und es gebeut ihm zugleich Gott ähnlich sein zuwollen. Ohne ein solches Gegengewicht würde jeneErhebung ihn erschrecklich verworfen machen.

Das Elend bringt zu Verzweiflung, die Größe stößtAnmaßung ein.

263Pascal: Gedanken über die Religion

8.

Die Menschwerdung zeigt dem Menschen dieGröße seines Elends durch die Größe des Heilmittels,das nöthig gewesen.

9.

Man findet in der Christlichen Religion nicht eineErniedrigung, die uns zum Guten unfähig macht, nocheine Heiligkeit frei vom Bösen. Es giebt keine Lehre,die mehr für den Menschen geeignet wäre als die,welche ihn über seine doppelte Fähigkeit die Gnadezu empfangen und zu verlieren, belehrt; denn er istder doppelten Gefahr der Verzweiflung und des Hoch-muths ausgesetzt.

10.

Die Philosophen schrieben nie Gesinnungen vor,die den beiden Ständen gemäß waren. Sie flößtenbloß Empfindungen von Größe ein und das ist nichtder Stand des Menschen. Sie flößten bloß Empfindun-gen von Niedrigkeit ein und das ist eben so wenig derStand des Menschen. Es bedarf der Empfindungenvon Niedrigkeit, nicht aber von Niedrigkeit aus Natur,

264Pascal: Gedanken über die Religion

sondern aus Buße, nicht um darin zu verbleiben, son-dern um zur Größe zu schreiten. Es bedarf der Emp-findungen von Größe, aber von einer Größe, die ausder Gnade komme und nicht aus dem Verdienst undzwar nachdem der Mensch durch die Niedrigkeit hin-durchgegangen.

11.

Niemand ist so glücklich wie ein wahrer Christ,niemand so vernünftig, tugendhaft, liebenswürdig.Mit wie wenig Stolz glaubt ein Christ sich vereint mitGott? Mit wie wenig Wegwerfung stellt er sich demWurm der Erde gleich? Wer kann denn sich weigerndiesen himmlischen Offenbarungen zu glauben undsie an zu beten? Denn ist es nicht klarer als der Tag,daß wir in uns unauslösliche Züge von Herrlichkeitfühlen? Und ist es nicht eben so wahr, daß wir jedeStunde die Wirkungen unserer beklagenswerthenLage erfahren? Was ruft uns denn dieses Chaos unddiese ungeheure Verwirrung zu, was anders als dieWahrheit dieser beiden Stände und mit einer so mäch-tigen Stimme, daß es unmöglich ist, ihr zu widerste-hen?

265Pascal: Gedanken über die Religion

12.

Was die Menschen zu verhindern zu glauben, daßsie fähig sind eins zu werden mit Gott, ist nichts an-ders als die Einsicht ihrer Niedrigkeit. Aber haben siediese recht aufrichtig, so mögen sie sie auch so weitverfolgen als ich und anerkennen, wie diese Niedrig-keit wirklich von der Art ist, das wir aus uns selbstunfähig sind zu erkennen, ob nicht seine Barmherzig-keit uns seiner fähig machen kann. Denn ich möchtewohl wissen, wo dieses Geschöpf, das sich soschwach fühlt, das Recht her hat die BarmherzigkeitGottes zu messen und ihr Grenzen zu setzen, die seinePhantasie ihm eingiebt. Der Mensch weiß so wenigwas Gott ist, als er weiß was er selber ist und ganzverwirrt in der Erkenntniß seines eignen Standes wagter zu behaupten, daß Gott ihn nicht seiner Gemein-schaft fähig machen könne! Aber ich möchte ihn fra-gen: ob Gott was anders von ihm verlangt, als daß erihn liebe und kenne und warum er glaubt, Gott könnesich ihm nicht zu erkennen und zu lieben geben, da erdoch von Natur der Liebe und Erkenntniß fähig ist.Denn es ist kein Zweifel: er erkennt wenigstens, daßer ist und daß er was liebt. Also wenn er doch etwassieht in der Finsterniß, worin er ist und wenn er docheinen Gegenstand der Liebe unter den irdischen

266Pascal: Gedanken über die Religion

Dingen findet, warum, wenn Gott ihm einige Strahlenseines Wesens giebt, soll er nicht fähig sein ihn zu er-kennen und ihn zu lieben in der Art, wie es Gott ge-fällt sich ihm mit zu theilen? Es liegt also ohne Zwei-fel eine unerträgliche Anmaßung in dieser Art vonUrtheilen, obgleich sie gegründet scheinen auf einescheinbare Demuth, die weder aufrichtig noch ver-nünftig ist, wenn sie uns nicht dahin bringt zu geste-hen, daß wir aus uns selbst nicht wissen, wer wirsind, und es nur von Gott lernen können.

267Pascal: Gedanken über die Religion

Sechster Abschnitt.

Unterwerfung und Gebrauch der Vernunft.

1.

Der letzte Schritt der Vernunft ist, daß sie erkennet,es giebt unzählige Dinge, die sie übersteigen. Sie istsehr schwach, wenn sie nicht bis so weit geht. Manmuß verstehen zu zweifeln, wo es sein muß, zu be-haupten, wo es sein muß und sich zu unterwerfen, woes sein muß. Wer das nicht thut, kennt nicht die Kraftder Vernunft. Manche sündigen gegen diese drei Prin-cipien, entweder indem sie alles behaupten als bewei-send, weil sie sich nicht auf Beweise verstehn, oderindem sie an allem zweifeln, weil sie nicht wissen, woman sich unterwerfen muß, oder indem sie sich inallem unterwerfen, weil sie nicht wissen, wo manurtheilen soll.

268Pascal: Gedanken über die Religion

2.

Unterwirft man alles der Vernunft, dann hat unsereReligion nichts Geheimnisvolles und nichts Ueberna-türliches. Verletzt man die Grundsätze der Vernunft,dann wird unsre Religion abgeschmackt und lächer-lich.

Die Vernunft, sagt der heilige Augustinus, würdesich nie unterwerfen, wenn sie nicht einsähe, daß esFälle giebt, wo sie sich unterwerfen soll. Es ist alsorecht, daß sie sich unterwerfe, wo sie einsieht, daß siesich unterwerfen soll und daß sie sich nicht unterwer-fe, wo sie mit Grunde urtheilt, daß sie es nicht thunsoll; aber man muß sich in Acht nehmen, daß mansich nicht täusche.

3.

Die Frömmigkeit ist verschieden von dem Aber-glauben. Die Frömmigkeit bis zum Aberglauben trei-ben heißt sie zerstören. Die Ketzer rücken uns solcheabergläubische Unterwerfung vor. Wir thun was sieuns vorrücken, wenn wie diese Unterwerfung fordernin den Dingen, die nicht Gegenstände der Unterwer-fung sind.

Nichts ist mehr der Vernunft gemäß als die

269Pascal: Gedanken über die Religion

Verleugnung der Vernunft in Glaubenssachen undnichts so der Vernunft zuwider als die Verleugnung inSachen, die nicht Glaubenssachen sind. Das sind zweigleich gefährliche Uebertreibungen, die Vernunft auszu schließen und nichts zu zu lassen als die Vernunft.

4.

Der Glaube sagt wohl was die Sinne nicht sagen,aber nie das Gegentheil. Er ist darüber, nicht dagegen.

5.

Hätte ich ein Wunder gesehen, sagen mancheLeute, so würde ich mich bekehren. Sie würden sonicht sprechen, wenn sie wüßten, was Verkehrung ist.Sie bilden sich ein: dazu gehöre nichts als an zu er-kennen, daß ein Gott ist und die Anbetung bestehedarin, daß man ihm gewisse Reden halte in der Artungefähr, wie die Heiden ihren Götzen dergleichenhielten. Die wahre Bekehrung besteht darin, daß mansich demüthige vor jenem höchsten Wesen, welchesman so oft erzürnt hat und welches uns von Rechtswegen zu jeder Stunde verderben kann, sie bestehtdarin, daß man erkenne, wie man ohne Gott nichtskann und nichts von ihm verdient hat als seine Un-gnade; sie besteht darin, daß man erkenne, wie ein

270Pascal: Gedanken über die Religion

unüberwindlicher Gegensatz ist zwischen Gott unduns und wie hier, ohne einen Mittler, keine Vereini-gung statt finden kann.

6.

Verwundert euch nicht zu sehr, daß einfache Leuteglauben ohne nach zu denken. Gott giebt es ihnen,seine Gerechtigkeit zu lieben und sich selbst zu has-sen. Er neigt ihr Herz zu glauben. Man wird nie glau-ben mit einer heilsamen und wahrhaft gläubigen Zu-versicht, wenn Gott nicht das Herz neigt und manwird glauben von dem Augenblick an, da er es neigt.Und das kannte David wohl, als er sprach: »Neigemein Herz zu deinen Zeugnissen.« (Ps. 119. 36.)

Diejenigen, welche glauben ohne die Beweise fürdie Religion geprüft zu haben, glauben, weil sie eineinnere ganz heilige Neigung haben und das, was sievon unsrer Religion hören, derselben gemäß ist. Siefühlen, daß ein Gott sie geschaffen hat. Sie wollennichts lieber als ihn, sie wollen nichts hassen als sichselbst. Sie fühlen, daß sie dazu nicht die Kraft haben,daß sie unfähig sind zu Gott zu gehen und daß sie,wenn Gott nicht zu ihnen kommt, keine Gemeinschaftmit ihm haben können. Und sie hören in unserer Reli-gion sagen, daß man nur Gott lieben und nur sichselbst hassen soll, aber daß, da alle verderbt und

271Pascal: Gedanken über die Religion

Gottes unfähig sind, Gott Mensch geworden ist umsich mit uns zu vereinigen. Mehr bedarf es nicht umMenschen zu überzeugen, die in ihrem Herzen jeneNeigung haben und jene Erkenntniß ihrer Pflicht undihrer Fähigkeit besitzen.

8.

Die, welche ohne die Kenntniß der Prophezeiungenund der Beweise Christen sind, verfehlen nicht davoneben so gut zu urtheilen, wie die, welche diese Kennt-niß haben. Sie urtheilen darüber mit dem Herzen wiedie andern darüber mit dem Verstande urtheilen. Gottselbst ist, der sie zu glauben geneigt macht, und sosind sie sehr kräftig überzeugt.

Ich gebe gerne zu, daß einer von diesen Christen,die ohne Beweise glauben, vielleicht nicht im Standesein wird, einen Ungläubigen zu überführen, der dar-über viel aus sich zu sagen weiß. Aber diejenigen,welche die Beweise der Religion kennen, werden ohneSchwierigkeit nachweisen, daß dieser Gläubige wahr-haft von Gott inspirirt ist, obschon er es selbst nichtnachweisen kann.

272Pascal: Gedanken über die Religion

Siebenter Abschnitt.

Bild eines Menschen, der müde geworden ist Gott zusuchen durch die bloße Vernunft und der anfängt

die Schrift zu lesen.

1.

Sehe ich die Blindheit und das Elend des Menschenund jene erstaunlichen Widersprüche, die sich in sei-ner Natur zeigen, sehe ich das ganze All stumm undden Menschen ohne Licht, sich selbst überlassen undwie verirrt in diesen Winkel des Universums, ohne zuwissen, wer ihn dahin gesetzt hat, was er da zu thungekommen ist, was er werden wird, wenn er stirbt, sogerathe ich in Schrecken wie ein Mensch, den manschlafend auf eine wüste und schreckliche Insel ge-bracht hätte und der nun aufwachte ohne zu wissen,wo er ist und ohne irgend ein Mittel zu haben um fortzu kommen. Und da bewundere ich es, wie man nichtin Verzweiflung geräth über einen so elenden Zu-stand. Ich sehe andre Leute neben mir von derselbenNatur, ich frage sie; ob sie besser unterrichtet sind alsich und sie sagen mir nein. Ja und diese elenden Ver-irrten haben umhergeschaut und einige Gegenständegesehen, die ihnen gefallen und da haben sie sich

273Pascal: Gedanken über die Religion

ihnen ergeben und sich an sie gehängt. Ich für meinTheil habe nicht vermocht mich dabei auf zu haltennoch mich der Ruhe zu ergeben, in der Gesellschaftdieser Menschen, die mir gleich sind, erbärmlich wieich, ohnmächtig wie ich. Ich sehe, daß sie mir nichthelfen, wenn ich sterbe; ich werde allein sterben, ichmuß daher thun, als wäre ich allein. Wohlan, wennich allein wäre, so würde ich nicht Häuser bauen,würde mich nicht mit den unruhvollen Geschäften be-lästigen, würde die Achtung von niemand suchen,aber ich würde einzig streben die Wahrheit zu ent-decken.

Also indem ich erwäge, wie viel Anschein es hat,daß es etwas anderes giebt als was ich sehe, untersu-che ich: ob der Gott, von dem alle Welt spricht, nichteinige Spuren gelassen hat. Ich sehe nach allen Seitenumher und er blicke überall nichts als Dunkelheit. DieNatur bietet mit nichts, was nicht Stoff zu Zweifelund Unruhe wäre. Wenn ich da nichts sähe, was eineGottheit anzeigte, so würde ich mich entschließennichts davon zu glauben. Sähe ich überall die Spureneines Schöpfers, so würde ich mit Frieden ruhen imGlauben. Aber da ich zu viel sehe um zu leugnen undzu wenig um mich gewiß zu machen, so bin ich einembeklagenswerthen Zustande, in welchem ich hundertMal gewünscht habe, daß die Natur, wenn ein Gottsie trägt, ihn ohne Zweideutigkeit zeige, daß sie,

274Pascal: Gedanken über die Religion

wenn die Zeichen, sie sie von ihm giebt, trüglich sind,dieselben lieber ganz unterdrücke, daß sie alles odernichts sage, damit ich wisse, welches Theil ich ergrei-fen soll, statt daß ich in dem Zustande, in welchemich bin, nicht weiß was ich bin, noch was ich thunsoll und weder mein Verhältniß noch meine Pflichtkenne. Mein ganzes Herz strebt zu erkennen, wo daswahre Glück ist, um ihm nach zu gehen. Nichts würdemir zu theuer sein dafür.

Ich sehe eine Menge von Religionen in verschied-nen Orten der Welt und in allen Zeiten; aber sie habenweder eine Sittenlehre, die mir gefallen könnte, nochBeweise, die im Stande wären mich selbst zu halten.Und so würde ich sie alle gleichmäßig zurückgewie-sen haben, die Religion Muhameds, die von China,die der alten Römer, die der Aegypter, aus dem einzi-gen Grunde, weil die Vernunft sich nicht mehr zueinen als zu andern hinneigen kann, indem die einenicht mehr Zeichen von Wahrheit als die andre, nochweniger etwas hat, das entscheidet.

Aber indem ich so diese unbeständige und wunder-liche Verschiedenheit von Sitten und Glauben in denverschiednen Zeiten betrachte, finde ich in einem klei-nen Theil der Welt ein besonderes Volk, getrennt vonallen andern Völkern der Erde, dessen Geschichte ummehre Jahrhunderte die ältesten, die wir haben, über-trifft. Ich finde nun dieses Volk groß und zahlreich, es

275Pascal: Gedanken über die Religion

betet einen einzigen Gott an und lebt nach einem Ge-setz, welches sie von seiner Hand zu haben versi-chern. Sie behaupten, daß sie die Einzigen in der Weltsind, denen Gott seine Geheimnisse geoffenbart hat,daß alle Menschen verderbt sind und unter dem ZornGottes stehn, daß sie alle ihren Sinnen und ihrem eig-nen Geist überlassen sind, und daß davon die seltsa-men Verirrungen und fortwährenden Veränderungenentstehen, die unter ihnen in Religion und Gewohn-heit vorkommen, während sie selbst unwandelbar beiihrem Gesetze bleiben, aber daß Gott nicht ewig dieandern Völker in dieser Finsterniß lassen wird, daßkommen wird ein Erlöser für alle, daß sie in der Weltsind ihn an zu kündigen, daß sie besonders dazu dasind die Herolde dieser großen Begebenheit zu seinund alle Völker zu rufen, daß sie sich mit ihnen verei-nigen in der Erwartung dieses Erlösers.

Die Erscheinung dieses Volks setzt mich in Erstau-nen und scheint mir einer außerordentlichen Aufmerk-samkeit werth, wegen einer Menge von bewunderns-würdigen und eigenthümlichen Dingen, die sichdabei zeigen.

Es ist ein Volk, ganz zusammengesetzt aus Brü-dern und während alle andern Völker durch das Zu-sammenkommen einer Menge von Familien sich ge-bildet haben, ist dieses, obgleich so auffallend zahl-reich, doch ganz von einem einzigen Manne

276Pascal: Gedanken über die Religion

hervorgegangen und so, ein Fleisch und Bein undGlieder untereinander, bilden sie eine große Machtaus einer einzigen Familie. Das ist ohne Gleichen.

Dies Volk ist das älteste, das die Menschen ken-nen. Dies muß ihm, wie mir scheint, eine besondereVerehrung zuziehn und hauptsächlich in der Untersu-chung, die wir vorhaben, weil wir, wenn Gott sichvon je her den Menschen mitgetheilt hat, gerade zudiesem Volk die Zuflucht nehmen müssen um dieUeberlieferung davon kennen zu lernen.

Dies Volk ist nicht bloß wegen seines Alterthumsbeachtenswerth, sondern es ist auch eigenthümlich inseiner Dauer, indem es immer fortbesteht von seinemUrsprung an bis jetzt. Während die Völker Griechen-lands, Italiens, Lacadämons, Athens, Roms und dieandern, die so lange Zeit nachher gekommen sind,schon lange aufgehört haben, bestehn diese immerund trotz der Unternehmungen so vieler mächtigenKönige, die hundert Mal versucht haben sie zu ertil-gen, wie die Geschichtschreiber bezeugen und wie essich nach der natürlichen Ordnung der Dinge leichtdenken läßt; in einer so langen Reihe von Jahrenhaben sie sich immer erhalten und ihre Geschichte,von den ersten Zeiten bis zu den letzten sich ausdeh-nend, schließt in ihrer langen Dauer alle unsre Ge-schichten ein.

Das Gesetz, wonach dieses Volk regiert wird, ist

277Pascal: Gedanken über die Religion

zugleich das älteste Gesetz der Welt, das vollkom-menste und das einzige welche in einem Staat ohneUnterbrechung immer gegolten hat. Das ist was derJude Philo in verschiedenen Stellen zeigt und was Jo-sephus vortrefflich gegen Appio ausführt, wo er dar-auf aufmerksam macht, wie es so alt ist, daß selbstdas Wort Gesetz von den ältesten Völkern erst mehrals tausend Jahre gekannt worden ist, so daß Homer,der von so vielen Völkern spricht, sich dessen nie be-dient. Man kann sich leicht von der Vollkommenheitdieses Gesetzes überzeugen durch einfaches Lesendesselben, wobei man denn sieht, wie hier alle Fällemit so viel Weisheit, Billigkeit und Einsicht behan-delt sind, daß die ältesten Griechischen und Römi-schen Gesetzgeber, die von dem Jüdischen Gesetz ei-nige Runde hatten, demselben ihre hauptsächlichstenGesetze entlehnt haben. Das sieht man aus den Geset-zen, die sie die zwölf Tafeln nennen und aus den an-dern Beispielen, die Josephus giebt.

Aber dieses Gesetz ist zugleich das strengste undschärfste von allen, indem es das Volk, um es in sei-ner Pflicht zu erhalten, zu tausend besondern und be-schwerlichen Beobachtungen bei Lebensstrafe ver-pflichtet, so daß man sich wundern muß, daß es sichimmer erhalten hat, so viele Jahrhunderte hindurch,unter einem aufrührischen unruhigen Volk dieses,während alle andern Staaten von Zeit zu Zeit ihre

278Pascal: Gedanken über die Religion

Gesetze verändert haben, obgleich sie viel leichter zubeobachten waren.

2.

Diese Volk ist ferner bewundernswerth wegen derAufrichtigkeit. Sie bewahren mit Liebe und Treue dasBuch, worin Moses erklärt, daß sie immer gegen Gottundankbar gewesen sind und daß er weiß, wie sie esnoch mehr sein werden nach seinem Tode, aber daß erHimmel und Erde über sie zu Zeugen nimmt, wie eres ihnen genug gesagt, daß endlich Gott im Zornwider sie entbrennend, sie unter allen Völkern derErde zerstreuen wird und daß, wie sie ihn erzürnthaben, indem sie Götter verehrten, die nicht ihre Göt-ter waren, er sie erzürnen wird, indem er ein Volk be-ruft, das nicht sein Volk war. Und doch dieses Buch,das ihnen in so vieler Art die Ehre nimmt, behauptensie mit ihrem Leben. Das ist eine Aufrichtigkeit, diekein Beispiel in der Welt noch ihre Wurzel in derNatur hat.

Uebrigens finde ich keinen Grund zu zweifeln ander Aechtheit des Buchs, welches alle die Sachen ent-hält. Denn es ist ein großer Unterschied zwischeneinem Buch, das ein einzelner Mensch macht undunter das Volk wirft, und einem Buch, das selbst einVolk macht. Man kann nicht zweifeln, daß das Buch

279Pascal: Gedanken über die Religion

nicht eben so alt sei als das Volk.Es ist ein Buch, von Zeitgenossen verfaßt. Alle Ge-

schichte, die nicht gleichzeitig ist, ist verdächtig wiedie Bücher der Sybillen und des Trismegistus und soviele, die in der Welt Glauben gefunden haben und inder Folge der Zeit sich als falsch ausweisen. Dagegenmit dem gleichzeitigen Schriftsteller ist es ein andres.

3.

Was für ein Unterschied ist zwischen einem Buchund dem andern! Ich verwundre mich nicht, daß dieGriechen die Ilias gemacht haben und die Aegypterund Chinesen ihre Geschichten. Man muß nur sehn,wie das entstanden ist.

Diese fabelnden Geschichtschreiber sind nicht Zeit-genossen der Dinge, die sie schreiben. Homer machtein Gedicht, das er auch für ein Gedicht giebt; dennniemand zweifelt, daß Troja und Agamemnon eben sowenig gewesen sind als der goldne Apfel. Er wollteauch nicht eine Geschichte daraus machen, sondernnur eine Unterhaltung. Sein Buch ist das einzige, waszu seiner Zeit war, die Schönheit des Werks macht dieSache fortdauern, alle Welt lernt es und sprichtdavon, man muß es wissen, jedermann weiß es aus-wendig. Vier hundert Jahre nachher sind die Augen-zeugen der Begebenheit nicht mehr am Leben,

280Pascal: Gedanken über die Religion

niemand weiß mehr aus eignem Erlebniß, ob das eineFabel ist oder eine Geschichte, man hat sie allein vonseinen Vorfahren gelernt, es kann für wahr gelten.

281Pascal: Gedanken über die Religion

Achter Abschnitt.

Die Juden, mit Bezug auf unsre Religion betrachtet.

1.

Nachdem die Schöpfung und die Sündfluth vorüberwaren und Gott nicht mehr die Welt zerstören, ebenso wenig sie schaffen, noch einige von jenen großenZeichen seines Daseins geben wollte, fing er an einVolk auf der Erde ein zu setzen, daß er eigens dazubildete, daß es währen sollte bis zu dem Volk, das derMessias bilden würde durch seinen Geist.

2.

Gott wollte zeigen, daß er ein heiliges Volk miteiner unsichtbaren Heiligkeit bilden und es mit einerewigen Ehre erfüllen konnte und hat in den Güternder Natur gethan, was er in den Gütern der Gnadethun wollte, damit man schlösse, daß er die unsicht-baren Dinge machen könnte, weil er ja die sichtbarengut machte. Er hat daher sein Volk von der Sündflutherrettet in der Person des Noah, er hat es lassen gebo-ren werden von Abraham, er hat es losgekauft vonseinen Feinden und hat es in die Ruhe gebracht.

282Pascal: Gedanken über die Religion

Die Absicht Gottes, warum er ein ganzes Volk ausder Sündfluth rettete und von Abraham geboren wer-den ließ, war nicht allein es in ein Land des Ueber-flusses zu bringen; sondern wie die Natur ein Bild derGnade ist, so sind auch diese sichtbaren Wunder dieBilder der unsichtbaren, die er thun wollte.

3.

Ein zweiter Grund, warum er das Jüdische Volkgebildet hat, ist der, daß er die Absicht hatte die Sei-nen von fleischlichen und vorgänglichen Gütern ab zuziehen und durch so viele Wunder zeigen wollte, daßes nicht aus Ohnmacht geschähe.

Dies Volk war versunken in jene irdischen Gedan-ken: Gott hätte ihren Vater Abraham und sein Fleischund was davon stammte lieb und darum hätte er siegemehrt und ausgezeichnet vor allen andern Völkernohne zu dulden, daß sie sich mit ihnen vermischten,darum sie zurückgebracht aus Aegypten mir allen dengroßen Zeichen, die er für sie that, darum sie genährtmit Manna in der Wüste, sie gebracht in ein glückli-ches Land des Ueberflusses, ihnen Könige gegebenund einen Tempel, schön gebaut dort dar zu bringenOpferthiere und gereinigt zu werden durch die Vergie-ßung ihres Bluts, und er würde ihnen Messias sendenum sie zu Herren der Welt zu machen.

283Pascal: Gedanken über die Religion

Die Juden waren gewohnt an die großen und glän-zenden Wunder und da sie die großen Thaten am ro-then Meer und das Land Kanaan nur angesehen hattenals einen kurzen Inbegriff der großen Dinge, die ihrMessias thun würde, so erwarteten sie von ihm nochglänzendere Dinge und solche, von denen alles, wasMoses gethan, nur eine Probe war.

Indem sie in diesen fleischlichen Irrthümern alt ge-worden, ist Jesu Christus gekommen zur vorausgesag-ten Zeit, aber nicht in dem erwarteten Glanz; und sohaben sie nicht gedacht, daß er es wäre. Nach seinemTode ist der heilige Paulus gekommen die Menschenzu belehren, daß alle diese Dinge geschehen warenals Vorbilder, daß das Reich Gottes nicht im Fleischist, sondern im Geist, daß die Feinde der Menschennicht die Babylonier waren, sondern ihre Leidenschaf-ten, daß Gott sich nicht gefiel in Tempeln von Men-schenhänden gemacht, sondern in einem reinen unddemüthigen Herzen, daß die Beschneidung des Leibesunnütz war, die des Herzens aber noth that u.s.w.

284Pascal: Gedanken über die Religion

4.

Da Gott diese Dinge dem Volk, das deren unwür-dig war, nicht entdecken und doch sie voraussagenwollte, damit sie geglaubt würden, so hatte er die Zeitderselben klar vorausgesagt und sie selbst bisweilenklar ausgedrückt, aber gewöhnlich in Vorbildern,damit die, welche die Vorbilder selbst liebten, dabeistehen bleiben und die, welche die vorgebildetenDinge liebten, sie darin sehen sollten. Das hat ge-macht, daß zur Zeit des Messias die Völker sich theil-ten: die Geistlichen haben ihn aufgenommen und dieFleischlichen, die ihn verwarfen, sind geblieben ihmals Zeugen zu dienen.

5.

Die fleischliche Juden verstanden weder die Größenoch die Erniedrigung des Messias, der in ihren Pro-phezeiungen vorausgesagt war. Sie haben ihn ver-kannt in seiner Größe, wie da gefragt ist, daß derMessias Davids Herr sein wird, obgleich sein Sohn,daß er vor Abraham ist und dieser ihn gesehen hat.Sie dachten ihn sich so groß, das er von aller Ewig-keit her wäre. Und sie haben ihn eben so verkannt inseiner Erniedrigung und in seinem Tode. Der

285Pascal: Gedanken über die Religion

Messias, sagte sie, bleibt ewig und dieser sagt, daß ersterben wird. Sie dachten ihn sich also weder sterblichnoch ewig; sie suchten in ihm nur eine fleischlicheGröße.

Sie liebten so sehr die Vorbilder selbst und erwar-teten sie so einzig, daß sie die Wirklichkeit verkann-ten, als sie kam, zu der Zeit und in der Art, die vor-ausgesagt waren.

6.

Diejenigen, welchen es schwer fällt zu glauben, su-chen dafür einen Grund darin, daß die Juden nichtglauben. Wenn das so klar wäre, sagt man, warumglaubten sie nicht? Aber eben ihr Unglauben ist dieGrundlage unsers Glaubens. Wir würden viel wenigerdazu geneigt sein, wenn sie von den Unserigen wären.Dann würden wir einen viel größern Vorwand zu Un-glauben und Mißtrauen haben. Das ist merkwürdig zusehen, daß Juden große Freude der vorausgesagtenDinge und große Feinde der Erfüllung sind, und daßdiese Abneigung selbst vorausgesagt worden ist.

286Pascal: Gedanken über die Religion

7.

Es war nothwendig um dem Messias Glauben zuverschaffen, daß es vorausgehende Prophezeiungengab und daß unverdächtige Menschen dieselben mitsich führten, Menschen von einem Fleiß, einer Treueund einem Eifer, der außergewöhnlich und aller Weltbekannt war.

Um das alles gelingen zu lassen, hat Gott diesesfleischliche Volk erwählt, bei dem er niederlegte dieWeissagungen von dem Messias als dem Erlöser undAustheiler der fleischlichen Güter, welche dieses Volkliebte, und so hat es eine heiße Liebe für seine Pro-pheten gehabt, hat aller Welt die Bücher vor Augengebracht, in welchem der Messias vorausgesagt ist,und hat allen Völkern versichert, daß er kommenwerde und zwar in der Art, wie in ihren Büchern, diees aller Welt offen vorhielt, vorausgesagt ist. Aber ge-täuscht durch die schmachvolle und armselige An-kunft des Messias, über sie seine größten Feinde ge-wesen: siehe, eben das Volk, welches in der Welt amWenigsten verdächtig ist uns zu begünstigen, sprichtfür uns und durch seinen Eifer für sein Gesetz undseine Propheten trägt und bewahrt es mit einer unver-wüstlichen Sorgsamkeit seine Verwerfung wie unsre

287Pascal: Gedanken über die Religion

Beweise.

8.

Diejenigen, welche Jesum Christum, der ihnen einAergerniß war, verworfen und gekreuziget haben,sind eben die, welche die Bücher führen, die von ihmzeugen und die sagen, daß er verworfen werden undein Aergerniß sein wird. So haben sie ihn bezeichnet,daß er es war, indem sie ihn verwerfen und er ist glei-cher Weise bestättigt worden durch die gerechtenJuden, die ihn aufgenommen und durch die ungerech-ten, die ihn verworfen haben, denn die einen wie dieandern sind vorausgesagt worden.

Deshalb haben die Weissagungen einen verborgnenSinn, den geistlichen, dem dieses Volk feind war,unter dem fleischlichen, den es liebte. Wäre der geist-liche Sinn aufgedeckt worden, so wären sie nicht imStande gewesen ihn zu lieben, und da sie ihn nichttragen konnten, hätten sie keinen Eifer für die Erhal-tung ihrer Bücher und ihrer Gebräuche gehabt. Undhätten sie diese geistlichen Verheißungen geliebt undsie unverdorben erhalten bis auf den Messias, so hätteihr Zeugniß keine Kraft gehabt, weil sie seine Freundegewesen wären. Darum war es gut, daß der geistlicheSinn verhüllt war. Aber von der andern Seite wäredieser Sinn so verborgen gewesen, daß er ganz und

288Pascal: Gedanken über die Religion

gar nicht zum Vorschein gekommen wäre, so hätte ernicht zum Verweise für den Messias dienen können.Was ist denn geschehen? dieser Sinn ist unter demzeitlichen verhüllt worden in den meisten Stellen undist enthüllt worden in einigen, und außerdem ist dieZeit und der Zustand der Welt so klar vorausgesagtworden, daß die Sonne nicht klarer ist. Und diesergeistliche Sinn ist an einigen Stellen so klar ent-wickelt, daß um ihn nicht zu erkennen eine solcheBlindheit nöthig wäre, als freilich das Fleisch auf denGeist wirft, wenn er demselben unterthan ist.

Das also ist die Weise Gottes. Jener geistliche Sinnist in unzähligen Stellen mit einem andern Sinn ver-hüllt, in einigen enthüllt, freilich selten, aber doch so,daß die Stellen, wo er verborgen ist, zweideutig sindund auf beiderlei Sinn gehen können, während dieStellen, wo er enthüllt ist, eindeutig sind und nur aufden geistlichen Sinn gehen können; so daß dies nichtin Irrthum führen konnte und daß nur ein so fleisch-lich gesinntes Volk als das Jüdische im Stande warsich hier zu verirren.

Denn wenn die Güter in Fülle verheißen sind, washinderte darunter die wahren Güter zu verstehen, wasanders als ihre Begierde, die dies Wort von den Gü-tern der Erde deutete? Aber die, welche nur in GottGüter hatten, bezogen sie allein auf Gott. Denn esgiebt zwei Principien, nach welchen die Bestrebungen

289Pascal: Gedanken über die Religion

der Mensch sich abtheilen, die Begierde und dieLiebe. Nicht das die Begierde nicht neben dem Glau-ben bestehen könnte und die Liebe nicht neben denirdischen Gütern;; aber die Begierde gebraucht Gottund genießt die Welt und die Liebe dagegen ge-braucht die Wellt und genießt Gott.

Der letzte Zweck aber ist es, was den Dingen denNamen giebt. Alles, was uns hindert ihn zu erreichen,wird Feind genannt. Dennoch sind die Geschöpfe, ob-gleich gut, doch Feinde der Gerechten, wenn sie vonGott abkehren und Gott selbst ist der Feind derer, dieer in ihren Lüften stört.

Da nun so das Wort Feind vom letzten Zweck ab-hängt, so verstanden die Gerechten darunter ihre Lei-denschaften und die Fleischlichen die Babylonier, sodaß diese Ausdrücke nur für Ungerechten dunkelwaren. Das ist es auch, was Jesaias sagt: »Binde zudas Zeugniß und versiegle das Gesetz meinen Jün-gern« (Jes. 8. 16.) und Jesus Christus wird »sein einStein des Anstoßes und ein Fels der Aergerniß« (Jes.8. 14.). Aber »selig sind die sich nicht an ihm är-gern.« (Matth. 11. 6.) Auch Hosea sagt es offenbar:»Wer ist weise der dies verstehe, und klug der diesmerke? Denn die Wege des Herrn sind richtig und dieGerechten wandeln darinnen, aber die Uebertreter fal-len darinnen.« (Hos. 14. 10.)

Und dieses Testament, welches so beschaffen ist,

290Pascal: Gedanken über die Religion

daß es die einen aufklärt und die andern blind macht,bewies dennoch an denen selbst, die es blind machte,die Wahrheit, die von den andern gekannt werdensoll. Denn die sichtbaren Güter, die sie von Gott emp-fingen, waren so groß und so göttlich, daß wohl zusehen war: er hatte die Macht ihnen auch die unsicht-baren Güter und einen Messias zu geben.

9.

Die Zeit der ersten Ankunft Christi ist vorausge-sagt, die Zeit der zweiten nicht; weil die erste verbor-gen sein sollte, wogegen die zweite in die Augen fal-lend sein soll und so offenbar, daß selbst seine Feindeihn erkennen werden. Da er aber nur in der Verbor-genheit kommen sollte und allein für die zu erkennen,die in der Schrift forschen würden, so hatte Gott dieDinge so geordnet, daß alles dazu diente ihn erkenn-bar zu machen. Die Juden zeugten für ihn, indem sieihn annahmen, denn bei ihnen waren die Weissagun-gen niedergelegt und sie zeugten gleichfalls für ihn,indem sie ihn nicht annahmen, denn damit erfülltensie die Weissagungen.

291Pascal: Gedanken über die Religion

10.

Die Juden hatten Wunder, Weissagungen, die sieerfüllen sahn, und die Lehre ihres Gesetzes war nureinen Gott an zu beten und zu lieben, sie war auchbleibend. So hatte sie alle Zeichen der wahren Religi-on; sie war es auch. Aber man muß unterscheidenzwischen der Lehre der Juden und der Lehre des Ge-setzes der Juden. Die Lehre der Juden war nicht wahr,obgleich sie die Wunder, die Weissagungen und dieDauer hatte, weil sie jenen andern Punkt nicht hattenur Gott an zu beten und zu lieben.

Die Jüdische Religion muß daher verschieden be-trachtet werden in der Ueberlieferung ihrer Heiligenund in Ueberlieferung des Volks. Ihre Sittenlehre undGlückseligkeit sind lächerlich in der letzten, aber un-vergleichlich in der ersten. Ihre Grundlage ist bewun-dernswürdig. Es ist das älteste Buch der Welt und dasglaubwürdigste und statt daß Muhamed um sein Buchzu erhalten es zu lesen verbot, hat Moses um das sei-nige zu erhalten aller Welt geboten es zu lesen.

292Pascal: Gedanken über die Religion

11.

Die Jüdische Religion ist ganz göttlich in ihremAnsehn, ihrer Dauer, ihrer Ewigkeit, ihrer Sittenlehre,ihrem Verfahren, ihrer Lehre, ihren Wirkungen u.s.w.Sie ist gebildet worden zum Vorbild für die Wahrheitdes Messias und diese ist erkannt worden aus der Jü-dischen Religion, die deren Vorbild war.

Unter den Juden war die Wahrheit nur im Bilde; imHimmel ist sie enthüllt; in der Kirche ist sie verhülltund doch durch das Bild erkannt. Das Bild ist nachder Wahrheit gemacht und die Wahrheit an dem Bildeerkannt.

12.

Wer die Jüdische Religion nach den rohen Judenbeurtheilt, der kennt sie schlecht. Sie liegt in den hei-ligen Büchern vor und in der Ueberlieferung der Pro-pheten, die hinlänglich gezeigt haben, daß sie das Ge-setz nicht buchstäblich verstanden. Unsre Religion istalso göttlich in dem Evangelio, in den Aposteln undin der Ueberlieferung; aber sie ist ganz entstellt beidenen, die sie schlecht behandeln.

293Pascal: Gedanken über die Religion

13.

Es gab zwei Arten von Juden. Die einen hatten nurdie heidnischen Gesinnungen, die andern die christli-chen. Der Messias soll nach den fleischlichen Judenein großer weltliche Fürst sein, und nach den fleisch-lichen Christen ist er gekommen uns von der Liebegegen Gott zu dispensiren und uns Sacramente zugeben, die alles thun ohne uns. Weder das eine nochdas andre ist die christliche Religion oder die Jüdi-sche. Die wahren Juden und die wahren Christenhaben einen Messias erkannt, der sie treibt Gott zulieben und durch diese Liebe über ihre Feinde zu tri-umphiren.

14.

Der Schleier, der über den Büchern der Schrifthängt für die Juden, ist auch für die schlechten Chri-sten da und für alle die, welche sich nicht selbst has-sen. Aber wie wohl ist man geeignet sie zu verstehnund Jesum Christum zu erkennen, wenn man sichwahrhaft selbst haßt.

294Pascal: Gedanken über die Religion

15.

Die fleischlichen Juden halten die Mitte zwischenden Christen und den Heiden. Die Heiden erkennenGott nicht und lieben nur die Erde. Die Juden erken-nen den wahren Gott und lieben nur die Erde. DieChristen erkennen den wahren Gott und lieben dieErde nicht. Die Juden und die Heiden lieben dieselbenGüter; die Juden und die Christen erkennen denselbenGott.

16.

Es ist offenbar ein Volk, eigens dazu gemacht umals Zeuge für den Messias zu dienen. Es führt dieSchriften mit sich und liebt sie und versteht sie nicht.Und alles das ist vorausgesagt, denn es ist gesagt, daßihnen die Gerichte Gottes anvertraut sind, aber als einversiegeltes Buch.

So lange die Propheten waren um das Gesetz auf-recht zu erhalten, war das Volk nachlässig; aber seites keine Propheten mehr gehabt, ist der Eifer erfolgt.Das ist eine bewundernswürdige Fürsorge Gottes.

295Pascal: Gedanken über die Religion

17.

Als die Schöpfung der Welt begann zurück zu tre-ten, hat Gott für einen gleichzeitigen Geschichtschrei-ber gesorgt und hat ein ganzes Volk bestellt zurWache über dieses Buch, damit diese Geschichte dieälteste von der Welt wäre und alle Menschen lernenkönnten, was so nothwendig ist zu wissen und wasman nur hierdurch lernen kann.

