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eNoteHistoy — Identifizierung von Schreiberhänden in historischen Noten- handschriften mit Werkzeugen der modernen Informationstechnologie Universität Rostock — Institut für Musikwissenschaft Dr. Andreas Waczkat, Dr. Ekkehard Krüger, Dr. Tobias Schwinger Universität Rostock — Lehrstuhl Datenbank- und Informationssysteme Prof. Dr. Andreas Heuer, Dipl. Ing. Temenushka Ignatova Fraunhofer-Institut für Graphische Datenverarbeitung Rostock Prof. Dr. Bodo Urban, Dipl. Inf. Roland Göcke Gefördert durch die DFG Inhalt: 1.1. Einleitung (Ekkehard Krüger) 1.2. Die Musikalien der Universitätsbibliothek Rostock aus dem 18. Jahr- hundert 2.1. Ziel des Projektes (Tobias Schwinger) 2.2. Merkmalsbestimmung von Handschriften (Taxonomie) 2.2.1. Problemstellung 2.2.2. Möglichkeiten der Klassifizierung 3. Digitales Archiv für historische Notenhandschriften (Temenushka Ignatova, Ilvio Bruder) 4. Bildverarbeitung (BV) (Roland Göcke) Forum_Musikbibl_komplett.indd 19.02.2004, 18:17 1

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eNoteHistoy — Identifi zierung von Schreiberhänden in historischen Noten-handschriften mit Werkzeugen der modernen Informationstechnologie

Universität Rostock — Institut für MusikwissenschaftDr. Andreas Waczkat, Dr. Ekkehard Krüger, Dr. Tobias Schwinger

Universität Rostock — Lehrstuhl Datenbank- und InformationssystemeProf. Dr. Andreas Heuer, Dipl. Ing. Temenushka Ignatova

Fraunhofer-Institut für Graphische Datenverarbeitung RostockProf. Dr. Bodo Urban, Dipl. Inf. Roland Göcke

Gefördert durch die DFG

Inhalt:

1.1. Einleitung (Ekkehard Krüger)1.2. Die Musikalien der Universitätsbibliothek Rostock aus dem 18. Jahr-hundert

2.1. Ziel des Projektes (Tobias Schwinger)2.2. Merkmalsbestimmung von Handschriften (Taxonomie)2.2.1. Problemstellung2.2.2. Möglichkeiten der Klassifi zierung

3. Digitales Archiv für historische Notenhandschriften(Temenushka Ignatova, Ilvio Bruder)

4. Bildverarbeitung (BV) (Roland Göcke)

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Einleitung

Der Musikbetrieb des 18. Jahrhunderts ist nicht vorstellbar ohne die Arbeits-leistung vieler Kopisten. Stärker als in dem vorangegangenen und den nach-folgenden Jahrhunderten, in welchen der Musikaliendruck überwog, beruht die Verbreitung von Musikalien in jener Zeit auf der handschriftlichen Vervielfältigung. Eigenschriften der Komponisten stellen dabei eine Ausnahme dar. Wird schon diese Tatsache selten bewusst gemacht, so wird den Herstel-lern der so zahlreich erhaltenen handschriftlichen Quellen in Bibliotheken und Archiven nur hin und wieder Aufmerksamkeit zu teil.

„Kopisten“, „Schreiberhände“, „Schreiber“ sind andererseits in der historisch-philologisch arbeitenden Musikwissenschaft seit langem vertraute Begriffe. Ent-lehnt sind sie der „Mutterdisziplin“ des Faches. Das zunächst in der klassischen Philologie ausgebildete und hochgradig verfeinerte Verfahren der vergleichenden Textkritik sollte helfen, bei größerer Anzahl von Textzeugen die zuverlässigsten zu erkennen und so den Weg zu einem postulierten „Urtext“ zu weisen. Dazu kam die Berücksichtigung der Papiere, die es erlauben, für den Beschreibvorgang Indizien über Zeitraum und Region zu gewinnen. Die handschriftlichen Quellen, die in der Regel wichtige Tatsachen verbergen, sollen helfen, folgende Fragen zu beantworten. Wer war der Kopist? In welchem Verhältnis stand er zum Kompo-nisten? Worin bestand die Kopiervorlage? Wer waren Auftraggeber, Nutzer und Sammler der Kopie?

Die Bachforschung nahm bei der systematischen Anwendung dieses oft detektivisch anmutenden Verfahrens auf musikalische Überlieferungen die Rolle eines Schrittmachers ein.1 Die Neudatierung von Werkkomplexen und damit eine veränderte Sicht auf die Stilentwicklung des Komponisten waren bald die Folge. Auch Fragen der Zuweisung bzw. Echtheit mussten bei gewandelten Kenntnissen über die Quellenlage neu diskutiert werden.2

Einen Versuch, die Vielfalt von Schriftformen einer systematischen Beschreibung zugänglich zu machen, unternahm Georg von Dadelsen3. Trotz Dadelsens Anstoß zu einer unabhängigen Klassifi zierung der handschriftli-chen Notationsformen fand ein Ausbau dieser Bemühungen bisher nicht statt.

1 Paul Kast, Die Bach-Handschriften der Berliner Staatsbibliothek (= Tübinger Bach-Studien, 2/3), Tros-singen 1958.

2 Alfred Dürr, Zur Chronologie der Leipziger Vokalwerke J. S. Bachs (= Musikwissenschaftliche Arbeiten, 26), Kassel 1976.

3 Georg von Dadelsen, Beiträge zur Chronologie der Werke Johann Sebastian Bachs (= Tübinger Bach-Studien, 4/5), Trossingen 1958, S. 49 ff.

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Wurde die vergleichende Betrachtung von Schreiberhänden und Papie-ren zunächst für die Erhellung der Werk- und Überlieferungsgeschichte einzelner Kompositionen genutzt, lag eine diesen Maßstäben folgende Quellenerschließung für das Œuvre eines Komponisten bald nahe. Die aufwendige Beschreibung gemischter Quellenbestände, wie sie historische Sammlungen darstellen, wurde weitaus seltener unternommen. So müssen diesbezügliche Angaben in der RISM-Datenbank A/II zufälliger Natur blei-ben. Pionierleistungen auf diesem Gebiet stellen die Kataloge der Samm-lung Bokemeyer 4 und der Berliner Amalien-Bibliothek5 dar. Ihr Wert für die Forschung zu einzelnen Komponisten oder zur regionalen Musikgeschichte ist nicht hoch genug einzuschätzen. Die Fülle von Anknüpfungspunkten für weiterführende Spezialuntersuchungen kann kaum bemessen werden.

Die Nutzung solcher Kataloge ist allerdings nicht unproblematisch. 1. Die Nachprüfbarkeit der Schreiberbestimmungen und Vergleiche mit

sammlungsfremden Handschriften setzten die Beigabe zahlreicher Abbildun-gen in ausreichender Qualität voraus. Im traditionellen Medium Buch geben Umfang, Herstellungskosten und Aufl agenhöhe der Erfüllung dieser Forderung Grenzen vor. Folgerichtig wurde der Katalog zu den Dresdener Hasse-Quel-len auf CD-ROM veröffentlicht.

2. Die Namen der Kopisten sind selten bekannt. Das zwingt dazu, künstliche Namen einzuführen. Die Syntax unterliegt pragmatischen Gesichts-punkten und variiert von Autor zu Autor. So begegnen Namensbildungen, die in schlichter Weise fortlaufend zählen oder die einen Komponistennamen oder Überlieferungsort in den Mittelpunkt stellen. Die Willkür der Benen-nungen muss stets bewusst bleiben, da Namen nach den zuletzt genannten Mustern allzu schnell eine Suggestion erzeugen können, die stark festlegt und den Blick verstellt.

Identifi zierungen nach dem Muster „Anonymus 0815 = Johann Friedrich Schulze aus Neustadt“ können oft nur hypothetischen Rang beanspruchen und sind gegebenenfalls dem Forschungsstand anzupassen. Gerade im mittel- und norddeutschen Raum gibt es bereits Beispiele für konkurrierende

4 Harald Kümmerling, Katalog der Sammlung Bokemeyer (= Kieler Schriften zur Mu- sik-wissenschaft; Bd. XVIII), Kassel 1970.

5 Eva Renate Blechschmidt, Die Amalien-Bibliothek. Musikbibliothek der Prinzessin Anna Amalia von Preußen (1723-1787). Historische Einordnung und Katalog mit Hinweisen auf die Schreiber der Handschriften (= Berliner Studien zur Musikwissenschaft, Bd. 8), Berlin 1965. Eva Renate Wutta, Quellen der Bach-Tradition in der Berliner Amalien-Bibliothek, Tutzing 1989

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Benennungen einer einzigen historischen Person, die voneinander isolierten Quellenerschließungen geschuldet sind. Weiterführende Forschungen stehen hier jedoch vor einem kaum aufzulösenden Dilemma. Identitäten können nur bei intensiven Recherchen erkannt werden. Neue Namensschöpfungen drohen, die Situation noch unübersichtlicher zu machen.

3. Die Tätigkeit des Schrift- und Papiervergleiches mutet dem Aussenste-henden wie eine Arkandisziplin an. Kann das Recherchieren von Wasserzei-chen nach Ausschöpfen der einschlägigen Literatur noch von Spezialisten (z. Bsp. in der Papierhistorischen Sammlung der Deutschen Bücherei Leipzig) unterstützt werden, so bleibt der Forscher bei der Beurteilung einer Handschrift weitgehend auf sich allein gestellt. Die Ausbildung kann auf diese Situation kaum vorbereiten. Vor allem durch Erfahrung muss die not-wendige Sensibilität für diese Arbeit erworben werden. Irrtümer sind nie auszuschließen.

Als Fazit ist festzuhalten, dass ein Handschriftenvergleich zwar von einer wachsenden Zahl von Forschenden unternommen wird, eine unter syste-matischen Gesichtspunkten zugängliche „Schreiberforschung“ im Bereich der Musikhandschriften jedoch nicht existiert. Die für den Einsteigenden unübersichtliche Forschungslage, die Probleme der Verifi zierung und die zunächst an subjektive Voraussetzungen gebunden erscheinende Methode richten hohe Hürden auf.

Das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte interdisziplinäre Projekt „eNoteHistoy — Identifi zierung von Schreiberhänden in historischen Notenhandschriften mit Werkzeugen der modernen Infor-mationstechnologie“ nimmt diese Situation zum Ausgangspunkt. Musikwis-senschaftler, die im Rahmen von Graduierungsarbeiten an der Universität Rostock mit der Beschreibung von Musikaliensammlungen aus dem 18. Jahr-hundert befasst waren, suchten nach Hilfen, um große Mengen von Bildern verwalten, analysieren und vergleichen zu können. Ausserdem stand die Frage im Raum, ob es möglich ist, mit einer Datenbank eine vom Komponisten und Sammlungsort unabhängige Referenz zu entwickeln, die das Problem der kon-kurrierenden künstlichen Namen und der Identitäten über Sammlungsgren-zen hinweg zu bewältigen hülfe.

Von Anfang an bemühte sich das Institut für Musikwissenschaft der Universität Rostock um eine Zusammenarbeit mit spezialisierten Informa-tikern. Mit dem Lehrstuhl für Datenbank- und Informationssysteme (Prof. Dr. Andreas Heuer) an der Universität und dem Fraunhofer-Institut für Graphische Datenverarbeitung Rostock (Prof. Dr. Bodo Urban) waren bald

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kompetente Partner gefunden. Seit Januar 2003 sind vier wissenschaftliche Mitarbeiter mit dem Projekt befasst. Die Universitätsbibliothek Rostock (Direktor Dr.-Ing. Peter Hoffmann) und der Lehrstuhl für Informations- und Kommunikationsdienste an der Universität Rostock (Prof. Dr. Clemens Cap) streben ein späteres Hinzutreten an.

Im Folgenden soll die Musikaliensammlung der Universitätsbibliothek Rostock aus dem 18. Jahrhundert vorgestellt werden, deren Neukatalogisie-rung zu einem Auslöser für das Projekt wurde (Ekkehard Krüger). Danach wird gezeigt, in welcher Weise eNoteHistory zu einem Werkzeug für die Verwaltung von Katalogisaten und Digitalisaten entwickelt wird und welche Möglichkeiten Benutzern — Bibliothekaren sowie Musikforschern — gebo-ten werden (Tobias Schwinger). Ausführungen zur Architektur der Datenbank (Temenushka Ignatova) und zu den Methoden der graphischen Bildanalyse (Roland Göcke) schließen sich an.