18.

Moses war ein kluger Mann, das ist klar. Alsowenn er die Absicht gehabt hätte zu betrügen, so hätteer es auf solcher Art gethan, daß man ihn nicht derBetrügerei hätte überführen können. Er hat gerade dasGegentheil gethan, denn hätte er Fabeln feilgeboten,so hätte jeder Jude den Betrug entdecken können.

Warum z.B. hat er das Leben der ersten Menschenso lang gemacht und so wenige Geschlechter? Erkonnte sich verstecken hinter einer Menge von Ge-schlechtern, aber das konnte er nicht hinter so weni-gen, denn nicht die Zahl der Jahre, sondern die Mengeder Geschlechter macht die Dinge dunkel.

Die Wahrheit verändert sich nur durch den Wech-sel der Menschen und doch setzt er zwei Ereignisse,

296Pascal: Gedanken über die Religion

die merkwürdigsten, die je gedacht sind, nämlich dieSchöpfung und die Sündfluth so nahe, daß man durchdie wenigen Generationen, die er macht, sie berührt,dergestalt daß zur Zeit, da er diese Dinge schrieb, dasGedächtniß davon noch ganz frisch im Geist allerJuden sein mußte.

Sem, der Lamech, noch einen Zeitgenossen Adams,gesehn, sah wenigstens Abraham und Abraham denJacob und der wieder die, welche Moses sahen. Alsodie Sündfluth die Schöpfung sind wahr; so schließeneinige, die es recht verstehn.

Das lange Leben der Patriarchen, statt zu machen,daß die vergangnen Geschichten sich verloren, dientevielmehr dazu sie zu erhalten. Denn die Ursache,warum man bisweilen nicht genug bewandert ist inder Geschichte seiner Vorfahren, ist, daß man nichtimmer lange mit ihnen gelebt hat und daß sie oft ge-storben sind, ehe man das Alter des Verstandes er-reicht hat. Aber als die Menschen so lange lebten,lebten die Kinder lange mit ihren Vätern und so be-sprachen sie sich mit ihnen noch lange. Wovon aberhätten sie sich mit ihnen besprochen, wenn nicht vonder Geschichte ihrer Vorfahren, weil die ganze Ge-schichte hierauf beschränkt war, und sie auch wederdie Wissenschaft noch die Künste hatten, die einengroßen Theil der Gespräche im Leben einnehmen?Auch sieht man, daß zu jener Zeit die Völker eine

297Pascal: Gedanken über die Religion

besondere Sorgfalt darauf verwendeten ihre Stammre-gister zu bewahren.

Je mehr ich die Juden beobachte, je mehr finde ichda Wahrheiten und das Zeichen, daß sie ohne Prophe-ten und Könige sind und daß sie als unsere Feindevortreffliche Zeugen von der Wahrheit jener Prophe-zeiungen sind, in denen ihr Leben und ihre Blindheitselbst vorausgesagt ist. In diesem Rahmen finde ichdie Religion ganz göttlich in ihrem Ansehn, ihrerDauer, ihrer Ewigkeit, ihrer Sittenlehre, ihrem Ver-fahren, ihren Wirkungen. Und so breite ich meineArme aus gegen meinen Erlöser, der, viertausendJahre vorausgesagt, gekommen ist zu leiden und zusterben für mich auf der Erde in den Zeiten und unterallen den Umständen, die davon vorausgejagt wordensind, und durch seine Gnade erwarte ich den Tod inFrieden mit der Hoffnung ewig mit ihm vereint zusein und ich lebe doch mit Freude, sei es in den Freu-den, die ihm gefällt mir zu geben, sei es in den Lei-den, die er mir zu meinem Heil sendet, und die ermich durch sein Beispiel tragen gelehrt hat.

Seitdem verwerfe ich alle andern Religionen, hierfinde ich Antwort für alle Einwürfe. Es ist gerecht,daß ein so reiner Gott sich nur denen offenbart, diereines Herzens sind.

Ich finde wirklich daß, so weit das Gedächtniß derMenschen reicht, dieses Volk länger als jedes andre

298Pascal: Gedanken über die Religion

Volk besteht. Es ist den Menschen beständig ange-sagt, daß sie in einem allgemeinen Verderben sind,aber daß ein Wiederhersteller kommen werde. Dassagt nicht ein einzelner Mensch, sondern eine großeZahl, ein ganzes Volk prophezeiend, viertausendJahre lang.

299Pascal: Gedanken über die Religion

Neunter Abschnitt.

Von den Vorbildern; daß das alte Gesetz vorbildlichwar.

1.

Es giebt klare und beweiskräftige Vorbilder und esgiebt andre, die scheinen weniger natürlicher und sindnur denen beweisend, die schon anderweitig über-zeugt sind. Diese Bilder würden gleichen den Bildernderjenigen, die mittelst einer willkürlichen AuslegungProphezeiungen auf die Apokalypse gründen. Aberder Unterschied, den es hier giebt, ist der, daß siekeine unzweifelhaften Weissagungen haben sie zustützen, so daß nichts so ungerecht ist, als wenn siebehaupten: die ihrigen seien eben so wohl begründetals einige der unsern; denn sie haben keine beweis-kräftige wie wir. Unser Spiel steht also nicht gleich.Man muß diese Dinge nicht gleichstellen und vermi-schen, weil sie von der einen Seite ähnlich zu seinscheinen, da sie doch von der andern so verschiedensind.

300Pascal: Gedanken über die Religion

2.

Einer der Hauptgründe, warum die Propheten diegeistlichen Güter, die sie verhießen, unter den Bildernder zeitlichen Güter verhüllt haben, ist der, daß sie eszu thun hatten mit einem fleischlichen Volk, dem siedas geistliche Testament übergeben sollten.

Jesus Christus ist vorgebildet in Joseph, der gelieb-te seines Vaters, gesandt vom Vater zu seinen Brü-dern, der Unschuldige verkauft von seinen Brüdernum 20 Silberlinge und dadurch ihr Herr geworden, ihrHeiland und der Heiland der Fremden und der Hei-land der Welt, was nicht gewesen wäre, wenn sienicht die Absicht ihn zu verderben gehabt, ihn nichtverkauft und verworfen hätten.

Im Gefängniß Joseph der Unschuldige zwischenzwei Verbrechern, Jesus am Kreuz zwischen zweiUebelthätern; Joseph sagt dem einen sein Glück vor-aus und dem andern seinen Tod bei gleichem An-schein; Jesus Christus rettet den einen und läßt denandern in der Verdammniß nach gleichen Verbrechen.Joseph thut nichts weiter, als daß er es voraussagt,Jesus Christus machts. Joseph bittet den, der gerettetwerden soll, daß er seiner gedenke, wenn er zu seinerEhre gekommen, und der, welchen Jesus Christus ret-tet, bittet ihn, daß er seiner gedenke, wenn er in sein

301Pascal: Gedanken über die Religion

Reich kommt.

3.

Die Gnade ist das Vorbild der Herrlichkeit, dennsie ist nicht das letzte Ziel. Sie ist vorgebildet durchdas Gesetz und sie selbst bildet die Herrlichkeit vor,aber so, daß sie zu gleicher Zeit ein Mittel ist zu ihrzu gelangen.

4.

Die Schule (Synagoge) ging unter, weil sie dasVorbild der Kirche war; aber weil sie nur das Vorbildwar, ist sie in Knechtschaft gesunken. Das Vorbildhat bestanden, bis die Wahrheit erschien, damit dieKirche immer sichtbar wäre, erst im Bilde, das sieverhieß, dann in der Wirklichkeit.

5.

Um die Wahrheit der beiden Testamente mit einszu beweisen, braucht man nur zu sehen, ob die Weis-sagungen des einen in dem andern erfüllt sind. Umdiese Weissagungen zu erforschen, muß man sie ver-stehen. Denn wenn man meint, daß sie nur einen Sinnhaben, so ist gewiß, daß der Messias noch nicht

302Pascal: Gedanken über die Religion

gekommen; aber wenn sie einen doppelten Sinnhaben, so ist gewiß, daß er in Jesu Christo gekommenist.

Die ganze Frage ist also: ob sie einen doppeltenSinn haben, ob sie Bilder oder Wirklichkeiten sindd.h. ob man darin etwas anderes suchen muß, als wasfür den Anfang erscheint oder ob man allein jenem er-sten Sinn, den sie darbieten, stehn bleiben soll.

Sind das Gesetz und die Opfer die Wahrheit, somüssen sie Gott gefallen und ihm keineswegs mißfal-len; sind sie Bilder, so müssen sie ihm gefallen undmißfallen.

Nun gefallen und mißfallen sie ihm in der ganzenheiligen Schrift, also sind sie Bilder.

6.

Um deutlich zu sehn, daß das alte Testament nurvorbildlich ist und daß die Propheten unter den zeitli-chen Gütern andre Güter verstanden, braucht mannur Acht zu geben, erstlich, daß es unwürdig von Gottsein würde die Menschen nur zum Genuß der zeitli-chen Glückseligkeiten zu berufen, und zweitens, daßdie Reden der Propheten deutlich die Verheißung derzeitlichen Güter aussprechen und daß sie dennochsagen: ihre Worte seien dunkel und ihr Sinn sei nichtder, den sie offen aussprechen, man werde ihn nur am

303Pascal: Gedanken über die Religion

Ende der Zeiten verstehn. (Jer. 23. 22. und 30. 24.)Also meinte sie zu sprechen von andern Opfern, voneinem andern Erlöser u.s.w.

Endlich muß man noch bemerken, daß ihre Redenwidersprechend sind und sich aufheben, wenn manmeint, daß sie unter den Worten Gesetz und Opfernicht etwas anders verstanden haben als das GesetzMosis und seine Opfer, und es würde offenbarer undgroßer Widerspruch in ihren Büchern und bisweilenin demselben Capitel sein, woraus folgt, daß sie dar-unter etwas müssen verstanden haben.

7.

Es heißt: das Gesetz und das Opfer werde verän-dert werden, sie werden ohne Könige sein, ohne Für-sten und ohne Opfer, es werde ein neuer Bund ge-macht werden, das Gesetz werde erneuert werden, dieGebote, die sie erhalten haben, seien nicht gut, ihreOpfer seien ein Greuel, Gott habe keine verlangt.

Dagegen heißt es auch: das Gesetz werde ewigdauern, dieser Bund werde ewig sein, das Opferwerde ewig sein, das Scepter werde niemals von ihnenweichen, weil es nicht von ihnen weichen soll, bis derewige König kommt. Zeigen alle diese Stellen, daßdieses Wirklichkeit ist? Nein. Zeigen sie, daß es Bildist? Nein. Aber sie zeigen, daß es Wirklichkeit ist

304Pascal: Gedanken über die Religion

oder Bild. Aber die ersten schließen die Wirklichkeitaus und zeigen, daß es nur Bild ist.

Alle diese Stellen zusammen können nicht wirklichgemeint sein, aber alle wohl bildlich, also sind sienicht wirklich gemeint, sondern bildlich.

8.

Um zu wissen: ob das Gesetz und die Opfer eigent-lich oder bildlich zu nehmen sind, muß man sehn, obdie Propheten, wenn sie von diesen Dingen sprechen,ihren Blick und Gedanken so darauf geheftet haben,daß sie nichts sahen als jenen alten Bund, oder siedabei noch etwas andres sahen, von denen jene nurdas Abbild waren, denn in einem Gemälde sieht maneinen abgebildeten Gegenstand. Dazu braucht mannur zu untersuchen, was sie sagen.

Wenn sie sagen: der Bund werde ewig sein, ver-stehn sie darunter denjenigen, wovon sie sagen: erwerde geändert werden? Und eben so ist es mit denOpfern u.s.w.

Die Propheten haben klar ausgesprochen: Israelwerde immer von Gott geliebt werden und das Gesetzwerde ewig sein, und sie haben gesagt: man werdeihren Sinn nicht verstehn und er werde verschleiertsein.

Die Geheimschrift hat einen doppelten Sinn. Wenn

305Pascal: Gedanken über die Religion

man einen wichtigen Brief auffängt, worin man einendeutlichen Sinn findet und wo zugleich gesagt wird:der Sinn sei verschleiert und verdunkelt, er sei verbor-gen, so daß man diesen Buchstaben sehn werde ohneihn zu sehn und verstehn ohne ihn zu verstehn, wassoll man anders denken, als daß es eine Geheimschriftist mit doppeltem Sinn und das um so mehr, als mandarin offenbare Widersprüche im buchstäblichen Sinnfindet? Wie sehr muß man also diejenigen schätzen,die uns die Geheimschrift enthüllen und uns den ver-borgnen Sinn kennen lehren und besonders, wenn dieGrundsätze, die sie daraus entnehmen, ganz natürlichund klar finden? Das haben Jesus und die Apostelngethan. Sie haben das Siegel gebrochen, den Schleierzerrissen, den Geist enthüllt. Sie haben uns dazu ge-lehrt, daß die Feinde des Menschen seine Leiden-schaften seien, daß der Erlöser geistlich sei, daß erzwei Mal komme, ein Mal in Niedrigkeit um den stol-zen Menschen zu bemüthigen, ein Mal in Herrlichkeitum den gedemüthigten Menschen zu erhöhen, daßJesus Christus Gott und Mensch sei.

306Pascal: Gedanken über die Religion

10.

Jesus Christus hat nichts andres gethan, als daß erdie Menschen lehrte: sie seien voll Selbstliebe, Skla-ven, Blinde, Kranke, Unglückliche und Sünder, esthue noth, daß er sie erlöse, aufkläre, heile und seligmache und das werde geschehn, wenn sie sich selbsthassen und ihm folgen durch das Leiden und denKreuzestod.

Der Buchstabe tödtet; alles geschah im Bilde, Chri-stus mußte leiden, ein erniedrigter Gott (in Knechts-gestalt), Beschneidung des Herzens, wahres Fasten,wahres Opfer, wahrer Tempel, doppeltes Gesetz,doppelte Gesetztafel, doppelter Tempel, doppelte Ge-fangenschaft: das ist die Geheimschrift, die er uns ge-geben hat.

Er hat uns endlich gelehrt, daß alle diese Dinge nurBilder waren und was das heißt wahrhaft frei, wahrerIsraelit, wahre Beschneidung, wahres Himmelsbrodu.s.w.

307Pascal: Gedanken über die Religion

11.

In jenen Verheißungen findet jeder, was er imGrund seines Herzens hat, die weltlichen Güter oderdie geistlichen, Gott oder die Geschöpfe, indessen mitdem Unterschied, daß diejenigen, welche darin dieGeschöpfe suchen, sie darin finden aber mit allerleiWidersprüchen, mit dem Verbot sie zu lieben, mitdem Gebot nur Gott an zu beten und nur ihn zu lie-ben, wogegen die, welche Gott da suchen, ihn findenohne einen Widerspruch und mit dem Gebot nur ihnzu lieben.

12.

Die Quelle der Widersprüche in der Schrift sind:ein Gott erniedrigt bis zum Tode am Kreuz, ein Mes-sias den Tod besiegend durch den Tod, zwei Naturenin Jesu Christo, zwei Ankünfte, zwei Stände derNatur des Menschen.

Wie man den Charakter einer Person nicht anderszeichnen kann, als wenn man alle Widersprüche inEinklang bringt und wie es nicht genügt eine Reihevon zusammenstimmenden Eigenschaften zu verfol-gen ohne die widersprechenden zu vereinigen; eben somuß man um einen Schriftsteller zu verstehn alle

308Pascal: Gedanken über die Religion

widersprechenden Stellen in Einklang bringen.Also um die Schrift zu verstehn muß man einen

Sinn herausfinden, in welchem alle widersprechendenStellen zusammenstimmen. Es reicht nicht hin einenzu haben, der zu mehren Stellen stimmt, sondern manmuß einen haben, der sogar die widersprechendenvereinigt.

Jeder Autor hat einen Sinn, in welchem alle wider-sprechenden Stellen zusammenstimmen, oder er hatüberhaupt keinen Sinn. Dies Letzte kann man nunweder von der Schrift noch von den Propheten sagen,sie hatten wahrhaftig nur zu guten Sinn. Man mußalso einen suchen, der alle Widersprüche in Einklangbringt.

Der wahre Sinn ist also nicht der der Juden, son-dern in Jesu Christo sind alle Widersprüche in Ein-klang gebracht.

Die Juden wären nicht im Stande das Aufhören desReichs und der Herschaft, wie es Hosea voraussagt, inEinklang zu bringen mit der Weissagung Jakobs.

Nimmt man das Gesetz, die Opfer und das Reichfür Wirklichkeit, so ist man nicht im Stande in Ein-klang zu bringen alle Stellen eines und desselben Ver-fassers, nicht ein Mal eines und desselben Buchs, bis-weilen nicht ein Mal eines und desselben Capitels.Das beweist doch genugsam, welches der Sinn desVerfassers war.

309Pascal: Gedanken über die Religion

13.

Es war durchaus nicht erlaubt außerhalb Jerusalem,dem Orte, welchen der Herr erwählt hatte, zu opfernnoch anders wo selbst die Zehnten zu essen.

Hosea hat vorausgesagt, sie würden ohne König,ohne Fürsten, ohne Opfer, ohne Altar bleiben. Diesist jetzt erfüllt, da sie (die Juden) nicht regelmäßigeOpfer bringen können außer Jerusalem.

14.

Wenn das Wort Gottes, welches wahrhaftig ist,dem Buchstaben nach falsch erscheint, ist es dem Gei-ste nach wahr. »Setze dich zu meiner Rechten« das istfalsch, buchstäblich gesagt, und ist wahr, geistlich ge-nommen. In diesen Ausdrücken ist von Gott mensch-licher Weise gesprochen und das bedeutet nichts an-dres, als daß Gott auch die Gesinnung haben soll,welche die Menschen haben, wenn sie jemand zu ihrerRechten sitzen lassen. Dies ist also eine Bezeichnungder Absicht Gottes, nicht aber seiner Art sie aus zuführen.

So auch wenn gesagt ist: Gott hat den Geruch euresWeihrauchs angenommen und wird euch zum Lohngeben ein fruchtbares und gesegnetes Land, so heißt

310Pascal: Gedanken über die Religion

das: dieselbe Gesinnung, die ein Mensch hätte, der,durch euren Weihrauch erfreut, euch zum Lohn eingesegnetes Land gäbe, die wird Gott auch gegen euchhaben, weil ihr gegen ihn dieselbe Gesinnung gehabthabt, welche ein Mensch gegen denjenigen hat, demer Weihrauch giebt.

15.

Der einzige Gegenstand der Schrift ist die Liebe.Alles, was nicht auf den einzigen Zweck geht, ist ihrBild, denn da es einen Zweck hat, so ist alles Bild,was nicht mit eigentlichen Worten darauf geht.

Gott spricht also dieses einzige Gebot der Liebevielfältig auf verschiedene Art aus, um unsrerSchwachheit, welche den Wechsel liebt, eine Befriedi-gung zu geben durch jene Verschiedenheit, die unsimmer auf das Eine führt, was uns einzig noth thut.Denn eins ist noth und wir lieben den Wechsel, undGott befriedigt das eine wie das andre durch jene Ver-schiedenheiten, die zu dem einzig Notthuenden füh-ren.

311Pascal: Gedanken über die Religion

16.

Die Rabbinen nehmen als Typen die Brüste derBraut und alles, was nicht den einzigen Zweck, densie haben, nämlich zeitliche Güter ausdrückt.

17.

Einige von ihnen sehen sehr wohl ein, daß es kei-nen andern Feind des Menschen giebt als die böseLust, die ihn von Gott abwendet, und kein anderesGut als Gott, nicht aber ein fruchtbares Land.

Diejenigen, welche glauben, daß das Gut des Men-schen im Fleische ist und das Urteil in dem, was ihnvon den Freuden der Sinne abwendet, die mögen sichdaran sättigen und darin sterben. Aber die, welcheGott suchen von ganzem Herzen, die kein anderesMißvergnügen kennen, als seines Anblicks beraubt zusein, die kein andres Verlangen haben als ihn zu be-sitzen und keine andern Feinde als die, welche sie vonihm abwenden, die sich betrüben von solchen Feindensich umgeben und beherscht zu sehen, die mögen sichtrösten, es ist ein Erlöser für sie, es ist ein Gott fürsie. Ein Messias ist verheißen worden, der von denFeinden erlösen werde, und es ist ein Messias gekom-men, der von den Ungerechtigkeiten erlöst, nicht aber

312Pascal: Gedanken über die Religion

von den Feinden.

18.

Wenn David verheißt, der Messias werde sein Volkvon seinen Feinden erlösen, kann man fleischlichglauben, dies seien die Aegypter und dann wüßte ichnicht nach zu weisen, daß die Prophezeiung eingetrof-fen wäre. Aber man kann auch ganz gut annehmen, esseien Ungerechtigkeiten; denn in Wahrheit sind nichtdie Aegypter Feinde, sondern die Ungerechtigkeitensind es. Das Wort »Feinde« ist also zweideutig.

Aber wenn er eben so wie Jesaias und die anderndem Menschen sagt, wie er es denn thut, er werde seinVolk erlösen von seinen Sünden, so ist die Zweideu-tigkeit aufgehoben und der Doppelsinn »Feinde« aufden einfachen Sinn »Ungerechtigkeiten« zurückge-führt; denn wenn er die Sünden in Gedanken hatte, sokonnte er sie wohl durch das Wort Feinde bezeichnen,aber wenn er an Feinde dachte, konnte er sie nichtUngerechtigkeiten benennen.

Nun bedienen sich Moses, David und Jesaiasderselben Ausdrücke. Wer will denn behaupten, siehätten nicht denselben Sinn und der Sinn Davids, deroffenbar auf Ungerechtigkeiten geht, wenn er vonFeinden spricht, wäre nicht derselbe, als wenn Mosesvon Feinden spricht?

313Pascal: Gedanken über die Religion

Daniel (im neunten Capitel) betet um die Befreiungdes Volks von der Gefangenschaft ihrer Feinde, aberdachte an die Sünde und um das zu zeigen sagt er:Gabriel kam ihm ankündigen, daß er erhört wordensei und nur siebenzig Wochen zu warten haben, als-dann das Volk von Ungerechtigkeit erlöset sein, dieSünde werde ein Ende nehmen und der Erlöser, derAllerheiligste, werde die ewige Gerechtigkeit bringen,nicht die gesetzliche, sondern die ewige.

Hat man ein Mal dies Geheimniß enthüllt, so ist esunmöglich es nicht zu sehn. Man lese das alte Testa-ment aus diesem Gesichtspunkt und sehe, ob dieOpfer Wahrheit hatten, ob die Abstammung vonAbraham der wahre Grund der Freundschaft Gottes,ob das gelobte Land der wahre Ort der Ruhe war.Nein. Also waren es Bilder. Eben so betrachte manalle die befohlenen Gebräuche und alle die Gebote,die nicht auf die Liebe sich beziehn; man wird finden,daß es nur ihre Bilder sind.

314Pascal: Gedanken über die Religion

Zehnter Abschnitt.

Von Jesu Christo.

1.

Der weite Abstand der Körper von den Geistern istein Vorbild des unendlich weitern Abstandes der Gei-ster von der Liebe, denn sie ist übernatürlich.

Aller Schimmer der Größe hat keinen Glanz für dieMenschen, welche sich mit den Nachforschungen desGeistes beschäftigen. Die Größe der Geistesmenschenist unsichtbar den Reichen, den Königen, den Erobe-rern und allen jenen Großen nach den Fleisch. DieGröße der Weisheit, die von Gott kommt, ist unsicht-bar den Fleischlichgesinnten und den Geistesmen-schen. Dies sind drei ganz verschiedne Gebiete.

Die großen Geister haben ihr Reich, ihren Glanz,ihre Größe, ihre Siege und bedürfen auf keine Weiseder fleischlichen Größe, die nichts gemein hat mit der,welche sie suchen. Sie werden gesehn mit dem Geiste,nicht mit dem Auge, aber das ist genug.

Die Heiligen haben ihr Reich, ihren Glanz, ihreGröße, ihre Siege und bedürfen eben so wenig derfleischlichen oder der geistigen Größe, die nicht ausihrem Gebiete ist und welche der Größe, die sie

315Pascal: Gedanken über die Religion

begehren, weder etwas zusetzt noch nimmt. Sie wer-den gesehn von Gott und von den Engeln, und nichtvon den Körpern oder von den wißbegierigen Gei-stern: Gott genügt ihnen.

Auch ohne allen Glanz der Geburt wäre Archime-des ein Gegenstand gleicher Verehrung. Er hat nichtSchlachten geliefert; aber er hat der ganzen Welt be-wundernswerthe Erfindungen hinterlassen. O wiegroß und glänzend ist er in den Augen des Geistes!Jesus Christus, ohne Schätze und ohne irgend einewissenschaftliche Production nach außen, steht da inseiner Heiligkeit. Er hat keine Erfindungen gemacht,er hat nicht geherscht, aber er ist demüthig, geduldig,heilig von Gott, furchtbar den bösen Geistern, ohneeine Sünde. O wie ist er in großem Glanz gekommenund in einer wunderbaren Herrlichkeit für die Augendes Herzens, für die Augen, welche die Weisheitsehn!

Es wäre unnöthig gewesen, wenn Archimedes inseinen Büchern über Mathematik den Fürsten ge-macht hätte, obgleich er es war. Es wäre unnöthig ge-wesen, wenn unser Herr Jesus Christus als König ge-kommen wäre um in seinem Reich der Herrlichkeit zuglänzen. Aber wie herrlich kam er im Glanz nach sei-ner Art!

Es ist lächerlich, Anstoß zu nehmen an der Nied-rigkeit Jesu Christi, als wenn diese Niedrigkeit aus

316Pascal: Gedanken über die Religion

demselben Gebiete wäre wie die Größe, die er zu of-fenbaren kam. Man betrachte diese Größe in seinemLeben, in seinem Leiden, in seiner Unscheinbarkeit,in seinem Tode, in der Wahl der Seinen, in ihrerFlucht, in seiner geheimnißvollen Auferstehung undin allem Uebrigen und man wird sie so groß finden,daß man keinen Grund haben wird sich an einer Nied-rigkeit zu stoßen, die nicht da ist. Aber es giebt Men-schen, die können nur die fleischliche Größe bewun-dern, als ob es keine geistige Größe gäbe und widerandere bewundern nur die geistige, als gäbe es nichteine noch viel höhere in der Weisheit.

Alle Körper, das Firmament, die Sterne, die Erdeund die Königreiche stehen niedriger als der geringsteder Geister, denn er erkennt das alles und sich selbst;der Körper aber erkennt nichts. Und alle Körper undalle Geister zusammen und alle ihre Erzeugnisse ste-hen niedriger als die geringste Regung der Liebe,denn sie gehört zu einem unendlich höhern Gebiet.

Alle Körper zusammen sind nicht des geringstenGedankens fähig, das ist unmöglich und gehört in einandres Gebiet. Alle Körper und Geister zusammenkönnen nicht eine Regung wahrer Liebe hervorbrin-gen, das ist unmöglich und gehört in ein andres ganzübernatürliches Gebiet.

317Pascal: Gedanken über die Religion

2.

Jesus Christus lebte in einer solchen Dunkelheit(nähmlich was die Welt Dunkelheit nennt), daß dieGeschichtschreiber, die nur wichtige Dinge aufzeich-nen, ihn kaum bemerkt haben.

3.

Welcher Mensch hatte je mehr Glanz als JesusChristus? Das ganze Jüdische Volk sagt ihn voraus,ehe er kommt. Die Heiden beten ihn an, als er kommt.Beide, Heiden und Juden, betrachten ihn als ihrenMittelpunkt. Und doch welcher Mensch genoß je we-niger von allen diesem Glanz? Von drei und dreißigJahren lebte er dreißig ohne zum Vorschein zu kom-men. In den drei übrigen gilt er für einen Betrüger, diePriester und die Ersten seines Volks verwerfen ihn,seine Freunde und Verwandten verachten ihn. Zuletztstirbt er eines schmachvollen Todes, verrathen vondem einen der Seinigen, verleugnet von dem andernund verlassen von allen. Was hat er denn an diesemGlanz gehabt? Nie hat ein Mensch so viel Glanz ge-habt, nie ein Mensch mehr Schmach. Alle der Glanzhat zu nichts gedient als für uns um ihn uns kenntlichzu machen; er hat nichts davon gehabt für sich.

318Pascal: Gedanken über die Religion

4.

Jesus spricht von den größten Dingen so einfach,daß es scheint, als habe er nichts dabei gedacht unddoch zugleich so klar und genau, daß man wohl sieht,was er davon dachte. Diese Klarheit verbunden mitjener Einfachheit ist bewundernswürdig.

Wer lehrte die Evangelisten die Eigenschaften einerwahren Heldenseele, daß sie sie so vollkommen inJesu abschilderten? Warum machen sie ihn schwachin seinem Todeskampf! Wissen sie nicht einen stand-haften Tod zu malen? Gewiß ohne Zweifel, denn der-selbe Lukas malt den Tod des heiligen Stephansstandhafter als den Tod Jesu. Sie schildern ihn alsoder Furcht fähig, ehe die Nothwendigkeit zu sterbenda war, und nachher ganz stark. Allein wenn sie ihnbetrübt bis in den Tod schildern, so betrübt er sichselbst, aber wenn die Menschen ihn betrüben, ist erganz stark.

Die Kirche hat sich genöthigt gesehn zu zeigen,daß Jesus Christus Mensch war gegen die, welche ihnleugneten, eben so wie zu zeigen, daß er Gott war undder Schein ist eben so groß gegen daß eine wie gegendas andre.

Jesus Christus ist ein Gott, dem man sich nähertohne Stolz und vor dem man sich demüthiget ohne

319Pascal: Gedanken über die Religion

Verzweiflung.

5.

Die Bekehrung der Heiden war der Gnade des Mes-sias vorbehalten. Die Juden haben dafür nichts gethanoder wenigstens ohne Erfolg; alles, was darüber Salo-mo und die Propheten sagen, ist vergeblich gewesen.Die Weisen, wie Plato und Sokrates, konnten sienicht bewegen den wahren Gott allein an zu beten.

Das Evangelium spricht von der Jungfrauschaft derJungfrau Maria nur bis zur Geburt Jesu, alles mitBezug auf Jesum Christum.

Beide Testamente betrachten Jesum Christum, dasalte als seine Erwartung, das neue als sein Vorbild,beide als ihren Mittelpunkt.

Die Propheten haben vorausgesagt und sind nichtvorausgesagt. Die Heiligen darnach sind vorausge-sagt, aber nicht voraussagend. Jesus Christus ist vor-ausgesagt und voraussagend.

Jesus Christus für alle, Moses für ein Volk.Die Juden gesegnet in Abraham: »Ich will segnen,

die dich segnen.« (1 Mose 12. 3.) Aber »alle Völkergesegnet in seinem Samen.« (1 Mose 18. 18.)

»Ein Licht zu erleuchten die Heiden.« (Luk. 2. 32.)»So thut er keinen Heiden.« (Psalm 147. 20.), so

sagte David, da er vom Gesetze sprach; aber wenn

320Pascal: Gedanken über die Religion

man von Jesu Christo redet, muß man sagen: so thuter allen Heiden.

Auch ist das Jesu Christo eigen für alle zu sein.Die Kirche selbst bringt das Opfer nur für die Gläubi-gen dar, Jesus Christus hat das Opfer am Kreuze füralle dargebracht.

321Pascal: Gedanken über die Religion

Elfter Abschnitt.

Beweise für Jesum Christum aus den Weissagungen.

1.

Der größte Beweis für Jesum Christum liegt in denWeissagungen. Dafür hat Gott auch am Meisten ge-sorgt, denn die Erfüllung derselben ist ein fortlaufen-des Wunder vom Entstehn der Kirche bis zum Ende.So hat Gott sechzehn Jahrhunderte lang Propheten er-weckt und nachher während vier hundert Jahre allediese Prophezeiungen ausgestreut mit allen Juden, diesie in alle Theile der Welt trugen. Das war die Vorbe-reitung auf die Geburt Jesu Christi. Da sein Evange-lium in aller Welt geglaubt werden soll, so mußtennicht allein Prophezeiungen da sein, damit es ge-glaubt werde, sondern diese mußten in aller Welt aus-gebreitet sein, damit es angenommen werde von allerWelt.

Wenn ein einzelner Mann ein Buch geschriebenhätte mit Weissagungen über die Zeit und Weise derErscheinung Jesu Christi und wenn nun Jesu ganzdiesen Weissagungen entsprechend gekommen wäre,das würde eine außerordentliche Kraft haben.

Aber hier ist noch viel mehr. Eine Reihe von

322Pascal: Gedanken über die Religion

Männern, vier Jahrtausende hindurch, kommt einernach dem andern und verkündet dasselbe Ereigniß be-harrlich und ohne Veränderung. Ein ganzes Volk kün-digt es an und besteht viertausend Jahre um nochZeugniß zu geben von den Verheißungen, die es dar-über hat, und von denen es nicht abgebracht werdenkann durch alle Drehungen und Verfolgungen. Das istweit mehr beachtenswerth.

2.

Die Zeit ist geweissagt durch den Zustand des Jüdi-schen Volks, den Zustand der Heiden, den Zustanddes Tempels und die Zahl der Jahre.

Die Propheten hatten verschiedene Zeichen angege-ben, die alle vor der Ankunft des Messias geschehensollten und so mußten denn alle diese Zeichen zu-gleich eintreffen. Daher mußte die vierte Monarchiegekommen sein, als die siebenzig Wochen Daniels er-füllt sein sollten, so mußte das Scepter von Juda ent-wendet sein und dann der Messias kommen. Undwirklich kam damals Jesus, der sich den Messiasnannte.

Es ist vorausgesagt, daß in der vierten Monarchie,vor der Zerstörung des zweiten Tempels, ehe denJuden die Herschaft genommen und in der siebenzig-sten Woche Daniels die Heiden würden unterrichtet

323Pascal: Gedanken über die Religion

und zur Erkenntniß des Gottes, den die Juden anbe-ten, geführt werden, daß die, so ihn lieben, befreitsein würden von ihren Feinden und erfüllt von Furchtund Liebe gegen ihn.

Und es ist geschehen, daß in der vierten Monar-chie, vor der Zerstörung des zweiten Tempels u.s.w.die Heiden in Menge Gott anbeten und ein engelglei-ches Leben führen, die Töchter weihen Gott ihreJungfrauschaft und ihr Leben, die Männer entsagenallen Lüsten. Wozu Plato einige wenige auserwählteund noch dazu so gebildete Menschen nicht überredenkonnte, dazu überredet hundert tausende von unwis-senden Menschen eine geheime Macht durch die Kraftweniger Worte.

Was ist das alles? Es ist das, was so lange Zeitvorher geweissagt ist: »Nach diesem will ich meinenGeist ausgießen über alles Fleisch.« (Joel. 3. 1.) AlleVölker waren in Unglauben und die Lüfte versunken,die ganze Erde entbrennt von Liebe, die Fürsten ver-zichten auf ihre Hoheit, die Reichen verlassen dieGüter, die Jungfrauen leiden als Märtyrerinnen; dieKinder verlassen das Haus ihrer Väter um in derWüste zu leben.

Wo kommt diese geheime Macht her? Der Messiasist gekommen, das sind die Wirkungen und die Zei-chen seiner Ankunft.

Zwei tausend Jahre war Gott den Juden unbekannt

324Pascal: Gedanken über die Religion

geblieben unter der großen Masse der heidnischenVölker und zur vorausgesagten Zeit beten die Heidenin Menge diesen einigen Gott an, die Tempel sind zer-stört und die Könige selbst unterwerfen sich demKreuz.

Was ist das alles? Es ist der Geist Gottes, der aus-gegossen ist über die Erde.

Es ist vorausgesagt: der Messias würde einenneuen Bund stiften, der den Auszug aus Aegyptensollte vergessen machen (Jer. 23. 7.), er würde seinGesetz niederlegen nicht auswendig, sondern in dieHerzen (Jes. 51. 7.), er würde seine Furcht, die nuräußerlich gewesen, mitten ins Herz geben. (Jer. 31.33. und 32. 40.)

Die Juden würden Jesum verwerfen und selbst ver-worfen werden von Gott, weil der erwählte Weinbergnur Heerlinge geben würde (Jes. 5. 2. ff.), das erwähl-te Volk würde untreu sein, undankbar und ungläubig,ein ungehorsames Volk (Jes. 65. 2.), Gott würde siemit Blindheit schlagen und sie würden tappen im Mit-tag, wie ein Blinder tappt im Dunkeln; (5 Mose 28.28, 29.)

die Kirche würde in ihrem Anfange klein sein undin der Folge wachsen. (Ezech. 17.)

Es ist vorausgesagt, daß dann der Götzendienstwürde umgestoßen werden, dieser Messias würde alleGötzen ausrotten und die Menschen zum Dienst des

325Pascal: Gedanken über die Religion

wahren Gottes führen, (Ezech. 30. 13.)die Götzentempel würden zerstört werden und

unter allen Völkern und an allen Orten würde ihm einreines Speisopfer geopfert werden und nicht Thiere,(Mal. 1. 11.)

er würde die Menschen den rechten Weg lehren(Jes. 2. 3. Mich. 4. 2. ff.) und König der Juden undHeiden sein. (Psalm 2. 6, 8.; 72. 8.)

Und nie vorher noch nachher ist ein Mensch er-schienen, der etwas gelehrt hätte, was diesem nahekäme.

Nach so vielen Männern, welche diese Erscheinungvorausgesagt, ist endlich Jesus gekommen undspricht: Da bin ich und nun ist die Zeit da. Er ist ge-kommen und sagt den Menschen, daß sie keine an-dern Feinde haben als sich selbst, daß nur ihre Lei-denschaften es sind, was sie von Gott trennet, daß erkommt, sie von denselben zu befreien und ihnen seineGnade zu geben, um aus allen Menschen eine heiligeKirche zu bilden, daß er kommt, in diese Kirche einzu führen die Heiden und die Juden und zu zerstörendie Götzen der einen und den Aberglauben der an-dern.

Er spricht zu ihnen: Was die Propheten vorausge-sagt haben, daß es geschehen werde, das, sage icheuch, werden jetzt meine Aposteln thun. Die Judenwerde verworfen, Jerusalem wird bald zerstöret

326Pascal: Gedanken über die Religion

werden. Die Heiden werden bald gelangen zur Er-kenntniß Gottes und meine Apostel werden sie dazuführen, nachdem ihr den Erben des Weinbergs werdetgetödtet haben.

Darnach sprachen die Aposteln zu den Juden: Ihrwerdet verdammt werden! und zu den Heiden: Ihrsollt bald zur Erkenntniß Gottes kommen.

Dem widersetzen sich aber alle Menschen aus demnatürlichen Widerstreben ihrer Begierde. DieserKönig der Juden und Heiden wird unterdrückt vondem einen wie von dem andern, sie wollen seinenTod. Alles, was es Großes in der Welt giebt, vereinigtsich gegen diesen neuen Glauben, die Gelehrten, dieWeisen, die Könige. Die einen schreiben, die andernverdammen, die andern tödten. Und siehe trotz diesesWiderstands in kurzer Zeit herscht Jesus Christusüber die einen wie über die andern und zerstört dieJüdischen Cultus zu Jerusalem, welches dessen Mit-telpunkt ist und woraus er seine erste Kirche macht,wie den Götzendienst zu Rom, welches dessen Mittel-punkt ist und woraus er eine Hauptkirche macht.

Einfache Menschen ohne Gewalt wie die Apostelund die ersten Christen widerstehen allen Menschender Erde, unterwerfen sich die Könige, die Gelehrtenund Weisen und zerstören den so fest gegründetenGötzendienst, und alles dies geschieht allein durch dieGewalt jenes Worts, das es voraus verkündet hat.

327Pascal: Gedanken über die Religion

Indem die Juden Jesum tödteten um ihn nicht alsMessias an zu nehmen, gaben ihm das letzte Merkzei-chen des Messias. Indem sie fortfuhren ihn zu verken-nen, machten sie sich selbst zu unwiderleglichen Zeu-gen und indem sie ihn tödteten und fotfuhren ihn zuverleugnen, haben sie die Weissagungen erfüllt.