Die Musikalien der Universitätsbibliothek Rostock aus dem 18. Jahrhundert

Die Universitätsbibliothek Rostock verfügt neben wertvollen Einzelstücken (z. Bsp. das Rostocker Liederbuch) über zwei große historische Musikalien-sammlungen.6 Aus dem 16. Jahrhundert stammt die überwiegend aus Drucken bestehende Sammlung des Herzogs Johann Albrecht I. von Mecklenburg-Schwerin (1525-1576).7 1799 erwarb die Universität große Teile des Nach-lasses der zuletzt in Rostock residierenden Herzogin Luise Friederike von Mecklenburg-Schwerin (1722-1791). Bei diesem Bestand, dessen Musikalien z. Zt. in 1089 Signaturen aufgeteilt sind, handelt es sich streng genommen um zwei Sammlungen – von der Herzogin erworbene Musikalien und die Hand-schriften und Drucke aus dem Erbe ihres Vaters, des Erbprinzen Friedrich Ludwig von Württemberg-Stuttgart (1698-1731).8 Mit dem städtischen oder universitären Musikleben Rostocks stehen diese Quellen in keinerlei Verbin-dung. 6 Barbara Linnert, „Musikaliensammlung“, in: Bestandsbeschreibung der Universitätsbibliothek

Rostock, in: Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland, Bd. 16, hrsg. von Friedhilde Krause, Hildesheim 1996, S. 170.

7 Ole Kongstedt, „Das Repertoire der Musikaliensammlung Herzog Johann Al-brechts“, in: Musik in Mecklenburg. Beiträge eines Kolloquiums zur mecklenburgischen Musikgeschichte ... Rostock 1997, hrsg. von Karl Heller, Hartmut Möller und Andreas Waczkat, Hildesheim 2000, S. 185-192.

8 Ortrun Landmann, „`Pour l’usage de Son Altesse Serenissime Monseigneur le Prince Hereditaire de Wirtemberg´. Stuttgarter Musikhandschriften des 18. Jahrhunderts in der Universitätsbibliothek Rostock“, in: Musik in Baden-Württemberg, Bd. 4, 1997, S. 149 -173.

Ekkehard Krüger, Die Musikaliensammlungen des Erbprinzen Friedrich Ludwig von Württemberg-

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Erbprinz Friedrich Ludwig wäre sicher längst vergessen, gäbe es nicht einige Portraits und die Reste seiner Bibliothek in Rostock. Da er schon kurz vor Vollendung des 33. Lebensjahres starb, kam er nie zur Regierung. Die ersten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts wurden in Württemberg durch die Herrschaft seines Vaters, Herzog Eberhard Ludwigs, geprägt. Unter Bezug auf die tonangebende fürstliche Mätresse wird dieser Abschnitt der Landes-geschichte auch gern tadelnd „Grävenitz-Zeit“ genannt. Die Kinderjahre des Erbprinzen standen politisch im Zeichen häufi ger französischer Einfälle und des Spanischen Erbfolgekrieges (1701-1714), der im deutschen Südwesten häufi ger zu Kampfhandlungen führte. Trotz der unruhigen Zeitläufte entstan-den in jener Zeit in den südwestdeutschen Staaten neue repräsentative Resi-denzen wie Rastatt (Baden-Baden), Karlsruhe (Baden-Durlach), Mannheim (Pfalz) und Bruchsal (Speyer). Eberhard Ludwig ging als Gründer Ludwigsburgs in die Geschichte ein.

Der Erbprinz wurde bis zu seinem 18. Lebensjahr vor allem im Ausland ausgebildet. Unter den Stationen Lausanne, Turin (1709-1712), Den Haag (1713-1715), Antwerpen, Brüssel und Paris müssen Turin und Den Haag musi-kalisch besonders prägend gewirkt haben. In Einzel- und Sammelhandschrif-ten (z. Bsp. ein Clavierbuch des Prinzen) sowie in Drucken der Rostocker Sammlung kann dieser Lebensweg heute noch nachvollzogen werden. In Den Haag erhielt der Prinz durch Quirinus G. van Blankenburg, den Musikmeister Unico Wilhelm van Wassenaers, eine musikalische Ausbildung. Nach seiner Rückkehr in die Heimat wurde Friedrich Ludwig 1716 mit Henriette Marie von Brandenburg-Schwedt in Berlin verheiratet. Aus der Ehe ging nur ein überlebendes Kind, Friederike Luise, hervor.

Der württembergische Kapellmeister Johann Christoph Pez starb wenige Wochen nach der Rückkehr des Erbprinzen. Statt seiner wurde Giuseppe Antonio Brescianello (um 1690 -1758) zum „Musikdirektor und Maitre des concerts de la chambre“ berufen. Auch der Aufenthalt Reinhard Keisers aus Hamburg in Ludwigsburg fällt in die Lebensspanne des Erbprinzen.

Telemanns zweites Gedicht unbekannten Datums auf Johann Matthesons 1719 erschienene Organisten-Probe ist bisher das einzige Zeugnis für eine wei-tergehende Kenntnis von den musikalischen Interessen Friedrich Ludwigs. Da die Verse nicht sehr viel später als 1719 entstanden sein können, muss sich des Erbprinzen Ruf nach seiner endgültigen Heimkehr 1716 sehr schnell verbrei-

Stuttgart und der Herzogin Luise Friederike von Mecklenburg-Schwerin in der Universitätsbibliothek Rostock, Diss. Rostock 2003, Druck i. V.

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tet haben. Möglicherweise stammen einige der württembergischen Quellen von Telemanns Instrumentalkompositionen aus dem unmittelbaren Umfeld des Komponisten. Zu den Zeilen:

„Der Christen Ober-Hauptee rührt selbst die süssen Saiten /Und mancher grosser Fürstf kan ein Apollo seyn.“

fügte Telemann folgende Bemerkungen an:

„e Carolus VI. Römischer Kayser.f Friedrich der andere / Hertzog zu Sachsen-Gotha / Ernst Ludewig / Land-Graf zu Hessen-Darmstadt / und Ernst / Printz zu Sachsen-Weymar / (höchst seligen Andenckens) sind wegen der Composition zu verehren (welcher letztere ein Opus Concerte in Kupfferstich publiciret). Wegen der Instrumental-Music aber Fridericus Ludovicus, Erb-Printz zu Würtemberg-Stuttgard / Immanuel Lebrecht / Fürst zu Anhalt-Köthen / u.a.m.“ 9

Ortrun Landmann hatte 1968 auf Grund von Beobachtungen am Rostok-ker Bestand zuerst eine „sogenannte Kammermusik des Erbprinzen Friedrich Ludwig von Württemberg ... hypothetisch inauguriert“.10 Während unter den älteren Quellen der Rostocker Sammlung eine Bevorzugung von Instrumen-talmusik unter Beteiligung der Flöte aufgefallen war, dominierte unter den jüngeren Materialien die Vokalmusik. Für diesen Sammlungsteil kann die Toch-ter des Erbprinzen verantwortlich gemacht werden. Prinzessin Luise Frie-derike war nach Kinderjahren am aufwändig geführten Ludwigsburger und Stuttgarter Hof und einer eher zurückgezogenen Zeit in der Göppinger Witwenresidenz der Mutter 1743 in die Obhut des markgräfl ichen Hauses Brandenburg-Schwedt gekommen. Bis zu ihrer Verheiratung 1746 mit dem künftigen Herzog von Mecklenburg-Schwerin, Friedrich („der Fromme“, reg. 1756-1785), konnte sie von Schwedt aus an dem in Berlin erblühenden Musikleben teilhaben. Als Herzogin liebte sie es, den Beschränkungen der Lud-wigsluster Residenz (seit 1764) zu entkommen, indem sie in Hamburg Auf-enthalt nahm. Widerstrebend musste sie 1786 das Rostocker Palaisgebäude beziehen.

Die Grenzziehung zwischen beiden Sammlungen, zum Repertoire und zur Musikalienproduktion der jeweiligen Hofkapellen sowie die Zuordnung der von auswärts bezogenen Quellen (z. Bsp. aus Braunschweig) waren nur nach einer detaillierten Beschreibung aller Handschriften und Drucke möglich.

9 Zitiert nach: Georg Philipp Telemann. Singen ist das Fundament zur Music in allen Dingen. Eine Dokumentensammlung, hrsg. von Werner Rackwitz, Leipzig 1981, S. 108.

10 Vgl. O. Landmann, S. 151.

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Neben den so gewonnenen Daten aus der Erfassung der Schreiber11, der Papiere12 und der Umschläge mit Altsignaturen standen auch ganz anders gear-tete Materialien zur Verfügung. So konnten für geschlossene Sammlungen, die noch vom Erbprinzen erworben worden sein müssen, im Württembergischen Hausarchiv (Depositum im Hauptstaatsarchiv Stuttgart) Listen mit Titeln und Altsignaturen nachgewiesen werden. 1732 wurde der erbprinzliche Nachlass in aussergewöhnlich gründlicher Form in Taxationsprotokollen erfasst. Auf dieser Grundlage konnten die Teilbestände der Rostocker Sammlung mit rela-tiv großer Sicherheit (im Katalog) voneinander getrennt und Provenienzen erschlossen werden. Zwei Drittel des Nachlasses der Herzogin wurden bis 1743 in Württemberg zusammengetragen. Nur ein Viertel des Bestandes wurde nach 1746 in Mecklenburg erworben.

Sammlung Sammlung Friedrich Ludwig Luise Friederike

Anzahl der Quellen 587 500

Drucke nach Anzahl der Signaturen 74 (13%) 35 (7%)

Anzahl der Titel nach RISM A/I, B/II 104 38

Anzahl mit Einblatt-drucken 121

Einzeln überlieferte Werke namentlich genannter Komponisten und Zuschreibungen 479 (82%) 383 (77%) Bisher nicht identifi zierte Komponisten von einzeln überlieferten Werken 80 (14%) 83 (17%)

Sammelwerke 27 (4%) 29 (6%)

Signaturen Vokalmusik 93 (16%) 351 (70%)

Signaturen Instrumental-musik 493 (84%) 146 (30%)

11 474 Schreiber, darunter 34 namentlich bekannte Kopisten und Komponisten.12 546 Wasserzeichen (incl. Varianten).

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Der Anteil deutscher Komponisten unter den Schöpfern von Instrumen-talwerken ist in beiden Sammlungen gleich groß (81%). Bei der Vokalmusik, die in der Erbprinzensammlung zu ungefähr je 40% aus Italien und Frankreich stammt, handelt es sich in der Sammlung der Tochter um eine zu drei Vierteln italienisch dominierte Sparte. Der Geschmack und die „Erwerbungsstrategie“ der Sammler — sofern von einer solchen gesprochen werden darf — können auch an der Häufi gkeit der Komponisten abgelesen werden. Europäische Größen stehen neben Kapellmitgliedern ohne überregionale Ausstrahlung.

Summe Slg. Friedrich Slg. Luise Ludwig Friederike Johann Christoph Pez 37 37 Carl Heinrich Graun 34 34 Georg Philipp Telemann 32 30 2 Johann Adolf Hasse 31 29 2 Sebastian Bodinus 29 29 Adolf Carl Kuntzen 29 29 Johann Jakob Kress 28 28 Johann Wilhelm Hertel 26 26 Büchler/Pichler 25 16 9 Matthias Nikolaus Stulyk 23 23 Theodor Schwartzkopf 18 18 Giuseppe Antonio Brescianello 16 14 2 Georg Friedrich Händel 16 8 8 Baldassare Galuppi 15 15

Die Erbprinzen- und die Herzoginsammlung verdanken ihre Zusammen-setzung den Interessen adliger Dilettanten oder ihrer Berater. Eigene musi-zierpraktische Ambitionen (Flöte, Laute, Gesang) und die Befriedigung der Neugier auf ausgewählte aktuelle Strömungen der musikalischen Entwicklung standen im Vordergrund. Eine Auswahl nach fachkundiger Beurteilung der kompositorischen Qualität fand nicht statt. Beide Teilsammlungen sind reich an Quellen für „Gebrauchsmusik“: Musik zum Tanz, zur fürstlichen Tafel, Musik für Anfänger im Instrumentalspiel. So wird musikalischer Alltag an Fürstenhöfen ablesbar.