Wer sollte nicht Jesum Christum erkennen an sovielen besondern Umständen, die von ihm prophezeitsind? Denn es heißt:

er werde einen Vorläufer haben (Mal. 3. 4.),er werde als ein Kind geboren werden (Jes. 9. 6.),er werde geboren werden in der Stadt Bethlehem

(Mich 5. 1.),er werde kommen aus dem Stamme Juda (1 Mose

49. 8. ff.)und aus dem Geschlecht Davids (2 Sam. 7. 12. Jes.

7. 13.),er werde hauptsächlich in Jerusalem auftreten (Mal.

3. 1. Hag. 2. 10.),er solle blenden die Weisen und Gelehrten (Jes. 6.

10.) und den Elenden und Armen predigen dasEvangelium (Jes. 61. 1.), den Blinden die Augen auf-thun und den Kranken die Gesundheit wiedergeben(Jes. 35. 5, 6.) und zum Licht bringen die in der Fin-sterniß schmachten (Jes. 42. 16.),

er solle den rechten Weg lehren (Jes. 30. 21.) undder Gebieter der Völker sein (Jes. 55. 4.),

328Pascal: Gedanken über die Religion

er solle das Opfer für die Sünden der Welt sein(Jes. 53. 5.), der Grundstein, der bewährte Stein undköstliche Eckstein (Jes. 28. 19.), der Stein des Ansto-ßes und der Aergerniß (Jes. 8. 14.),

Jerusalem werde sich daran stoßen (Jes. 8. 15.) unddie Bauleute ihn verwerfen, Gott ihn aber zum Eck-stein machen (Psalm 118. 22.) und dieser Stein sollwachsen und ein großer Berg werden und die ganzeWelt füllen (Dan. 2. 35.);

also er werde verworfen werden (Psalm 118. 22.),verkannt (Jes. 53. 2, 3.), verrathen (Psalm 41. 10.),verkauft (Zach. 11. 12.), auf die Wange geschlagen(Jes. 50. 6.), verspottet (Jes. 34. 16.), auf vielfacheWeise geplagt (Psalm 69. 27.), mit Galle getränkt(Psalm 69. 22.), ihm werden die Füße und Händedurchgraben werden (Psalm 22. 17.), man werde ihmins Angesicht speien (Jes. 50. 6.), er werde umge-bracht werden (Dan. 9. 26.) und um seine Kleiderwerde das Loos geworfen werden (Psalm 22. 19.);

er werde am dritten Tage wieder auferstehn (Ps. 16.10. Hos. 6. 2.) und auffahren gen Himmel (Psalm 47.6.; 68. 19.), um sich zur Rechten Gottes zu setzen(Psalm 110. 1.);

die Könige werden sich wider ihn auflehnen (Ps. 2.2.), aber er zur Rechten seines Vaters werde siegenüber seine Feinde (Psalm 110. 5.), alle Könige wer-den ihn anbeten, alle Heiden werden ihm dienen

329Pascal: Gedanken über die Religion

(Psalm 72. 11.);die Juden werden als Volk bestehn bleiben (Jerm.

31. 36.);sie werden herumirren (Amos 9. 9.) ohne Könige,

ohne Opfer, ohne Altar u.s.w. (Hos. 3. 4.), ohne Pro-pheten (Psalm. 74. 9.), harrend auf das Heil und esdoch nicht findend (Jes. 59. 9. Jerem. 8. 15.).

3.

Der Messias allein sollte ein großes Volk, ein er-wähltes heiliges, geliebtes Volk erzeugen, es erziehen,nähren und zum Ort der Ruhe und Heiligkeit führen,es Gott heiligen, daraus den Tempel Gottes machen,es versöhnen mit Gott, retten von dem Zorn Gottesund erlösen von der Knechtschaft der Sünde, die er-sichtlich im Menschen herschet. Er allein sollte die-sem Volke Gesetze geben, diese Gesetze ihnen insHerz prägen, sich für sie Gott zum Opfer darbieten,sich opfern für sie, ein Opfer sein ohne Fehl und zu-gleich selbst der Opferer. Er sollte sich selbst darbie-ten, seinen Lein und sein Blut und dennoch zugleichauch Brod und Wein Gott darbieten. Jesus Christushat das alles gethan.

Es ist vorausgesagt, ein Erlöser soll kommen, derdem Teufel den Kopf zertreten und sein Volk erlösenwerde aus allen seinen Sünden (Psalm 130. 8.), ein

330Pascal: Gedanken über die Religion

neues Testament sollte sein, ein ewiges, ein anderesPriesterthum nach der Ordnung Melchisedefs, dasewig sein würde, der Messias sollte herrlich, mächtig,stark und dennoch zugleich so elend sein, daß manihn nicht erkannte, ihn nicht für das was er ist, neh-men, ihn verwerfen, ihn tödten würde; sein Volk, dasihn verleugnet, würde nicht mehr sein Volk sein, dieGötzendiener würden ihn aufnehmen und zu ihm flie-hen, er würde Zion verlassen um im Mittelpunkt desGötzendienstes zu herschen, nichts desto wenigerwürden die Juden immer fortbestehn, er würde ausJuda hervorgehen, wenn es keine Könige mehr gebenwürde.

4.

Man bedenke, daß von Anbeginn der Zeit die Er-wartung oder die Anbetung des Messias besteht ohneUnterbrechung, daß er dem ersten Menschen gleichnach seinem Fall verheißen ward, daß seitdem sichMenschen fanden, welche sagten: Gott hätte ihnen ge-offenbaret, es würde geboren werden ein Erlöser, dersein Volk retten würde, daß Abraham darnach kamund sagte: er hätte eine Offenbarung gehabt, er würdeabstammen von einem Sohn, den er bekommen sollte,daß Jakob erklärte, unter seinen zwölf Söhnen wärees Juda, von dem er herkommen würde, daß Moses

331Pascal: Gedanken über die Religion

und die Propheten darauf kommen und die Zeit undWeise seiner Erscheinung deutlich verkündeten, daßsie sagten: ihr Gesetz wäre nur vorläufig bis auf dasdes Messias, es würde bis dahin bestehn, das andreaber würde ewig dauern und so würde ihr Gesetz odervielmehr das des Messias, dessen Verheißung eswäre, immer auf der Erde sein, daß es in der Thatimmer gedauert hat daß endlich Jesus unter allen denvorausgesagten Umständen gekommen ist, das ist be-wundernswerth.

Wenn das so klar den Juden voraus verkündigtwar, wird man sagen, warum haben sie es nicht ge-glaubt? oder warum sind sie nicht ausgerottet wordendafür, daß sie einer so klaren Sache sich widersetzen?Ich antworte: das eine wie das andre ist vorausgesagt,daß sie eine so klare Sache nicht glauben und daß sienicht ausgerottet werden würden. Auch ist nichts glor-reicher für den Messias, denn es genügte nicht, daß esPropheten gab, ihre Weissagungen mußten auch ohneVerdacht erhalten werden. Nun u.s.w.

332Pascal: Gedanken über die Religion

5.

Die Propheten sind gemischt, Weissagungen überbesondere Fälle und Weissagungen über den Messias,damit die Weissagungen vom Messias nicht ohne Be-weise wären und die besondern Weissagungen nichtohne Frucht.

»Wir haben keinen König denn den Kaiser,« spra-chen die Juden. (Joh. 19. 15.) Also war Jesus derMessias, weil sie keinen König mehr hatten als einenFremden und auch keinen andern mehr haben wollten.

Die siebenzig Wochen Daniels sind zweideutig inBetreff der Zeit des Beginnens wegen der Propheti-schen Ausdrucksweise und in Betreff der Zeit desEndes wegen der verschiedenen Ansichten der Chro-nologisten. Aber dieser ganze Unterschied beläuftsich nur auf zweihundert Jahre.

Die Weissagungen, die Christum arm darstellen,stellen ihn als Herrn der Völker dar (Jes. 53. 2. ff.Zach. 9. 9. ff.);

die Weissagungen, welche die Zeit vorhersagen,verkünden ihn nur als Herrn der Heiden und leidend,nicht aber in den Wolken, noch als Richter, und wie-derum diejenigen welche ihn so darstellen als der darichtet die Völker in seiner Herrlichkeit, die bezeich-nen die Zeit nicht.

333Pascal: Gedanken über die Religion

Wenn der Messias dargestellt wird als groß undherrlich, so ist das sichtbar um die Welt zu richtenund nicht um sie zu erlösen. (Jes. 66. 15, 16.)

334Pascal: Gedanken über die Religion

Zwölfter Abschnitt.

Verschiedene Beweise für Jesum Christum.

1.

Wenn man den Aposteln nicht glauben will, somuß man sagen, sie sind Betrogene oder Betrüger.Das eine wie das andere ist schwierig. Denn was dasErste anbetrifft, so ist es nicht möglich sich so zu täu-schen, daß man einen Menschen für auferstanden hältund was das Zweite anbetrifft, so ist die Voraussa-gung, daß sie Betrüger gewesen, außerordentlich ab-geschmackt.

Man erfolge sie nur weiter. Man denke sich diesezwölf Männer nach Jesu Tode, versammelt, sich ver-abredend zu sagen, er wäre auferstanden. Sie forderndamit alle Mächte gegen sich heraus. Das Herz derMenschen ist außerordentlich geneigt zu Leichtsinnund Wechsel, schwach gegen Besprechungen und Ge-schenke. Ließ nur einer von ihnen durch alle dieseLockungen und was mehr ist, durch Gefängniß, Folterund Tod sich verleiten eine Blöße zu geben, so warensie verloren. Man verfolge das.

So lange Jesus bei ihnen war, konnte er sie auf-rechthalten; aber nachher, wenn er ihnen nicht

335Pascal: Gedanken über die Religion

erschienen ist, wer hat sie ausgerüstet mit Kraft undMuth zum Handeln?

2.

Die Sprache des Evangelii ist bewundernswürdigin vielfach verschiedener Art und unter andern auchdarin, daß von Seiten der Geschichtsschreiber keineAusfälle gegen Judas oder Pilatus noch gegen irgendeinen der Feinde oder vielmehr Henker Jesu verkom-men.

Wäre diese Bescheidenheit der evangelischen Ge-schichtsschreiber eben so wie noch viele andere Zügeeines so schönen Sinnes bloß angenommen gewesenund zwar nur um die bemerklich zu machen und hät-ten sie nicht selbst gewagt darauf aufmerksam zu ma-chen, so würden sie nicht unterlassen haben sichFreunde zu verschaffen, die diese Bemerkungen zuihrem Vortheil gemacht haben würden. Aber weil sieso thaten ohne Affectation und ganz ohne eignes In-teresse, so machten sie niemand darauf aufmerksam,ich weiß selbst nicht, ob es bis jetzt bemerkt wordenist. Das zeugt von der Einfalt, womit die Sache betrie-ben wurde.

336Pascal: Gedanken über die Religion

3.

Jesus Christus hat Wunder gethan, darnach dieApostel und auch die ersten Heiligen haben viele ver-richtet, weil die Weissagungen, bis dahin noch nichterfüllt, sich durch sie erfüllen und also nichts Zeugnißgeben konnte als die Wunder. Es war geweissagt, daßder Messias die Völker bekehren würde. Wie wärediese Weissagung erfüllt worden ohne die Bekehrungder Völker? und wie hätten die Völker sich bekehrtzum Messias, wenn sie nicht diese letzte Erfüllungder Weissagungen, die von ihm zeugen, gesehenhätte? Also ehe er starb und auferstand und ehe dieVölker sich bekehrt hatten, war alles noch nicht er-füllt und daher bedurfte es der Wunder während die-ser ganzen Zeit. Jetzt bedarf es deren nicht mehr umdie Wahrheit der christlichen Religion zu bezeugen,denn die erfüllten Weissagungen sind ein bleibendesWunder.

337Pascal: Gedanken über die Religion

4.

Auch der Zustand, in welchem man die Juden sieht,ist ein großer Beweis für die Religion. Denn es istetwas Erstaunliches dies Volk zu sehn, wie es so vie-len Jahren besteht und immer elend, da es zum Bewei-se für Jesum Christum nöthig ist, daß sie bestehn umvon ihm zu zeugen und daß sie elend sind, weil sieihn gekreuzigt haben und obgleich es ein Wider-spruch ist elend sein und bestehn, so besteht diesVolk doch immer trotz seines Elends.

Aber sind sie nicht beinahe in demselben Zustandegewesen zu Zeit der Gefangenschaft? Nein. Das Scep-ter war nicht gebrochen durch die Babylonische Ge-fangenschaft, denn die Rückkehr war verheißen undvorausgesagt. Alls Nebukadnezar das Volk verführte,ward ihnen, damit man nicht glauben sollte, das Scep-ter wäre nun von Juda entwendet, zum Voraus gesagt,sie würden dort nur kurze Zeit sein und wieder einge-setzt werden. Sie wurden immer durch die Prophetengetröstet und ihre Könige dauerten noch fort.

Dagegen die zweite Verwüstung ist ohne Verhei-ßung der Rückkehr, ohne Propheten, ohne Könige,ohne Trost, ohne Hoffnung, weil das Scepter fürimmer entwendet ist. Das heißt nicht gefangen sein,wenn sie es mit der Versicherung waren nach

338Pascal: Gedanken über die Religion

siebenzig Jahren befreit zu werden. Aber jetzt sind siees ohne eine Hoffnung.

Gott hat ihnen verheißen, ob er sie auch bis an dieäußersten Enden der Welt zerstreue, werde er sie dochwieder sammeln, wenn sie seinem Gesetz treu seinwürden. Sie sind sehr treu und bleiben unterdrückt.Der Messias muß also schon gekommen sein und dasGesetz, welches jene Verheißungen enthielt, muß auf-gehoben sein durch die Aufstellung eines neuen Ge-setzes.

5.

Wären die Juden alle von Jesu Christo bekehrtworden, so hätten wir nicht andre verdächtigen Zeu-gen, und wären sie ausgerottet worden, so hätten wirgar keine.

Die Juden verwerfen ihn, nicht alle: Die Heiligennehmen ihn auf und die Fleischlichen nicht. Und dasist so wenig gegen seine Ehre, daß es vielmehr derletzte Zug ist, der sie vollendet. Den Grund, den siedazu haben ihn zu verwerfen, und zwar der einzige,der sich in ihren Schriften, im Talmud und in denRabbinen findet, ist nur, daß Jesus sich nicht mit be-waffneter Hand die Nationen unterworfen hat. Jesusist getödtet worden, sagen sie, er ist unterlegen, er hatnicht die Heiden mit seiner Macht unterworfen, hat

339Pascal: Gedanken über die Religion

uns nicht ihre Beute gegeben, giebt keine Schätze.Haben sie nichts zu sagen als das? Das ist es eben,worin er mir liebenswerth ist; ich möchte den nicht,den sie sich ausdenken.

6.

Wie schön ist es mit Augen des Glaubens zu sehen,daß Darius, Cyrus, Alexander, Pompejus und Herodesohne es zu wissen für den Ruhm des Evangeliums ar-beiten!

7.

Die muhamedanische Religion hat den Alkoran undMuhamed zum Fundament. Aber dieser Prophet, derdie letzte Erwartung der Welt sein sollte, ist er vorausgeweissagt worden? Und welches Zeichen hat er, dasnicht auch jeder Mensch hätte, der sich Prophet nen-nen wollte? Welche Wunder behauptet er selbst ge-than zu haben? Welches Geheimniß hat er gelehrtnach seiner eignen Ueberlieferung? welche Moral undwelche Seligkeit?

Muhamed ist ohne Beglaubigung; also mußtenseine Gründe sehr stark sein, da sie nichts als ihreeigne Kraft haben.

340Pascal: Gedanken über die Religion

8.

Gesetzt, zwei Menschen sprechen Dinge, die nied-rig scheinen, aber die Reden des einen haben einendoppelten Sinn, den seine Anhänger verstehn, und dieReden des andern haben nur einen einzigen Sinn;wenn nun jemand, der nicht im Geheimniß ist, beidein dieser Art reden hört, so wird er über beide eingleiches Urtheil fällen. Aber wenn hernach im Verlaufder Rede der eine himmlische Dinge sagt und derandre immer nur niedrige und gemeine Dinge, jaselbst Albernheiten, so wird er urtheilen: der einespräche in Geheimnissen und der andre nicht, dennder eine habe zur Genüge gezeigt, daß er solche Al-bernheiten unfähig, aber wohl im Stande sei Geheim-nisse zu haben, dagegen der andre gezeigt, daß ereines Geheimnisses unfähig und der Albernheit fähigsei.

Nicht nach dem, was bei Muhamed dunkel ist undwas allenfalls einen geheimen Sinn haben könnte,meine ich, muß man ihn beurtheilen, sondern nachdem, was klar ist, nach seinem Paradies und allemUebrigen. Darin eben ist er lächerlich. Nicht so ist esmit der Schrift. Ich gebe zu, sie hat Dunkelheiten,aber es giebt auch bewundernswürdige Klarheiten undWeissagungen, deren Erfüllung offen vorliegt. Der

341Pascal: Gedanken über die Religion

Fall ist also nicht gleich. Man muß nicht Dinge ver-mengen und gleich stellen, die sich nur durch dieDunkelheit ähneln, aber nicht durch die Klarheiten,die, wenn die göttlich sind, verdienen, daß man dieDunkelheit verehre.

Der Alkoran sagt: der heilige Matthäus wäre einguter Mann gewesen. Also war Muhamed ein falscherProphet, weil er entweder gute Leute böse nannte oderweil er ihnen nicht glaubte in dem, was sie von JesuChristo gesagt haben.

10.

Jeder Mensch kann thun was Muhamed gethan hat,denn er hat keine Wunder gethan, er ist nicht vorausverkündigt u.s.w. Kein Mensch kann thun, was JesusChristus gethan hat.

Muhamed hat seine Religion gestiftet, indem ertödtete, Jesus, indem er die Seinen tödten ließ, Muha-med, indem er verbot zu lesen, Christus, indem ergebot zu lesen; genug, das ist so entgegengesetzt, daß,wenn Muhamed den Weg erwählte menschlicherWeise zu siegen, Jesus den Weg erwählte menschli-cher Weise unter zu gehn, und statt zu schließen, weilMuhamed gesiegt, konnte wohl Jesus auch siegen,muß man vielmehr sagen, weil Muhamed siegte, hättedas Christenthum müssen untergehn, wenn es nicht

342Pascal: Gedanken über die Religion

von einer rein göttlichen Kraft erhalten worden wäre.

343Pascal: Gedanken über die Religion

Dreizehnter Abschnitt.

Von dem Rathschluß Gottes sich dem einen zuverbergen und dem andern zu offenbaren.

1.

Gott wollte die Menschen erlösen und das Heil er-öffnen denen, die es suchen würden. Aber die Men-schen machen sich dessen so unwürdig, daß es ge-recht ist, wenn er einigen wegen ihrer Verstocktheitversagt, was er den andern zusagt, aus einer Barmher-zigkeit, die er ihnen nicht schuldig ist. Hätte er wollendie Hartnäckigkeit der Verstocktesten überwinden, sohätte er es gekonnt, wenn er sich ihnen so deutlich ge-offenbart hätte, daß sie an der Wahrheit seines Da-seins nicht hätten zweifeln können und so wird er amjüngsten Tag erscheinen mit einem solchen Glanz vonBlitzen und mit einer solchen Zerstörung der Natur,daß die Blindesten ihn sehn werden.

Aber nicht so wollte er erscheinen, als er kamsanftmüthig und von Herzen demüthig, denn weil soviele Menschen sich seiner Gnade unwerth machen,so beschloß er sie zu lassen in der Entbehrung desGuts, das sie nicht wollen. Es war also nicht ange-messen, wenn er in eine offenbar göttlichen Weise

344Pascal: Gedanken über die Religion

erschien, die unbedingt alle Menschen hätte überzeu-gen müssen; aber es war auch eben so wenig ange-messen, wenn er auf eine so verborgene Weise kam,daß er von denen, die ihn aufrichtig suchten, nicht er-kannt werden konnte. Diesen hat er sich vollkommenkenntlich machen wollen. Indem er sich so denen, dieihn von ganzem Herzen suchen, offenbar, denen aber,die ihn von ganzem Herzen fliehen, nur verborgenzeigen wollte, mäßigt er seine Erkenntniß dergestalt,daß er von sich Zeichen gegeben hat, sichtbar denen,die ihn suchen, und dunkel denen, die ihn nicht su-chen.

2.

Für diejenigen, welche nichts begehren als zusehen, ist genug Licht da und genug Finsterniß fürdiejenigen, die eine entgegengesetzte Neigung haben.Es ist genug Klarheit da, um die Erwählten zu er-leuchten und genug Dunkelheit um sie zu demüthigen;genug Dunkelheit um die Verworfenen blind zu ma-chen und genug Klarheit um sie zu verdammen undihnen alle Entschuldigung zu benehmen.

Wäre die Welt nur dazu da, um den Menschen vondem Dasein Gottes zu beleben, so würde seine Gott-heit darin von allen Zeiten auf eine unbestritteneWeise hervorleuchten. Aber da sie nur da ist durch

345Pascal: Gedanken über die Religion

Christum und für Christum und die Menschen zu be-lehren über ihr Verderben wie über die Erlösung, soglänzt alles darin von Beweisen für diese beidenWahrheiten. Was darin zur Erscheinung kommt, zeigtweder ein gänzliches Ausgeschlossensein noch ein of-fenbares Gegenwärtigsein der Gottheit, sondern dasGegenwärtigsein eines Gottes, der sich verbirgt. Allesträgt diesen Charakter.

Wenn nie etwas von Gott offenbar geworden wäre,so würde diese ewige Entbehrung auf doppelte Weisezu erklären sein, sie könnte sich eben so gut auf dieAbwesenheit aller Gottheit beziehn als auf die Un-würdigkeit der Menschen sie zu erkennen. Aber daßer bisweilen erscheint und nicht immer, das hebt dieZweideutigkeit auf. Erscheint er ein Mal, so ist erimmer und deswegen kann man daraus nichts anderesschließen, als daß ein Gott ist und daß die Menschenseiner nicht würdig sind.

3.

Die Absicht Gottes ist mehr den Willen zu vervoll-kommen als den Geist. Nun würde die völlige Klar-heit nur dem Geiste dienen und dem Willen schaden.Wäre keine Dunkelheit da, so würde der Menschnicht sein Verderben fühlen; wäre kein Licht da, sowürde der Mensch keine Heilung hoffen. So ist es

346Pascal: Gedanken über die Religion

also nicht allein angemessen, sondern auch für unsheilsam, daß Gott zum Theil verborgen ist, zum Theilenthüllt, weil es für den Menschen gleich verderblichist Gott zu kennen ohne sein Elend zu kennen, undsein Elend zu kennen ohne Gott zu kennen.

4.

Alles belehrt den Menschen über seinen Zustand,aber man muß es wohl verstehen, denn es ist nichtwahr, daß Gott sich in allem offenbart und eben sowenig, daß er sich in allem verbirgt. Das ist aber zu-gleich wahr, daß er sich verbirgt von denen, die ihnversuchen und sich offenbart vor denen, die nach ihmverlangen, weil die Menschen zugleich beides sind,Gottes unwürdig und Gottes fähig, unwürdig durchihr Verderben, fähig durch ihre ursprüngliche Natur.

5.

Es giebt nichts auf der Erde, das nicht entweder dasElend des Menschen zeige oder die BarmherzigkeitGottes, entweder die Ohnmacht des Menschen ohneGott oder seine Macht mit Gott. Das ganze All lehrtden Menschen, entweder daß er verderbt oder daß ererlöst ist; alles lehrt ihn seine Größe und sein Elend.Das Verlassensein von Gott erscheint bei den Heiden,

347Pascal: Gedanken über die Religion

der Schutz Gottes bei den Juden.

6.

Alles dient den erwählten zum Besten, selbst dieDunkelheiten der Schrift, denn sie ehren dieselbenwegen der göttlichen Klarheiten, die sie in ihnensehen; und alles dient den Verworfenen zum Schaden,selbst die Klarheiten, denn sie lästern sie wegen derDunkelheiten, die sie nicht verstehen.

7.

Wäre Christus nur gekommen um zu heiligen, dieganze Schrift und alle Dinge würden darauf hinzielenund es würde sehr leicht sein die Ungläubigen zuüberzeugen. Aber da er gekommen ist zur Heiligungund zum Aergerniß, wie Jesaias sagt (Jes. 8. 14.), sosind wir nicht im Stande die Hartnäckigkeit der Un-gläubigen zu überwinden. Das beweist aber nichtsgegen uns, weil wir ja behaupten, daß es in der gan-zen Führung Gottes keinen überzeugenden Beweis fürdie Geister giebt, die versteckt sind und nicht aufrich-tig die Wahrheit suchen.

Jesus Christus ist gekommen, damit die, welchenicht sahen, sehn sollten und die da sahen, blind wür-den, er ist gekommen zu heilen die Kranken und

348Pascal: Gedanken über die Religion

sterben zu lassen die Gesunden, die Sünder zu Bussezu rufen und sie zu rechtfertigen, die aber, welche sichfür gerecht hielten, in ihren Sünden zu lassen, dieHungrigen mit Gütern zu füllen und leer zu lassen dieReichen.

Was sagen die Propheten von Jesu Christo? Daß eroffenbar Gott sein werde? Nein, sondern daß er einwahrhaft verborgner Gott ist, den man verkennen undvon dem man nicht denken wird, daß er es sei, daß erein Stein des Anstoßes sein wird, woran sich vielestoßen werden u.s.w.

Um den Messias den Guten kenntlich und denBösen unkenntlich zu machen ließ Gott ihn auf solcheArt voraus verkündigen. Wenn die Weise wie derMessias erscheinen sollte, klar vorausgesagt wordenwäre, so hätte es keine Dunkelheit gegeben, selbst fürdie Bösen. Wenn die Zeit dunkel geweissagt wäre, sohätte es Dunkelheit gegeben selbst für die Guten;denn die Reinheit ihres Herzens hätte sie doch nichtfähig gemacht zu verstehn, daß z.B. ein [...] sechshundert Jahre bedeutet.

Die Zeit ist klar vorausgesagt worden und dieWeise in Bildern.

Auf diese Art halten die Bösen die verheißnenGüter für zeitliche Güter und gehen in die Irre, ob-gleich die Zeit klar vorausgesagt ist, und die Gutenirren nicht, denn das Verständniß der Güter hängt

349Pascal: Gedanken über die Religion

vom Herzen ab, welches gut nennt was es liebt, dasVerständniß der verheißnen Zeit aber hängt nicht vomHerzen ab und so kommt es, daß die klare Weissa-gung der Zeit und die dunkle der Güter niemandtäuscht als die Bösen.

8.

Wie mußte der Messias sein, weil das Scepterdurch ihn ewig bei Juda sein und doch bei seiner An-kunft von Juda entwendet werden sollte?

Um zu machen, daß sie sehend nicht sähen und hö-rend nicht hörten, konnte es nicht besser eingerichtetsein.

Statt sich zu beklagen, daß Gott sich verborgenhat, muß man ihm danken, daß er sich so viel geoffen-bart hat und ihm auch danken, daß er sich nicht geof-fenbart hat den Weisen und den Hochmüthigen, dieunwürdig sind einen so heiligen Gott zu erkennen.

9.

Das Geschlechtsregister Jesu im alten Testamentist mit so vielen andern unbedeutenden vermischt, daßman es beinahe nicht unterscheiden kann. HätteMoses nur das Register der Voreltern Jesu verzeich-net, so wäre das zu sehr in die Augen gefallen. Aber

350Pascal: Gedanken über die Religion

am Ende, wer genauer zusieht, findet die GenealogieJesu wohl unterschieden durch Thamar, Ruth u.s.w.

Die auffallendsten Blößen sind starke Beweise fürdiejenigen, welche die Sachen recht nehmen. So z.B.die beiden Geschlechtsregister des heiligen Matthäusund des heiligen Lukas, es ist augenscheinlich, daßdas nicht nach einer Verabredung verfaßt worden ist.

10.

Man werfe uns also nicht mehr den Mangel anKlarheit vor, weil wir uns dazu bekennen. Vielmehrerkenne man die Wahrheit der Religion eben in ihrerDunkelheit, in dem wenigen Licht, das wir von ihrhaben, und in der Gleichgiltigkeit, die wir zeigen siezu erkennen.

Wenn es nur eine Religion gäbe, so wäre Gott zuoffenbar, eben so, wenn es keine Märtyrer gäbe als inunsrer Religion.

Um die Bösen in der Blindheit zu lassen, sagtJesus nicht, daß er nicht aus Nazareth, noch daß ernicht Josephs Sohn ist.

351Pascal: Gedanken über die Religion

11.

Wie Jesus Christus mitten unter den Menschen un-bekannt weilte, so weilt auch die Wahrheit mittenunter den Meinungen des großen Haufens, ohne äu-ßerlichen Unterschied, desgleichen auch der LeibChristi im Abendmal unter dem gemeinen Brode.

Ist die Barmherzigkeit Gottes so groß, daß er unszum Heil belehrt, selbst wenn er sich verbirgt, wel-ches Licht dürfen wir nicht von ihm erwarten, wenn ersich offenbart?

Man versieht nichts von den Werken Gottes, wennman nicht zum Grundsatz nimmt, daß er die einenblind und die andern sehend macht.

352Pascal: Gedanken über die Religion

Vierzehnter Abschnitt.

Daß die wahren Christen und die wahren Juden nureine Religion haben.

1.

Die Religion der Juden schien wesentlich zu be-stehn in der Abstammung von Abraham, in der Be-schneidung, in den Opfern, den Gebräuchen, der Bun-deslade, dem Tempel zu Jerusalem, kurz im Gesetzund im Bunde Mosis.

Ich behaupte: daß sie in keinem dieser Dinge, son-dern einzig in der Liebe Gottes bestand und daß Gottalles Uebrige verwarf,

daß Gott keine Rücksicht nahm auf das fleischlicheVolk, welches von Abraham herkommen sollte,

daß die Juden wie die Fremden von Gott gestraftwerden, wenn sie ihn beleidigen.

(»Wirst du aber des Herrn deines Gottes vergessenund andern Göttern nachfolgen und ihnen dienen undsie anbeten, so bezeuge ich heute über euch, daß ihrumkommen werdet, eben wie die Heiden, die der Herrumbringet vor eurem Angesicht, so werdet ihr auchumkommen darum daß ihr nicht gehorsam seid derStimme des Herrn eures Gottes.« 5 Mos. 8. 19. 20.)

353Pascal: Gedanken über die Religion

Daß die Fremden von Gott aufgenommen werdenwie die Juden, wenn sie ihn lieben,

daß die wahren Juden ihr Vorrecht nur von Gottund nicht von Abraham herleiteten.

(»Bist du doch unser Vater, denn Abraham weißvon uns nicht und Israel kennet uns nicht; du aber,Herr, bist unser Vater und unser Erlöser, von Altersher ist das dein Name.« Jes. 63. 16.)

Moses selbst hat ihnen gesagt, daß Gott nicht diePerson ansehen würde. »Der Herr, euer Gott, sagt er,ist ein großer Gott, der keine Person achtet und keinGeschenk nimmt.« (5 Mos. 10. 17.)

Ich behaupte, daß die Beschneidung des Herzensanbefohlen ist;

(»So beschneidet nun eures Herzens Vorhaut undseid fürder nicht halsstarrig, denn der Herr euer Gottist ein Gott aller Götter und ein Herr über alle Herren,ein großer Gott, mächtig und schrecklich, der keinePerson achtet.« 5 Mos. 10. 16, 17. Jer. 4. 4.)

daß Gott sagt: er werde es einst thun;(»Und der Herr dein Gott wird dein Herz beschnei-

den und das Herz deines Samens, daß du den Herrndeinen Gott liebest von ganzem Herzen und von gan-zer Seele, auf daß du leben mögest.« 5 Mos. 30. 6.)

daß die unbeschnittnes Herzens sind, werden ge-richtet werden, denn Gott wird richten die unbe-schnittnen Völker und das ganze Volk Israel, weil es

354Pascal: Gedanken über die Religion

ein unbeschnittnes Herz hat. (Jerem. 9. 25, 26.)

2.

Ich behaupte, daß die Beschneidung ein Symbolwar, eingesetzt um das Jüdische Volk von allen Na-tionen zu unterscheiden; (1 Mos. 17. 11.)

daß sie deshalb, so lange sie in der Wüste waren,nicht beschnitten wurden, weil sie sich nicht mit an-dern Völkern vermischen konnten und daß, seit JesusChristus gekommen, das nicht mehr nöthig ist;

daß die Liebe Gottes überall anempfohlen wird.(»Ich nehme Himmel und Erde heute über euch zu

Zeugen. Ich habe euch Leben und Tod, Segen undFluch vorgelegt, daß du das Leben erwählest und duund dein Same leben mögest, daß ihr denn Herrneuren Gott liebet und seiner Stimme gehorchet undihm anhanget. Denn das ist dein Leben und dein lan-ges Alter, daß du im Lande wohnest, das der Herr dei-nen Vätern Abraham, Isaak und Jakob geschworenhat ihnen zu geben.« 1. Mos. 30. 19, 20.)

Es steht geschrieben, daß die Juden, weil ihnendiese Liebe fehlt, wegen ihrer Frevel würden verwer-fen, die Heiden aber an ihrer Statt würden erwähltwerden;

(»Ich will mein Antlitz vor ihnen verbergen, willsehen was ihnen zuletzt widerfahren wird, denn es ist

355Pascal: Gedanken über die Religion

eine verkehrte Art, es sind untreue Kinder; sie habenmich gereizet an dem, das nicht Gott nicht, mit ihrerAbgötterei haben sie mich erzürnt. Und ich will siewieder reizen an dem das nicht ein Volk ist, an einemnärrischen Volk will ich sie erzürnen.« 5 Mose 32.20, 21; vgl. Jes. 65.)

daß die zeitlichen Güter falsch und trüglich sindund das wahre Gut ist mit Gott vereinigt zu sein;(Psalm 73.)

daß Gott ihren Festen gram war und sie verachtete;(Amos 5. 21.)

daß die Opfer der Juden Gott mißfallen und nichtallem die Opfer der bösen Juden, sondern daß ihmselbst die der guten nicht gefallen, wie aus dem fünf-zigsten Psalm hervor geht, wo er erst dann mit denWorten: »Aber zu den Gottlosen spricht Gott« (v. 16)sich an die Bösen wendet, nachdem er zuvor gesagt,er wolle keine Opfer von Thieren noch von derenBlut; (Jes. 66. Jerem. 6. 20.)

daß die Opfer der Heiden werden von Gott ange-nommen werden und Gott kein Gefallen werde habenan den Opfern der Juden; (Mal. 1. 10, 11.)

daß Gott werde einen neuen Bund machen durchden Messias und daß der alte werde verworfen wer-den; (Jer. 31. 31.)

daß das Alte vergessen werden solle; (Jes. 43. 18,19.)

356Pascal: Gedanken über die Religion

daß man nicht mehr gedenken werde der Bundesla-de; (Jer. 3. 16.)

daß der Tempel werde verworfen werden; (Jer. 7.12-14.)

daß die Opfer werden verworfen und andre reineOpfer eingesetzt werden; ( Mal, 1. 10. 11.)

daß das Priesterthum nach der Ordnung Aaronswerde abgeschafft und das Priesterthum nach der Ord-nung Melchisedeks werde eingeführt werden durchden Messias; (Ps. 110.)

daß dieses Priesterthum ewig sein werde; (Ebend.)daß Jerusalem werde verworfen und ein neuer

Name gegeben werden; (Jes. 65)daß dieser letzte Name werde ein besserer Name

sein als der der Juden, ein ewiger Name, der nicht ver-geben soll; (Jes. 56. 5.)

daß die Juden sein werden ohne Propheten, ohneKönige, ohne Fürsten, ohne Opfer, ohne Altar; (Hof.3. 4.)

daß dessen ungeachtet die Juden immer als Volkfortbestehen werden. (Jer. 31. 16.)

357Pascal: Gedanken über die Religion

Funfzehnter Abschnitt.

Man erkennt Gott nicht anders heilsam als durchJesum Christum.

1.

Die Mehrzahl derer, die es unternehmen den Gott-losen die Gottheit zu beweisen, beginnen gewöhnlichmit den Werken der Natur und es gelingt ihnen selten.Ich greife nicht die Gewißheit dieser Beweise an, diedurch die heilige Schrift geheiligt sind; sie sind derVernunft angemessen, aber oft sind sie dem geistigenZustande derer, für die sie bestimmt sind, nicht genugangemessen und nicht genug im Verhältniß.

Denn es ist zu bemerken, daß man diese Rede nichtan die wendet, die den Glauben lebendig im Herzenhaben und die sofort sehen, daß alles, was da ist,nichts anders ist als das Werk des Gottes, den sie ver-ehren. Zu ihnen spricht die ganze Natur für ihren Ur-heber und die Himmel verkündigen die Ehre Gottes.Über diejenigen, in denen dieses Licht erloschen istund in denen man es wieder lebendig machen will, fürdiese Menschen ohne Glauben und Liebe, die nur Fin-sterniß und Dunkelheit in der ganzen Natur finden,scheint es nicht das Mittel, sie zurück zu führen, daß

358Pascal: Gedanken über die Religion

man ihnen zu beweisen für diesen großen und wichti-gen Gegenstand nur den Lauf des Mondes und derPlaneten gebe oder allgemeine Raisonnements, gegendie sie sich noch dazu unaufhörlich hartnäckig ge-wehrt haben. Die Verstocktheit ihres Geistes hat sietaub gemacht gegen diese Stimme der Natur, die fort-während in ihre Ohren getönt hat und die Erfahrungzeigt, daß man sie durch dieses Mittel keineswegs ge-winnt, sondern im Gegentheil nichts geeigneter ist siezurück zu stoßen und ihnen die Hoffnung zum Findender Wahrheit zu benehmen, als wenn man versucht siebloß durch diese Arten von Raisonnements zu über-zeugen und ihnen sagt, daß sie darin die Wahrheit un-verhüllt sehn müssen.

Die Schrift, die besser als wir die Dinge kennt, dievon Gott sind, spricht von ihnen nicht auf dieseWeise. Sie sagt uns wohl, daß die Schönheit der Ge-schöpfe den kennen lehrt, der ihr Urheber ist; aber siesagt uns nicht, daß sie diese Wirkung in der ganzenWelt machen. Sie belehrt uns im Gegentheil, daßwenn sie sie machen, es nicht durch sie selbst ge-schieht, sondern durch das Licht, welches Gott zugleicher Zeit ausgießt über den Geist derer, welchener sich durch dieses Mittel offenbart, denn daß manweiß, daß Gott sei, ist ihnen offenbar, denn Gott hates ihnen geoffenbart. (Röm. 1. 19.) Sie sagt uns imAllgemeinen, daß Gott ein verborgner Gott ist,

359Pascal: Gedanken über die Religion

(»Fürwahr du bist ein verborgner Gott!« Jes. 45. 15.)und daß seit dem Verderbniß der Natur, er die Men-schen in einer Blindheit gelassen hat, aus der sie nurdurch Jesum Christum herauskommen können, außerwelchem uns alle Gemeinschaft mit Gott geraubt ist.»Niemand kennt den Vater, denn nur der Sohn undwem es der Sohn will offenbaren« (Matth. 11. 27.)

Eben dies lehrt uns die Schrift auch noch, wenn sieuns an so vielen Stellen sagt, daß die Gott suchen ihnfinden, denn man spricht nicht also von einem hellenund augenscheinlichen Lichte, das sucht man nicht,von selbst enthüllt es sich und läßt sich sehn.

2.

Die metaphysischen Beweise von Gott liegen demUrtheile der Menschen so fern und sind so verwickeltdaß sie wenig treffen und wenn das auch irgend eini-gen dienen möchte, so würde das nur während desAugenblicke sein, da sie diese Demonstration sehn,aber eine Stunde nachher fürchten sie wieder sich ge-irrt zu haben. »Was sie mit Neugier erkannten, habensie durch Hochmuth verloren.«

Ueberdies können diese Arten von Beweisen unsnur zu einer speculativen Erkenntniß von Gott führenund ihn nur auf diese Art kennen, das ist so viel, alsihn gar nicht kennen.