Ein umfangreiches Korpus von Musik für Laute solo (in französischer Tabu-latur) und mit Ensemble ist Zeuge für eine relativ späte Pfl ege dieser Musik im zweiten Viertel des 18. Jahrhunderts. Die wertvollste Quelle mit solisti-

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scher Lautenmusik und zugleich eine der ältesten Handschriften der Samm-lung stellt das um 1676/80 in Südwestdeutschland hergestellte Lautenbuch D-ROu Musica Saec. XVII.-54. dar.

Die Erbprinzensammlung darf wegen der prominenten Rolle, die die besten Kräfte der württembergischen Hofkapelle — Pez, Schwartzkopf und Brescianello — einnehmen, durchaus als ein Abbild des musikalischen Lebens am Stuttgarter und Ludwigsburger Hof zur Zeit Eberhard Ludwigs betrachtet werden. Das Fehlen ergänzender Überlieferungen aus dieser Epoche erhebt den Rostocker Bestand unabhängig von der kompositorischen Qualität seines Inhalts in den Rang eines Kronzeugen.

Nach der „Feinerschließung“ der Rostocker Sammlung steht für das eNoteHistory-Projekt ein hinreichend großer, jedoch auch überschaubarer Bestand zur Verfügung, der eine aussergewöhnliche Vielfalt an Quellen birgt.13 Es begegnen Handschriften aus vielen Regionen Deutschlands und aus Österreich, Italien, Frankreich, Portugal und Holland. Die Herstellung der Handschriften erstreckt sich fast auf den Zeitraum von 100 Jahren. Neben Dedikations- und Reinschriften sind Kompositionsskizzen vorhanden. Es können vielerlei Notationsformen wie Partituren, Gesangsstimmenauszug mit Basso, Klavierauszüge und Einzelstimmen gezeigt werden. Bei gemeinsa-mer Herkunft lassen sich zuweilen die Merkmale einer Schreibschule oder Kopistenwerkstatt ausmachen. Somit ist in Gestalt der Rostocker Musikhand-schriften aus dem 18. Jahrhundert eine breite experimentelle Basis gegeben, um zu gewährleisten, dass die zu entwickelnden Vergleichsoperationen für den Zielzeitraum eine möglichst universelle Tauglichkeit erlangen.

13 Zur Abrundung werden auch Handschriften weiterer Bibliotheken wie der Saatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz in Auswahl beschrieben.

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2.1. Ziel des Projektes eNoteHistory

Die in jüngster Zeit betriebene Grundlagenforschung zur Entstehung und Verbreitung von Musikhandschriften des 18. Jahrhunderts hat voneinander weitgehend isolierte Datenmengen erzeugt, die für übergreifende Untersu-chungen kaum noch zu überblicken und für spezielle Anfragen nur aufwändig auszuwerten sind. Eine Datenbank zu entwickeln, in der die Merkmale bisher und zukünftig ausgewerteter Handschriften so gespeichert werden, dass mit verschiedenen Fragekriterien in dem Material gesucht werden kann, ist das vorrangige Ziel des Projektes.

In Zusammenarbeit mit der Universitätsbibliothek Rostock soll hierfür ein Programm geschaffen werden, das gleichzeitig die Möglichkeit bietet, die bibliothekarische Arbeit der computerbasierten Erfassung und Verwaltung von historischen Notenbeständen in einer digitalen Bibliothek zu unterstützen. Daraus resultiert die Anforderung, dass das Programm sowohl dem Biblio-thekar als auch dem Benutzer geeignete Werkzeuge zur Verfügung stellt, um Handschriftenbestände verwalten und nutzen zu können.

Die Datenbank wird Platzhalter für drei Bereiche zur Verfügung stellen: für bibliothekarische Metadaten, für Daten zur Quellenbeschreibung und für die Erfassung der Schriftmerkmale der in den Handschriften auftretenden Schrei-ber. Sämtliche Daten werden in der Datenbank mit digitalisierten Schriftpro-ben oder Komplettdigitalisierungen von Handschriften verknüpft (s. Abb. 1). Die Daten zur Komposition und zur Quelle (die nicht vollständig vorliegen müssen) verweisen, vermittelt über die Signatur, auf jede einzelne Bilddatei der Handschrift. Ebenso der (oder die) in der Hanschrift auftretende Schreiber mit seinen (ihren) Eigenschaften.

Das System soll auf verschiedenen Anwendungsebenen einsetzbar sein. Zunächst kann es dezentral zur Verwaltung lokaler Handschriftenbestände in Bibliotheken genutzt werden.

Im Falle einer Digitalisierung von Musikhandschriften können die betref-fenden Bestände bestandsschonender und anwenderfreundlicher (als bislang durch den Einsatz von Filmen oder Fiches möglich) genutzt werden. Daneben kann das System als zentrale Schreiberdatenbank zum Einsatz kommen. Vor-aussetzung hierfür ist die Möglichkeit der Zusammenführung von Datensätzen zu Schreibern. Anfragen an eine zentrale Datenbank sollen über Internet ermöglicht werden.

Im Zuge der Entwicklung und des Aufbaus des Systems wird am Beispiel der Rostocker Musikhandschriften derzeit ein Grundbestand an digitalisier-ten Quellen, den dazugehörigen bibliographischen Angaben, den Quellenbe-

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Abb. 1

Digitalisat: XVIII.-57.^5p1

Digitalisat: XVIII.-57.^5p2

Digitalisat: XVIII.-57.^5p3

Signatur: M

usica Saec. XVIII.-57. 5

[nicht identifi zierbar]

[D-ROu]

[001.567.311]

[a) Partitur, Einband mit Papier bezogen,

auf dem Vorderdeckel goldgeprägtes Eti-

kett (90x140): LA PASSION

E | DI | GESU

CRISTO

| SIGN

OR N

OSTRO, Altsignatur:

VI.IV.78., im vorderen Innendeckel Exlibris

mit m

ecklenburgisch-württem

bergischen Allianzw

appen, 272 S., 225x290]

[Ham

burg - Schwerin/Ludw

igslust]

[Schuback, Johann Jacob]

[La Passione di Gesù

Cristo Signor Nostro]

[Metastasio, Pietro]

[Soli SATB, 2 Fl.trav, 2 Ob,

2 Cor, 2 Vl, Va, Bc]

[UA H

amburg, 14.3.1763, SARTO

RI 17982: zw

eisprachiger Librettodruck mit einer

Prosaübersetzung Schubacks, Ham

burg (H

armsen) 1763 (D-H

s A/70001)]

AYDG-527

[=An 305]

Schreibercharakteristika

[ a) Nam

e: unbekannt b) Nom

enklaturen: An305 (Kast 1958)c) eN

ote-History-Code: AYDG

-527 d) Por-trait:W

irkungsort: verm. H

amburg, W

irkungs-zeit: ab 1750 bis um

1790, Orte / N

amen:

Auftraggeber: C. P. E. Bach, J. Schuback]

BibliothekarischeM

edienBilddateien

Schreiber

Daten zur Kom

position

Daten zur Q

uelle

Bibliothekarische Kriterien W

erk- und Quellenbeschreibung

1. Komponist/ Kom

ponisten2. Textautor / Textautoren

5. Bibliothek6. RISM

-Signatur

[Beispiel]

Digitalisat: XVIII.-57.^5p272

1. Schlüssel (G

-, F-, und C-Schlüssel)2. Taktvorzeichnungen3. Pausen 4. Schriftneigung (H

albe, Viertel, Achtel, Sechzehn-tel)5. Kaudierung (Auf-und Abw

ärtskaudierung)6. Form

der Fähnchen(Achtel, Sechzehntel)7. Schreibgew

ohnheiten 8. Laufw

eite9. Bebalkung10. Vorzeichen11. Form

der Notenköpfe

12. Schlußzeichen13. Rastral

11. Anmerkungen / Literatur

9. Schreiber

8. Papier

7. Partitur/Stimm

en (Q

uellenbeschreibung)

4. Besetzung

3. Werktitel / W

V-Num

mer

10. Provenienz

Bildanalyse: Ähnlichkeitsuntersuchung nach G

ewinnung durchschnittlicher Zei-

chen je Schreiberhand und nach-folgenden Vergleich m

it den durchschnittlichen Zeichen anderer Schreiberhände. Bei einem

Suchszenario, bei dem

die Digitalisate einer bislang nicht in der Datenbank erfaßten Signa-tur ausgew

ertet werden, w

erden die neu entstehenden M

etadaten mit

bereits in der Datenbank gespei-cherten Daten verglichen.

Ähnlichkeitsuntersuchung durch „m

anuelle“ M

erkmalsbestim

mung:

die Methode dient einem

Suchszenario, bei dem

ein N

utzer, dem kein

Digitalisat einer Signatur vorliegt, die Schriftm

erk-m

ale des Schreibers durch Ausw

ahl aus vorgege-benen M

erkmalsbäum

en bestim

mt. In der Daten-

bank wird nach ähnlichen

Kombinationen von M

erk-m

alen gesucht.

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schreibungen sowie Datensätzen zu den betreffenden Schreibern eingepfl egt. Künftig sollen bei jeder neu hinzutretenden Quelle (Schreiber) Anfragen nach folgenden Kriterien möglich sein: zum einen nach bibliographischen Angaben zu Werken wie z.B. Signaturen, Komponisten, Werktitel, Textautor, Textincipit sowie Stichworten von Wasserzeichenbeschreibungen, verbunden mit einer Suche nach entsprechenden Konkordanzen. Ein wesentlicher Bestandteil des Programms wird aber darin bestehen, dass dem Benutzer zum anderen die Möglichkeit gegeben werden soll, bei einer ihm vorliegenden Handschrift von einem ihm unbekannten Kopisten innerhalb der Datenbank nach Quellen zu suchen, in denen Kopisten auftreten, deren Schriftzüge ähnliche bzw. gleiche Merkmale aufweisen. Dafür sind zwei Wege vorgesehen.

Liegen bereits Digitalisate der betreffenden Handschrift vor, so soll über eine Schnittstelle, die derzeit im Fraunhofer-Institut erarbeitet wird (s.u.), ein automatisierter Abgleich mit bereits gespeicherten Daten zu Schreibern möglich sein. Die Ähnlichkeitsuntersuchung erfolgt hier nach Gewinnung durchschnittlicher Zeichen je Schreiberhand und nachfolgendem Vergleich mit den durchschnittlichen Zeichen anderer Schreiberhände. Die Bildanalyse setzt dabei bei den von einer Signatur vorliegenden Digitalisaten an und unterzieht die Einzelbilder einer graphischen Analyse. Dabei entstehen durchschnittliche Zeichen, die eine Schreiberhand charakterisieren. Werden die Digitalisate einer bislang nicht in der Datenbank erfassten Signatur ausgewertet, werden die neu entstehenden Metadaten mit bereits in der Datenbank gespeicherten Daten verglichen.

In der Mehrzahl der Fälle dürften auch in den nächsten Jahren dem Nutzer noch keine Digitalisate von Handschriften zur Verfügung stehen. Für diesen Fall existiert eine weitere Suchmöglichkeit: die Ähnlichkeitsuntersuchung durch „manuelle“ Merkmalsbestimmung (Taxonomie). Ein Nutzer, dem kein Digi-talisat einer Signatur vorliegt, bestimmt die Schriftmerkmale des Schreibers durch Auswahl aus vorgegebenen Merkmalsbäumen. In der Datenbank wird dann nach ähnlichen Kombinationen von Merkmalen gesucht.

2.2. Merkmalsbestimmung von Handschriften (Taxonomie)2.2.1. Problemstellung

Eine zentrale Problemstellung bildet die Entwicklung einer normierten Beschreibungssprache für Merkmale der Schrift von Notenkopisten, mit deren Hilfe die prinzipiell unendliche Vielfalt an empirisch vorfi ndbaren Schriftmerk-malen so beschrieben werden kann, dass Handschriften von Schreibern vergli-chen werden können.