360Pascal: Gedanken über die Religion

Die Gottheit der Christen ist nicht ein Gott, derbloß Urheber der mathematischen Wahrheiten und derOrdnung der Elemente wäre; das ist das Theil derHeiden. Sie ist nicht bloß ein Gott, welcher seineVorsehung über das Leben und über die Güter derMenschen ausübt um denen, die ihn anderen, eineglückliche Reihe von Jahren zu geben, das ist dasTheil der Juden. Sondern der Gott Abrahams und Ja-kobs, der Gott der Christen ist ein Gott der Liebe unddes Trostes, er ist ein Gott, der erfüllt die Seele unddas Herz, das er besitzt, er ist ein Gott, der sie inner-lich fühlen macht ihr Elend und seine unendlicheBarmherzigkeit, der sich mit ihnen vereint im Grundihrer Seele, der sie erfüllt mit Demuth, Freude, Zuver-sicht, Liebe, der sie unfähig macht ein andres Ziel zusuchen als ihn.

Der Gott der Christen ist ein Gott, welcher dieSeele fühlen läßt, daß er ihr einziges Gut ist, daß alleihre Ruhe in ihm liegt und daß sie keine Freude habenkann als ihn lieben, und welcher zugleich ihr Abseheneinflößt gegen die Hindernisse, die sie abhalten ihnvon allen ihren Kräften zu lieben. Die Selbstliebe unddie Begierde, die sie aufhalten, sind ihm unerträglich.Dieser Gott macht ihr fühlbar, daß sie so viel vonSelbstliebe hat und daß er allein sie davon heilenkönne.

Das heißt Gott erkennen als Christ. Aber um ihn

361Pascal: Gedanken über die Religion

auf diese Weise zu erkennen, muß man zugleich ken-nen sein Elend, seine Armuth und das Bedürfniß einesMittlers, das man hat, um sich Gott wieder zu nähernund um sich mitr ihm zu vereinigen. Man muß dieseErkenntniße nicht trennen, denn getrennt sind sienicht nur unnütz, sondern schädlich. Die Erkenntnißvon Gott ohne die von unserm Elend erzeugt denStolz; die Erkenntniß von unserm Elend ohne die vonJesu Christo erzeugt die Verzweiflung; aber die Er-kenntniß von Jesu Christo macht uns frei vom Stolzund von der Verzweiflung, denn wir finden darinGott, unser Elend und den einzigen Weg es wiedergut zu machen.

Wir können Gott erkennen ohne unser Elend zu er-kennen oder unser Elend ohne Gott zu erkennen odergar Gott und unser Elend ohne das Mittel zu erkennenuns von dem Elend zu befreien, das uns niederdrückt.Aber wir können nicht Jesum Christum erkennenohne zu erkennen alles zusammen Gott und unserElend und das Heilmittel für dasselbe, weil JesusChristus nicht bloß Gott ist sondern ein Gott, derunser Elend wieder gut macht.

So finden alle, die Gott suchen, ohne Jesum Chri-stum, kein Licht, das ihnen wahrhaft nützlich sei.Denn entweder sie kommen nicht dahin zu erkennen,daß es einen Gott giebt, oder wenn sie dahin kom-men, ist es ihnen unnütz, weil sie sich einen Weg

362Pascal: Gedanken über die Religion

schaffen ohne Mittler erkannt haben, so daß sie ent-weder in den Atheismus oder in den Deismus verfal-len, zwei Dinge, welche die christliche Religion fastgleich verabscheut.

Wir müssen also einzig streben Jesum Christum zuerkennen, weil wir durch ihn allein erwarten könnenGott zu erkennen auf eine Art, die uns nützlich sei.

Er ist der wahre Gott der Menschen, d.h. der Elen-den und der Sünder. Er ist der Mittelpunkt von allemund der Gegenstand von allem und wer ihn nicht er-kennt, erkennt nichts in der Weltordnung noch in sichselbst; denn wir erkennen nicht bloß Gott sondernauch uns selbst nur durch Jesum Christum.

Ohne Jesum Christum muß der Mensch in derSünde und in Elend sein, mit ihm ist der Mensch freivon Sünde und Elend. In ihm ist all unser Glück,unser Tugend, unser Leben, unser Licht, unsere Hoff-nung und außer ihm giebt es nur Sünde, Elend, Fin-sterniß, Verzweiflung und wir sehn nichts als Dunkel-heit und Verwirrungen in der Natur Gottes und inunsrer eignen Natur.

363Pascal: Gedanken über die Religion

Sechzehnter Abschnitt.

Gedanken über die Wunder.

1.

Man muß über die Lehre urtheilen nach den Wun-dern und über die Wunder nach der Lehre. Die Lehreunterscheidet die Wunder und die Wunder unterschei-den die Lehre. Alles das ist wahr und widersprichtsich nicht.

2.

Es giebt Wunder, die sichre Zeugen der Wahrheitsind, andre, die das nicht sind. Wir brauchen einKennzeichen sie zu erkennen, sonst wären sie unnütz.Nun sind sie aber nicht unnütz, sondern dienen imGegentheil zur Grundlage. Die Regel, die man unshierüber giebt, muß also von der Art sein, daß sie denBeweis, welchen die wahren Wunder für die Wahrheitabgeben (was ihr Hauptzweck ist), nicht wieder um-stoße.

Gäbe es keine Wunder, mit der Lüge verbunden, sohätten wir hier Gewißheit. Gäbe es keine Regel dieWunder zu unterscheiden, so wären sie unnütz und es

364Pascal: Gedanken über die Religion

wäre kein Grund vorhanden zu glauben.Moses hat eine Regel aufgestellt, nämlich: falsch

ist ein Wunder, wenn es zur Abgötterei verführt (5Mos. 13. 1-3.), und Jesus Christus giebt eine: »Es istniemand, sagt er, der eine That thue in meinemNamen und möge bald übel von mir reden.« (Mark. 9.39.) Daraus folgt: wer sich offen gegen Jesum Chri-stum erklärt, der kann nicht Wunder thun in seinemNamen. Wenn er also welche thut, so ist das nicht imNamen Jesu Christi und man soll ihn nicht hören.Hiemit sind denn nun die Fälle bezeichnet, wo manden Wundern Glauben versagen soll. Wir dürfen nichtandre Fälle aufstellen im alten Testament, wenn mandich von Gott, im neuen, wenn man dich von JesuChristo abwendig machen will.

Sobald man also ein Wunder sieht, muß man ent-weder sich unterwerfen oder ungewöhnliche Beweisevom Gegentheil haben; man muß sehen, ob der, wel-cher sie verrichtet, einen Gott leugnet oder JesumChristum und die Kirche.

365Pascal: Gedanken über die Religion

3.

Jede Religion ist falsch, die nicht in ihrer Glau-benslehre einen Gott verehrt als Urgrund aller Dingeund die nicht in ihrer Sittenlehre einen einzigen Gottliebt als Gegenstand aller Dinge. Jede Religion, diejetzt nicht Jesum Christum anerkennt, ist offenbarfalsch und die Wunder können ihr zu nichts dienen.

Die Juden hatten eine Lehre von Gott, wie wir einevon Jesu Christo haben und diese Lehre war durchWunder bestättigt, sie hatten ein Verbot keinem Wun-derthäter zu glauben, der ihnen eine andre Lehre ver-kündigen würde, und noch mehr, sie hatten auch dasGebot sich an die Hohenpriester zu wenden und sichan sie zu halten. Und so hatten sie denn, scheint es,alle die Gründe, die wir gegen Wunderthäter habenihnen den Glauben zu versagen, auch gegen Jesumund die Apostel.

Dennoch ist es gewiß, daß sie sehr strafbar waren,in dem sie sich weigerten ihnen wegen ihrer Wunderzu glauben, weil Jesus sagt, daß sie nicht strafwürdiggewesen wären, wenn sie seine Wunder nicht gesehenhätten. »Hätte ich nicht die Werke gethan unter ihnen,die kein andrer gethan hat, so hätten sie keine Sünde.Nun aber haben sie es gesehn und hassen doch beidemich und den Vater; doch daß erfüllt werde der

366Pascal: Gedanken über die Religion

Spruch in ihrem Gesetz geschrieben: Sie hassen michohne Ursache.« (Joh. 15. 24, 25.)

Daraus folgt denn, er betrachtete seine Wunder alssichre Beweise für das, was er lehrte und die Judenhatten die Verpflichtung an ihn zu glauben. Und wirk-lich ins Besondere die Wunder machten die Judenstrafbar in ihrer Ungläubigkeit. Denn die Beweise, dieman während des Lebens Jesu aus der Schrift hätteziehen können, wären nicht überführend gewesen.Man findet da z.B. daß Moses sagt: es werde ein Pro-phet kommen. Aber das würde nicht bewiesen haben,daß Jesus dieser Prophet war und darauf kam es ebenan. Jene Stellen zeigten, daß er der Messias seinkonnte und dies mir den Wundern zusammen solltedie Menschen bestimmen zu glauben, daß er es wirk-lich war.

4.

Die Prophezeiungen allein reichten nicht hin zumBeweise für Jesum Christum während seines Lebensund so wäre es nicht strafbar gewesen, nicht an ihn zuglauben vor seinem Tode, wenn nicht die Wunder ent-scheidend gewesen wären. Also sind die Wunder hin-reichend, wenn man nicht die Lehre widersprechendfindet, und man muß daran glauben.

Jesus Christus hat bewiesen, daß er der Messias

367Pascal: Gedanken über die Religion

war, indem er seine Lehre und seine Sendung mehrdurch seine Wunder bewährte als durch die Schriftund die Weissagungen.

Durch die Wunder erkennt Nikodemus, daß seineLehre von Gott ist. »Meister wir wissen, daß du bistein Lehrer von Gott gekommen, denn niemand kanndie Zeichen thun, die du thust, es sei denn Gott mitihm.« (Joh. 3. 2.) Er schließt nicht aus der Lehre aufdie Wunder, sondern aus den Wundern auf die Lehre.

Also selbst wo die Lehre verdächtig wäre, wie dasallerdings die Lehre Jesu dem Nikodemus sein konn-te, weil sie die Ueberlieferungen der Pharisäer um zustoßen schien, wenn es nur auf derselben Seite klareund augenscheinliche Wunder giebt, so muß die Au-genscheinlichkeit des Wunders das, was von seitender Lehre etwa schwierig sein konnte, überwiegen.Das beruht auf dem unabänderlichen Grundsatz, daßGott nicht irre führen kann.

Es giebt ein gegenseitiges Pflichtverhältniß zwi-schen Gott und den Menschen: »So kommt denn undlaßt uns miteinander rechten, spricht der Herr« sagtGott bei Jesaias (Jes. 1. 18.) und an einer anderenStelle: »Was sollte man doch thun an meinem Wein-berge, daß ich nicht gethan habe an ihm? « (Jes. 5.4.)

Die Menschen sind Gott schuldig die Religion, dieer ihnen sendet, an zu nehmen; Gottes Pflicht gegen

368Pascal: Gedanken über die Religion

die Menschen ist sie nicht irre zu führen.Nun wären sie aber irre geführt, wenn die Wundert-

häter eine falsche Lehre verkündeten, die nicht deut-lich dem gesunden Menschenverstande als falsch er-schiene, und wenn nicht ein noch größere Wunderthä-ter schon vorher gewarnt hätte ihnen zu glauben. Sowenn in der Kirche Spaltung gab und die Arianerz.B., die auf der Schrift zu stehen behaupteten wie dieKatholiken, hätten Wunder gethan und die Katholikennicht, so würde man irre geführt werden sein. Dennwie ein Mensch, der uns die Geheimnisse Gottes ver-kündigt, nicht würdig ist, daß man ihm auf sein eig-nes Ansehn glaube, so verdient ein Mensch, der zumZeichen seiner Gemeinschaft, in der er mit Gott steht,Todte auferweckt, die Zukunft voraussagt, die Bergeversetzt, die Krankheiten heilt, der verdiene, daß manihm glaube und man versündigt sich, wenn man sichihm nicht ergiebt, es wäre denn, daß er durch einenandern, der noch größere Wunder thäte, Lügen ge-straft würde.

Aber heißt es nicht, daß Gott uns versucht? Undkann er uns also nicht durch Wunder versuchen, diezum Irrthum zu leiten scheinen?

Es ist ein großer Unterschied zwischen Versuchenund Irreführen. Gott versucht, aber er führt keines-wegs irre. Versuchen heißt Gelegenheiten verschaffen,die aber keine Nothwendigkeit auferlegen. Irreführen

369Pascal: Gedanken über die Religion

heißt einen Menschen in die Nothwendigkeit verset-zen, daß er etwas Falsches schließt und festhält. Daskann Gott nicht thun und das würde er doch thun,wenn er zuließe, daß in einer dunkeln Sache Wundergethan würden von der Seite des Irrthums.

Man kann daraus schließen, wie unmöglich es ist,daß ein Mensch, der seine schlechte Lehre verbirgtund nur eine gute zum Schein vergiebt und behauptetmit Gott und mit der Kirche eins zu sein, Wunderthue um unmerklich eine falsche und spitzfindigeLehre ein zu schwärzen. Das kann nicht sein, undnoch weniger, daß Gott, der Herzenskündiger, zuGunsten eines solchen Menschen Wunder thue.

5.

Es ist ein großer Unterschied: nicht für Christumsein, und es offen sagen oder nicht für Christum seinund sich stellen, als wäre man für ihn. Die erstenkönnten vielleicht Wunder thun, nicht die letzten,denn von den einen ist es klar, daß sie gegen dieWahrheit sind nicht von den andern; so sind ihreWunder deutlicher.

Die Wunder entschieden also die zweifelhaftenDinge, zwischen Juden und Heiden, Juden und Chri-sten, Katholiken und Ketzern, Verläumdeten und Ver-läumdern, zwischen den drei Kreuzen.

370Pascal: Gedanken über die Religion

Das hat man in allen Kämpfen der Wahrheit gegenden Irrthum gesehn, Abels gegen Kain, Moses gegenPharaos Zauberer, Eliä gegen die falschen Propheten,Jesu Christi gegen die Pharisäer, des heiligen Paulusgegen Barjesus, der Apostel gegen die Teufelbe-schwörer, der Christen gegen die Ungläubigen, derKatholiken gegen die Ketzer; und das wird sich auchzeigen im Kampf Eliä und Henoch gegen den Anti-christ. Immer überwiegt in Wundern das Wahre.

Genug, niemals im Streit über den wahren Gottoder über die Wahrheit der Religion ist ein Wundervon der Seite des Irrthums geschehn, daß nicht auchein viel größeres von der Seite der Wahrheit geschehnwäre.

Nach diesem Grundsatz ist es klar, daß die Judenverpflichtet waren an Jesum Christum zu glauben. Erwar ihnen verdächtig, aber seine Wunder waren klarerals die Verdachtgründe, die man gegen ihn hatte.Daher mußten sie ihm glauben.

Zur Zeit Jesu glaubten einige an ihn, andre nicht,wegen der Weissagungen, nach denen der Messias zuBethlehem geboren werden sollte statt daß manglaubte, Jesus wäre zu Nazareth geboren. Aber siemußten besser Acht geben, ob er nicht zu Bethlehemgeboren war. Denn da seine Wunder überzeugendwaren, so konnten diese vermeintlichen Widersprücheseiner Lehre gegen die Schrift und diese Dunkelheit

371Pascal: Gedanken über die Religion

sie nicht entschuldigen, aber sie machen sie blind.Jesus heilte den Blindgebornen und that viele Wun-

der am Sabbathtage. Dadurch machte er die Pharisäerblind, welche sagten: man müßte von den Wundernnach der Lehre urtheilen.

Aber nach demselben Grundsatz, nach welchemman Jesu Christo glauben sollte, wird man dem Anti-christ nicht glauben dürfen.

Jesus Christus sprach weder gegen Gott nochgegen Moses. Der Antichrist und die falschen Prophe-ten, von denen das alte und neue Testament weissagt,werden offen gegen Gott und gegen Christum spre-chen. Einem versteckten Feinde würde Gott nicht ge-statten offen Wunder zu thun.

Moses hat von Jesu Christo geweissagt und gebo-ten ihm zu folgen; Jesus hat vom Antichrist geweis-sagt und verboten ihm zu folgen.

Die Wunder Jesu sind nicht vom Antichrist voraus-gesagt, aber die Wunder des Antichrists sind voraus-gesagt von Jesu. Also wenn Jesus nicht der Messiaswäre, so hätte er recht irre geführt, aber man kannnicht mit Grund durch die Wunder des Antichrists irregeführt werden. Deswegen schaden auch die Wunderdes Antichrists den Wundern Christi nicht. In derThat wenn Jesus die Wunder des Antichrists voraus-sagte, meinte er damit den Glauben an seine eignenWunder zu zerstören?

372Pascal: Gedanken über die Religion

Es giebt keinen Grund dem Antichrist zu glauben,der nicht ein Grund wäre an Jesum Christum zu glau-ben; aber es giebt Gründe an Christum zu glauben,die keine Gründe sind dem Antichrist zu glauben.

6.

Die Wunder haben gedient zur Gründung und wer-den dienen zum Fortbau der Kirche, bis auf den Anti-christ, bis ans Ende.

Deswegen hat Gott, um der Kirche dieses Zeugnißzu erhalten, die falschen Wunder entweder zu Schan-den gemacht oder sie voraus verkündigt, und durchdas eine wie durch das andere hat sich über das erho-ben, was für uns übernatürlich ist und hat uns selbstdahin erhoben.

Eben so wird es auch in Zukunft geschehn; Gottwird entweder nicht falsche Wunder zulassen odernoch größere hervorbringen.

Denn die Wunder haben eine solche Kraft, daßnothwendig Gott warnen mußte, man solle nicht daranglauben, wenn sie gegen ihn sind, so klar es auch sei,daß ein Gott ist; sonst wären sie doch im Stande irrezu machen.

So wenig also sprechen die stellen des dreizehntenCapitels im fünften Buch Mosis, welche gebieten:man solle denen, die Wunder thun und vom Dienste

373Pascal: Gedanken über die Religion

Gottes abwendig machen, nicht glauben und nicht ge-horchen und jene beim heiligen Markus: »Es werdensich erheben falsche Christi und falsche Propheten,die Zeichen und Wunder thun, daß sie auch die Aus-erwählten verführen, so es möglich wäre« (Mark. 13.22) und einige andere ähnliche gegen das Ansehn derWunder, daß im Gegentheil nichts mehr ihre Kraft be-zeichnet.

7.

Was den Glauben an die wahren Wunder hindert,das ist der Mangel an Liebe. »Ihr glaubt nicht, sagtJesus zu den Juden, denn ihr seid meine Schafenicht.« (Joh. 10. 26.) Was den Glauben an die fal-schen erweckt, ist auch der Mangel an Liebe. »Dafür,daß sie die Liebe zur Wahrheit nicht haben angenom-men, daß sie selig würden, darum wird ihnen Gottkräftige Irrthümer senden, daß sie glauben der Lüge.«(2 Thess. 2. 10, 11.)

Wenn ich bedenke, woher es kommt, daß man sovielen Betrügern, die Heilmittel zu besitzen vorgeben,so oft Glauben beimißt, selbst so weit, daß man seinLeben in ihre Hände giebt, so scheint mir das diewahre Ursache, daß es wahre Heilsmittel giebt; dennes wäre nicht möglich, daß es so viel falsche gäbe undman ihnen so viel Glauben schenkte, wenn es nicht

374Pascal: Gedanken über die Religion

auch wahre gäbe. Hätte es nie welche gegeben undwären alle Uebel von jeher unheilbar gewesen, sowäre es nicht möglich, daß die Menschen sich einge-bildet hätten, welche geben zu können, und noch vielweniger, daß so viele andre denen Glauben ge-schenckt hätten, die sich rühmten welche zu haben.Gerade so als wenn ein Mensch sich rühmte vor demSterben bewahren zu können, so würde ihm niemandglauben, weil es davon kein Beispiel giebt.

Aber da es eine Menge von Mitteln gegeben hat,die durch die Erkenntniß selbst der größten Männerals wahr befunden sind, so hat sich der Glauben derMenschen davor gebeugt; denn, da wegen der beson-dern Wirkungen, die wahr sind, die Sache im Allge-meinen nicht geleugnet werden kann und das Volknicht im Stande ist zu unterscheiden, welche unterdiesen besondern Wirkungen die wahren sind, glaubtes sie alle. Eben so ist der Grund, daß man so vielefalsche Wirkungen des Mondes glaubt, der, daß eswahre giebt, wie Ebbe und Fluth.

So scheint es mir denn auch einleuchtend, daß esnur darum so viel falsche Wunder, falsche Offenba-rungen, Weissagungen u.s.w. giebt, weil es wahregiebt; desgleichen falsche Religionen nur, weil es einewahre giebt. Denn wenn es nie etwas von alle dem ge-geben hätte, so wäre es gleichsam nicht möglich, daßdie Menschen es sich eingebildet und noch weniger,

375Pascal: Gedanken über die Religion

daß andre es geglaubt hätten. Aber weil es viele sehrgroße Dinge, die wahr waren, gegeben hat und weilsie daher von großen Männern geglaubt worden sind,so hat das einen falschen Eindruck gemacht, daß bei-nahe die ganze Welt fähig geworden ist auch die fal-schen Dinge zu glauben. Also statt zu schließen, daßes keine wahren Wunder gebe, weil es falsche giebt,muß man im Gegentheil sagen: daß es wahre Wundergebe, weil es so viel falsche giebt und daß es eben sonur darum falsche Religionen gebe, weil es einewahre giebt. Das kommt davon her, daß der Geist desMenschen, der sich von jener Seite durch die Wahr-heit bezwungen fühlt, dadurch auch fähig wird allesFalsche an zu nehmen.

8.

Es heißt: Glaubet der Kirche, nicht aber: Glaubetden Wundern; aus dem Grunde weil das letzte natür-lich ist und nicht das erste; dieses bedurfte eines Ge-botes, nicht jenes.

Es sind so wenige Menschen, denen sich Gottdurch diese außerordentlichen Vorfälle sichtbarmacht, daß man diese Gelegenheiten recht benutzenmuß; weil er aus dem Geheimniß der Natur, das ihndeckt, nur heraustritt um unsern Glauben zu zeigen,daß wir ihm mit um so mehr Eifer dienen, je mehr wir

376Pascal: Gedanken über die Religion

ihn mit Gewißheit erkennen.Wenn Gott sich den Menschen unausgesetzt offen-

barte, so wäre es kein Verdienst an ihn zu glauben,und wenn er sich nie offenbarte, so gäbe es wenigGlauben. Aber er verbirgt sich gewöhnlich und offen-bart sich selten denen, die er zu seinem Dienste din-gen will. Dieses wunderbare Geheimniß, in welchesGott sich zurückgezogen hat, undurchdringlich für einmenschliches Auge, ist eine große Lehre uns in dieEinsamkeit zu treiben, fern von den Augen der Men-schen. Er ist unter dem Schleier der Natur, der ihn unsdeckt, verborgen geblieben bis zur Erscheinung imFleisch, und als die Zeit erfüllt war, daß er erschien,hat er sich noch mehr verborgen, indem er sich in dieMenschheit hüllte. Er war viel mehr zu erkennen, daer unsichtbar war, als da er sichtbar gemacht. Undendlich da er erfüllen wollte die Verheißung, die erseinen Aposteln gethan bei den Menschen zu bleibenbis zu seiner letzten Wiederkunft, da hat er erwählt zubleiben in dem seltsamsten und dunkelsten Geheim-niß von allen, nämlich unter den Gestalten des heili-gen Abendmahls. Dieses Sacrament ist es, was derheilige Johannes in der Offenbarung »das verborgneManna« nennt (Off. 2. 17.) und ich glaube, daß Je-saias es in dieser Weise sah, als er im Geist der Weis-sagung spricht: »Für wahr du bist ein verborgnerGott.« (Jes. 45. 15.) Das ist das letzte Geheimniß,

377Pascal: Gedanken über die Religion

worin er verborgen sein kann. Durch den Schleier derNatur, der Gott verhüllt, sind mehre Ungläubige hin-durch gedrungen, die, wie der heilige Paulus sagt,Gottes unsichtbares Wesen ersehen zu haben an densichtbaren Werken der Schöpfung. (Röm. 1. 20.)Viele ketzerische Christen haben ihn erkannt mittendurch seine Menschheit hindurchschauend und betenJesum Christum an als Gott und Mensch. Wir abermüssen uns glücklich schätzen, daß Gott uns so weiterleuchtet ihn zu erkennen unter dem Brode undWein.

Zu diesen Betrachtungen kann man noch hinzufü-gen das Geheimniß des Geistes Gottes, der auch inder Schrift verborgen ist. Denn es giebt zweierleivollständigen Sinn, einen buchstäblichen und einenmystischen. Die Juden halten sich an den einen undahnen nicht ein Mal, daß es noch einen andern giebt,und denken nicht daran ihn zu suchen. Ebenso sieGottlosen sehen die natürlichen Wirkungen undschreiben sie der Natur zu ohne zu ahnen, daß es nocheinen andern Urheber giebt, wie die Juden, indem siein Jesu einen vollkommenen Menschen sahen, nichtdaran gedacht haben in ihm eine andere Natur zu su-chen. - »Wir haben ihn nichts geachtet.« sagt Jesaias(Jes. 53. 3.) - und wie desgleichen die Ketzer, dievollkommen äußere Erscheinungen des Brodes imAbendmahl ansehend, nicht daran denken eine andere

378Pascal: Gedanken über die Religion

Substanz darin zu suchen.Alle Dinge verhüllen ein Geheimniß, die Gott ver-

hüllen. Die Christen sollen ihn in allem erkennen. Diezeitlichen Trübsale verhüllen die ewigen Güter, zudenen sie führen; die zeitlichen Freuden verhüllen dieewigen Leiden, die sie verursachen.

Lasset uns Gott bitten, daß er uns verleihe in allemihn zu erkennen und ihm zu dienen und lasset uns ihmDank sagen, daß er, für so viele andre in allen Dingenverborgen, sich vor uns in allen Dingen und in somancherlei Weise geoffenbart hat.

9.

Die Schwestern von Portroyal erstaunten darüber,daß man sagt: sie seien auf einem Wege des Verder-bens, ihre Beichtväter führen sie nach Genf und flö-ßen ihnen ein, Jesus Christus sei nicht im Abendmahlnoch zu rechten des Vaters; da sie doch wußten, daßalles falsch war, traten sie in dieser Lage vor Gott undsprachen zu ihm mit dem Propheten: »Siehe, ob ichauf bösen Wegen bin und leite mich auf ewigemWege.« (Psalm 139. 24.) Und was geschieht nun?Den Ort, den man den Tempel des Teufels nennt,macht Gott zu seinem Tempel. Man sagt: man müsseda die Kinder wegnehmen, das sei das »Zeughaus derHölle.« Gott macht daraus das Heiligthum seiner

379Pascal: Gedanken über die Religion

Gnaden. Endlich bedroht man sie mit allem Schreckenund aller Rache des Himmels und Gott überhäuft siemit seiner Huld. Man muß den Verstand verlorenhaben, daraus zu schließen, daß sie auf dem Wege desVerderbens sind.

Und doch haben die Jesuiten nicht verfehlt diesenSchluß daraus zu ziehn, denn sie schließen aus allem,daß ihre Widersacher Ketzer sind. Wenn die Gegnerihnen ihre Frevel vorwerfen, so sagen die Jesuiten: siesprechen wie Ketzer. Wenn jene sagen, die GnadeJesu unterscheide uns und unser Heil hange von Gottab, so ist das die Sprache der Ketzer. Wenn jenesagen, daß sie dem Papst unterworfen sind, so sagensie: daß ist die Art wie Ketzer sich verbergen und ver-stellen. Wenn jene sagen: man müsse nicht tödten umeines Apfels willen, so sagen die Jesuiten: sie befrei-ten die Moral der Katholiken. Endlich auch wennWunder unter jenen geschehen, so ist das kein Zei-chen von Heiligkeit, sondern im Gegentheil ein Grundzum Verdacht der Ketzerei.

Das ist die seltsame Uebertreibung, wozu die Lei-denschaft die Jesuiten gebracht hat und ihnen bliebnichts mehr als dies übrig um die Hauptfundamenteder christlichen Religion zu zerstören. Denn dieKennzeichen der wahren Religion sind die feste Gil-tigkeit, der gute Wandel und die Wunder. Die festeGiltigkeit haben sie schon vernichtet durch die

380Pascal: Gedanken über die Religion

Wahrscheinlichskeitslehre, die neue Meinungen andie Stelle der alten Wahrheiten einführt, den gutenWandel haben sie durch ihre verdorbne Moral zer-nichtet und jetzt wollen sie noch die Wunder zernich-ten, indem sie entweder ihre Wahrheit oder ihreWichtigkeit wegräumen.

Die Gegner der Kirche leugnen die Wunder selbstoder deren Wichtigkeit, eben so die Jesuiten. Also umihre Gegner zu schwächen, entwaffnen sie die Kircheund verbinden sich mit allen ihren Feinden, indem sievon ihnen alle die Gründe leihen, womit sie die Wun-der bekämpfen. Denn die Kirche hat drei Arten vonFeinden, die Juden, die nie zu ihr gehörten, die Ket-zer, die sich von ihr zurückgezogen haben, und dieschlechten Christen, die sie in ihrem Innern zerreißen.

Diese drei Arten verschiedner Widersacher be-kämpfen sie gewöhnlich verschieden. Aber in diesemPunct bekämpfen sie sie auf dieselbe Weise. Da siealle ohne Wunder sind und die Kirche immer gegendie Wunder gehabt hat, so haben sie alle immer das-selbe Interesse gehabt ihnen aus zu weichen und allehaben sich dieser Ausflucht bedient: man müsse nichtdie Lehre beurtheilen nach den Wundern, sondern dieWunder nach der Lehre. Es gab zwei Parteien unterdenen, die Jesum hörten; die einen nahmen seineLehre an um der Wunder willen, die andern sagten:»Er treibt die Teufel aus durch Beelzebub, den

381Pascal: Gedanken über die Religion

Obersten der Teufel.« Es gab zwei Parteien zur ZeitCalvins, die Partei der Kirche und die Sacramentirer,die sie bekämpften. Gegenwärtig sind die Jesuitenund die, welche sie Jansenisten nennen, die streiten-den. Aber da die Wunder auf der Seite der Jansenistensind, so ergreifen die Jesuiten jene allgemeine Zu-flucht der Juden und Ketzer: man müsse die Wunderbeurtheilen nach der Lehre.

Hier ist nicht das Land der Wahrheit, sie ist unbe-kannt unter den Menschen. Gott hat sie mit einemSchleier verhüllt, so daß die, welche nicht ihre Stim-me hören, sie nicht erkennen. Die Thür ist offen zurLästerung, selbst über die gewissesten Wahrheitender Moral. Wenn man die Wahrheiten des Evangeli-ums verkündigt, so verkündigt man auch entgegenge-setzte Lehren und verdunkelt die Fragen, um die essich handelt, so daß das Volk nicht entscheiden kann.Auch fragt man: »Was habt ihr, daß man euch mehrglauben soll als den andern? Was für ein Zeichen thutihr? Ihr habt die Worte, wir auch.« Habt ihr keineWunder, so sagt man: »die Lehre muß durch Wunderbekräftigt werden;« das ist eine Wahrheit, die manmißbraucht, um die Lehre zu lästern. Und wenn dieWunder sich zeigen, sagt man: »die Wunder sindnicht hinreichend ohne die Lehre,« und das ist einezweite Wahrheit, die man mißbraucht um die Wunderzu lästern.

382Pascal: Gedanken über die Religion

Wie seid ihr, Väter, doch so froh, die allgemeinenRegeln zu wissen und meinet damit Verwirrung an zurichten und alles vergeblich zu machen! Man wirdeuch das wehren, Väter, die Wahrheit ist eine undfest.

10.

Wenn der Teufel die Lehre, die ihn vernichtet, be-günstigte, so wäre er mit sich selbst uneins. »Ein jeg-liches Reich, so es mit ihm selbst uneins wird, daswird wüste.« (Luk, 11, 17.) Denn Jesus wirkte widerden Teufel und zerstörte sein Reich in den Herzen umdas Reich Gottes zu gründen: wovon der Exorcismusdas Symbol ist. Daher setzt er auch hinzu: »So ichaber durch Gottes Finger die Teufel austreibe, sokommt je das Reich Gottes zu euch.« (Luk. 11. 20.)

Es war unmöglich, daß die Menschen zur ZeitMosis sich vorbehielten zu glauben an den Antichrist,der ihnen unbekannt war. Aber es läßt sich sehr wohlthun zur Zeit des Antichrists an Jesum Christum zuglauben, der dann schon bekannt ist.

Wenn die Schismatiker auch Wunder thäten, sowürden sie nicht zum Irrthum verführen. Daher ist esnicht gewiß, daß sie keine Wunder thun können. DieAbweichung von der rechten Lehre ist sichtbar, des-gleiche ist das Wunder sichtbar. Aber die

383Pascal: Gedanken über die Religion

Abweichung trägt mehr das Zeichen des Irrthums alsdas Wunder das Zeichen der Wahrheit. Deswegenkann das Wunder eines Schismatikers nicht zum Irr-thhum verführen. Aber außer dem Schisma fällt derIrrthum nicht so sichtbar in den Augen als das Wun-der, dann würde also das Wunder zum Irrthum verlei-ten. Sonach ist ein Wunder unter den Schismatikernnicht so sehr zu fürchten, denn das Schisma, welchesviel mehr in die Augen fällt als das Wunder, bezeich-net auch sichtlich den Irrthum. Aber wenn kein Schis-ma vorhanden ist und über den Irrthum gestrittenwird, dann entscheidet das Wunder. Ebenso ist es mitden Ketzern. Die Wunder würden ihnen unnütz sein;denn die Kirche, durch jene Wunder, welche denGlauben vorweg in Anspruch genommen haben, be-glaubiget, sagt uns, daß sie nicht den rechten Glaubenhaben. Es ist kein Zweifel, daß sie ihn nicht haben,denn die ersten Wunder der Kirche schließen denGlauben an die ihrigen aus, wenn sie auch welchehaben. Dann würden Wunder gegen Wunder sein,aber die ersten und größten auf der Seite der Kirche.Also müßte man ihr immer doch glauben gegen dieWunder.

Laßt uns nun sehen, was man hieraus auf die Wun-der von Portroyal schließen muß.

Die Pharisäer sagten: »Der Mensch ist nicht vonGott, dieweil er den Sabbath nicht hält; die andern

384Pascal: Gedanken über die Religion

aber sprachen: Wie kann ein sündiger Mensch solcheZeichen thun?« (Joh. 9. 16.) wer von ihnen hat amKlarsten recht? In dem gegenwärtigen Streit sagen dieeinen: »Dies Haus ist nicht von Gott, denn manglaubt darin nicht, daß die fünf Sätze im Janseniusstehen.« Die andern sprechen: »Dieses Haus ist vonGott, denn es geschehen da große Wunder.« Wer hatam Klarsten Recht?

Also aus demselben Grunde waren die Juden straf-fällig waren, da sie nicht an Jesum glaubten, sindauch die Jesuiten straffällig, indem sie fortfahren dasHaus von Portroyal zu verfolgen.

Es war den Juden eben so gut als den Christen ge-sagt worden, daß sie den Propheten nicht immer glau-ben sollten. Dennoch machen die Pharisäer undSchriftgelehrten großes Wesen von den Wundern Jesuund versuchen zu zeigen, daß sie falsch sind oderdurch den Teufel gethan; weil sie gezwungen warenüberzeugt zu sein, wenn sie anerkannten, daß dieWunder von Gott waren.

Wir haben gegenwärtig nicht Noth jene Unterschei-dung zu machen; sie ist aber sehr leicht. Diejenigen,welche weder Gott noch Christum leugnen, thun keineandern Wunder als wahre. Aber wir haben nicht dieseUnterscheidung zu machen. Hier ist eine heilige Reli-quie. Hier ist ein Dorn von der Krone des Welterlö-sers, über den der Fürst dieser Welt keine Macht hat,

385Pascal: Gedanken über die Religion

ein Dorn, der Wunder thut durch die eigne Kraft jenesfür uns vergossenen Blutes. Gott erwählte selbst die-ses Haus um seine Macht leuchten zu lassen.

Es sind hier nicht Menschen, die solche Wunderthun durch eine unbekannte und zweifelhafte Tugend,die uns zu einer schwierigen Unterscheidung zwänge.Es ist Gott selbst, es ist ein Werkzeug des Leidensseines Sohnes, das, an mehren Orten vorhanden, die-sen Ort hier vorzugsweise auszeichnet und von allenZeiten die Menschen herbeizieht, daß sie hier wunder-bare Hilfe in ihren Leiden empfangen.

Die Verstocktheit der Jesuiten übertrifft also dieder Juden. Diese weigerten sich Jesum für unschuldigzu halten doch nur aus dem Grunde, weil sie zweifel-ten, ob seine Wunder von Gott waren; wogegen dieJesuiten, obgleich sie nicht zweifeln können, daß dieWunder zu Portroyal von Gott sind, doch nicht aufhö-ren die Unschuld dieses Hauses zu bezweifeln.

Aber, sagen sie, die Wunder sind nicht mehr nö-thig, da man dergleichen schon hat und deshalb sindsie nicht mehr Beweise für die Wahrheit der Lehre.Allerdings. Aber wenn man nicht mehr die Ueberlie-ferung hört, wenn man das Volk hintergangen hat,wenn man die wahre Quelle der Wahrheit d. i. dieUeberlieferung verschlossen und den Pabst, bei demdie Wahrheit niedergelegt ist, voraus eingenommenhat, und der Wahrheit auf diese Weise keine Freiheit

386Pascal: Gedanken über die Religion

mehr bleibt zu erscheinen, dann, wenn die Menschennicht mehr von ihr sprechen, dann muß sie selbst zuden Menschen reden. Das geschah zur Zeit des Arius.

Diejenigen, welche sich Jesu wegen seiner Wunderhingeben, ehren seine Macht in allen Wundern, die siehervorbringt; aber diejenigen, welche das Bekenntnißablegen, daß sie ihm anhangen um seiner Wunderwillen und ihm in Wahrheit doch nur anhangen, weiler sie tröstet und mit weltlichen Güter sättiget, die lä-stern seine Wunder, wenn sie ihrer Behaglichkeit un-gelegen sind.

Das thun die Jesuiten. Sie verwerfen die Wunderund bekämpfen diejenigen, welche sie überzeugen.Ungerechte Richter, macht nicht Gesetze für den Au-genblick, richtet nach denen, da ihr selbst gemachthabet, ihr, »die ihr ungerechte Gesetze macht und un-rechtes Urtheil schreibet.«

Die Art, wie die Kirche fortbestanden, ist, daß dieWahrheit ohne Streit war oder wenn sie bestrittenwurde, gab es einen Pabst und wenn nicht, gab es dieKirche.

Das Wunder ist ein Ereigniß, welches die natürli-che Kraft der dazu angewendeten Mittel übersteigt.Die also, welche durch Anrufung des Teufels heilen,verrichten kein Wunder; denn das übersteigt nicht dienatürliche Kraft des Teufels.

Die Wunder beweisen die Macht, die Gott über die

387Pascal: Gedanken über die Religion

Herzen hat, durch die Macht, die er auf die Körperausübt.

Es ist den Königen und Fürsten von Wichtigkeit imRuhm der Frömmigkeit zu stehen, darum müssen sieeuch beichten. (Das geht auf die Jesuiten.)

Die Jansenisten gleichen den Ketzern in der Ver-besserung der Sitten; aber ihr gleicht ihnen im Bösen.

388Pascal: Gedanken über die Religion

Siebzehnter Abschnitt.

Verschiedene Gedanken über die Religion.

1.

Der Pyrrhonismus hat der Religion genützt; dennam Ende von allem wußten die Menschen vor Jesuweder woran sie waren, noch ob sie sich für groß oderklein halten sollten. Und diejenigen, die das eine oderdas andre behaupteten wußten nichts davon und rie-then darum ohne Grund und auf's Ungefähr undglaubten sogar immer daran, indem sie das eine oderdas andere verwarfen.

2.