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Die Merkmalsvielfalt der Notenschrift hat ihren Ursprung nicht nur in der individuellen Ausprägung von Schriftmerkmalen bei Schreibern, sondern auch in der Entwicklung von regional und zeitlich verschiedenen Schreibschulen (s. Abb. 2). Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass sich auch die Merk-male der Notenschrift eines Schreibers im Laufe seiner Tätigkeit verändern können. Für die möglichst genaue Datierung von Handschriften ist es wich-tig, die Schriftstadien eines Kopisten zu kennen (s. Abb. 3). Schließlich lassen sich Varianten in der Schreibung einzelner Zeichen nicht nur in im Hinblick auf Schriftstadien eines Kopisten ausmachen sondern auch in Kopien eines Schreibers, die in zeitlich dichter Folge entstanden sind (s. Abb. 4).

2.2.2. Möglichkeiten der Klassifi zierung

In einem ersten Schritt werden Schreiber und ihre Schriftformen hinsicht-lich der Merkmale untersucht, die für eine prinzipielle Charakteristik der Notenschrift ausschlaggebend sind.

Abb. 2: Beispiele für unterschiedliche Ausprägungen der Schreibung des G-Schlüssels

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Abb. 3: Drei Schriftstadien des Berliner Kopisten Holstein

Differenziertere Betrachtungen von lokal und zeitlich differierenden Schrift-stilen erfolgen nunmehr auf der Basis der dabei sich ergebenden folgenden dreizehn Merkmalsklassen (Features):

1. Schlüssel (getrennt nach G-, F-, und C-Schlüsseln)2. Taktvorzeichnungen3. Viertelpausen 4. Schriftneigung (getrennt nach Notenwerten: Halbe, Viertel,Achtel, Sechzehntel)5. Kaudierung (ebenfalls getrennt nach Notenwerten sowie nach Auf-und Abwärtskaudierung)6. Form der Fähnchen (Achtel, Sechzehntel)7. Schreibgewohnheiten (Kustoden, Vorhandensein von Schlüsselnund Tonartvorzeichen in jeder Akkolade)8. Laufweite (in Stimmen)9. Bebalkung

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Abb. 4: Varianzen im Schriftbild eines Kopisten

10. Vorzeichen11. Form der Notenköpfe12. Schlusszeichen13. Rastral

Die Reihenfolge der Merkmale entspricht der späteren Gewichtung dieser Merkmale bei der Ähnlichkeitsbestimmung von Schreibern.

Innerhalb dieser Merkmalsklassen werden nach verschiedenen Kriterien geordnete Zeichenklassen gebildet. Dabei wird die Vielfalt empirischer Ausprägungen von Zeichen auf idealtypische, abstrakte Grundformen reduziert. Im Hinblick auf eine intuitive, weitgehend sprachunabhängige Benutzerführung ist es notwendig, hierarchische Ordnungssysteme innerhalb der Merkmalsklassen zu entwerfen. Bislang treten drei Fälle von Hierarchiebil-dungen auf. So lassen sich die Ausprägungen der Schreibung des G-Schlüssels

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in der Form einer sich vielfach verzweigenden Baumstruktur anordnen. Die Klassifi zierung verläuft hier von einfachen zu komplexen Schreibformen bzw. einer genetischen Ableitung der Formen über den Nachvollzug des Schreib-prozesses. Dabei bilden sich innerhalb des Baumes Strukturen in Form von Ästen und Zweigen; Elemente auf einer Ebene eines Zweiges bilden mit Ele-menten benachbarter Zweige „Familienähnlichkeiten“ aus (s. Abb. 5).

Eine weitere Möglichkeit der Hierarchiebildung besteht in der Zerlegung komplexer (zumeist mehrzügiger) Zeichen in ihre einzelnen Grundelemente. Dem folgt das Setzen einer Ordnung innerhalb dieser Elemente sowie die Kombination dieser Elemente untereinander. So wird die Zahl „3“ innerhalb des Features „Taktvorzeichnung“ in einen Ober- und Unterbügel zerlegt und getrennt auf ihre Ausformungen hin untersucht. Bei der späteren Klassifi zie-rung einer durch einen Schreiber geschriebenen „3“ können sämtliche im Pro-gramm enthaltene Ausprägungen des Oberbügels mit denen des Unterbügels kombiniert werden, um die Grundzüge der vom Kopisten geschriebenen „3“ im Programm zu rekonstruieren. Nur die wesentlichen Eigenschaften der realen Formen sollen sich in den zur Darstellung verwendeten Piktogrammen spiegeln; metrische Verhältnisse bleiben weitgehend unberücksichtigt.

Eine einfache Variante der Anordnung von Zeichen innerhalb einer Klasse ergibt sich, wenn sich zwar Grundformen aus der Empirie gewinnen lassen, diese aber nur gleichberechtigt auf einer Ebene dargestellt werden können (so die verschiedenen Formen der Achtel- und Sechzehntel-Fähnchen).

Aus den derzeit verwendeten 13 Features ergeben sich insgesamt 70 Fea-turewerte für die Schrift eines Schreibers. Diese repräsentieren im Programm die Eigenschaften von dessen Schriftbild.

Die Summe der Eigenschaften bildet eine charakteristische, einen Schreiber individuierende Kombination von Werten. Diese spezielle Kombination stellt die Grundlage für einen Vergleich und die Identifi zierung von Schreiberhänden dar.

Als Fehlerquellen sind neben den oben beschriebenen Varianzen der For-menbildung durch den Schreiber auch Ungenauigkeiten durch den Benutzer bei der Bestimmung zu berücksichtigen. Deshalb wird bei der Berechnung der Ähnlichkeit von Merkmalen bzw. Merkmalskombinationen von Schreibern eine Toleranz im Ähnlichkeitsmaß eingearbeitet.

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Abb. 5

Klasse: G

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Digitales Archiv für historische Notenhandschriften

Für die informative und interaktive Benutzung, beispielsweise über das World Wide Web, werden die historischen Dokumente im Rahmen einer Digitalen Bibliothek an der Universität Rostock bereitgestellt. Dazu wurde ein digitales Archiv entworfen, das die Notenhandschriften, die zugehörigen bibliographischen Metadaten sowie die Merkmale der jeweiligen Schreiber verwalten kann1. Die benötigten Schreibererkennungswerkzeuge werden auf Basis musikwissenschaftlichen Expertenwissens und Methoden der Bildver-arbeitung entwickelt und in die Datenbankumgebung des digitalen Archivs integriert.