Wer will die Christen tadeln, daß sie nicht Rechen-schaft von ihrem Glauben geben können, sie, die ebeneine Religion bekennen, von der Rechenschaft zugeben nicht möglich ist? Sie erklären im Gegentheil,indem sie sie den Heiden vorlegen, daß jenes Verlan-gen der Rechenschaft eine Thorheit sei, eine Thorheitu.s.w., und dann beklagt ihr euch, daß sie die Religi-on nicht beweisen? Wenn sie sie beweisen, so würdensie nicht Wort halten. Indem es ihnen an Beweisen

389Pascal: Gedanken über die Religion

fehlt, fehlt es ihnen eben nicht an Sinn. So sehr diesaber nun diejenigen, welche sie so darbieten, ent-schuldiget und sie des Vorwurfs überhebt, daß sie sieohne Grund vorbringen, so entschuldigt es doch nichtdiejenigen, welche in Folge der Auslegung, die siesich von ihr machten, sich weigern an sie zu glauben.

3.

Glaubst du, es sei unmöglich, daß Gott unendlichsei ohne Theile? - Ja. - Ich will dir ein unendlichesund untheilbares Ding zeigen, das ist ein Punkt, dersich überall mit einer unendlichen Geschwindigkeitbewegt.

Diese Erscheinung in der Natur, die dir zuvor un-möglich schien, lehre dich erkennen, daß es nochandre geben kann, von denen du noch nichts weißt.Ziehe aus dem ersten Versuch nicht gleich dieseFolge, daß dir nichts zu wissen übrig bleibt, sonderndaß dir noch unendlich viel übrig bleibt zu wissen.

390Pascal: Gedanken über die Religion

4.

Es ist die Weise Gottes, der alles mit Milde ordnet,die Religion in den Geist durch die Gründe und in dasHerz durch seine Gnade ein zu pflanzen. Sie in Herzund Geist einpflanzen mit Gewalt und Drohungen,das heißt nicht die Religion einpflanzen, sondern denSchrecken. Fange damit an die Ungläubigen zu bekla-gen, sie sind unglücklich genug. Schelten dürfte mansie nur, im Fall es dienlich wäre; aber das schadetihnen.

Der ganze Glaube besteht in Jesu Christo und inAdam, und die ganze Moral in der Begierde und inder Gnade.

5.

Das Herz hat seine Gründe, welche die Vernunftnicht kennt; man fühlt es auf tausenderlei Weise. Esliebt von Natur das höchste Wesen und sich selbst, jenachdem es sich jenen Gründen hingiebt, und es ver-härtet sich gegen das eine und das andre, nach seinerWahl. Du hast eine verworfen und das andre behalten,ist das aus Gründen?

391Pascal: Gedanken über die Religion

6.

Die Welt ist da, daß Barmherzigkeit und Gerichtausgeübt werde. Nicht als wenn die Menschen darinwären, wie sie aus Gottes Händen hervorgingen, son-dern sie sind wie die Feinde Gottes, denen er ausGnade genug Licht giebt, daß sie zurückkehrenmögen, wenn sie ihn suchen und ihm folgen wollen,aber auch daß er sie strafe, wenn sie sich weigern ihnzu suchen und ihm zu folgen.

7.

Es ist vergeblich zu sagen: es müsse zugestandenwerden, daß die christliche Religion etwas Erstaunli-ches an sich hat! »das meinst du darum, wird manentgegnen, weil du darin geboren bist.« Weit gefehlt.Ich sträube mich dagegen um eben dieses Grundeswillen aus Furcht, daß dieses Vorurtheil mich verfüh-re. Aber obgleich ich darin geboren bin, muß ich esdoch so finden.

392Pascal: Gedanken über die Religion

8.

Es giebt zwei Arten die Wahrheiten unsrer Religi-on zu beweisen, erstens durch die Kraft der Vernunftund dann durch die Autorität dessen, der spricht. Manbedient sich gewöhnlich nicht der letzten, sondern derersten. Man sagt nicht: »das muß geglaubt werden,denn die Schrift, die es sagt, ist göttlich,« sondernman sagt: es müsse geglaubt werden aus diesem undjenem Grunde. Das sind aber schwache Beweise, dadie Vernunft sich in alles schmiegen kann.

Diejenigen, welche gegen die Ehre der Religion ammeisten feindselig scheinen, sind dabei nicht unnützfür die andern. Wir nehmen sie zum ersten Beweise,daß etwas Uebernatürliches vorhanden ist, denn eineBlindheit der Art ist nichts Natürliches. Und wennihre Thorheit sie so feindlich gegen ihr eignes Wohlmacht, so dient sie dazu die andern vor derselben zubehüten durch den Schrecken eines so kläglichen Bei-spiels und einer so mitleidswürdigen Thorheit.

393Pascal: Gedanken über die Religion

9.

Ohne Jesum Christum würde die Welt nicht beste-hen, denn sie müßte entweder zerstört werden seinoder einer Hölle gleichen.

Der Einzige, der die Natur erkennt, sollte er sie nurerkennen um Elend zu sein? der Einzige, der sie er-kennt, sollte er der einzige Unglückliche sein?

Es ist nicht nöthig, daß der Mensch gar nichts sehe;er braucht auch nicht viel zu sehen um zu glauben,daß er die Wahrheit besitzt. Aber er muß genug sehenum zu erkennen, daß er sie verloren hat, denn um zuerkennen, was man verloren hat, muß man sehen undnicht sehen und das ist gerade der Zustand, in wel-chem die Natur des Menschen ist. Die wahre Religionmußte die Größe und das Elend lehren und mußte be-wegen zur Selbstachtung und Selbstverachtung, zurLiebe und zum Haß.

Ich sehe die christliche Religion auf einer vorherge-henden gegründet und das eben finde ich wirklich.

Ich spreche hier nicht von den Wundern Mosis,Jesu oder der Apostel, weil sie nicht sogleich über-zeugend erscheinen und ich will hier nur alle diejeni-gen Grundlagen der christlichen Religion klar ma-chen, die unzweifelhaft sind und von niemand inZweifel gezogen werden können.

394Pascal: Gedanken über die Religion

10.

Die Religion ist etwas so Großes, daß diejenigen,die sich nicht die Mühe nehmen mögen sie zu unter-suchen, ob sie auch dunkel ist, mit Recht davon aus-geschlossen bleiben. Worüber denn beklagt man sich,wenn sie doch nur so ist, daß man sie durch suchenfinden kann?

Der Stolz hält allem Elend das Gleichgewicht undüberwiegt es. Das ist ein seltsam Ungeheuer, einerecht augenfällige Verirrung des Menschen! Siehe erfällt von seiner Stelle herab und er sucht sie wiedermit Unruhe.

Nachdem das Verderben eingetreten ist, müssenvon Rechts wegen alle, die in diesem Zustande sind,ihn kennen, sowohl die, welche sich darin gefallen,als auch die, welche sich nicht darin gefallen. Aberdarum müssen nicht alle von Rechtes wegen die Erlö-sung sehn.

Wenn du sagst: Jesus Christus ist nicht für alle ge-storben, so mißbrauchst du einen Fehler der Men-schen, die sofort diese Ausnahme auf sich anwenden.Das befördert die Verzweiflung statt die Menschenvon ihr ab zu halten und die Hoffnung zu befördern.

395Pascal: Gedanken über die Religion

11.

Die Gottlosen, die sich blind ihren Leidenschaftenergeben ohne Gott zu kennen und ohne sich die Mühezu geben, daß sie ihn suchen, bestättigen durch sichselbst jene Grundlage des Glaubens, den sie bekämp-fen, nämlich die, daß die Natur der Menschen im Ver-derben ist. Und die Juden, die so hartnäckig diechristliche Religion bekämpfen, bestättigen wiederumjene andre Grundlage desselben Glaubens, den sie an-greifen, nämlich die, daß Jesus ist der wahre Messiasund ist gekommen die Menschen zu erlösen und sieaus dem Verderben und Elend, worin sie waren, wie-der heraus zu ziehen. Das bestättigen sie sowohldurch den Zustand, in welchem man sie heutigesTages sieht und welcher sich in den Weissagungenvorausgesagt findet, als auch durch eben diese Weis-sagungen, die sie mit sich führen und unverletzlichbewahren als die Zeichen, an denen man den Messiaserkennen soll. Die Beweise also für das Verderbender Menschen und für die Erlösung durch Jesum Chri-stum (welches die beiden Hauptwahrheiten sind, diedas Christenthum feststellt) liefern die Gottlosen, diein der Gleichgiltigkeit gegen die Religion leben, unddie Juden, welche die unversöhnlichen Feinde dersel-ben sind.

396Pascal: Gedanken über die Religion

12.

Die Würde des Menschen in seiner Unschuld be-stand darin, daß er über die Geschöpfe herrschte undsie gebrauchte; aber jetzt besteht sie darin, daß er sichvon ihnen scheidet und sich ihnen unterwirft.

13.

Viele irren um so gefährlicher, da sie ihrem Irrthumeine Wahrheit zu Grunde legen. Ihr Fehler ist nicht,daß sie einen Irrthum verfolgen, sondern daß sie eineWahrheit verfolgen, mit Ausschließung einer andern.

Es giebt eine Menge Wahrheiten des Glaubens undder Moral, die widerstreitend und entgegengesetztscheinen und die alle in einer bewundernswürdigenOrdnung zusammen bestehn.

Die Quelle aller Ketzereien ist die Ausschließungeiniger von diesen Wahrheiten und die Quelle allerEinwürfe, die uns die Ketzer machen, ist die Unkennt-niß einiger von unsern Wahrheiten.

Und gewöhnlich da sie den Zusammenhang vonzwei entgegengesetzten Wahrheiten nicht fassen kön-nen und nun meinen, daß das Bekenntniß der einendie Ausschließung der andern mit sich bringt, so hän-gen sie sich an eine, und schließen die andere aus.

397Pascal: Gedanken über die Religion

Die Nestorianer behaupteten: es gäbe zwei Perso-nen in Christo, weil es zwei Naturen giebt und dieEutychianer meinten im Gegentheil: er habe nur eineNatur, weil er nur eine Person ist. Die Katholikensind rechtgläubig, weil sie beide Wahrheiten zusam-men vereinigen, beide Naturen und eine Person.

Wir glauben, daß Christus, da die Substanz desBrodes in die Substanz seines Leibes verwandeltwird, auch wahrhaftig selbst im heiligen Sacramentegegenwärtig ist. Das ist die eine von den Wahrheiten.Eine zweite ist die, daß dieses Sacrament auch einSymbol des Kreuzes und der Herrlichkeit Christi istund eine Erinnerung an beides. Das ist der katholi-sche Glaube, der diese beiden Wahrheiten, die entge-gengesetzt scheinen, zusammenfaßt.

Die jetzige Ketzerei begreift nicht, daß dies Sacra-ment alles zusammen enthält, die Gegenwart Christiund sein Bild, daß es Opfer ist und Erinnerung an dasOpfer, und meint: man könne die eine dieser Wahr-heiten nicht zugeben ohne die andre aus zu schließen.

Aus diesem Grunde halten sie sich an den Punkt,daß das Sacrament Symbol ist und darin sind siekeine Ketzer. Sie meinen, wir schließen diese Wahr-heit aus und so kommt es, daß sie uns so viele Ein-würfe machen wegen der Stellen der Väter, die dassagen. Endlich leugnen sie die wahrhafte Gegenwartund darin sind sie Ketzer.

398Pascal: Gedanken über die Religion

Deshalb ist der kürzeste Weg die Ketzereien zuverhindern, daß man alle Wahrheiten lehre und dersicherste weg sie zu widerlegen, daß man alle klarmache.

Die Gnade wird immer in der Welt sein und soauch die Natur. Immer wird es Pelagianer geben undimmer Katholiken, denn die erste Geburt macht jene,die zweite Geburt diese.

Die Kirche macht sich neben Jesu Christo, der vonihr unzertrennlich ist, verdient um die Bekehrung allerderer, die nicht in der wahren Religion sind, und dar-nach sind es wieder diese Bekehrten, welche der Mut-ter beistehn, die sie befreit hat.

Der Leib hat nicht mehr Leben ohne das Haupt alsdas Haupt ohne das Leib. Wer sich von einem vonbeiden lostrennt, ist nicht mehr am Leibe und gehörtnicht mehr zu Jesu Christo. Alle Tugenden, das Mär-tyrerthum, die Kasteiungen und alle guten Werke sindunnütz außer der Kirche und außer der Gemeinschaftmit dem Haupt der Kirche, welches ist der Pabst.

Das wird eine von den Beschämungen der Ver-dammten sein zu sehen, daß sie verdammt werdendurch ihre eigne Vernunft, mit welcher sie die christli-che Religion zu verdammen meinten.

399Pascal: Gedanken über die Religion

14.

Das hat das Leben der gewöhnlicher Menschen mitdem Leben der Heiligen gemein, daß sie alle nachGlückseligkeit verlangen, und sie unterscheiden sichnur in dem Gegenstand, worin sie sie setzen. Beidenennen diejenigen ihre Feinde, die sie hindern dahinzu gelangen.

Was gut oder böse ist, muß man beurtheilen nachdem Willen Gottes, der nicht blind sein kann, nichtaber nach unserm eignen Willen, der immer voll Bos-heit und Irrthum ist.

15.

Jesus hat im Evangelie das Zeichen angegeben, diezu erkennen, die den Glauben haben, nämlich daß sieeine neue Sprache reden werden. Und wahrlich die Er-neuerung der Gedanken und Wünsche bewirkt die Er-neuerung der Sprache. Denn dieses Neusein, das Gottnicht mißfallen kann, wie der alte Mensch ihm nichtgefallen kann, ist verschieden von dem irdischen Neu-sein darin, daß alle Dinge der Welt, wie neu sie seien,altern, indem sie fortdauern, statt daß dieser neueGeist sich um so viel mehr erneut, je länger es dauert.»Ob unser äußerlicher Mensch verweset, sagt der

400Pascal: Gedanken über die Religion

heilige Paulus, so wird doch der innerliche von Tagezu Tage erneuert.« (2 Kor. 4. 16.) Und er wird voll-kommen neu nur in der Ewigkeit, wo man ohne Auf-hören jenes neue Lied singen wird, von dem David inseinen Psalmen redet [Psalm 33. 3.], das ist das Lied,das von dem neuen Geist der Liebe ausgeht.

16.

Wenn der heilige Petrus und die Apostel (Apost.15.) über die Aufhebung der Beschneidung berath-schlagen, wobei es sich darum handelte wider das Ge-setz Gottes zu thun, so fragen sie nicht nach den Pro-pheten, sondern allein nach der Aufnahme des heili-gen Geistes in den Unbeschnittenen. Sie urtheilen, essei viel sichrer, daß Gott die annimmt, die er mit sei-nem Geiste füllt, als daß er die Beobachtung seinesGesetzes verlange. Sie wußten das Ende des Gesetzeswar nur der heilige Geist und also, da man ihn ganzgut ohne Beschneidung hatte, war diese nicht nöthig.

401Pascal: Gedanken über die Religion

17.

Zwei Gesetze reichen hin um den ganzen christli-chen Staat zu ordnen, besser als alle politischen Ge-setze, die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten.

Die Religion ist geeignet für alle Arten von Gei-stern. Der große Haufen bleibt bei dem Zustande undder Einrichtung stehen, worin sie eben ist, und dieseReligion ist von der Art, daß ihre bloße Gründung al-lein hinreicht ihre Wahrheit zu beweisen. Andre gehnbis zu den Aposteln, die Gelehrtesten bis zum Anfangder Welt. Die Engel sehen sie noch besser und nochmehr von weitem, denn sie sehen sie in Gott selbst.

Welchen Gott die Religion durch das Gefühl desHerzens gegeben hat, die sind glücklich und wohlüberzeugt. Aber was sie anbetrifft, die sie nichthaben, denen können wir sie nicht anders beibringenals durch venünftiges Reden in der Erwartung, daßGott selbst sie ihnen ins Herz präge, da ohnedies derGlauben nichts nütze ist zum Heil.

Gott wollte sich allein das Recht uns zu belehrenvorbehalten und uns die Schwierigkeit unseres We-sens unbegreiflich machen, darum hat er uns denKnoten davon so hoch verborgen oder vielmehr soniedrig, daß wir unfähig wären ihn zu erreichen, alsodaß wir nicht durch Anstrengungen unserer Vernunft,

402Pascal: Gedanken über die Religion

sondern durch einfache Unterwerfung derselben unswahrhaft zu erkennen vermögen.

18.

Die Gottlosen, die sich dafür ausgeben der Ver-nunft zu folgen, müssen wunderlich stark sein an Ver-nunft. Was sagen sie denn? Sehen wie nicht, sagensie, die Thiere wie die Menschen sterben und leben,die Türken wie die Christen? Sie heben ihre Ceremo-nien, ihre Propheten, ihre Gelehrten, ihre Heiligen,ihre Mönche, wie wir u.s.w. Ist denn aber das gegendie Schrift, sagt sie das nicht alles? Wenn du dichnicht viel darum kümmerst die Wahrheit zu wissen,so hast du daran genug, um in Ruhe zu bleiben. Ver-langst du aber von ganzem Herzen sie zu kennen, soist das nicht genug, so gehen ins Einzelne. Das möch-te vielleicht genug sein für eine eitle Frage der Philo-sophie, aber hier, wo es sich um alles handelt ... Unddoch nach einer leichten Betrachtung dieser Art, wirdman seinen Vergnügungen nach gehn u.s.w.

Es ist etwas Erschreckliches, ohne Aufhören zusehen, wie alles, was man besitzt, dahinschwindet,und sich davon hängen zu können ohne Verlangen zusuchen, ob es nicht etwas Bleibendes giebt!

Man muß in der Welt verschieden leben, nach fol-genden verschiedenen Voraussetzungen: wenn man

403Pascal: Gedanken über die Religion

immer in der Welt sein könnte, wenn man sicher istnicht lange darin zu sein und wenn es ungewiß ist, abman eine Stunde darin sein wird. Diese letzte Voraus-setztung ist die unsre.

19.

Weil es gilt, auf welcher Seite der Gewinn im Spielist, mußt du dir Mühe geben die Wahrheit zu suchen.Denn wenn du stirbst ohne das wahre Princip verehrtzu haben, so bist du verloren.

Aber, sagst du, wenn er gewollt hätte, daß ich an-bete, so würde er mir Zeichen seines Willens gegebenhaben. Das hat er auch gethan; du vernachlässigst sienur. Suche sie wenigstens, das lohnt doch wohl.

Die Atheisten wollen vollkommen klare Dinge be-haupten. Aber man muß den Verstand verloren haben,wenn man sagen will, es sei vollkommen klar, daß dieSeele sterblich ist.

Ich habe nichts dagegen, daß man das System desCopernicus nicht ergründet; aber es ist doch für dasganze Leben wichtig zu wissen, ob die Seele sterblichist oder unsterblich.

404Pascal: Gedanken über die Religion

20.

Die Weissagungen, die Wunder selbst und die an-dern Beweise für unsre Religion sind nicht von derArt, daß man sagen kann: sie seien mathematisch be-weisend. Aber es ist mir für jetzt genug, daß du mirzugiebst: es sei nicht eine Versündigung gegen dieVernunft sie zu glauben. Sie haben Klarheit und Dun-kelheit um die einen auf zu klären, die andern zu ver-dunkeln. Indessen die Klarheit ist so groß, daß siealles, was man als das Klarste dagegen aufstellenmag, übertrifft oder wenigstens dem gleich kommt.Auf diese Weise ist es also nicht die Vernunft, welcheden Menschen bestimmen könnte sie nicht an zu neh-men, sondern vielleicht nur die Begierde und Schlech-tigkeit des Herzens.

So giebt es genug Klarheit um die, welche denGlauben verweigern, zu verdammen, und nicht genugum sie zu gewinnen, damit in die Augen falle, daß indenen, welche sie annehmen, die Gnade und nicht derVernunft sie zur Annahme bringt und in denen, die siefliehen, die Begierde und nicht die Vernunft sie zumFliehen bewegt.

Wer muß nicht eine Religion bewundern und an-nehmen, die bis auf den Grund das kennt, was mandesto mehr erkennt, je mehr Licht man hat?

405Pascal: Gedanken über die Religion

Ein Mensch, der die Beweise für die christliche Re-ligion entdeckt, ist wie ein Erbe, der die Besitztitelseines Hauses findet. Wird er sagen: sie sind falschund wird er versäumen sie zu untersuchen?

21.

Zwei Arten von Menschen erkennen einen Gott an,die welche ein demüthiges Herz haben und die Ge-ringschätzung und Erniedrigung lieben, auf welcherStufe des Verstandes sie such stehen, niedrig oderhoch, und dann die, welche Geist genug besitzen umdie Wahrheit zu sehen, wie sie ihr auch widerstreben.

Die Weisen unter den Heiden, die da sagten: esgäbe nur einen Gott, wurden verfolgt, die Juden ge-haßt, die Christen noch mehr.

22.

Ich sehe nicht ein, daß es mehr Schwierigkeit hatdie Auferstehung des Fleische und die (unbefleckte)Empfängniß der Jungfrau Maria zu glauben als dieSchöpfung. Ist es schwieriger einen Menschen wiederzu erzeugen als ihn zu erzeugen? Und hätte man nichtgewußt, was Zeugung ist, würde man es wunderbarerfinden, daß ein Kind von einer Jungfrau allein kommt,als wenn es von einem Mann und einer Frau kommt?

406Pascal: Gedanken über die Religion

23.

Es ist ein großer Unterschied zwischen Ruhe undSicherheit des Gewissens. Nichts soll Ruhe geben alsdie aufrichtige Forschung nach der Wahrheit undnichts kann Sicherheit geben als die Wahrheit.

Es giebt zwei gleich feste Wahrheiten des Glau-bens, die eine, daß der Mensch im Stande der Un-schuld oder im Stande der Gnade über die Natur erha-ben ist, Gott ähnlich gemacht und theilhaftig der gött-lichen Natur, die andre, daß er im Stande des Verder-bens und der Sünde von jenem (glücklichen) Standeherabgefallen und den Thieren ähnlich geworden ist.

Diese beiden Sätze sind gleich und gewiß. DieSchrift erklärt sie uns deutlich, wenn sie an einigenStellen sagt. »Meine Lust ist bei den Menschenkin-dern.« (Sprüch. S. 31.) »Ich will meinen Geist ausgie-ßen über alles Fleisch.« (Joel 3. 1.) »Ihr seid Götterund allzumal Kinder des Höchsten. « Psalm 82. 6.)Und an andern Stellen sagt sie: »Alles Fleisch ist Heuund alle seine Güte ist wie eine Blume auf demFelde.« (Jes. 40. 6.) »Die Menschen können nichtbleiben in ihrer Würde, sondern müssen davon wieein Vieh.« (Psalm 49. 13.) »Ich sprach in meinemHerzen von dem Wesen der Menschen, darin Gott an-zeiget und lässet es ansehen, als wären sie unter sich

407Pascal: Gedanken über die Religion

selbst als das Vieh; denn es gehet dem Menschen wiedas Vieh. Wie dies stirbt, so stirbt er auch und habenalle einerlei Odem, und der Mensch hat nichts mehrdenn das Vieh; denn es ist alles eitel« u.s.w. (Pred. 3.18. ff.)

24.

Die Beispiele von dem edelmüthigen Tode der La-cedämonier und anderer rühren uns wenig, denn wasnützt uns das alles? Dagegen das Beispiel vom Todeder Märtyrer rührt uns, denn sie sind Glieder von uns;ein gemeinschaftliches Band verknüpft uns mit ihnen,ihre That kann die unsre bilden. Nichts von dem istbei den Beispielen der Heiden, wir haben keine Ver-bindung mit ihnen. So macht der Reichthum einesFremden uns nicht reich, aber wohl der Reichthumeines Vaters oder eines Gatten.

25.

Man sagt sich nie ohne Schmerz los. Man fühltnicht sein Band, wenn man dem, der zieht, freiwilligfolgt, sagt der heilige Augustin. Fängt man aber an zuwiderstreben und rückwärts zu gehen, so leidet manerst, das Band dehnt sich aus und verträgt alle Ge-walt. Und dieses band ist unser Leib; es reißt nur im

408Pascal: Gedanken über die Religion

Tode. Unser Herr hat gesagt: »Von den Tagen Johan-nis des Täufers bis hierher (d.h. seit seiner Ankunft injedem Gläubigen) leidet das Himmelreich Gewalt unddie Gewalt thun, die reißen es zu sich.« (Matth. 11.12.) Ehe man ergriffen ist (vom Glauben), hat mannur das Gewicht seiner Begierde, die zur erde zieht.Wenn nun aber Gott nach oben zieht, so üben diesebeiden entgegengesetzten Kräfte jene Gewalt, die Gottallein kann helfen überwinden. Aber wir vermögenalles, sagt der heilige Leo, mit dem, ohne welchen wirnichts vermögen.

So muß man sich denn entschließen diesen Kriegzu ertragen sein Leben lang, denn es giebt hier keinenFrieden. Jesus Christus ist gekommen nicht den Frie-den zu senden sondern das Schwert. (Matth. 10. 34.)Aber dennoch muß man bekennen, gleichwie dieSchrift sagt, daß dieser Welt Weisheit bei Gott Thor-heit ist (1. Kor. 3. 19.), so kann man auch sagen. Daßdieser Krieg, der den Menschen hart dünkt, ein Frie-den ist vor Gott. Denn das ist der Frieden, den JesusChristus auch gebracht hat. Freilich wird er nicht ehervollkommen werden, als wenn der Körper vernichtetsein wird und das ists, warum wir den Tod wünschenund zugleich mit Freuden das Leben ertragen ausLiebe zu dem, der für uns Leben und Tod ertragen hatund der uns, wie der heilige Paulus sagt, über-schwänglich geben kann über alles, das wir bitten

409Pascal: Gedanken über die Religion

oder verstehen. (Ephes. 3. 20.)

26.

Man muß streben sich über nichts zu betrüben undalles, was geschieht, als das Beste an zu erkennen. Ichglaube, das ist eine Pflicht und man sündigt, wennman es nicht thut. Denn der Grund, warum SündenSünden sind, ist doch allein der, daß sie wider denWillen laufen. So besteht denn das Wesen der Sündedarin, daß man einen Willen hat, der dem, welchenwir in Gott erkennen, zuwiderläuft und also scheint esmir klar, daß es, wenn er uns seinen Willen durch dieEreignisse entdeckt, Sünde wäre sich nicht darin zufügen.

27.

Wenn die Wahrheit verlassen und verfolgt wird, istdas, wie es scheint, eine Zeit, wo es Gott vorzüglichangenehm ist, wenn man durch ihre Vertheidigungihm dienet. Er will, daß wir die Gnade beurtheilennach der Natur und so erlaubt er uns dies zu beden-ken, daß, wie ein Fürst von seinen Unterthanen ausdem Lande vertrieben, eine besondere Zuneigung fürdiejenigen hat, die ihm in der allgemeinen Empörungtreu bleiben, eben so auch Gott mit besonderer

410Pascal: Gedanken über die Religion

Gütigkeit, scheint es, diejenigen ansieht, welche dieReinheit der Religion vertheidigen, wenn sie angegrif-fen wird. Aber es ist der Unterschied zwischen denKönigen der Erde und dem Könige der Könige, daßdie Fürsten ihre Unterthanen nicht treu, machen, son-dern sie so finden, wogegen Gott die Menschen nichtanders als untreu findet ohne seine Gnade und selbstsie treu macht, wenn sie es sind. Während also dieKönige gewöhnlich sich denen, die in Pflicht und Ge-horsam bleiben, zu Dank verbunden bekennen, so ge-schieht es im Gegentheil, daß diejenigen, welche imDienst Gottes beharren, ihm selbst unendlich ver-pflichtet sind.

28.

Nicht die Kasteiungen des Leibes noch die An-strengungen des Geistes, sondern die guten Regungendes Herzes sind es, was einen Werth hat und was dieLeiden des Körpers und Geistes tragen hilft. Denn zurHeiligung gehören zwei Stücke, Leiden und Freuden.Der heilige Paulus sagt, daß wir durch viele Trübsalmüssen in das Reich Gottes gehen. (Apost. Gesch.14. 22.) Das muß die trösten, die Trübsal leiden, dennda sie hören, daß der Weg zum Himmel, den sie su-chen, voll davon ist, so müssen sie sich freuen Zei-chen zu finden, daß sie auf dem rechten Wege sind.

411Pascal: Gedanken über die Religion

Aber jene Leiden sind nicht ohne Freuden und werdennie anders überwunden als durch die Freude. Denneben so wie diejenigen, welche Gott verlassen um zurWelt zurück zu kehren, es nur deshalb thun, weil siein den irdischen Freuden mehr Süßigkeit finden als inder Vereinigung mit Gott und weil dieser mächtigeZauber sie fortzieht, sie ihre erste Wahl bereuen läßtund sie nach dem Ausdruck Tertullians zu Außferti-gen des Teufels macht, eben so würde man nie dieFreuden der Welt verlassen um das Kreuz Christi aufsich zu nehmen, wenn man nicht in Verachtung, Ar-muth, Selbstverleugnung und Zurückweisung mehrSüßigkeit finde als in den Freuden der Sünde. Unddaher muß man, wie Tertullian sagt, nicht glauben,daß das Leben der Christen ein Leben der Traurigkeitsei. Man verläßt die Freuden nur um anderer größererwillen. »Seid allezeit fröhlich, sagt der heilige Paulus,betet ohne Unterlaß, seid dankbar in allen Dingen.«(1 Thess. 5. 16-18.)

Die Freude Gott gefunden zu haben ist der Grundder Traurigkeit darüber, daß man ihn beleidigt hat,und aller Aenderung des Lebens. »Der Mensch, wel-cher einen Schatz im Acker gefunden, ging hin, wieJesus sagt, mit Freuden über denselbigen und ver-kaufte alles, was er hatte und kaufte den Acker.«(Matth. 13. 14.) Die Weltmenschen haben ihre Trau-rigkeit, aber sie haben nicht jene Freude, welche die

412Pascal: Gedanken über die Religion

Welt nicht geben kann noch nehmen, sagt Christusselbst. (Joh. 14. 27 und 16. 22.) Die Seligen habendiese Freude ohne alle Traurigkeit und die Christenhaben sie gemischt mit der Betrübniß, andern Freudengefolgt zu sein und mit der Furcht sie durch dieLockung jener andern Freuden, die uns fortwährendversuchen, wieder zu verlieren.

So sollen wir denn ohne Aufhören arbeiten, sollenuns diese Furcht erhalten, die unsere Freude erhältund mäßigt, und sollen, je nachdem wir uns mehrnach der einen Seite zu gedrängt fühlen, uns gegen dieandre neigen um stehn zu bleiben. »Wenn dirs wohlgeht, so gedenke, daß es dir wieder übel gehen kann,und wenn dirs übel geht, so gedenke, daß dirs wiederwohl gehen kann,« sagt die Schrift (Sir. 11. 26.) unddas sollen wir thun, bis erfüllt sei die Verheißung, dieChristus uns gegeben hat seine Freude vollkommen inuns zu machen. Wir wollen uns also nicht nieder-schlagen lassen zur Traurigkeit und nicht glauben,daß die Frömmigkeit nur in einer Trübsal ohne Trostbestehe. Die wahre Frömmigkeit, die sich vollkom-men nur im Himmel findet, ist so reich an Freuden,daß sie damit die Seelen erfüllt bei ihrem Eintritt undbeim Weitergehen und bei der Krönung. Sie ist ein sostrahlendes Licht, daß sie wiederstrahlt auf allem, wasihr angehört. Ist einige Traurigkeit beigemischt undbesonders am Anfang, so kommt die von uns, nicht

413Pascal: Gedanken über die Religion

von der Tugend, denn das ist nicht die Frömmigkeit,die anfängt in uns zu sein, sondern der Unfrömmig-keit, die noch in uns ist. Laßt uns die Unfrömmigkeitwegräumen, so wird die Freude ohne Mischung sein.Laßt uns denn nicht über die Frömmigkeit, sondernüber uns selbst klagen und Linderung und Trost nursuchen in unserer Besserung.

29.

Die Vergangenheit darf uns nicht kümmern, weilwir nichts zu thun haben als unsre Fehler zu bereuen.Die Zukunft aber darf uns noch weniger quälen, weilsie für uns gar nicht ist und wir vielleicht noch garnicht zu ihr gelangen. Die Gegenwart ist die einzigeZeit, die uns wahrhaft gehört und die wir nutzen sol-len nach Gottes Willen. Auf sie hauptsächlich sollenunsere Gedanken gerichtet sein. Aber die Welt ist sounruhig, daß man fast immer nicht an das gegenwär-tige Leben und an den Augenblick denkt, worin manlebt, sondern an den, worin man leben wird. So lebtman denn immer für die Zukunft und nie in der Ge-genwart. Unser Herr wollte nicht, daß wir weiter hin-aus sehen sollen als auf den Tag, wo wir sind. DieseGrenzen lehrt er uns beobachten zu unserm Heil undzu unserer eigenen Ruhe.

414Pascal: Gedanken über die Religion

30.

Man bessert sich zuweilen mehr durch den Anblickdes Bösen als durch das Beispiel des Guten und es istgut sich daran zu gewöhnen vom Bösen Vortheil zuziehen, da es so gewöhnlich ist, das Gute hingegen istso selten.

31.

Im dreizehnten Capitel des heiligen Markus sprichtJesus zu seinen Aposteln viel von seiner letzten Wie-derkunft und da alles, was der Kirche begegnet, auchjedem einzelnen Christen ins Besondere begegnet, soist gewiß, daß dieses ganze Capitel eben sowohl denZustand jedes Menschen, der sich bekehrend den altenMenschen in sich tödtet, vorausverkündigt als auchden Zustand der ganzen Welt, die zerstört werdensoll, um dem neuen Himmel und der neuen Erde Platzzu machen, wie die Schrift sagt. (2 Ptr. 3. 13.) Diedarin enthaltene Weissagung auf den Untergang desverworfnen Tempels, welcher ein Bild ist von demUntergange des verworfnen Menschen in jedem unteruns, und von welchem gesagt ist, daß kein Stein aufdem andern werde bleiben, diese Weissagung zeigtan, daß keine Leidenschaft des alten Menschen

415Pascal: Gedanken über die Religion

bleiben soll. Und jene furchtbaren Kriege der Bürgerund Verwandten gegen einander stellen die innereVerwirrung und Unruhe, welche die fühlen, die sichGott weihen, so deutlich dar, daß nichts besser ge-schildert sein kann u.s.w.

32.

Der heilige Geist ruht unsichtbar in den Ueberre-sten derer, die in der Gnade des Herrn gestorben sind,bis er darin sichtbar erscheine bei der Auferstehungund dieses macht die Reliquien der Heiligen der Ver-ehrung so werth. Denn Gott verläßt die Seinen nie,selbst nicht im Grabe, wo ihre Leiber, obschon todtvor den Augen der Menschen, vor Gott mehr Lebenhaben, weil die Sünde nicht mehr in ihnen ist, stattdaß sie in ihnen während dieses Lebens immer bleibt,wenigstens als Keim, denn die Früchte der Sünde zei-gen sich nicht immer. Und dieser unselige Keim, dervom Leibe unzertrennlich ist, so lange das Lebenwährt, macht, daß es nicht erlaubt ist sie dann schonzu ehren, weil sie vielmehr gehaßt zu werden verdie-nen. Dies ist der Grund, warum der Tod nöthig ist,um jenen unseligen Keim ganz zu ertödten, und dasmacht den Tod wünschenswerth.

416Pascal: Gedanken über die Religion

33.

Die Erwählten werden nichts wissen von ihren Tu-genden und die Verworfnen nichts von ihren Freveln.»Herr, werden die einen wie die andern sagen, wannhaben wir dich hungrig gesehn?« u.s.w. (Matth. 25.37 ff.)

Jesus Christus wollte kein Zeugniß von den Teu-feln noch von denen, die nicht berufen waren, sondernvon Gott und von Johannes dem Täufer.

34.

Die Fehler Montaignes sind groß. Er ist vollschmutziger und unanständiger Worte. Das taugtnichts. Seine Meinungen über den Selbstmord undüber den Tod sind gräßlich. Er flößt eine Gleichgiltig-keit gegen das Heil ein, ohne Furcht und ohne Reue.Da er sein Buch nicht schrieb um zur Frömmigkeit zubewegen, so war er dazu auch nicht verpflichtet; aberman ist immer verpflichtet nicht von der Frömmigkeitabwendig zu machen. Was sich auch sagen läßt, umseine zu freien Meinungen über viele Dinge zu ent-schuldigen, so kann man auf keine Weise seine ganzheidnischen Meinungen über den Tod entschuldigen.Denn man muß auf alle Frömmigkeit verzichten,

417Pascal: Gedanken über die Religion

wenn man nicht wenigstens christlich sterben will. Eraber denkt sein ganzes Buch durch nur feige undweichlich zu sterben.

35.

Wenn wir das, was ehedem in der Kirche gesche-hen ist, mit dem vergleichen, was sich jetzt darinzeigt, so täuscht uns das, daß man gewöhnlich denheiligen Athanasius, die heilige Theresia und die an-dern Heiligen als mit der Ehren gekrönt sich vorstellt.Gegenwärtig da die Zeit die Dinge aufgeklärt hat, er-scheint das wirklich so. Aber zur Zeit, da man jenengroßen Heiligen verfolgte, war das ein Mann, derAthanasius hieß und die heilige Theresia zu ihrer Zeitwar eine Nonne wie die andern. »Elias war einMensch gleichwie wir«, [denselben Leidenschaftenunterworfen als wir], sagt der heilige Apostel Jako-bus, (Jak. 5. 17.) um den Christen jene falsche An-sicht zu nehmen, wornach wir das Beispiel der Heili-gen zurückweisen als für uns nicht geeignet. Daswaren Heilige, sagen wir, das ist anders wie mit uns.

418Pascal: Gedanken über die Religion

36.

Bei denen, die einen Widerstreben gegen die Reli-gion haben, muß man damit anfangen, daß man ihnenzeigt: sie ist gar nicht gegen die Vernunft, darauf mußman ihnen darthun, daß sie ehrwürdig ist, und ihnenAchtung vor ihr einflößen, sodann sie ihnen liebens-werth machen und sie dahin bringen, daß sie wün-schen, sie wäre wahr, darnach durch die unbestreitba-ren Beweise zeigen, daß sie wahr ist, ihr Alter undihre Heiligkeit durch ihre Größe und Erhabenheitnachweisen und endlich darthun, daß sie liebenswerthist, weil sie das wahre Gut verheißt.

Ein Wort von David oder Moses wie dieses: »DerHerr dein Gott wird dein Herz beschneiden« (5 Mos.30. 6.) läßt auf ihren Geist schließen. Wären alle an-dern Worte zweideutig und wäre es ungewiß, ob siePhilosophen sind oder Christen, ein Wort dieser Artentscheidet über alles Uebrige. Bis dahin geht derDoppelsinn, aber nicht weiter.

Sich zu irren, indem man die christliche Religionfür wahr hält, dabei ist nicht viel zu verlieren. Aberwelch ein Unglück wäre es sich zu irren, indem mansie für falsch hält!

419Pascal: Gedanken über die Religion

37.

Die Verhältnisse, welche die leichtesten sind zuleben nach dem Sinn der Welt, sind die schwierigstenzu leben nach Gott und umgekehrt, nichts ist soschwierig nach dem Sinn der Welt als das geistlicheLeben, nichts als es zu führen nach Gottes Sinn. Nachdem Sinn der Welt ist nichts leichter als in einem gro-ßen Amt und im Besitz großer Güter zu sein undnichts ist schwieriger als darin zu leben nach GottesSinn, ohne daran Theil zu nehmen und Geschmackdaran zu finden.

38.

Das alte Testament enthält die Vorbilder der künf-tigen Freude und das neue die Wege dahin zu gelan-gen. Die Vorbilder waren Freude, die Wege sindBuße. Und doch wurde schon das Passahlamm mitwilden Kräutern, mit bittern Salzen gegessen (2 Mos.12. 8.), um alle Zeit an zu zeigen, daß man zur Freudenicht gelangen könnte als durch das bittre Leid.

420Pascal: Gedanken über die Religion

39.

Das Wort »Galiläer« zufällig von dem Hausen derJuden ausgesprochen (Luc. 23. 5.) als sie Jesum vorPilatus anklagten, gab diesem Veranlassung Jesum zuHerodes zu schicken, wodurch die Weissagung in Er-füllung ging, daß er von den Juden und Heiden solltegerichtet werden. Der scheinbar Zufall war die Ursa-che, daß das Geheimniß erfüllet ward.

40.

Ein Mann, der aus der Beichte kam, sagte mir einesTages, daß er große Freude und Zuversicht hatte, einandrer, daß er in Furcht war. Ich dachte dabei: vondiesen beiden würde man einen Guten machen könnenund jedem fehlte nur das, daß er nicht das Gefühl desandern hatte.

41.

Es ist ein Vergnügen auf einem Schiff zu sein, dasvom Sturm geschlagen wird, wenn man nämlich si-cher ist, daß es nicht untergeht. Die Verfolgungen,welche die Kirche peinigen, sind von der Art.

Die Geschichte der Kirche muß eigentlich die

421Pascal: Gedanken über die Religion

Geschichte der Wahrheit genannt werden.

42.

Wie die beiden Quellen unsrer Sünden der Hoch-muth und die Trägheit sind, so hat uns Gott auch insich zwei Eigenschaften sie zu heilen geoffenbart,seine Barmherzigkeit und seine Gerechtigkeit. DasWerk der Gerechtigkeit ist den Hochmuth nieder zuschlagen und das Werk der Barmherzigkeit die Träg-heit zu bekämpfen und sie zu guten Werken zu leiten,nach dem Ausspruch: »Weißt du nicht, daß dich Got-tes Güte zur Buße leitet?« (Röm. 2. 4.) Und von denNiniviten heißt es: »Ein jeglicher bekehre sich vonseinem bösen Wege und von dem Frevel seinerHände; wer weiß, Gott möchte sich kehren und ihnreuen und sich wenden von seinem grimmigen Zorn,daß wir nicht verderben.« (Jon. 3. 8. 9.)

Also ist die Barmherzigkeit Gottes so weit davonentfernt die Trägheit zu bestärken, daß diese im Ge-gentheil von nichts so sehr bekämpft wird als von ihrund statt zu sagen: »Wenn in Gott keine Barmherzig-keit wäre, so müßte man alle möglichen Anstrengun-gen machen um seine Gebote zu erfüllen,« muß manim Gegentheil sagen: »Weil in Gott Barmherzigkeitist, muß man alles Mögliche thun um die Gebote zuerfüllen.«

422Pascal: Gedanken über die Religion

43.

»Alles was in der Welt ist, ist des Fleisches Lustund der Augen Lust und hoffärtiges Leben.« ( 1 Joh.2. 16.) Libido sentiendi, libido sciendi, libido do-minandi (Begierde zu genießen, zu wissen, zu herr-schen). Unglücklich das Land des Fluchs, welchesdiese drei Feuerströme mehr entzünden als bewäs-sern! Glücklich die, welche auf diesen Strömen sichbefindend, nicht untergetaucht, nicht mitgerissen, son-dern unbeweglich festgehalten werden, die nicht ste-hen, sondern sitzen auf einer niedrigen und sichernLagerstelle, von der sie sich nie erheben vor demLicht, aber die endlich, nachdem die dort in Friedenausgeruht haben, die Hände ausstrecken zu dem, dersie erheben soll um sie aufrecht fest zu halten in denHallen des heiligen Jerusalems, wo sie nicht mehr dieAngriffe der Hoffart zu fürchten haben, und die den-noch weinen, nicht weil sie alle vergänglichen Dingeschwinden sehen, sondern weil sie gedenken ihrestheuren Vaterlandes, des himmlischen Jerusalems,nach welchem sie unaufhörlich seufzen in ihrem lan-gen Exil!

423Pascal: Gedanken über die Religion

44.

Ein Wunder, sagt man, würde meinen Glauben be-stärken. Man spricht so, wenn man es nicht sieht. DieGründe, die von weitem gesehen, unsern Blick zu be-gränzen ihn nicht mehr, wenn man dort angekommenist. Man fängt an darüber hinaus zu sehn.

Nichts hält die Beweglichkeit unseres Geistes an.Es giebt, sagt man, keine Regel ohne Ausnahme, undkeine so allgemeine Wahrheit, die nicht eine Seitehätte, von der sie fehlte. Es ist genug, daß die Wahr-heit nicht unbedingt allgemein ist um uns Vorwand zugeben, die Ausnahme auf den vorliegenden Fall an zuwenden und zu sagen: Das ist nicht immer wahr, alsogiebt es Fälle, wo das nicht ist. Es bleibt nur nochübrig zu zeigen, daß dieser Fall ein solcher sei undman müßte sehr ungeschickt sein, wenn man nichthier einiges Licht fände.

45.

Die Liebe ist nicht ein vorbildliches Gebot. Zu be-haupten, daß Jesus Christus, der gekommen ist dieBilder weg zu nehmen um die Wahrheit auf zu stel-len, nur gekommen sei um das Bild der Liebe auf zustellen und ihr wahres Wesen, das vorher da war, weg

424Pascal: Gedanken über die Religion

zu nehmen; das ist abscheulich.

46.

Wie viel Weltkörper haben uns nicht die Fernglä-ser entdeckt, die für die Philosophen ehedem nicht dawaren? Man griff dreist die Schrift an wegen dessen,was man darin an so vielen Stellen über die großeZahl von Sternen findet. Es giebt deren, sagte man,nur ein tausend und zwei und zwanzig, das wissenwir.

47.

Der Mensch ist so eingerichtet, wenn man ihm nuroft sagt, daß er ein Thor ist, so glaubt er es und wennman es sich selbst nur oft sagt, macht man es sichglauben. Denn der Mensch hält ganz allein mit sicheine innere Unterredung und es ist sehr wichtig diesegut zu ordnen. »Böse Geschwätze verderben gute Sit-ten.« (1 Kor. 15. 33.)

Man muß, so viel als möglich im Schweigen blei-ben und sich nur von Gott unterhalten und so über-zeugt man sich selbst von ihm.

425Pascal: Gedanken über die Religion

48.

Welcher Unterschied ist zwischen einem Soldatenund einem Karthäuser in Betreff des Gehorsams? Siesind gleich gehorsam und abhängig und haben gleichpeinliche Uebungen. Aber der Soldat hofft immerHerr zu werden und wird es nie (denn die Hauptleuteund die Fürsten selbst sind immer Sklaven und ab-hängig); aber er hofft doch immer auf Unabhängigkeitund strebt dahin zu gelangen, während der Karthäuserdas Gelübde thut nie unabhängig zu sein. Sie sindnicht verschieden in der beständigen Knechtschaft, diealle beide immer haben, sondern in der Hoffnung, dieder eine immer hat und der andre nicht hat.

49.

Die Selbsucht würde nie zufrieden sein, wenn siealles hätte, was sie begehrt; aber man ist zufriedenvon dem Augenblick an, da man darauf Verzicht lei-stet. Mit ihr kann man nur unzufrieden sein, ohne sienur zufrieden.

Die wahre und einzige Tugend ist sich zu hassen,denn man ist hassenswerth durch seine Begierde, undein wahrhaft liebenswerthes Wesen zu suchen, um eszu lieben. Da wir aber nicht lieben können was außer

426Pascal: Gedanken über die Religion

uns ist, so müssen wir ein Wesen lieben, das in unsund doch nicht wir ist. Nun giebt es nichts als dashöchste Wesen, was so ist. Das Reich Gottes ist in-wendig in uns (Luc. 17. 21.), das höchste Gut ist inuns und ist doch nicht wir selbst.

Es ist unrecht, wenn man sich an uns hängt, obman auch es mit Freuden und freiwillig thue. Wir be-trügen die, in welchen wir das Verlangen darnachrege machen; denn wir sind keines Menschen Ziel undhaben nichts sie zu befriedigen. Sind wir nicht immergewärtig zu sterben? Und so würde der Gegenstandihrer Neigung sterben.

So wie wir strafbar sein würden, wenn wir jemandeine Unwahrheit glauben machten, ob wir auch nochso leise dazu beredeten, ob man sie auch mit Vergnü-gen glauben und uns damit Vergnügen machen möch-te, eben so sind wir strafbar, wenn wir machen, daßman uns liebt und die Menschen anziehn, daß sie sichan uns hängen. Diejenigen, welche bereit sein möch-ten der Lüge Glauben zu schenken, sollen wir warnen,daß sie sie nicht glauben, welcher Vortheil uns auchdaraus erwüchse. Eben so sollen wir sie warnen sichnicht an uns zu hängen. Denn sie sollen ihr Lebenweihen Gott zu gefallen oder ihn zu suchen.

427Pascal: Gedanken über die Religion

50.

Das ist Aberglauben seine Hoffnung auf äußerlicheFormen und Gebräuche zu setzen; aber es ist Hoch-muth sich denselben nicht unterwerfen zu wollen.

51.

Alle Religionen und alle Secten der Welt haben dienatürliche Vernunft zum Führer gehabt. Die Christenallein sind gezwungen worden ihre Lehren außer sichzu suchen und sich nach denen zu erkundigen, dieJesus Christus den Alten gelassen hat, daß sie unsüberliefert würden.

Es giebt Leute, welchen dieser Zwang lästig ist. Siewollen wie die andern Völker die Freiheit haben ihrenEinbildungen zu folgen. Vergebens rufen wir ihnenzu, wie einst die Propheten den Juden: »Tretet mittenin die Kirche, erkundigt euch nach den Gesetzen, wel-che die Alten ihr gelassen haben und folget ihren Pfa-den.« Sie antworten wie die Juden: »Da gehen wirnicht, wir wollen den Gedanken unsers Herzens fol-gen und den andern Völkern gleich sein.«

428Pascal: Gedanken über die Religion

52.

Es giebt drei Wege zum Glauben, die Vernunft, dieGewohnheit und die Offenbarung. Die christliche Re-ligion, die allein die Vernunft hat, nimmt diejenigen,welche ohne Inspiration glauben, nicht als ihre rech-ten Kinder an. Nicht daß sie die Vernunft und die Ge-wohnheit ausschlösse, im Gegentheil, man muß sei-nen Geist den Vernunftbeweisen aufthun und sichdarin befestigen durch die Gewohnheit, aber sie will,daß man sich in Demuth den Offenbarungen hingebe,die allein die wahre und heilsame Wirkung machenkönnen, auf daß nicht das Kreuz Christi zunichtewerde. (1 Kor. 1. 17.)

53.

Nie thut man das Böse so vollkommen und so freu-dig, als wenn man es aus einem falschen Grundsatzdes Gewissens thut.

429Pascal: Gedanken über die Religion

54.

Die Juden, die berufen waren die Nationen und Kö-nige zu überwältigen, waren Sklaven der Sünde unddie Christen, deren Beruf war zu dienen und unterthanzu sein, sind die freien Kinder.

55.

Ist das Muth bei einem Sterbenden, in der Schwä-che und im Todeskampf einen Gott zu lästern, der all-mächtig und ewig ist?

56.

Ich glaube gern die Geschichten, deren Zeugen sicherwürgen lassen.

57.

Die rechte Furcht kommt aus dem Glauben, die fal-sche Furcht kommt aus dem Zweifel. Die rechteFurcht führt zur Hoffnung, weil sie vom Glauben er-zeugt wird und man hofft auf den Gott, den manglaubt. Die falsche Furcht führt zur Verzweiflung,weil man den Gott fürchtet, an den man keinen

430Pascal: Gedanken über die Religion

Glauben hat. Die einen fürchten ihn zu verlieren unddie andern ihn zu finden.

58.

Salomo und Hiob haben am Besten das Elend desMenschen erkannt und am Besten davon gesprochen,der eine der glücklichste und der andre der unglück-lichste unter den Menschen; der eine aus Erfahrungdie Eitelkeit der Freuden, der andre die Wirklichkeitder Leiden kennend.

59.

Die Heiden sagten Böses von Israel und der Pro-phet auch Aber so wenig hatten die Israeliten Rechtzu ihm zu sagen: »Du sprichst wie die Heiden,« daßer vielmehr seine größte Stärke darin setzt, daß dieHeiden sprechen wie er [Hesekiel].

60.

Gott meint nicht, daß wir unsern Glauben ihm un-terwerfen sollen ohne Grund, noch will er uns mit Ge-walt unterthänig machen. Aber er ist auch nicht ge-sonnen uns Grund von allem an zu geben. Und um

431Pascal: Gedanken über die Religion

diese Widersprüche in Uebereinstimmung zu bringen,hat er die Absicht uns göttliche Zeichen von sich, dieuns von seinem Dasein überzeugen, klar sehen zu las-sen und sich durch Wunder und Beweise, die wirnicht ablehnen können, Ansehn zu verschaffen, undwill, daß wir sodann das, was er uns lehrt, ohne An-stand glauben, wenn wir darin keinen andern Grundes von uns zu weisen finden als den, daß wir nicht ausuns selbst zu erkennen vermögen, ob es ist oder nicht.

61.

Es giebt nur drei Arten von Menschen: die einendienen Gott, da sie ihn gefunden haben, die andernbemühen sich ihn zu suchen, da sie ihn noch nicht ge-funden, die dritten endlich leben ohne ihn zu suchenund ohne ihn gefunden zu haben. Die ersten sind ver-nünftig und glücklich, die letzten sind thöricht undunglücklich, die in der Mitte sind unglücklich undvernünftig.

432Pascal: Gedanken über die Religion

62.

Die Menschen nehmen oft ihre Einbildungskraft fürihr Herz und halten sich schon für bekehrt, wenn sienur noch erst daran denken sich zu bekehren.

Die Vernunft handelt mit Langsamkeit, und nachso viel Rücksichten und verschiedenen Principien, diesie immer gegenwärtig haben muß, daß sie alle Au-genblicke ermüdet oder abirrt, weil sie nicht alle aufein Mal sieht. Mit dem Gefühl ist es anders, es han-delt in einem Augenblick und ist immer bereit zu han-deln.

Wir müssen also suchen die Wahrheit, nachdemwir sie durch die Vernunft erkannt, zu fühlen und un-sern Glauben in das Gefühl des Herzens zu setzen,sonst wird er immer ungewiß und schwankend sein.

Das Herz hat seine Gründe, welche die Vernunftnicht kennt, man fühlt es in tausend Dingen. Das Herzfühlt Gott, nicht die Vernunft. Das ist der vollkom-mene Glaube: Gott dem Herzen fühlbar.

433Pascal: Gedanken über die Religion

63.

Es gehört zum Wesen Gottes, daß seine Gerechtig-keit unendlich ist eben so gut als seine Barmherzig-keit. Aber seine Gerechtigkeit und Strenge gegen dieVerdammten ist noch weniger auffallend als seineBarmherzigkeit gegen die Erwählten.

64.

Offenbar ist der Mensch zum Denken gemacht,das ist seine ganze Würde und sein ganzes Verdienst.Seine ganze Pflicht besteht darin zu denken, wie essein soll und die Ordnung des Denkens ist an zu fan-gen mit sich, mit seinem Urheber und mit seinemZweck. Aber woran denkt man in der Welt? Hierannie, sondern sich zu vergnügen, reich zu werden,einen Ruf zu erlangen, sich zum König zu machen,ohne zu denken was das ist König sein und Menschsein.

Das menschliche Denken ist bewundernswerth sei-nem Wesen nach. Es muß seltsame Mängel haben,um verächtlich zu sein, aber es hat so große, daßnichts lächerlicher ist. Wie ist es groß seinem Wesennach und wie klein durch seine Mängel!

434Pascal: Gedanken über die Religion

65.

Giebt es einen Gott, so müssen wir nur ihn liebenund nicht die Geschöpfe. Das Raisonnement der Gott-losen in dem Buch der Weisheit ist nur darauf gegrün-det, daß sie sich überreden: es gebe keinen Gott.Wenn das ist, sagen sie, so laßt uns die Geschöpfe ge-nießen. Hätten sie aber gewußt, daß es eine Gottgiebt, so hätten sie ganz das Gegentheil geschlossen.Und das ist der Schluß der Weisen: es giebt einenGott, so laßt uns nicht die Geschöpfe genießen.

Daher alles, was uns reizt uns an das Geschöpf zuhängen, ist schlecht, weil uns das hindert Gott zu die-nen, wenn wir ihn kennen, oder ihn zu suchen, wennwir ihn nicht kennen. Nun sind wir voll Begierde,also sind wir voll vom Bösen, also müssen wir unsselbst hassen und alles, was uns an ein andres Dingknüpft als an Gott allein.

66.

Wenn wir an Gott denken wollen, wie vieles fühlenwir in uns, was uns von ihm abwendet und uns inVersuchung führt an etwas anderes zu denken? Allesdas ist schlecht und sogar mit uns geboren.

435Pascal: Gedanken über die Religion

67.

Es ist nicht wahr, daß wir würdig sind von den an-dern geliebt zu werden, es ist ungerecht, daß wirswollen. Wenn wir mit Vernunft und mit einigerKenntniß unsrer selbst und der andern geboren wür-den, so würden wir diese Neigung nicht haben. Den-noch werden wir mit dieser Neigung geboren, mithinsind wir von Natur ungerecht. Denn jeder bedenkt nursich. Das ist gegen alle Ordnung, man muß das Allge-meine bedenken, und der selbstsüchtige Hang ist derAnfang aller Unordnung in Krieg, in Staats- undHauswirthschaft u.s.w.

Wenn die Glieder der natürlichen und bürgerlichenGemeinheiten das Wohl des Ganzen bedenken, sokönnen diese Gemeinheiten selbst wiederum ein all-gemeineres Ganzes bedenken.

Wer diese Eigenliebe und diesen Trieb sich überalles zu stellen nicht in sich haßt, ist sehr blind, dennnichts widerStreitet mehr dem Recht und der Wahr-heit. Denn es ist nicht wahr, daß wir das verdienen,und es ist ungerecht und unmöglich es zu erreichen,weil alle dasselbe verlangen. Wir sind also von Ge-burt an in einer offenbaren Ungerechtigkeit befangen,von der wir uns nicht losmachen können und dochlosmachen sollen.

436Pascal: Gedanken über die Religion

Keine andre Religion als die christliche hat uns ge-zeigt, daß das eine Sünde ist, daß wir darin geborenund ihr zu widerstehen verpflichtet sind, noch hat eineandre daran gedacht uns die Mittel dazu zu geben.

68.

Im Menschen ist ein innerer Krieg zwischen derVernunft und den Leidenschaften. Er könnte einigenFrieden genießen, wenn er nur die Vernunft ohne dieLeidenschaften oder nur diese oder jene hätte. Aber daer beide hat, kann er nicht ohne Krieg sein, denn erkann nicht Frieden haben mit dem einen ohne imKrieg zu sein mit dem andern. So ist er immer getheiltund mit sich selbst im Streit.

Wenn es eine unnatürliche Verblendung ist zuleben ohne zu forschen was man ist, so ist es einenoch viel schrecklichere an Gott zu glauben undschlecht zu leben. Beinahe alle Menschen sind in dereinen oder der andern Verblendung.

437Pascal: Gedanken über die Religion

69.

Es ist unzweifelhaft, daß die Seele entweder sterb-lich oder unsterblich ist. Das muß einen völligen Un-terschied machen in der Moral und doch haben diePhilosophen unabhängig davon die Moral durchge-führt. Welche seltsame Verblendung!

Der letzte Akt ist immer blutig, wie sanft auch dasStück in allem übrigen sei. Man wirft zuletzt Erde aufdas Haupt und damit aus für immer.

70.

Nachdem Gott den Himmel und die Erde gemacht,die das Glück ihres Daseins nicht fühlen, hat er be-schlossen Wesen zu machen, die ihn erkennen und zu-sammen ein Ganzes denkender Glieder bilden sollten.Alle Menschen sind Glieder dieses Ganzen und umglücklich zu sein, müssen sie ihren besondern Willenin den allgemeinen Willen fügen, der das Ganze re-giert. Indessen geschieht es oft, daß man ein Ganzeszu sein meint, nämlich daß man kein Ganzes sieht,von dem man abhängt, und nun glaubt nur von sichab zu hängen und sich selbst zum Mittelpunkt undGanzen machen will. Aber in diesem Zustande befin-det man sich wie ein Glied, das, von seinem Leibe

438Pascal: Gedanken über die Religion

getrennt, in sich kein Princip des Lebens hat und inder Ungewißheit seines Wesens sich nur verwirrt undverwundert. Wenn man nun aber anfängt sich selbstzu erkennen, so kommt man gleichsam zu sich selbstzurück, man fühlt, daß man nicht das Ganze ist, manbegreift, daß man nur ein Glied des allgemeinen Gan-zen ist, daß Glied sein heißt Leben, Sein und Bewe-gung nur von dem Geist des Leibes und für den Leibhaben; daß ein Glied, vom Leibe, zu dem es gehört,abgetrennt, nur noch untergehendes und sterbendesSein hat, daß man also sich selbst nur um dieses Gan-zen willen lieben dürfe oder vielmehr daß man nichtsals das ganze lieben solle, denn indem man das liebt,liebt man sich selbst, da man ja kein Sein hat als indemselben, durch und für dasselbe.

Um die Liebe, die man sich selbst schuldig ist, zuregeln, muß man sich einen Körper vorstellen, ausdenkenden Gliedern zusammengefaßt - denn wir sindGlieder des Alls - und muß sehen, wie jedes Gliedsich lieben sollte.

Der Leib liebt die Hand und die Hand, wenn sieeinen Willen hätte, dürfte sich nur so lieben wie derLeib sie liebt. Alle Liebe, die darüber hinausginge,wäre ungerecht.

Wenn die Füße und Hände einen besondern Willenhätten, so würden sie nie anders in Ordnung sein, alswenn sie ihn dem Willen des Leibes unterwürfen. Wo

439Pascal: Gedanken über die Religion

nicht, so sind sie in Unordnung und Unglück. Wollensie aber nur das Wohl des Leibes, so machen sie ihreignes Glück.

Die Glieder unsers Leibes fühlen nicht das Glückihrer Vereinigung, ihres bewundernswürdigen Einver-ständnisses und der Sorgfalt der Natur ihnen Lebenein zu flößen und sie wachsen und fortbestehen zulassen. Wären sie im Stande es zu erkennen und be-dienten sie sich dieser Einsicht um die Nahrung, wel-che sie empfangen, in sich zurück zu behalten ohnesie zu den andern Gliedern weiter gehen zu lassen, sowürden sie nicht allein ungerecht sein, sondern auchelend und würden sich mehr hassen als lieben, dennihr Wohlsein wie ihre Pflicht besteht darin ein zustimmen in die Leitung der allgemeinen Seele, zu dersie gehören und die sie mehr liebt als sie sich selbst.

»Wer dem Herrn anhanget, der ist ein Geist mitihm.« (1 Kor. 6. 17.) Man liebt sich, weil man einGlied Christi ist. Man liebt Christum, weil er dasHaupt ist des Leibes, dessen Glied man ist. Alles isteins, eins im andern.

Begierde und Zwang sind die Quellen aller bloßmenschlichen Handlungen, die Begierde erzeugt diefreiwilligen, der Zwang die unfreiwilligen.

440Pascal: Gedanken über die Religion

71.

Die Platoniker und selbst Epiktet und seine Anhän-ger glaubten, daß Gott allein würdig sei geliebt undbewundert zu sein und doch wünschten sie geliebtund bewundert zu werden von den Menschen. Siekennen nicht ihre Verderbtheit. Fühlen sie sich ge-drungen ihn zu lieben und an zu beten und finden siedabei ihre Hauptfreude darin, daß sie sich für gut hal-ten, so mag es sein. Aber wenn sie dabei Widerstre-ben fühlen, wenn sie keine andre Neigung haben alssich bei den Menschen in Achtung zu setzen und stre-ben statt aller Vollkommenheit allein darnach sieohne Zwang dahin zu bringen, daß sie ihr Glück darinfinden sie zu lieben, so muß ich sagen: diese Voll-kommenheit ist schauderhaft!

Wie? sie erkannten Gott und begehrten nicht einzigund allein, daß die Menschen ihn liebten? sie wollten,daß die Menschen bei ihnen verweilten, sie wollten,daß die Menschen freiwillig in sie ihr Glück setzten?

441Pascal: Gedanken über die Religion

72.

Allerdings ist Pein bei Ausübung der Frömmigkeit.Aber diese Pein kommt nicht von der Frömmigkeit,die in uns anfängt, sondern von der Unfrömmigkeit,die noch in uns ist. Wenn unsre Sinne sich nicht derBuße widersetzten und unsre Verderbtheit nicht derReinheit Gottes, so würde darin nichts Peinigendesfür uns sein. Wir leiden nur im Verhältniß wie dasBöse, das uns natürlich ist, der übernatürlichenGnade widersteht. Unser Herz wird zerrissen zwi-schen so entgegengesetzten Kräften; aber es wäre un-gerecht diese Gewalt, die wir leiden, Gott zu zu rech-nen, der uns anzieht, statt sie der Welt zu zu schrei-ben, die uns zurückhält. Wir gleichen einem Kinde,das seine Mutter den Händen der Räuber entreißt unddas in der Pein, die es leidet, die liebevolle und recht-mäßige Gewalt von der, die ihm die Freiheit ver-schafft, lieben und nur die ungestüme und tyrannischeGewalt von denen, die es ungerechter Weise festhal-ten, verabscheuen soll. Der grausamste Krieg, denGott den Menschen in diesem Leben bereiten könnte,wäre, wenn er sie ließe ohne diesen Krieg, den erbringt. »Ich bin nicht gekommen Frieden zu senden,sondern das Schwert,« sagt er, und um diesen Krieg

442Pascal: Gedanken über die Religion

ein zu leiten, »bin ich gekommen, daß ich ein Feueranzünde auf Erden.« (Matth. 10. 34. Luk. 12. 49.)Vor ihm lebte die Welt in einem falschen Frieden.

73.

Gott sieht nur das Innere, die Kirche urtheilt nurnach dem Aeußern. Gott spricht los, sobald er dieBuße im Herzen sieht; die Kirche, wenn sie sie in denWerken sieht. Gott bildet demnach eine Kirche, die,rein im Innern, durch ihre innerliche und ganz geistli-che Heiligkeit die äußerliche Gottlosigkeit der hoch-müthigen Weisen und der Pharisäer zu nichte machtund die Kirche bildet eine Gemeinschaft von Men-schen, deren äußerliche Sitten so rein sein sollen, daßsie die Sitten der Heiden zu nichte machen. Giebt esHeuchler, die sich so gut verstellen, daß sie ihr Giftnicht kennt, so duldet sie sie. Denn ob sie auch vonGott, den sie nicht betrügen können, nicht angenom-men werden, so nehmen doch die Menschen sie an,die sie betrügen. Die Kirche wird nicht entehrt durchihr Betragen, das heilig erscheint.

443Pascal: Gedanken über die Religion

74.

Das Gesetz hat nicht die Natur vernichtet, sondernhat sie gebildet. Die Gnade hat nicht das Gesetz ver-nichtet, sondern gemacht, daß es ausgeübt werde.

Man macht sich einen Abgott von der Wahrheitselbst. Die Wahrheit ohne die Liebe ist nicht Gott, sieist ein Bild und ein Götze, den man nicht lieben nochanbeten soll. Noch viel weniger aber darf man liebenund anbeten ihr Gegentheil, das ist die Lüge.

75.

Alle großen Zerstreuungen sind für das christlicheLeben gefährlich; aber unten allen, welche die Welterfunden hat, ist keine mehr zu fürchten als dasSchauspiel. Dies ist eine so natürliche und feine Dar-stellung der Leidenschaften, daß es sie aufregt und inunserm Herzen erzeugt, und vor allen die Leiden-schaft der Liebe, hauptsächlich wenn man sie rechtkeusch und edel vorstellt. Denn je mehr sie den un-schuldigen Seelen unschuldig erscheint, desto ehersind sie fähig von ihr ergriffen zu werden. Ihre Heftig-keit gefällt unsrer Eigenliebe, welche sogleich dasVerlangen erregt die nämlichen Wirkungen, die manso gut dargestellt sieht, auch hervor zu bringen und

444Pascal: Gedanken über die Religion

man bildet sich zu gleicher Zeit ein eignes Gewissen,gegründet auf das Edle der Gesinnungen, die man dasieht, ein Gewissen, welches die Furcht der reinenSeelen auslöscht, die sich einbilden, das heißt nichtdie Reinheit verletzen zu lieben mit einer Liebe, dieihnen so weise scheint. So geht man denn aus demTheater, das Herz von all den Schönheiten und Süßig-keiten der Liebe so erfüllt, die Seele und den Geistvon ihrer Unschuld so überzeugt, daß man ganz vor-bereitet ist ihre ersten Eindrücke zu empfangen odervielmehr die Gelegenheit zu suchen, um sie in Herzenirgend eines Menschen zu erzeugen, damit man die-selben Freuden und dieselben Opfer empfange, dieman so gut im Schauspiel hat schildern sehn.

76.

Die schlaffen Grundsätze gefallen so sehr dem na-türlichen Menschen, daß es auffällt, wenn sie ihmmißfallen. Das kommt daher, weil er alle Schrankenüberschreitet. Und noch mehr, es giebt viele Men-schen, welche das Wahre sehen und es nicht zu errei-chen vermögen; aber es giebt wenige, die nicht wü-ßten, daß die Reinheit der Religion den zu schlaffenGrundsätzen entgegen ist und daß es lächerlich wärezu sagen, es gäbe einen ewigen Lohn für zügelloseSitten.

445Pascal: Gedanken über die Religion

77.

Ich fürchtete schlecht geschrieben zu haben, da ichmich verdammt sah; aber das Beispiel so vieler from-mer Schriften hat mich wieder das Gegentheil glaubengemacht. Es ist nicht mehr erlaubt gut zu schreiben.

Die ganze Inquisition ist entweder bestochen oderunwissend. Man muß Gott mehr gehorchen denn denMenschen. Ich fürchte nichts und hoffe nichts. Por-troyal fürchtet und das ist eine schlechte Politik sie zutrennen; denn wenn sie nicht mehr fürchten werden,werden sie mehr gefürchtet werden.

Stillschweigen ist die größte Verfolgung. Niehaben die Heiligen geschwiegen. Freilich gehört dazuBeruf; aber ob man berufen ist, braucht man nicht erstaus den Beschlüssen des Raths zu lernen, sondern ausder Nothwendigkeit zu reden.

Wenn auch meine Briefe zu Rom verdammt sind,was ich darin verdamme, ist im Himmel verdammt.

Die Inquisition und die Gesellschaft Jesu sind diebeiden Geißeln der Wahrheit.

446Pascal: Gedanken über die Religion

78.

Man hat mich gefragt erstlich, ob ich nicht bereuedie Briefe in die Provinz geschrieben zu haben. Ichantworte: weit entfernt es zu bereuen, würde ich sie,wenn ich sie jetzt schriebe, noch schärfer machen.

Zum Zweiten hat man mich gefragt, warum ich dieNamen der Schriftsteller genannt habe, aus denen ichalle jene scheußlichen Sätze dort citire. Ich antworte:wenn ich mich in einer Stadt befände, wo es zwölfBrunnen gäbe und ich wüßte gewiß, daß einer davonvergiftet wäre, so würde ich verpflichtet sein alle Weltdavor zu warnen, daß sie ja nicht Wasser aus diesemBrunnen schöpften und da man glauben könnte, daßdies eine reine Einbildung von mir wäre, so würde ichverpflichtet sein eher den zu nennen, der ihn vergiftethat, als eine ganze Stadt dem aus zu setzen sich zuvergiften.

Zum Dritten hat man mich gefragt, warum ich micheiner leichten, spottenden und unterhaltenden Sprachebedient habe. Ich antworte: wenn ich in einer dogma-tischen Sprache geschrieben hätte, so würde niemandmich gelesen haben als die Gelehrten und die hattendas nicht nöthig, denn sie wissen darüber zum We-nigsten eben so viel als ich. Daher glaubte ich schrei-ben zu müssen auf eine Art, die geeignet wäre meine

447Pascal: Gedanken über die Religion

Briefe den Frauen und den Leuten von Welt lesbar zumachen, damit sie erkennen möchten die Gefahr allerjener Grundsätze und aller jener Lehren, die sich da-mals verbreiteten und von denen man sich leicht über-reden ließ.

Zuletzt hat man mich gefragt, ob ich selbst alle dieBücher gelesen, die ich citirt habe. Ich antworte: nein.Wahrhaftig, ich hätte müssen einen großen Theil mei-nes Lebens damit verbringen schlechte Bücher zulesen. Aber ich habe Escobar zwei Mal ganz gelesenund die andern habe ich freilich durch einige meinerFreunde lesen lassen, aber ich habe daraus nicht eineeinzige Stelle benutzt ohne sie selbst in dem citirtenBuche nachgesehen, ohne den Gegenstand, worübersie handelt, untersucht und ohne das Vorhergehendeund Nachfolgende durchgelesen zu haben um ja nichteinen Einwurf als eine Antwort zu citiren; was ta-delnswerth und ungerecht gewesen wäre.

79.

Die Rechenmaschine hat Wirkungen, die dem Ge-danken näher kommen als alles, was die Thiere thun;aber sie thut nichts, was zu der Behauptung führte: siehabe Willen wie die Thiere.

448Pascal: Gedanken über die Religion

80.

Manche Schriftsteller, wenn sie von ihren Werkensprechen, sagen: Mein Buch, mein Commentar, meineGeschichte u.s.w. Sie wissen, daß sie Bürger sind, dieihr eigen Haus haben und führen immer das Wort imMunde: »bei mir im Hause.« Sie thäten besser zusagen: Unser Buch, unser Commentar, unsre Ge-schichte u.s.w. in Betracht dessen, daß darin mehrvom Gut andrer ist als von ihrem eignen.

81.

Die christliche Frömmigkeit demüthigt dasmenschliche Ich und die menschliche Höflichkeit ver-birgt und unterdrückt es.

82.

Wenn mein Herz eben so arm wäre, wie der Geist,so würde ich selig sein, denn ich bin mächtig über-zeugt, daß die Armuth ein großes Mittel ist sein Heilzu schaffen.

449Pascal: Gedanken über die Religion

83.

Eins habe ich bemerkt: wie arm man auch sei, soläßt man doch immer etwas zurück, wenn man stirbt.

84.

Ich liebe die Armuth, weil Jesus Christus sie ge-liebt hat. Ich liebe den Reichthum, weil er Mittelgiebt den Unglücklichen bei zu stehn. Ich halte Treuealler Welt. Ich thue nichts Böses denen, die es mirthun; sondern ich wünsche ihnen eine gleiche Stellungwie die meinige, in welcher man von der Mehrzahlder Menschen weder Böses noch Gutes empfängt. Ichbestrebe mich immer wahrhaft, aufrichtig und treu zusein gegen alle Menschen. Ich habe eine herzlicheZärtlichkeit gegen die, welche Gott enger mit mir ver-bunden hat. Wenn ich allein bin oder von den Augender Menschen, ich habe in allen meinen HandlungenGott vor Augen, der sie richten soll und dem ich siealle geweiht habe.

Das sind meine Gesinnungen und ich segne alleTage meines Lebens meinen Erlöser, der sie mir gege-ben und der aus einem Menschen voll Schwäche,Elend, Begierde, Stolz und Ehrgeiz einen Menschengemacht hat, der von allen diesen Uebeln frei ist

450Pascal: Gedanken über die Religion

durch die Kraft der Gnade, der ich alles das verdanke;denn von mir hatte ich nichts als Elend undSchrecken.

85.

Die Krankheit ist der natürliche Zustand der Chri-sten, denn man ist durch sie wie man immer sein soll-te; man leidet Uebel, entbehrt alle Güter und alleFreuden der Sinne, ist frei von allen Leidenschaften,die während des ganzen Lebens uns quälen, fühlt sichohne Ehrgeiz, ohne Habsucht und sieht in beständigerErwartung des Todes. Sollten die Christen nicht so ihrLeben zubringen? Und ist es nicht ein großes Glück,wenn man sich durch die Nothwendigkeit in den Zu-stand versetzt sieht, in welchem man aus Pflicht seinsollte, und nichts weiter zu thun hat als sich demüthigund ruhig zu unterwerfen? Deswegen verlange ichnichts mehr als Gott zu bitten, daß er mir diese Gnadegewähre.

451Pascal: Gedanken über die Religion

86.

Es ist sonderbar, daß die Menschen den Urgrundder Dinge haben begreifen und es dahin bringen wol-len alles zu erkennen! Denn das ist keinem Zweifelunterworfen, man kann diese Absicht nicht habenohne eine Anmaßung oder ohne eine Fassungskraft,die so groß wäre wie die Natur.

87.

Die Natur hat Vollkommenheit, um zu zeigen, daßsie das Bild Gottes ist und Mängel, um zu zeigen, daßsie nur sein Bild ist.

88.

Die Menschen sind so nothwendig Thoren, daßkein Thor sein hieße ein Thor auf eine andre Art sein.

452Pascal: Gedanken über die Religion

89.

Nimm die Wahrscheinlichkeit weg, so kann mander Welt nicht mehr gefallen, setze die Wahrschein-lichkeit, so kann man der Welt nicht mehr mißfallen.

90.

Der Eifer der Heiligen das Gute zu suchen und zuüben war unnütz, wenn die Wahrscheinlichkeit zuver-lässig ist.

91.

Um aus einem Menschen einen Heiligen zu machendazu gehört die Gnade und wer daran zweifelt, weißweder was ein Heiliger noch was ein Mensch ist.

92.

Man liebt die Sicherheit. Man hat es gern, daß derPapst unfehlbar sei im Glauben und die gewichtigenDoctoren unfehlbar in ihren Sitten, damit man seineSicherheit habe.

453Pascal: Gedanken über die Religion

93.

Was der Papst ist, darüber muß man nicht nach ei-nigen Worten der Kirchenväter urtheilen, wie dieGriechen in einem Concilium sagten (eine wichtigeRegel!), sondern nach den Handlungen der Kircheund der Väter und nach den Canonen.

94.

Der Papst ist der Erste. Welcher andre ist von allengekannt, von allen erkannt? Denn er hat Macht aufden ganzen Körper der Kirche ein zu wirken, weil erden Hauptast hält, der überall einwirkt.

95.

Es ist Ketzerei das Wort pantes (alle) immer mit»alle« zu erklären und Ketzerei es nicht bisweilen mit»alle« zu erklären. Piete ex autou pantes (»trinketalle daraus«), die Huguenotten sind Ketzer, weil siedas von »allen« erklären; eph' hô pantes hêmarton(»dieweil alle gesündigt haben«) die Huguenottensind Ketzer, indem sie die Kinder der Gläubigen aus-nehmen. Man muß daher den Vätern und der

454Pascal: Gedanken über die Religion

Ueberlieferung folgen, um zu wissen, wann es so undwann es wieder so zu erklären ist, weil von der einenwie von der andern Seite Ketzerei zu befürchten steht.

96.

Die geringste Bewegung hat einen Einfluß auf dieganze Natur, das ganze Meer ändert sich um einesSteines willen. So hat im Reich der Gnade die gering-ste Handlung Einfluß auf ihre Folgen in allem. Alsoist alles von Einfluß.

97.

Alle Menschen hassen sich von Natur. Man hatsich, so viel man konnte, der Begierde bedient um siedem öffentlichen Wohl dienstbar zu machen. Aberdas ist nur Trug und ein falscher Schein von Liebe; inWirklichkeit ist es nicht als Haß. Dieser schlechteGrund des Menschen, figmentum malum (dasschlechte Bild), ist nur bedeckt, nicht fortgeschafft.

455Pascal: Gedanken über die Religion

98.

Wenn man sagen will, der Mensch sei zu gering,um die Gemeinschaft mit Gott zu verdienen, so mußman sehr hoch stehen um darüber zu urtheilen.

99.

Es ist Gottes unwürdig sich mit dem elenden Men-schen zu vereinigen, nicht aber Gottes unwürdig ihnaus dem Elend zu ziehn.

100.

Wer hat es je begriffen! Welche Abgeschmackt-heit!... Sünder gereinigt ohne Buße, Gerechte gehei-ligt ohne die Gnade Jesu Christi, Gott ohne Machtüber den Willen der Menschen, eine Gnadenwahlohne Geheimniß, ein Erlöser ohne Gewißheit.

456Pascal: Gedanken über die Religion

101.

Einheit, Vielheit. Betrachtet man die Kirche alsEinheit, so ist der Papst ihr Haupt, als alles; betrach-tet man sie als Vielheit, so ist der Papst nur ein Theilvon ihr.

Die Vielheit, die sich nicht auf die Einheit zurück-führt, ist Verwirrung. Die Einheit, die nicht Vielheitist, ist Tyrannei.

102.

Gott thut keine Wunder in der gewöhnlichen Lei-tung seiner Kirche. Das wäre ein auffallendes Wun-der, wenn die Unfehlbarkeit in einem Einzelnen wäre.Aber daß sie in der Vielheit ist, das erscheint so na-türlich, daß hier wieder die Leitung Gottes unter derNatur verborgen ist, wie in allen seinen Werken.

103.

Daß die christliche Religion nicht die einzige ist,giebt keinen Grund sie nicht für die wahre zu halten.Im Gegentheil, das gerade macht sichtbar, daß sie esist.

457Pascal: Gedanken über die Religion

104.

In einem bestehenden republikanischen Staat, wieVenedig, wäre es ein großes Uebel, wenn man dazubeitrüge einen König ein zu setzen und die Freiheitder Völker, denen Gott sie gegeben hat, zu unter-drücken. Aber in einem Staat, wo die königliche Ge-walt besteht, könnte man die Ehrfurcht, die man ihrschuldig ist, nicht verletzen ohne eine Art von Ent-weihung des Heiligen; denn die Gewalt, die Gott mitihr verbunden hat, ist nicht bloß ein Bild sondern einTheil von der Gewalt Gottes und so kann man sich ihrnicht widersetzen ohne offenbar Gottes Ordnung zuwiderstreben. Noch mehr, der Bürgerkrieg, der davondie Folge wäre, ist eine der größten Versündigungen,die man an der Liebe des Nächsten begehen mag, unddeswegen kann man die Größe dieses Vergehens nichtgenug hervorheben. Die ersten Christen haben unsnicht die Empörung gelehrt, sondern die Geduld,wenn die Fürsten nicht recht ihre Pflicht thun.

(Pascal setzte hinzu: Ich bin so entfernt von dieserSünde als von Mord, oder Straßenraub, nichts istmehr meiner Natur zuwider und zu nichts fühle ichweniger Versuchung.)

458Pascal: Gedanken über die Religion

105.

Die Beredsamkeit ist eine Kunst die Dinge in derArt zu sagen, 1) daß die, zu denen man spricht, sieohne Mühe und mit Vergnügen auffassen, 2) daß siesich dabei interessirt fühlen und ihre Eigenliebe sietreibe williger darüber nach zu denken. Sie bestehtalso darin, daß man eine Verbindung zwischen demGeist und Herzen derer, zu denen man spricht, einer-seits und den Gedanken und Ausdrücken, deren mansich bedient, andrerseits her zu stellen versucht.

Das setzt voraus, daß man das menschliche Herzwohl erforscht habe um alle seine Triebfedern zu ken-nen und darnach die geeigneten Verhältnisse der Redezu finden, die man für dasselbe recht passend machenwill. Man muß sich an die Stelle derer, die uns hörensollen, versetzen und mit der Wendung, die man sei-ner Rede giebt, einen Versuch an seinem eignen Her-zen machen um zu sehn, ob eins für das andre ge-macht ist und ob man gewiß sein kann, daß der Zuhö-rer gleichsam gezwungen sein wird sich zu ergeben.

Man muß sich, so viel als möglich, auf das einfachNatürliche beschränken, nicht groß machen was klein,nicht klein was groß ist. Es genügt nicht, daß eineRede wohlklingend ist, sie muß auch dem Gegenstandangemessen sein; nichts zu viel, nichts zu wenig.

459Pascal: Gedanken über die Religion

Die Beredsamkeit ist ein Abbild des Gedankensund diejenigen, welche, nachdem sie gemalt, nochetwas hinzufügen, machen ein Gemälde statt einesAbbildes.

106.

Die heilige Schrift ist nicht eine Wissenschaft desGeistes sondern des Herzens. Sie ist nur denen ver-ständlich, die aufrichtiges Herzens sind. Der Schleier,der über der Schrift liegt für die Juden, ist auch fürdie Christen da. Die Liebe ist nicht allein der Gegen-stand der heiligen Schrift, sondern auch der Eingangzu ihr.

107.

Dürfte man nie etwas thun als aufs Gewisse, somüßte man nichts für die Religion thun, denn sie istnicht gewiß. Aber wie vieles thut man aufs Unge-wisse, die Seereisen, die Schlachten! Ja, ich behaupte:man müßte überhaupt gar nichts thun, denn nichts istgewiß. Und es ist mehr Gewißheit an der Religion alsan der Hoffnung, daß wir den morgenden Tag sehen.Denn es ist zwar nicht gewiß, daß wir morgen sehen,aber es ist gewiß möglich, daß wir es nicht sehen.Das kann man aber nicht von der Religion sagen. Es

460Pascal: Gedanken über die Religion

ist zwar nicht gewiß, daß sie ist, aber wer will wagenzu behaupten, daß es gewiß möglich wäre, daß sienicht ist? Und doch handelt man vernünftig, wennman für morgen und für das Ungewisse arbeitet.

108.

Die Erfindungen der Menschen gehen vorwärts vonJahrhundert zu Jahrhundert. Die Güte und Schlechtig-keit der Welt bleibt im Allgemeinen dieselbe.

109.

Man muß einen Gedanken im Rückhalt haben unddarnach alles beurtheilen; indem man jedoch sprichtwie das Volk.

110.

Die Gewalt ist die Königinn der Welt und nicht dieMeinung; aber die Meinung bedient sich der Gewalt.

461Pascal: Gedanken über die Religion

111.

Der Zufall giebt die Gedanken, der Zufall nimmtsie. Es giebt keine Kunst sie zu bewahren oder zu er-werben.

112.

Du willst: die Kirche soll nicht urtheilen wederüber das Innere, weil es nur Gott gehört, noch überdas Aeußere, weil Gott sich nur um das Innere küm-mert, und indem du der Kirche so alle Auswahl derMenschen nimmst, behältst du in ihr die zügellosestenund diejenigen, welche ihr so große Unehre machen,daß die Schulen der Juden und die Secten der Philoso-phen sie als unwürdig verbannt und verabscheuthaben würden.

113.

Jetzt wird zum Priester gemacht, wer es sein will,wie zur Zeit Jerobeams.

462Pascal: Gedanken über die Religion

114.

Die Vielheit, die sich nicht auf die Einheit zurück-führt, ist Verwirrung - Die Einheit, die nicht von derVielheit abhängt, ist Tyrannei.

115.

Man fragt nur das Ohr um Rath, weil man keinHerz hat.

116.

In jedem Gespräch und in jeder Rede muß man zudenen, die sich daran stoßen, sagen können: Worüberbeklagt ihr euch?

117.

Die Kinder, welche sich vor dem Gesicht er-schrecken, das sie besudelt haben, sind Kinder.

Aber auf welchem Wege soll der, der so schwachist als Kind, im höhern Alter recht stark werden? Manwechselt nur in der Schwäche.

463Pascal: Gedanken über die Religion

118.

Es ist unbegreiflich, daß Gott ist und unbegreiflich,daß er nicht ist, daß die Seele im Körper ist und daßwir keine Seele haben, daß die Welt geschaffen istund daß sie nicht geschaffen ist u.s.w., daß die Erb-sünde ist und daß sie nicht ist.

119.

Die Atheisten wollen vollkommen klare Dinge be-haupten. Aber es ist keineswegs vollkommen klar,daß die Seele materiell ist.

120.

Ungläubige sind die Leichtgläubigsten. Sie glaubendie Wunder Vespasians, um nicht Mosis Wunder zuglauben.

464Pascal: Gedanken über die Religion

Ueber die Philosophie des Descartes.

Man muß im Ganzen sagen: das geschieht durchGestalt und Bewegung; denn das ist wahr. Aber zusagen, durch welche Gestalt und Bewegung und dieMaschine zusammen zu setzen, das ist lächerlich;denn es ist unnütz, ungewiß und mühselig. Und wenndas wahr wäre, so achten wir die ganze Philosophienicht werth sich eine Stunde Mühe zu machen.

465Pascal: Gedanken über die Religion

Achtzehnter Abschnitt.

Gedanken über den Tod.(Aus einem Briefe Pascals, den Tod seines Vaters

betreffend.)

1.

Wenn uns der Tod eines geliebten Menschen oderirgend ein andres Unglück, das uns begegnet, mitKummer füllt, sollen wir Trost nicht bei uns selbstsuchen noch bei den Menschen noch bei allem, wasgeschaffen ist, sondern bei Gott allein. Und der Grunddavon ist der, daß kein Geschöpf die erste Ursacheder Ereignisse ist, die wir Leiden nennen; sondern daßdie Vorsehung Gottes ihre einzige und wahre Ursa-che, die entscheidende und frei herrschende ist. Daherist es ohne Zweifel nöthig geradezu an die Quelle zugehen und bis an den Ursprung zurück zu steigen umeine wahrhafte Linderung zu finden. Wenn wir dieseVorschrift befolgen und den Tod, der uns betrübt,nichts als ein Werk der Zufalls ansehen, noch als eineverhängnißvolle Nothwendigkeit der Natur, noch alsein Spiel der Stoffe und Theile, aus denen der Menschbesteht (denn Gott hat nicht seine Auserwählten derLaune des Zufalls überlassen), sondern als eine

466Pascal: Gedanken über die Religion

unerläßliche, unvermeidliche, gerechte und heiligeFolge eines Rathschlusses der göttlichen Vorsehung,der in der Erfüllung seiner Zeit ausgeführt wird undwenn wir endlich bedenken, daß alles, was geschehen,von Ewigkeit her gegenwärtig und vorausgeordnet istin Gott, wenn wir, sage ich, durch eine Bewegung derGnade dieses Ereigniß nicht mit Hinsicht auf dasselbefür sich und abgesehen von Gott betrachten, sondernabgesehen vom Ereigniß und mit Hinsicht auf denWillen Gottes selbst, auf die Gerechtigkeit seinesRathschlusses, auf die Ordnung seiner Vorsehung, diedoch die wahre Ursache des Ereignisses ist, ohne diees nicht geschehen wäre, durch die allein es geschehenist und gerade so geschehen ist; so werden wir mit de-müthigem Schweigen vor der undurchdringlichenHöhe seiner Geheimnisse anbeten, werden die Heilig-keit seiner Rathschlüsse verehren, werden das Verfah-ren seiner Vorsehung segnen und unsern Willen mitdem Willen Gottes selbst vereinigend, werden wir mitihm und in ihm und für ihn wollen eben das, was er inuns und für uns gewollt hat von aller Ewigkeit her.

467Pascal: Gedanken über die Religion

2.

Es giebt keinen Trost als in der Wahrheit allein. Soviel ist gewiß, Sokrates und Seneca haben nichts, wasuns überzeugen und trösten kann in diesen Fällen. Siewaren befangen im Irrthum, der alle Menschen im er-sten Zeitalter blind machte. Sie betrachteten alle denTod als natürlich für den Menschen und alle For-schungen, die sie auf diesen falschen Grundsatz ge-gründet haben, sind so eitel und so wenig sicher, daßsie nur dazu dienen, durch ihre Fruchtlosigkeit zu zei-gen, wie schwach der Mensch im Allgemeinen ist,weil die höchsten Geisteserzeugnisse der größtenunter den Menschen so niedrig und kindisch sind.

Anders ist es mit Jesu Christo und mit den kanoni-schen Büchern. Die Wahrheit ist darin enthüllt undder Trost ist eben so unfehlbar damit verknüpft alsder Irrthum unfehlbar davon geschieden ist.

Laßt uns denn den Tod im Lichte der Wahrheit be-trachten, die uns die heilige Schrift gelehrt hat. Wirhaben den köstlichen Vortheil zu wissen, daß wahr-haft und wirklich der Tod eine Strafe der Sünde ist,dem Menschen auferlegt zur Sühne seiner Schuld, fürihn nothwendig zur Reinigung von der Sünde, daß derTod allein im Stande ist die Seele zu erlösen von demsündlichen Lüsten, die in unsern Gliedern kräftig sind

468Pascal: Gedanken über die Religion

und ohne welche die Heiligen in dieser Welt nichtleben. Wir wissen, daß das Leben und besonders dasLeben der Christen, ein beständig fortgesetztes Opferist, das nur durch den Tod vollendet werden kann.Wir wissen, daß Jesus Christus, da er in die Weltkam, sich als ein wahrhaftes Opfer ansah und sich alsein solches Gott darbrachte, daß seine Geburt, seinLeben, sein Tod, seine Auferstehung, seine Himmel-fahrt, sein ewiges Sitzen zur Rechten des Vaters undseine Gegenwart im Abendmahl nichts ist als ein ein-ziges Opfer. Wir wissen, daß das, was in Jesu Christogeschehen ist, in allen seinen Gliedern geschehen soll.

Laßt uns denn das Leben als ein Opfer betrachtenund die Ereignisse des Lebens mögen keinen Ein-druck weiter auf den Geist des Christen machen, alsnur in so weit sie dieses Opfer unterbrechen oder för-dern. Laßt uns nichts böse nennen, als was das OpferGottes zu einem Opfer des Teufels in Adam zumOpfer Gottes macht. Nach diesem Grundsatz wollenwir die Natur des Todes untersuchen.

Dazu muß man auf die Person Jesu Christi zurück-gehn, denn wie Gott die Menschen nur durch denMittler Jesum Christum ansieht, so sollen auch dieMenschen die andern und sich selbst nur mittelbardurch Jesum Christum betrachten.

Wenn wir nicht durch diesen Mittelpunkt durch-gehn, so finden wir in uns nur wirkliche Leiden oder

469Pascal: Gedanken über die Religion

verabscheuungswürdige Freuden; aber wenn wir allediese Dinge in Christo betrachten, so finden wir allenTrost, alle Befriedigung, alle Erbauung.

So wollen wir den Tod in Christo betrachten undnicht ohne ihn. Ohne Christum ist er furchtbar, ent-setzlich, der Schrecken der Natur. In Christo ist erganz anders, er ist liebenswürdig, heilig, die Freudedes Gläubigen. Alles ist in Christo süß, selbst derTod. Darum hat er gelitten und ist gestorben, um Todund Leiden zu heiligen und als Gott und Mensch ist eralles gewesen, was groß und was niedrig ist, um insich alles zu heiligen, ausgenommen die Sünde, undum das Muster für alle Verhältnisse zu sein.

Um zu begreifen was der Tod ist und zwar der Todin Christo, muß man sehen, welche Bedeutung dersel-be in seinem fortwährenden und ununterbrochenOpfer einnimmt und dazu bedenken, daß in allen Op-fern der Tod des Opferthiers die Hauptsache ist. DieDarbringung und Heiligung, die vorangehn, sind Vor-bereitungen; aber die Vollendung ist der Tod, in wel-chem das Geschöpf durch Vernichtung des LebensGott alle Ehrfurcht bezeugt, deren es fähig ist, indemes sich vor den Augen seiner Hoheit demüthiget undsein allmächtiges Wesen, das allein wahrhaft existirt,anbetet. Allerdings gehört noch ein andres Stück nachdem Tode des Opfers hinzu, ohne welches der Todunnütz ist, nämlich daß Gott das Opfer annimmt.

470Pascal: Gedanken über die Religion

Dies ists, was die Schrift sagt: »Und der Herr rochden lieblichen Geruch.« (1 Mos. 8. 21.) Diese Annah-me freilich ist es eigentlich, was die Darbringungkrönt. Aber sie ist mehr ein Thun Gottes gegen dasGeschöpf als umgekehrt, und hebt also nicht auf, daßnicht das letzte Thun des Geschöpfes der Tod sei.

Alle diese Dinge haben in Jesu Christo ihre Vollen-dung gefunden. Indem er in die Welt kam, hat er sichzum Opfer dargebracht. »Er hat sich selbst durch denheiligen Geist Gott geopfert.« (Hebr. 9. 14.) »Da er indie Welt kommt, spricht er: Opfer und Gaben hast dunicht gewollt, den Leib aber hast du mir zubereitet.Da sprach ich: Siehe, ich komme; im Buch steht vor-nehmlich von mir geschrieben, daß ich thun soll,Gott, deinen Willen; deinen Willen, mein Gott, thueich gern und dein Gesetz habe ich in meinem Her-zen.« (Hebr. 10. 5, 7. Psalm 40. 7-9.) Das ist seineDarbringung und unmittelbar darauf ist seine Heili-gung gefolgt.

Dieses Opfer dauerte sein ganzes Leben und istvollendet durch seinen Tod. »Christus mußte solchesleiden und zu seiner Herrlichkeit eingehn.« (Luc. 24.26.) »Er hat am Tage seines Fleisches Gebet und Fle-hen mit starkem Geschrei und Thränen geopfert zudem, der ihm von dem Tode konnte aushelfen und istauch erhöret, darum daß er Gott in Ehren hatte undwiewohl er Gottes Sohn war, hat er doch an dem, das

471Pascal: Gedanken über die Religion

er litte, Gehorsam gelernet.« (Hebr. 5. 7, 8.) Und Gotthat ihn auferweckt und ihm seine Herrlichkeit gesandt(die ehemals durch das Feuer des Himmels, das aufdie Opfer fiel, vorgebildet wurde) um gleichsam sei-nen Leib zu verbrennen und zu verzehren und ihm dasLeben der Herrlichkeit zu geben. Das ists, was JesusChristus erlangt hat und was durch seine Auferste-hung vollendet worden ist.

Dieses Opfer war durch den Tod Jesu Christi voll-bracht und sogar in seinem Leibe vollendet durchseine Auferstehung, wo das Bild des Fleisches derSünde durch die Herrlichkeit verschlungen wordenist, und so hatte Jesus von seiner Seite alles vollendetund es blieb nichts mehr übrig als nur, daß Gott dasOpfer annahm und daß, wie der Rauch sich erhob undden Geruch zum Throne Gottes trug, so auch JesusChristus in diesem Zustand der vollkommenen Opfe-rung dargeboten, gebracht und empfangen würde amThrone Gottes selbst. Und das ist erfüllt in seinerHimmelfahrt, da er auffuhr aus eigner Kraft und ausKraft seines heiligen Geistes, der ihn von allen Seitenumgab. Er ist in die Höhe gestiegen wie der Rauchvon den Opfern, der das Bild Jesu Christi ist, emporgetragen ward durch die Luft, die das Bild des heili-gen Geistes ist, und die Apfelgeschichte sagt uns aus-drücklich, daß er in den Himmel aufgenommen wardum uns gewiß zu machen, dieses heilige Opfer, auf

472Pascal: Gedanken über die Religion

Erden vollendet, sei auch von Gott angenommen undempfangen.

So ist die Sache bei unserm Herrn. Betrachten wirjetzt, wie sie bei uns ist. Wir treten in die Kirche ein,welche die Welt der Gläubigen ist und besonders derAuserwählten, in welche Christus durch ein besondresVorrecht des eingebornen Sohnes Gottes in dem Au-genblick eintrat, da er Mensch ward, und gleich beiunserm Eintritt werden wir dargebracht und geheiligt.Dieses Opfer fährt fort durchs ganze Leben und voll-endet sich im Tode; dann verläßt die Seele wahrhaftalle Sünde und die Liebe zur Welt, deren Ansteckungsie während dieses Lebens immer erfährt, und vollen-det so das Opfer und wird aufgenommen von Gott.

Laßt uns denn nicht traurig sein über den Tod derGläubigen wie die Heiden, die keine Hoffnung haben.Wir verlieren sie nicht im Augenblick ihres Todes.Wir hatten sie, so zu sagen, verloren von der Zeit an,da sie durch die Taufe in die Kirche eintraten. Seit-dem gehörten sie Gott, ihr Leben war Gott geweiht,ihre Handlungen bezogen sich auf die Welt nur umGott zu dienen. In ihrem Tode haben sie sich losgeris-sen von den Sünden und in dem Augenblick wurdensie von Gott aufgenommen und ihr Opfer erhielt seineVollendung und seine Krone.

Sie haben gethan, was sie gelobt hatten, sie habendas Werk vollbracht, das ihnen Gott gegeben hatte zu

473Pascal: Gedanken über die Religion

thun, sie haben erfüllt, warum allein sie geschaffenwaren. Der Willen Gottes ist erfüllt in ihnen und ihrWillen ist verflossen in Gott. So scheide denn unserWillen nicht was Gott vereiniget hat und durch dieErkenntniß der Wahrheit müssen wir die Empfindun-gen der verdorbenen und gefallenen Natur erstickenoder wenigstens mäßigen. Sie hat nur unwahre Bilderund trübt durch ihre Täuschungen die Heiligkeit derEmpfindungen, welche die Wahrheit des Evangeliiuns einflößen soll.

Laßt uns denn also den Tod nicht mehr wie Heidenbetrachten sondern wie Christen, d.h. mit der Hoff-nung, wie der heilige Paulus ermahnt, weil sie das be-sondere Vorrecht der Christen ist. Laßt uns nichtmehr einen Leichnam betrachten als ein verpestetesAas, wie freilich die trügerische Natur ihn uns vor-stellt, sondern als den unverwüstlichen und ewigenTempel des heiligen Geistes, wie der Glaube lehrt.

Denn wir wissen, daß der heilige Geist in den Lei-bern der Heiligen wohnt bis zur Auferstehung, diedurch die Kraft dieses Geistes geschieht, und daß ereben dazu in ihnen Wohnung gemacht hat. Das ist dieMeinung der Kirchenväter. Deshalb ehren wir die Re-liquien der Todten und von diesem wahren Grundsatzgeleitet, gab man ehemals den Todten das Sacramentin den Mund, weil man wußte, daß sie der Tempel desheiligen Geistes waren und daher glaubte, daß sie

474Pascal: Gedanken über die Religion

auch werth waren an dem heiligen Sacrament Theil zuhaben. Aber die Kirche hat diesen Gebrauch abgeän-dert, nicht weil sie glaubt, daß jene Körper nicht hei-lig sind, sondern aus dem Grunde, weil der Leib Chri-sti als das Brod des Lebens und der Lebenden nichtden Todten gegeben werden solle.

Laßt uns die Gläubigen, die in der Gnade Gottesgestorben sind, nicht mehr betrachten, als hätten sieaufgehört zu leben, obgleich die Natur es uns glaubenmachen will, sondern als fingen sie an zu leben, wiedie Wahrheit es versichert. Laßt uns nicht mehr ihreSeelen ansehn als untergegangen und ins Nichts ver-sunken, sondern als lebendig gemacht und mit demHerrn des Lebens vereinigt und laßt uns so durch dieErwägung dieser Wahrheiten die irrthümlichen Vor-stellungen, die uns so tief eingeprägt sind, berichtigenund jene, dem Menschen so natürlichen Regungen desSchreckens überwinden.

3.

Gott hat den Menschen mit einer doppelten Liebegeschaffen, mit der Liebe zu Gott und mit der Liebezu sich selbst, aber mit dem Gesetz, daß die Liebe zuGott unendlich sein sollte, d.h. ohne ein andres Endeals Gott, die Liebe zu uns selbst aber sollte endlichsein und immer bezüglich auf Gott.

475Pascal: Gedanken über die Religion

In diesem Zustand liebte der Mensch sich nicht nurohne Sünde, sondern mußte sich auch lieben, wenn ersich nicht versündigen wollte.

Seitdem ist die Sünde geschehn und der Menschhat die erste Liebe verloren und nun ist in dieser gro-ßen, weiten Seele, die einer unbegränzten Liebe fähigist, die Selbstliebe allein übrig geblieben und hat sichausgebreitet und ergossen in dem leeren Raum, wel-chen die Liebe zu Gott zurückgelassen hat und so hater nur sich allein geliebt und alles andre nur um sei-netwillen, d.h. unendlich.

Das ist der Ursprung der Selbstliebe. Sie warAdam natürlich und gerecht in seiner Unschuld, sie istaber strafbar und unmäßig geworden in Folge seinerSünde. Das ist die Quelle dieser Liebe und die Ursa-che ihrer und ihres Uebermaßes.

Eben so ist es mit der Herrschsucht, der Trägheitund den andern Lastern. Es ist leicht davon die An-wendung zu machen auf die Furcht, die wir vor demTode haben. Diese Furcht war natürlich und gerechtin Adam, da er noch unschuldig war, weil sein Leben,Gott sehr angenehm, auch dem Menschen lieb seinmußte und sein Tod wäre furchtbar gewesen, weil erein Leben nach dem Willen Gottes geendet hätte.Darnach, als der Mensch gesündigt, ist sein Leib ver-derbt, sein Leib und seine Seele sind Feinde gewordeneiner gegen den andern und alle beide gegen Gott.

476Pascal: Gedanken über die Religion

Diese Veränderung hat wohl ein so heiliges Lebenvergiftet, aber die Liebe zum Leben ist doch geblie-ben und die Furcht vor dem Tode ist noch dieselbe.Was aber in Adam gerecht war, ist ungerecht in uns.

Das ist der Ursprung des Todesfurcht und derGrund, warum sie ein Gebrechen ist. Den Irrthum derNatur wollen wir aufklären durch das Licht des Glau-bens.

Die Furcht vor dem Tode ist natürlich, aber dies istsie nur im Stande der Unschuld, weil er in das Para-dies nicht anders hätte dringen können, als indem erein ganz reines Leben endete. Es war gerecht ihn zuhassen, als er nicht anders hätte eintreten können, alsindem er eine heilige Seele von einem heiligen Körpertrennte; aber es ist gerecht ihn zu lieben, da er eineheilige Seele von einem unreinen Leibe trennt. Es wargerecht ihn zu fliehen, wenn er den Frieden zwischenSeele und Leib gefrört hätte, nicht aber da er den un-versöhnlichen Zwiespalt beider stillt. Genug, wenn ereinen unschuldigen Leib verletzt, wenn er dem Leibedie Freiheit Gott zu dienen genommen, wenn er vonder Seele einen ihr unterwürfigen und ihrem Willendienstbaren Leib getrennt, wenn er alles Glück, des-sen der Mensch fähig ist, geendigt hätte, so wäre esgerecht ihn zu fürchten; aber da er ein unreines Lebenschließt, da er dem Leibe die Freiheit nimmt zu sündi-gen, da er die Seele befreit von einem sehr mächtigen

477Pascal: Gedanken über die Religion

Empörer, der allen Antrieben zu ihrem Heil wider-steht, so ist es sehr ungerecht dieselben Gesinnungengegen ihn zu hegen.

Die Liebe zum Leben, welche die Natur und einge-pflanzt hat, sollen wir also nicht aufgeben, weil wirsie von Gott empfangen haben, aber sie gehe auf das-selbe Leben, für welches Gott sie und gegeben hatund nicht auf etwas dem entgegengesetztes. Laßt unsdenn einstimmen in die Liebe, die Adam für sein un-schuldiges Leben hatte, und die selbst Jesus für dasseinige gehabt hat und laßt uns anfangen zu hassenein Leben, das dem entgegengesetzt ist, welches Jesusgeliebt hat, und zu fürchten nur den Tod, den Jesusgefürchtet, der einen Gott wohlgefälligen Leib traf,nicht aber zu fürchten einen Tod, der einen strafbarenLeib straft und einen sündigen Leib reinigt und unsgerade die entgegengesetzte Empfindung erweckenmuß, wenn wir nur ein wenig Glauben, Hoffnung,Liebe haben.

Es ist eine der großen Grundlehren des Christen-thums, daß alles was Jesu Christo begegnet ist, auchin der Seele und in dem Leibe jedes Christen vorge-hen soll. Wie Jesus Christus während seines sterbli-chen Lebens gelitten hat, für dieses sterbliche Lebengestorben, mit einem neuen Leben auferstanden undgen Himmel gefahren ist, wo er sitzet zur Rechten desVaters, sollen auch Leib und Seele leiden, sterben,

478Pascal: Gedanken über die Religion

auferstehn und gen Himmel fahren.Alles dieses erfüllt sich in der Seele während dieses

Lebens, aber nicht im Leibe.Die Seele leidet und stirbt der Sünde in der Buße

und in der Taufe, sie stehet auf zu einem neuen Lebenin diesen Sakramenten und endlich verläßt sie dieErde und fährt gen Himmel, indem sie ein himmlischLeben führt, weshalb auch der heilige Paulus sagt:»Unser Wandel ist im Himmel.« (Phil. 3. 20.)

Nichts von dem begegnet dem Leibe während die-ses Lebens, aber dasselbe geschieht mit ihm in derFolge. Denn im Tode stirbt der Leib für das sterblicheLeben, beim Gericht steht er zu einem neuen Lebenauf, nach dem Gericht fährt er gen Himmel und wohntdort ewiglich.

So widerfährt dasselbe dem Leibe wie der Seele,nur zu verschiednen Zeiten und die Veränderungendes Leibes geschehen erst, wenn die der Seele bereitserfüllt sind, d.h. nach dem Tode, so daß der Tod dieSeligkeit der Seele krönt und die Seligkeit des Leibesbeginnt.

Das ist das bewundernswürdige Verfahren derWeisheit Gottes in Betreff des Heiles der Seelen undder heilige Augustin lehrt uns über diesen Gegen-stand, daß Gott das so geordnet habe, damit derMensch nicht, wenn sein Leib für immer in der Taufegestorben und auferstanden wäre, sich nur aus Liebe

479Pascal: Gedanken über die Religion

zum Leben in den Gehorsam gegen das Evangeliumbegeben hätte, wogegen die Größe des Glaubens weitmehr in die Augen leuchtet, wenn man zur Unsterb-lichkeit strebt durch die Schatten des Todes.

4.

Es ist unrecht, wenn wir bei den Trübsalen undtraurigen Ereignissen, die uns begegnen, gefühllosund ohne Schmerz sind, wie der Engel, die kein Ge-fühl der Natur haben; eben so unrecht ist es auch,wenn wir ohne Trost sind wie Heiden, die kein Gefühlder Gnade haben; recht aber ist es, daß wir betrübetund getröstet sind als Christen und daß der Trost derGnade den Sieg über die Gefühle der Natur davon-trägt, damit die Gnade nicht bloß in uns sei, sondernsich auch siegreich in uns beweise, damit so, indemwir den Namen unsers Vaters heiligen, sein Wille derunsrige werde, damit seine Gnade herrsche und regie-re über die Natur, damit unsre Trübsale gleichsam derStoff eines Opfers seien, das seine Gnade zur EhreGottes verzehrt und vernichtet und damit diese beson-dern Opfer das allgemeine Opfer ehren und vorberei-ten, bei welchem die ganze Natur durch die KraftChristi aufgezehrt werden soll.

So werden wir aus unsern eignen Unvollkommen-heiten Nutzen ziehen, indem sie diesem Opfer den

480Pascal: Gedanken über die Religion

Stoff geben, denn das ist der Zweck der wahren Chri-sten von ihren eignen Unvollkommenheiten Gewinnzu ziehen, weil alle Dinge denen zum Besten dienen,die nach dem Vorsatz berufen sind.

Wenn wir genauer darauf Acht geben, so werdenwir große Vortheile für unsre Erbauung finden, indemwir die Sache der Wahrheit gemäß betrachten. Dennda es wahr ist, daß der Tod des Leibes nur das Bildvom Tode der Seele ist und weil wir auf diesen Grundbauen, daß wir hoffen dürfen für das Heil derer, derenTod wir beweinen, so sollen wir gewiß, wenn wirunsre Traurigkeit und unser Mißbehagen nicht hem-men können, den Gewinn daraus ziehen, zu erkennen,daß, wenn der Tod des Leibes so schrecklich ist, daßer uns solche Bewegungen verursacht, der Tod derSeele uns noch untröstlichere verursachen muß. Gotthat den ersten zu denen gesandt, die wir beweinen,aber wir hoffen, daß er den zweiten abgewendet hat.Laßt uns denn die Größe unsrer Güter abmessen ander Größe unsrer Leiden und das Uebermaß unsresSchmerzes sei das Maß unsrer Freude.

Nichts kann sie beschränken als die Furcht, daßihre Seelen einige Zeit in den Qualen schmachten, diebestimmt sind den Rest der Sünden dieses Lebens zureinigen und daher müssen wir uns sorgfältig bemü-hen den Zorn Gottes über sie zu besänftigen.

Das Gebet und die Opfer sind ein Hauptmittel für

481Pascal: Gedanken über die Religion

ihre Qualen. Aber eine der sichersten und nützlichstenLiebeserweisungen gegen die Todten ist zu thun, wassie uns gebieten würden, wenn sie noch auf der Weltwären, und uns für sie in den Zustand zu versetzen, inwelchem sie uns gegenwärtig gern sähen.

Auf diese Weise machen wir sie in gewisser Artwieder lebend in uns, weil ihre Gesinnungen wiederin uns leben und handeln und wie die Stifter von Ket-zereien im andern Leben gestraft werden wegen derSünden, zu denen sie ihre Anhänger verleitet haben,in denen ihr Gift fortlebt, so werden die Todten nochüber ihr eignes Verdienst belohnt für diejenigen, diesie durch ihren Rath und ihr Beispiel zur Nachfolgebewogen haben.

5.

Der Mensch ist sicherlich zu schwach um über denVerlauf der Zukunft verständig urtheilen zu können.Laßt uns denn auf Gott hoffen und uns nicht abquälenmit unbescheidenem und vermessenem Voraussehen.Gott wollen wir die Führung unsers Lebens überlas-sen und das Mißbehagen sein nicht herrschend in uns.

Der heilige Augustin lehrt uns, daß in jedem Men-schen eine Schlange, eine Eva und ein Adam ist. DieSchlange das sind die Sinne und unsre Natur, die Evaist die böse Lust und der Adam ist die Vernunft.

482Pascal: Gedanken über die Religion

Die Natur versucht uns fortwährend, die böse Lustbegehrt oft; aber die Sünde wird nicht vollführt, wenndie Vernunft nicht einwilligt.

Lassen wir denn diese Schlange und diese Eva ihrWerk treiben, wenn wir es nicht hindern können; aberwir wollen Gott bitten, daß seine Gnade unsern Adamalso stärke, daß er siegreich bleibe, daß Jesus Chri-stus wieder über ihn Sieger sei und ewig in uns herr-sche.

483Pascal: Gedanken über die Religion

Neunzehnter Abschnitt.

Gebet zu Gott um den rechten Gebrauch derKrankheiten.

1.

Herr, dessen Geist so gut ist und so liebevoll inallen Dingen, der du so barmherzig bist, daß nicht al-lein die Freuden, sondern selbst die Trübsale, diedeine Erwählten treffen, Thaten deiner Barmherzig-keit sind, gieb mir die Gnade nicht wie ein Heide zuthun in der Lage, in die mich deine Gerechtigkeit ver-setzt hat, daß ich als ein wahrer Christ dich für mei-nen Vater und für meinen Gott anerkenne, in welcherLage ich mich auch befinde. Denn die Veränderungmeines Zustandes bringt keine Veränderung in demdeinigen hervor, du bist immer derselbe, obgleich ichdem Wechsel unterworfen bin, du bist nicht wenigerGott, wenn du betrübest und strafest, als wenn du trö-stest und Geduld hegst.

484Pascal: Gedanken über die Religion

2.

Du hattest mir die Gesundheit gegeben um dir zudienen und ich habe davon einen rein weltlichen Ge-brauch gemacht. Jetzt schickest du mir die Krankheit,um mich zu bessern, gieb nicht zu, daß ich sie an-wende dich zu reizen durch meine Ungeduld. Ich habemeine Gesundheit schlecht benutzt und du hast michdafür gerechter Weise bestraft, lasse nicht zu, daß ichdeine Strafe schlecht benutze, und weil das Verderbenmeiner Natur so groß ist, daß es mir deine Gunstbe-zeugungen verderblich macht, gieb, o Gott, daß deineallmächtige Gnade mir deine Züchtigungen heilsammache. Wenn mein Herz voll von Liebe zur Welt ge-wesen ist, so lange es noch einige Kraft hatte, so ver-nichte diese Kraft zu meinem Heil und mache michunfähig die Welt zu genießen, sei es durch Schwach-heit des Leibes oder durch Eifer der Liebe, daß ichnichts genieße als dich allein.

485Pascal: Gedanken über die Religion

3.

O Gott, vor dem ich eine genaue Rechenschaft vonallen meinen Handlungen ablegen soll am Ende desLebens und am Ende der Welt, o Gott, der du dieWelt und alle Dinge der Welt nur bestehen lässest umdeine Erwählten zu üben und die Sünder in dem er-götzlichen und frevelhaften Genuß der Welt duldest, oGott, der du unsre Leiber sterben lässest und in derStunde des Todes unsre Seele von allem, was sie inder Welt liebte, entrückest, o Gott, der du in jenemletzten Augenblick meines Lebens mich von allem,woran ich hing, woran ich mein Herz heftete, losrei-ßen wirst, o Gott, der du am jüngsten Tage den Him-mel und die Erde und alle Geschöpfe, die sie enthal-ten, zerstören wirst um allen Menschen zu zeigen, daßnichts ist als du und daß also nichts Liebe verdient alsdu und nichts bleibet als du, o Gott, der du alle dieeiteln Götzen und die unseligen Gegenstände unsrerLeidenschaften vernichten wirst, ich lobe dich, meinGott, und werde dich alle Tage meines Lebens seg-nen, daß es dir gefallen hat mir zu Liebe jenem er-schrecklichen Tage zuvor zu kommen, indem du fürmich alles zertrümmertest durch die Schwachheit, inwelche du mich versetzet hast. Ich lobe dich undwerde dich alle Tage meines Lebens segnen, daß du

486Pascal: Gedanken über die Religion

mich in die Unfähigkeit versetzet hast die Reize derGesundheit und die Freuden der Welt zu genießenund daß du zu meinem Besten in gewisser Art die trü-gerischen Götzen zerstöret hast, die du am Tage dei-nes Zorns zur Beschämung der Bösen in Wahrheitzerstören wirst. Gieb Herr, daß ich nach dieser Zer-störung, die du hinsichts meiner angerichtet hast,mich nun selbst richte, damit nicht du selbst michrichtest einst nach der gänzlichen Zerstörung meinesLebens und der Welt. Wie ich einst, o Herr, im Au-genblick meines Todes von der Welt getrennt seinwerde, entblößt von allem, allein in deiner Gegen-wart, um deiner Gerechtigkeit Rechenschaft zu gebenvon allen Regungen meines Herzens, so gieb, daß ichmich jetzt in dieser Krankheit betrachte, als wäre ichin einer Art von Tod, getrennt von der Welt, entblößtvon allen Gegensänden meiner Anhänglichkeit, alleinin deiner Gegenwart um von deiner Barmherzigkeitdie Bekehrung meines Herzens zu erflehen und daßich so einen großen Trost darin habe, daß du mir jetzteine Art von Tod sendest um deine Barmherzigkeitaus zu üben, ehe du mir wahrhaft den Tod schickestum dein Gericht zu halten. Gieb denn also, o meinGott, daß, wie du meinem Tode zuvorgekommen bist,so auch ich der Strenge deines Urtheilspruches zuvor-kommen bist, so auch ich der Strenge deines Urtheil-spruches zuvorkomme und mich selbst richte vor

487Pascal: Gedanken über die Religion

deinem Gericht um einst in deiner Gegenwart Barm-herzigkeit zu finden.

4.

Gieb, o mein Gott, daß ich still deine anbetungs-würdige Vorsehung in der Leitung meines Lebens an-bete, laß deine Züchtigung mich trösten und wie ichwährend der Tage des Friedens in der Bitterkeit mei-ner Sünden gelebt habe, so gieb, daß ich jetzt diehimmlische Süßigkeit deiner Gnade schmeckte wäh-rend der heilsamen Leiden, mit denen du mich heim-suchest. Aber ich erkenne, mein Gott, wie mein Herzso verhärtet ist und so voll von weltlichen Gedanken,Sorgen, Unruhen und Neigungen, daß weder dieKrankheit noch die Gesundheit, weder die Gesprächenoch die Bücher, weder deine heilige Schrift und deinEvangelium noch deine heiligsten Geheimnisse,weder die Almosen, die Fasten und die Kasteiungennoch die Wunder, der Gebrauch der Sacramente unddas Opfer deines Leibes, weder meine Anstrengungennoch die der Ganzen Welt zusammen irgend etwasvermögen um meine Verkehrung an zu fangen, wenndu nicht alles das mit dem ganz außerordentlichenBeistande deiner Gnade begleitest. Daher, mein Gott,wende ich mich an dich, du allmächtiger Gott, um vondir ein Gut zu erflehen, was alle Creaturen zusammen

488Pascal: Gedanken über die Religion

mir nicht gewähren können. Ich würde nicht die Drei-stigkeit haben mein Geschrei vor dich zu bringen,wenn irgend wer anders es zu erhören vermöchte.Aber die Bekehrung meines Herzens, die ich von dir,mein Gott, erflehe, ist ein Werk, das alle Anstrengun-gen der Natur übersteigt und so kann ich mich nur anden allmächtigen Urheber und Herrn der Natur undmeines Herzens wenden. Zu wem sollte ich rufen,Herr, zu wem meine Zuflucht nehmen, wenn nicht zudir? Alles, was nicht Gott ist, kann meine Hoffnungnicht erfüllen. Gott selbst ist es, was ich begehre undwas ich suche und an dich allein, mein Gott, wendeich mich um dich zu erlangen. Oeffne mein Herz,dringe ein in diesen aufrührischen Platz, den die La-ster besetzt haben. Sie halten ihn in Unterwürfigkeit.Dringe ein als in das Haus des Starken, aber bindezuvor den starken und mächtigen Feind, der es be-herrscht und nimm dann die Schätze, die darinnensind. Herr, nimm deine Liebe, welche die Welt ge-raubt hat, raube du selbst diesen Schatz oder viel-mehr nimm ihn zurück; denn dir gehört er als eineAbgabe, die ich dir schuldig bin, weil dein Bild dar-auf eingeprägt ist. Du hattest es ihm aufgedrückt,Herr, im Augenblick meiner Taufe, meiner zweitenGeburt; aber es ist ganz ausgelöscht. Das Bild derWelt ist so darauf eingegraben, daß das deine nichtmehr kenntlich ist. Du allein konntest meine Seele

489Pascal: Gedanken über die Religion

schaffen; du allein kannst sie von neuem schaffen; duallein konntest dein Bild ihr einprägen, du alleinkannst es wieder auffrischen und das ausgelöschte ihrwieder neu eindrücken, nämlich Jesum Christum mei-nen Heiland, der dein Ebenbild und der Abglanz dei-nes Wesens ist.

5.

O mein Gott, wie glücklich ist ein Herz, das einenso entzückenden Gegenstand lieben kann, der es nichtentehrt und dem an zu hängen ihm so heilsam ist!Ich fühle, daß ich die Welt nicht lieben kann ohne dirzu mißfallen, ohne mir zu schaden und mich zu enteh-ren und dennoch ist die Welt noch Gegenstand mei-ner Freude. Ach! mein Gott, wie glücklich ist eineSeele, deren Freude du bist, weil sie sich der Liebe zudir überlassen darf nicht nur ohne Gewissenszweifel,sondern noch mit Verdienst! Wie ist ihr Glück festund dauerhaft, weil ihre Hoffnung nicht zu Schandenwerden wird; denn du wirst nie untergehen, undweder Leben noch Tod mag sie scheiden von dem Ge-genstand ihrer Liebe und derselben Augenblick, derdie Gottlosen mit ihren Götzen in einen gemeinschaft-lichen Untergang reißt, wird die Gerechten mit dir ineiner gemeinschaftlichen Herrlichkeit vereinigen undwie die ersten mit den vergänglichen Dingen, an die

490Pascal: Gedanken über die Religion

sie sich gehängt, vergehen werden, so werden die an-dern ewig bestehen bleiben in dem ewigen und durchsich selbst bestehenden Gegenstand, mit dem sie sichenge vereinigt haben. O! wie glücklich sind die, wel-che mit voller Freiheit und mit einer unbezwinglichenNeigung ihres Willens vollkommen und frei lieben,was sie mit Nothwendigkeit verpflichtet sind zu lie-ben!

6.

Vollende, o Gott, die guten Regungen, die du mirgiebst. Sei ihr Ziel, wie du ihr Anfang bist. Krönedeine eignen Gaben, denn ich erkenne es an, daß esdeine Gaben sind. Ja, mein Gott, und weit davon ent-fernt mir ein zu bilden, daß meine Gebete ein Ver-dienst hätten, welches dich zwänge sie mir nothwen-dig zu gewähren, erkenne ich demüthig, daß ich denGeschöpften mein Herz ergeben habe, welches dunur für dich gebildet hast und nicht für die Welt nochfür mich selbst und daß ich so keine Gunst hoffenkann als nur von deiner Barmherzigkeit, denn ichhabe nichts in mir, was dich dazu verpflichten könnteund alle natürlichen Regungen meines Herzens wen-den sich auf die Geschöpfe oder auf mich und könnendich nur erzürnen. Daher sage ich dir Dank, meinGott, für die guten Regungen, die du mir giebst und

491Pascal: Gedanken über die Religion

selbst dafür, daß ich dir danke.

7.

Rühre mein Herz zur Reue über meine Fehler, dennohne diesen innern Schmerz würden die äußerlichenLeiden, mit welchen du mein Leid rührest, mir eineneue Gelegenheit zur Sünde sein. Laß mich recht er-kennen, daß die Leiden des Leibes nicht anders sindals die Strafe und zugleich das Bild der Seelenleiden.Aber gieb auch, mein Gott, daß sie für diese Seelen-leiden das Heilmittel seien und laß mich in denSchmerzen, die ich fühle, den Schmerz bedenken, denich nicht fühlte in meiner Seele, ob sie gleich ganzkrank und voller Schwären war. Denn, Herr, ihregrößte Krankheit ist jene Fühllosigkeit und jene großeSchwäche, die ihr alle Empfindung ihres eignenElends benommen hatte. Gieb, daß ich es lebhaftfühle und der Rest meines Lebens sei eine fortwäh-rende Buße um ab zu waschen die Sünden, die ich be-gangen habe.

492Pascal: Gedanken über die Religion

8.

Herr, mein vergangnes Leben war wohl frei vongroben Schanden und Lastern, zu denen du mir dieGelegenheit ferne gehalten hast, dennoch ist es dirsehr mißfällig gewesen durch die anhaltende Nachlä-ßigkeit, durch den schlechten Gebrauch deiner heilig-sten Sakramente, durch die Verachtung deines Wortsund deiner Eingebungen, durch die gänzliche Trägheitund Nutzlosigkeit meiner Thaten und Gedanken durchden völligen Verlust der Zeit, die du mir gegeben hat-test um dich an zu beten, um in allen meinen Beschäf-tigungen die Mittel zu suchen, daß ich dir gefiele, undum Buße zu thun für die Fehler, die alle Tage began-gen werden und die selbst bei den Gerechtesten so ge-wöhnlich sind, daß ihr Leben eine fortgesetzte Bußesein soll, ohne welche sie in Gefahr sind wieder ausihrer Gerechtigkeit zu fallen. So, mein Gott, bin ichdir immer entgegen gewesen.

493Pascal: Gedanken über die Religion

9.

Ja, Herr, bis hieher bin ich immer taub gewesen fürdeine Stimme und habe verachtet deine Worte, ichhabe anders geurtheilt, als du urtheilst, ich habe wi-dersprochen den heiligen Lehren, welche du der Weltvon deinem ewigen Vater gebracht hast und nach wel-cher du die Welt richten wirst. Du sagst: »Selig sinddie hier weinen und wehe denen, die getröstet sind.«Und ich habe gesagt: Elend sind die seufzen, undselig die, welche getröstet sind. Ich habe gesagt:Glücklich sind die, welche eines großen Vermögensgenießen und eines ehrenvollen Ansehns und einer fe-sten Gesundheit. Und warum habe ich sie glücklichgenannt als nur darum, weil alle diese Vortheile ihneneine treffliche Gelegenheit boten der Creaturen zu ge-nießen, d.h. dich zu beleidigen! Ja, Herr, ich bekenne,daß ich die Gesundheit als ein Gut geachtet habe,nicht weil sie ein leichtes Mittel ist um dir mit Nutzenzu dienen, um mehr Sorgen und Nachtwachen in dei-nem Dienst zu ertragen, und um dem Nächsten bei zustehn, sondern weil ich durch sie begünstigt mit weni-ger Zurückhaltung dem Ueberfluß der Annehmlich-keiten des Lebens mich hingeben und besser ihre trau-rigen Freuden schmecken konnte. Gieb mir dieGnade, Herr, daß du meine verderbte Vernunft wieder

494Pascal: Gedanken über die Religion

herstellest und meine Gesinnungen den deinen gemäßmachest. Gieb, daß ich in der Trübsal mich glücklichschätze und in dem Unvermögen nach außen zu han-deln, reinige du so meine Gesinnungen, daß sie nichtmehr den deinigen widerstreben und so laß mich dichin mir selbst suchen, weil ich dich nicht außerhalb su-chen kann wegen meiner Schwäche. Denn, Herr, deinReich ist in deinen Gläubigen und ich werde es in mirselber finden, wenn ich in mir finde deinen Geist unddeinen Sinn.

10.

Aber, Herr, was soll ich thun, daß ich dich bewegedeinen Geist über diese arme Erde aus zu gießen?Alles was ich bin ist dir mißfällig und ich finde nichtsin mir, was dir gefallen könnte. Ich sehe nichts in mir,Herr, als allein meine Schmerzen, die einige Aehnli-cheit mit den deinen haben. Siehe denn an die Leiden,die ich erdulde, und die, welche mir drohen. Schauemit einem Auge der Barmherzigkeit auf die Wunden,die deine Hand mir geschlagen, du mein Heiland, derdu meine Leiden geliebt hast im Tode! O Gott, der dunur Mensch geworden bist um für das Heil der Men-schen mehr zu leiden als kein andrer Mensch! Gott,der du nur darum nach dem Sündenfall der Menschenins Fleisch gekommen bist und nur darum einen Leib

495Pascal: Gedanken über die Religion

angenommen hast, daß du darin alle Leiden trügest,die unsre Sünden verdient haben! Gott, der du dieLeiber, welche leiden, so liebest, daß du für dich denLeib wähltest, der je unter allen Leiden trügest, dieunsre Sünden verdient haben! Gott, der du die Leiber,welche leiden, so liebest, daß du für dich den Leibwähltest, der je unter allen auf der Welt am Meistenmit Leiden geplagt war, habe lieb meinen Leib nichtum seinetwillen, auch nicht um deß willen, was erenthält, denn alles darin verdient deinen Zorn, son-dern um der Leiden willen, die er erduldet, die alleindeiner Liebe würdig sein können. Liebe meine Lei-den, Herr, und durch meine Schmerzen laß dich einla-den mich zu besuchen. Aber um deine Wohnung inmir vollends zu zu bereiten, gieb, o Heiland, daßwenn mein Leib das mit dem deinigen gemeint hat,daß er für meine Uebertretungen leidet, meine Seeleauch das mit der deinigen gemein habe, daß sie trau-rig sei über eben diese Uebertretungen und daß ich so,mit dir wie du, an meinem Leibe und an meiner Seeleleide für die Sünden, die ich begangen habe.

496Pascal: Gedanken über die Religion

11.

Erweise mir, Herr, die Gnade zu meinen Leidennoch deine Tröstungen hinzu zu fügen, daß ich leideals Christ. Ich begehre nicht frei zu sein von Schmerz;denn das ist der Lohn der Heiligen; aber ich bitte dichmich nicht den Schmerzen der Natur zu überlassenohne die Tröstungen deines Geistes, denn das ist derFluch der Juden und Heiden. Ich begehre nicht eineFülle von Trost zu haben ohne ein Leiden, denn dasist das Leben der Herrlichkeit; aber ich begehre auchnicht in der Fülle von Uebeln zu sein ohne Tröstung,denn das ist ein Zustand des Judenthums, sondern ichbegehre, Herr, beides zusammen zu fühlen, dieSchmerzen der Natur für meine Sünden und die Trö-stungen deines Geistes durch deine Gnade, denn dasist der wahre Zustand des Christenthums. Laß michnicht Schmerzen fühlen ohne Tröstung, sondern bei-des zusammen, Schmerzen und Tröstung, auf das ichendlich hin gelange nur deine Tröstungen zu fühlenohne einen Schmerz. Denn, Herr, du hast die Weltschmachten lassen in den natürlichen Leiden ohneTrost, ehe dein einiger Sohn kam, jetzt tröstest du undlinderst die Leiden deiner Gläubigen durch die Gnadedeines einigen Sohnes und du erfüllest mit einer ganzreinen Seligkeit deine Heiligen in der Herrlichkeit

497Pascal: Gedanken über die Religion

deines einigen Sohnes. Das sind die bewundernswür-digen Stufen, auf denen du deine Werke führest. Duhast mich der ersten entzogen, hilf mir über die zweiteum auf die dritte zu gelangen. Herr, das ist die Gnade,um die ich dich bitte.

12.

Laß mich nicht in einer solchen Entfernung von dirsein, daß ich deine Seele betrübt bis in den Tod unddeinen Leib gemartet vom Tode und meiner eignenSünde willen ansehen könne, ohne mich zu freuen,daß ich leide an meinem Körper und an meiner Seele.Denn was ist schändlicher und doch zugleich gewöhn-licher unter den Christen und in mir selbst, als daßwir, während du Blut schwitzest zur Sühne für unsreUebertretungen, herrlich und in Freuden leben! Chri-sten, die sich dein nennen, die durch die Taufe derWelt entsagt haben um dir zu folgen, die feierlich imAngesicht der Kirche geschworen haben mit dir zuleben und zu sterben, die bekennen zu glauben, daßdie Welt dich verfolgt und gekreuzigt hat, die glau-ben, daß du dem Zorn Gottes und der Grausamkeitder Menschen preisgegeben hast um sie von ihrenSünden zu erlösen, die, sage ich, alle diese Wahrhei-ten glauben, die deinen Leib für das Opfer ansehn,das sich zu ihrem Heil dargebracht hat, die die

498Pascal: Gedanken über die Religion

Freuden und die Sünden der Welt als den einzigenGrund deiner Leiden und die Welt als deinen Henkerbetrachten, eben die suchen ihren Leib zu schmei-cheln mit denselben Freuden, in derselben Welt.Nicht ohne zu schaudern könnte man einen Menschenden Mörder seines Vaters, der sich für sein Lebenwürde aufgeopfert haben, küssen und lieben sehen,und doch kann man leben, wie ich gethan habe, mitvoller Freude mitten in der Welt, die, wie ich gewißweiß, wahrhaftig gemordet hat, den, welchen ich fürmeinen Gott und für meinen Vater erkenne, der sichfür mein eignes Heil geopfert hat und auf sich allemeine Ungerechtigkeit geladen hat? Es ist gerecht,Herr, daß du eine so frevelhafte Freude unterbrochenhast, wie die, mit welcher ich ruhig war im Schattendes Todes!

13.

Nimm denn von mir, Herr, die Traurigkeit, welchemeine Selbstliebe in mir über meine eignen Leidenund über die Dinge der Welt, die nicht nach denWünschen meines Herzens gelingen und die nicht zudeiner Ehre sind, erregen könnte, und flöße mir eineTraurigkeit ein, die der deinigen ähnlich sei. Möchtenmeine Leiden dazu dienen Zorn zu mildern. Machedaraus eine Gelegenheit zu meinem Heil und zu

499Pascal: Gedanken über die Religion

meiner Bekehrung. Möge ich fortan nicht Gesundheitund Leben wünschen als nur um es an zu wenden undzu beschließen für dich, mit dir und in dir. Ich bittedich weder um Gesundheit noch um Krankheit, wederum Leben noch um Tod, sondern daß du über meineGesundheit und über meine Krankheit, über meinLeben und über meinen Tod gebietest zu deiner Ehre,zu meinem Heil und zum Nutzen der Kirche und dei-ner Heiligen, zu denen ich durch deine Gnade zu ge-hören hoffe. Du allein weißt, was mir dienlich ist; dubist der alleinige Herr, thu was du willst. Gieb mir,nimm mir, aber bilde meinen Willen nach dem dei-nen, daß ich in demüthiger und vollkommener Unter-werfung und in heiliger Zuversicht mich anschicke dieGebote deiner ewigen Vorsehung zu empfangen undalles, was mir von dir kommt, immer gleich verehre.

14.

Gieb, o Gott, daß ich mit immer gleichem Sinn alleBegegnisse hinnehme, weil wir nicht wissen, was wirbitten sollen und ich weder das eine noch das andrewünschen kann ohne Anmaßung und ohne mich zumRichter auf zu werfen und mich für die Folgen verant-wortlich zu machen, die deine Weisheit mir billigverbergen wollte. Herr, ich weiß, daß ich nur einesweiß, nämlich daß es gut ist dir zu folgen und daß es

500Pascal: Gedanken über die Religion

übel ist dich zu erzürnen. Außer dem weiß ich nicht,was das Beste oder das Schlechteste ist in allen Din-gen. Ich weiß nicht, was mir nützlich ist, Gesundheitund Krankheit, Reichthum oder Armuth noch sonstwas in der Welt. Dieß ist ein Erkenntniß, das dieKraft der Mensch und Engel übersteigt, und das ver-borgen ist in den Geheimnissen deiner Vorsehung, dieich anbete und nicht ergründen soll.

15.

Gieb denn, Herr, daß ich, wie ich auch sei, michdeinem Willen füge und krank, wie ich bin, dich prei-se in meinen Leiden. Ohne sie kann ich nicht zurHerrlichkeit gelangen und du selbst, mein Heiland,hast nicht anders zu ihr eingehen wollen als durch sie.An deinen Leiden bist du von deinen Jüngern erkanntworden und an den Leiden erkennest du auch die, wel-che deine Jünger sind. Erkenne denn mich als deinenJünger in den Leiden, die ich an Leib und Seele duldefür meine begangenen Sünden, und da nichts vor Gottangenehm ist, wenn es nicht von dir ihm dargebrachtwird, so vereinige meinen Willen mit dem deinen undmeine Schmerzen mit denen, die du gelitten hast.Mache, daß die meinen dein werden, vereinige michmit dir, erfülle mich mit dir und mit deinem heiligenGeiste. Ziehe ein in mein Herz und in meine Seele,

501Pascal: Gedanken über die Religion

daß du tragest meine Leiden und fortfahrest in mir zuerdulden, was dir noch übrig ist von dem Leiden, wel-ches du in deinen Gliedern vollendest, bis dein Leibvollkommen erbaut werde, auf daß, von dir erfüllt, iches nicht mehr sei, der lebt und leidet, sondern daß du,o mein Heiland, es seist, der in mir lebe und leide unddaß du so einen kleinen Theil an deinen Leiden mirgebend, mich ganz erfüllest mit der Herrlichkeit, zuder du durch sie eingegangen, und in der du lebest mitdem Vater und dem heiligen Geist von Ewigkeit zuEwigkeit! Amen.

502Pascal: Gedanken über die Religion

Zwanzigster Abschnitt.

Vergleichung der alten Christen mit den heutigen.

In der ersten Zeit der Kirche sah man nur Christen,die vollkommen in allen zum Heil nothwendigenStücken unterrichtet waren, wogegen man heut zuTage eine so große Unwissenheit findet, daß darüberalle seufzen, die Liebe für die Kirche haben. Man tratdamals in die Kirche nicht eher als nach großen Ar-beiten und langer Sehnsucht, und jetzt befindet mansich darin ohne eine Mühe, ohne Sorge und Arbeit.Man wurde nur nach einer genauen Prüfung zugelas-sen; jetzt ist man darin aufgenommen, ehe man imStande ist geprüft zu werden. Man wurde nicht eheraufgenommen, als bis man sein vergangenes Lebenabgeschworen und der Welt, dem Fleisch und demTeufel abgesagt hatte; jetzt tritt man hinein, ehe manim Stande ist das Geringste von alle dem zu thun.Endlich mußte man sonst von der Welt ausscheidenum in die Kirche aufgenommen zu werden; dagegenheute tritt man in die Kirche zu gleicher Zeit, wennman in die Welt tritt.

Bei diesem Verfahren kannte man damals einenwesentlichen Unterschied zwischen der Welt und derKirche, man betrachtete sie als zwei Gegensätze, als

503Pascal: Gedanken über die Religion

zwei unversöhnliche Feinde, die einander ohne Unter-brechung verfolgen und von denen der eine, dem An-schein nach der schwächste, einst über den stärkernden Sieg davon tragen soll. Von diesen beiden feindli-chen Parteien verließ man die eine um zu der andernzu gehen, man verließ die Grundsätze der einen umdenen der andern zu folgen, man entschlug sich derGesinnungen der einen um die der andern an zu neh-men, kurz, man verließ, entsagte, schwor ab derWelt, worin man zum ersten Mal geboren war, umsich ganz der Kirche zu weihen, worin man zum zwei-ten Mal geboren wurde und so dachte man sich einensehr großen Unterschied zwischen beiden. HeutigesTages befindet man sich beinahe zu gleicher Zeit inbeiden und derselbe Zeitpunkt, in welchem wir für dieWelt geboren werden, bringt auch unsre Wiederge-burt in der Kirche herbei, so daß die Vernunft, wennsie hinzukommt, keine Unterscheidung mehr zwi-schen diesen beiden so entgegengesetzten Gebietenmacht; sie wächst heran und bildet sich zugleich inbeiden. Wiederholt benutzt man die Sacramente undgenießt die Freuden dieser Welt und so, statt daß mansonst eine wesentliche Unterscheidung zwischen bei-den bemerkte, sieht man sie jetzt durch einander ge-worfen und vermischt, so daß man sie fast gar nichtmehr unterscheidet.

Daher kommt es, daß man ehedem unter den

504Pascal: Gedanken über die Religion

Christen nur sehr unterrichtete Menschen sah, stattdaß sie jetzt in einer Unwissenheit sind, die Schaudererregt. Daher kommt es, daß ehedem diejenigen, diedurch die Taufe Christen geworden waren und die La-sten der Welt verlassen hatten um in die Frömmigkeitder Kirche ein zu treten, so selten wieder von derKirche ab zur Welt zurückfielen, wogegen man jetztnichts gewöhnlicher sieht als die Laster der Welt imHerzen der Christen.

Die Kirche der Heiligen ist ganz verunreinigt durchdie Beimischung der Bösen und ihre Kinder, die sievon der Kindheit an empfangen und unter ihrem Her-zen getragen hat, sind eben die, welche in ihr Herz,d.h. bis zur Theilnahme an ihren heiligsten Geheim-nissen, den größten ihrer Feinde bringen, den Geistder Welt, den Geist des Ehrgeizes, der Rache, der Un-reinigkeit, der bösen Lust, und die Liebe, die sie fürihre Kinder hat, bewegt sie den grausamsten ihrerVerfolger bis in ihr Innerstes zu zu lassen.

Aber nicht der Kirche darf man das Unglück zu-rechnen, welches die Folge einer so traurigen Verän-derung gewesen ist. Denn da sie sah, daß durch dasAufschieben der Taufe eine große Menge von Kindernunter dem Fluche Adams blieb, so wollte sie diesenvon jenem Haufen des Verderbens befreien und beeil-te darum den Beistand, den sie ihnen giebt, und diesegute Mutter sieht nur mit großer Betrübniß, daß nun

505Pascal: Gedanken über die Religion

das, was sie zum Heil ihrer Kinder bereitet hat, dieGelegenheit zum Verderben ihrer Erwachsenen wird.

Ihr wahrer Sinn ist, daß die, welche sie in einem sozarten Alter der Ansteckung der Welt entzieht, sichrecht weit von den Gesinnungen der Welt entfernensollen. Sie kommt de Gebrauch der Vernunft zuvorum den Lastern zuvor zu kommen, in welche die ver-derbte Vernunft sie hineinziehn würde, und ehe derKinder Geist handeln kann, erfüllt sie sie mit ihremGeist, damit sie in der Unbekanntschaft mit der Weltleben in einem Zustande, der um so mehr entferntvom Laster wäre, als sie es nie gekannt.

Das ersieht man aus den Gebräuchen der Taufenicht eher, als bis sie durch den Mund der Zeugen er-klärt haben, daß sie sie wünschen, daß sie glaubenund der Welt und dem Teufel entsagen und da siewill, daß sie diese Gesinnungen in der ganzen Folgeihres Lebens sich erhalten, so gebietet sie ihnen aus-drücklich dieselben unverletzlich zu bewahren undmacht es den Taufzeugen mit einem unerläßlichenGebot zur Pflicht die Kinder von allen diesen Dingenzu unterrichten; denn sie will nicht, daß die, welchesie an ihrem Busen genährt von Kindheit an, heut zuTage weniger unterrichtet und weniger eifrig sein sol-len als die, welche sie sonst zur Zahl ihrer Kinder zu-zählte; sie verlangt keine geringere Vollkommenheitin denen, die sie nährt, als in denen, die sie aufnimmt.

506Pascal: Gedanken über die Religion

Indessen man wendet das auf eine Weise an, dieder Absicht der Kirche so entgegen ist, daß man nichtohne Schauder daran denken kann. Ueber eine sogroße Wohlthat stellt man beinahe keine Betrachtungmehr an, weil man sie nie verlangt hat, weil man sichselbst nicht erinnert sie empfangen zu haben. Da esaber klar ist, daß die Kirche von denen, die alsKnechte des Glaubens auferzogen sind, nicht wenigerEifer fordert als von denen, die Knechte zu werdenverlangen, so muß man sich das Beispiel der Kate-chumenen vor Augen stellen und ihre Gluth, ihre An-dacht, ihre Scheu vor der Welt, ihre edelmüthige Ver-leugnung der Welt anschauen. Und wenn man jenedamals nicht für würdig achtete ohne diese Gesinnun-gen die Taufe zu empfangen, so müssen denn jetztdiejenigen, die dergleichen nicht in sich fühlen, sichdem unterwerfen die Belehrung zu empfangen, die sieerhalten haben würden, wenn sie anfingen in die Ge-meinschaft der Kirche zu treten; ja, sie müssen sicheiner solchen Buße unterwerfen, daß sie nicht mehrLust haben sie zurück zu weisen und weniger Abnei-gung vor der Strenge der Sinnenertödtung haben, alssie Reiz finden im Genuß der schändlichsten Lüsteder Sünde.

Um sie zur Belehrung geneigt zu machen, muß manihnen den Unterschied der Gewohnheiten, die in derKirche nach der Verschiedenheit der Zeiten in

507Pascal: Gedanken über die Religion

Gebrauch gewesen sind, begreiflich machen. In derersten Kirche unterrichtete man die Katechumenen,d.h. diejenigen, welche die Taufe begehrten, ehe mansie ihnen ertheilte und man ließ sie zu derselben erstnach einer voller Belehrung über die Geheimnisse derReligion, nach einer Buße wegen ihres vergangenenLebens, nach einer tiefen Erkenntniß der Größe undVorzüglichkeit des Glaubensbekenntnisses und derchristlichen Grundlehren, zu denen sie für immerhinzu zu treten wünschten, nach deutlichen Zeicheneiner wahrhaften Bekehrung des Herzens und nacheinem mächtigen Begehren der Taufe. Wenn diesesalles der ganzen Kirche bekannt worden war, so er-theilte man ihnen das Sacrament der Einverleibung,wodurch sie erst Glieder der Kirche wurden. In jetzi-ger Zeit, da die Taufe den Kindern, ehe sie ihre Ver-nunft gebrauchen können, aus sehr wichtigen Grün-den gewähret wird, geschieht es, daß die Nachlässig-keit der Eltern die Christen ohne irgend eine Kenntnißunsrer Religion alt werden läßt.

Als die Belehrung der Taufe vorausging, waren allebelehrt; aber jetzt, da die Taufe der Belehrung voraus-geht, ist der Unterricht, der für das Sacrament nöthigwar, freiwillig geworden und darnach vernachlässigtund endlich beinahe abgeschafft. Die Vernunft über-zeugte von der Nothwendigkeit der Belehrung und alsdie Belehrung der Taufe voranging, machte die

508Pascal: Gedanken über die Religion

Nothwendigkeit der einen, daß man auch nothwendigzu der andern Zuflucht nahm. Dagegen weil jetzt dieTaufe der Belehrung vorausgeht, und man zum Chri-sten gemacht wird ohne belehrt zu sein, so meint manauch Christ bleiben zu können ohne sich belehren zulassen und anstatt daß die ersten Christen so viel Er-kenntlichkeit bewiesen für eine Gnade, welche dieKirche ihnen nur nach langen Bitten gewährte, so be-weisen die heutigen Christen nur Undankbarkeit fürdieselbe Gnade, die sie ihnen gewährt, selbst ehe sieim Stande waren sie zu verlangen. Wenn sie den frei-lich seltenen Abfall der ersten Christen so stark ver-abscheute, wie muß sie einen Gräuel haben vor demAbfall und beständig wiederholten Abfall der letztenChristen, da sie ihr doch noch viel freigebiger aus derVerdammniß gezogen hat, der sie durch ihre erste Ge-burt anheimgefallen waren! Sie kann nicht ohne Seuf-zen sehen, wie die größte ihrer Gnaden gemißbrauchtwird und wie eben das, was sie gethan hat ihnen ihrHeil zu sichern, ihnen fast die sichre Gelegenheit zuihrem Verderben wird; denn sie hat nicht den Sinn ge-wechselt, obgleich sie den Gebrauch verändert hat.

509Pascal: Gedanken über die Religion

Ein und zwanzigster Abschnitt.

Bruchstück einer Schrift über die Bekehrung desSünders.

Wenn Gott eine Seele aus Gnaden würdigt siewahrhaft zu rühren, so ist das erste, was er ihr ein-flößt, eine ganz außerordentliche Kenntniß und Ein-sicht, durch welche sie die Dinge und sich selbst aufeine ganz neue Art betrachtet.

Dieses neue Licht erweckt in ihr Furcht und erregtihr eine Unruhe, welche die Ruhe stört, die sie bisherin den Dingen fand, die ihre Freuden ausmachten.

Sie kann die Gegenstände, die sie erfreuten, nichtmehr mit Ruhe genießen. Ein fortwährender Zweifelficht sie bei diesem Genusse an und diese innere Ein-sicht läßt sie nicht mehr jene gewohnte Süßigkeit fin-den mitten unter den Dingen, denen sie sich mit vollerHerzensergießung ergab.

Aber sie findet noch mehr Bitterkeit in den Uebun-gen der Frömmigkeit als in den Eitelkeiten der Welt.Von der einen Seite zieht die Eitelkeit der sichtbarenGegenstände sie mehr an als die Hoffnung der un-sichtbaren; und von der andern zieht die Beständig-keit der unsichtbaren sie mehr an als die Eitelkeit dersichtbaren. Und so erregt die Gegenwart der einen

510Pascal: Gedanken über die Religion

und die Abwesenheit der andern ihren Widerwillendergestalt, daß in ihr eine Unordnung und Verwirrungentsteht, die ihr schwer fällt zu entwirren, die aberdie Folge ist von alten lange empfundenen Ein-drücken und von den neuen, die sie ernährt. Sie be-trachtet die vergänglichen Dinge als vergehend undselbst schon vergangen und bei der gewissen Aussichtauf die Vernichtung alles dessen, was sie liebt, er-schrickt sie in dieser Betrachtung, da sie sieht, daßjeder Augenblick ihr den Genuß ihres Guts entreißtund daß das, was ihr das Theuerste ist, mit jedem Mo-ment hinschwindet, und daß endlich gewiß ein Tagkommen wird, an dem sie sich entblößt sehn wird vonallen den Dingen, auf welche sie ihre Hoffnung ge-setzt hatte. So begreift sie vollkommen, daß, wenndas Herz sich nur an vergängliche und eitle Dinge ge-hängt hat, die Seele sich am Ausgange aus diesemLeben allein und verlassen finden muß, weil sie nichtdarauf bedacht gewesen ist sich an zu schließen anein wahrhaftes und selbstständiges Gut, welches siesicher stellen könnte während und nach diesemLeben.

Daher kommt es, daß sie anfängt als ein Nichts zubetrachten alles, was zurückkehren muß ins Nichts,den Himmel, die Erde, ihren Leib, ihre Verwandte,ihre Freunde, ihre Feinde, die Güter, die Armuth, dasUnglück, das Glück, die Ehre, die Schande, die

511Pascal: Gedanken über die Religion

Achtung, die Verachtung, das Ansehn, die Dürstig-keit, die Gesundheit, die Krankheit und das Lebenselbst. Genug alles, was kürzer dauern soll als dieSeele, ist unfähig zu befriedigen das Verlangen derSeele, die ernstlich sucht sich in einer Glückseligkeitfest zu stellen, die eben so dauerhaft wäre als sieselbst.

Sie beginnt zu erstaunen über die Blindheit, in diesie versenkt war und wenn sie von der einen Seite er-wägt die lange Zeit, da sie gelebt hat ohne diese Be-trachtungen an zu stellen und die große Zahl vonMenschen, die eben so leben, und von der andern, wiesehr es ausgemacht ist, daß die Seele unsterblich, wiesie ist, ihre Glückseligkeit nicht finden kann unterDingen, die vergänglich sind und die ihr wenigstensbeim Tode werden genommen werden, so geräth sie ineine heilige Verwirrung und in ein Erstaunen, welchesihr eine sehr heilsame Unruhe erregt.

Denn sie bedenkt: wie groß auch die Zahl derer sei,die in den Grundsätzen der Welt alt werden und wel-ches Ansehn auch die Menge von Beispielen derer,die ihre Glückseligkeit auf die Welt gründen, habenmöge, so ist doch nichts desto weniger ausgemacht,daß, selbst wenn die weltlichen Dinge einiges wahreVergnügen enthielten(was für falsch erkannt ist durcheine unendliche Zahl von so traurigen und so fortge-setzten Erfahrungen), der Verlust dieser Dinge

512Pascal: Gedanken über die Religion

unvermeidlich ist im Augenblick, wo der Tod unsendlich ihrer berauben muß.

Also wenn die Seele Schätze zeitlicher Güter, vonwelcher Art sie auch seien, sich zusammengehäufthat, sei es Gold, sei es Wissenschaft, sei es Ruhm, soist es eine umgängliche Nothwendigkeit, daß sie sichvon allen diesen Gegenständen ihrer Glückseligkeitentblößt findet und daß daher, wenn sie im Stande ge-wesen sind ihr zu genügen, sie doch nicht im Standesein werden ihr immer zu genügen und daß, wenn die-ses sich ein wahres Glück verschaffen heißt, es dochnicht heißen kann sich ein dauerhaftes Glück ver-schaffen, weil es begrenzt sein muß mit dem Lauf die-ses Lebens.

So durch eine heilige Demuth, die Gott erhöht überden Stolz, fängt sie an sich zu erheben über den ge-meinen Haufen der Menschen. Sie verdammt ihrenWandel, sie verabscheut ihre Grundsätze, sie beweintihre Blindheit, sie legt sich auf die Erforschung deswahren Guts, sie begreift, daß es diese beiden Eigen-schaften haben muß, erstlich daß es dauere so langeals sie und dann daß es nichts Liebenswertheresgebe.

Sie sieht, daß sie bei der Liebe, die sie für die Weltgehabt hat, an der Welt diese zweite Eigenschaft inihrer Verblendung fand, denn sie erkannte nichts Lie-benswertheres. Aber da sie hier nicht die erste sieht,

513Pascal: Gedanken über die Religion

erkennt sie, daß dies nicht das höchste Gut ist. Siesucht es also anderswo, und da sie durch einen ganzreinen Verstand erkennt, daß es nicht ist in den Din-gen, die in ihr sind oder außer ihr oder vor ihr, sofängt sie an es über sich zu suchen.

Diese Erhebung geht so hoch und übersteigt alles,so daß sie nicht stehn bleibt beim Himmel(er vermagihr nicht zu genügen), noch über dem Himmel, nochbei den Engeln, noch bei den vollkommensten Wesen.Sie geht hindurch durch alle Creaturen und kann ihrHerz nicht eher anhalten, als bis sie zum Throne Got-tes gelangt ist, in welchem sie beginnt ihre Ruhe zufinden und jenes Gut, welches so ist, daß es nichtsLiebenswertheres giebt und welches ihr nicht genom-men werden kann als mit ihrer eignen Zustimmung.

Denn wenn sie auch noch nicht jenen Freuden emp-finden, mit welchen Gott die Geübtheit in der Fröm-migkeit belohnt, begreift sie doch, daß die Geschöpfenicht liebenswerther sein können als der Schöpfer,und ihre Vernunft, unterstützt durch das Licht derGnade, läßt sie erkennen, daß es nichts Liebenswer-theres giebt als Gott und daß er nicht genommen wer-den kann als nur denen, die ihn verwerfen; denn ihnbegehren ist ihn besitzen und ihn verwerfen ist ihnverlieren.

So freut sie sich ein Gut gefunden zu haben, das ihrnicht geraubt werden kann, so lange sie es begehren

514Pascal: Gedanken über die Religion

wird und das nichts über sich hat.Und in diesen neuen Betrachtungen gelangt sie zur

Einsicht in die Größe ihres Schöpfers und zu tiefenErniedrigungen und Anbetungen. Sie demüthigt sichtief in seiner Gegenwart. Sie ist nicht im Stande einenBegriff von sich selbst zu bilden, der niedrig genugwäre, noch einen Begriff von diesem höchsten Gut zufassen, der erhaben genug wäre und so strengt sie sichaufs Neue an um sich bis zu den letzten Abgründendes Nichts zu erniedrigen, indem sie Gott betrachtetin Unermeßlichkeiten, die sie auf einander häuft. End-lich in dieser Auffassung, die ihre Kräfte erschöpft,betet sie ihn im Stillen an, sie betrachtet sich als seinverächtliches und unnützes Geschöpf und mit wieder-holten Bezeugungen ihrer Ehrfurcht betet sie ihn anund segnet ihn und möchte ihn für immer segnen undanbeten.

Darnach erkennt sie die Gnade, die er ihr erwiesenhat seine unendliche Majestät einem so armseligenWurm zu offenbaren, sie fängt an sich zu schämen,daß sie diesem göttlichen Herrn so viele Eitelkeitenvorgezogen hat und getrieben von Reue und Bußenimmt sie ihre Zuflucht zu seinem Mitleid um seinenZorn an zu halten, dessen Wirkung ihr im Anblickseiner Unermeßlichkeiten furchtbar erscheint.

Sie richtet heiße Gebete zu Gott um von seinerBarmherzigkeit zu erhalten, daß, wie es ihm gefallen

515Pascal: Gedanken über die Religion

hat sich ihr zu offenbaren, es ihm auch gefalle sie zuihm zu führen, und ihr es möglich zu machen, daß siezu ihm komme. Denn es ist Gott, wonach sie strebtund sie strebt auch nicht anders zu ihm zu gelangenals durch Mittel, die von Gott selbst kommen, weil siewill, daß er selber sei ihr Weg, ihr Gegenstand undihr letztes Ziel. In Folge dieser Gebete begreift sie,daß sie ihren neuen Einsichten gemäß handeln muß.

Sie beginnt Gott zu kennen und verlangt zu ihm zukommen, aber da sie die Mittel nicht weiß um dahinzu gelangen, wenn ihr Verlangen aufrichtig wahrhaftist, macht sie es eben so wie wenn jemand an einemOrte an zu kommen wünschte, aber den Weg verlorenhätte und seine Verirrung erkennet, er würde dochseine Zuflucht zu denen nehmen die, die diesen Weggenau kennen: eben so befrägt sie die, welche sie be-lehren können über den Weg, der zu dem Gott führt,den sie so lange Zeit verlassen hat. Aber indem siefrägt um den Weg kennen zu lernen, entschließt siesich den Rest ihres Lebens der erkannten Wahrheitgemäß ein zu richten und da ihre natürliche Schwächeverbunden mit der Gewohnheit der Sünde, in der siegelebt hat, sie dahin gebracht haben, daß sie unver-mögend ist die Glückseligkeit zu erreichen, die sie be-gehrt, so ersteht sie von seiner Barmherzigkeit dieMittel zu ihm zu kommen, sich an ihn zu hängen, anihm zu hangen ewiglich. Ganz beschäftigt mit dieser

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Schönheit, so alt und so neu für sie, fühlt sie, daß alleihre Bewegungen sich nach diesem Gegenstande hin-wenden müssen; sie begreift, daß sie hienieden annichts mehr denken soll als nur daran Gott an zubeten als erschaffene, ihm Dank u bringen als ver-schuldete, ihm genug zu thun als strafbare, ihn zu bit-ten als dürftige, bis sie nichts mehr zu thun habe alsihn zu sehn, zu lieben, zu loben in Ewigkeit.