Die bisherige Methodik zum Aufbau digitaler Archive ist geeignet, biblio-thekarische Daten (Metadaten) und die Bildobjektdaten zu speichern2. Durch die Komplexität einer Schreibererkennung im vorliegenden Fall wird ein Archiv benötigt, das an die speziellen Gegebenheiten angepasst ist. Kon-kret beinhaltet ein solches Archiv folgende Aufgaben:1. Inhaltsbasierte Erschließung digitaler Notenhandschriften und Speicherung der heterogenen Daten2. Bereitstellung von Zugriffs- und Retrieval-Methoden für verschiedene Nutzers-zenarios3. Aufbau einer Wissensbasis zur Verwaltung des musikalischen Expertenwissens4. Integration spezialisierter Verarbeitungs- und Zugriffsmethoden für die Schreibererkennung5. Integration des Archivs in eine Digitale Bibliothek unter Verwendung standar-disierter Metadatenformate (RISM, MAB2).

Eine digitale Notenhandschrift besteht aus mehreren, verschiedenen Datentypen. Nach der Erschließung erhalten wir zum einen digitale Bilder der gescannten Seiten einer Notenhandschrift und zum anderen Texte aus Biblio-thekskatalogen. Die Textdaten bestehen i.d.R. aus strukturierten Merkmalen wie Signatur, Name des Komponisten etc. und unstrukturierten Daten wie Papierbeschreibung, Konkordanz etc. Bei der manuellen, musikwissenschaftli-chen Handschriftenanalyse kommen weitere Daten und zwar defi nierte Hand-schriftcharakteristika dazu. Zukünftig soll die manuelle Analyse durch eine automatische Handschriftenanalyse teilweise ersetzt und erweitert werden.

I I. Bruder, A. Finger, A. Heuer, T. Ignatova, „Towards a Digital Archive for Historical Handwrit-ten Music Scores“, in: Digital Libraries: Technology and Management of Indigenous Knowledge for Global Access, 6th ICADL 2003, 2003.

2 Vgl. z.B. Ian Witten, David Bainbridge, How To Build a Digital Library, Morgan Kaufmann Publish-ers, 2003.

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Für die beiden Analysemethoden werden jeweils Beschreibungsstrukturen entwickelt, die zum einen aus Merkmalshierarchien sowie aus Bewertungsska-len bestehen. Die Merkmalshierarchien bilden die Basis für die Beschreibung der Handschriften. Die Bewertungsskalen werden für den Vergleich zweier Handschriften benötigt.

Die spezielle Charakteristik der Daten und die benötigten Verfahren zur Präsentation und Verarbeitung der Daten bilden die Auswahlkriterien für die Techniken. Dabei ist auch der Kontext der Digitalen Bibliothek der Universität Rostock als Zielumgebung zu beachten. Zur Verwaltung, Ver-arbeitung und Recherche wird ein objektrelationales Datenbank-Manage-ment System (ORDBMS) verwendet. Durch die erweiterbare Umgebung eines ORDBMS haben wir die Möglichkeit, nicht nur die strukturierten und unstrukturierten Informationsobjekte effektiv zu speichern sondern auch die Möglichkeit entsprechende Funktionen zur Erschließung, Verarbeitung und Retrieval integriert zu implementieren. Abb. 6 zeigt den Entwurf der Syste-marchitektur auf Basis des ORDBMS IBM DB2 UDB 3.

Abb. 6: Systemarchitektur des Archivs für digitale Notenhandschriften

3 Zur IBM DB2 Univeral Database V8.0 siehe: http://www.ibm.com/software/data/db2/.

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Im oberen Teil der Abbildung sind die Prozesse für den Daten-Import dargestellt. Werkzeuge für die Extraktion und Speicherung der Daten aus verschiedenen Datenquellen wurden entwickelt, um eine Abbildung der extrahierten Daten auf die objektrelationalen Datenbankschemata automa-tisch durchzuführen. Die eigentlichen Datenstrukturen und die entsprechen-den Retrieval-Techniken für die verschiedenen Nutzerszenarios werden in der ORDBMS-Umgebung implementiert. Die zu realisierenden Nutzersze-narios sind in der untersten Ebene des Bildes dargestellt. Die Anwendungen, die diese Szenarios implementieren, sind Server-basierte Web-Anwendun-gen, die einen verteilten Zugriff auf die Daten ermöglichen. In Abb. 7 ist ein Ausschnitt der Web-Schnittstelle mit Navigations- und Suchfunktionalität dargestellt.

Abb. 7: Web-Oberfl äche für Metadaten-Suche

Neben Navigation in den Handschriften und der Textsuche in der Daten-bank soll auch eine inhaltsbasierte Suche nach den Schreibercharakteristi-ken der Notenhandschriften ermöglicht werden. Ein solches Szenario ist in Abb. 8 skizziert.

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Abb. 8: Darstellung der Komponenten zur Schreiberidentifi kation

Abb. 9 zeigt die Nutzeroberfl äche für die manuelle Extraktion von Handschriftmerkmalen.

Nach der Extraktion werden die Handschriftmerkmale pro Noten-handschrift gespeichert. Mit Hilfe geeigneter Clustering-Methoden aus dem Data Mining-Bereich werden Klassen mit ähnlichen Handschriftmerkmalen erstellt. Diese repräsentieren die Handschriftcharakteristik eines Schrei-bers. Wenn der Schreiber einer unbekannten Notenhandschrift bestimmt werden soll, werden im ersten Schritt die Merkmale der unbekannten Handschrift extrahiert. Im zweiten Schritt wird dann mittels Klassifi kations-techniken die Handschrift einer oder auch mehrerer Schreiberklassen zuge-ordnet. Die genaue Einordnung obliegt u.U. dem musikwissenschaftlichen Experten. Für die Realisierung dieser Clustering- und Klassifi kationsme-thoden verwenden wir existierende und eigene ORDBMS-Erweiterungen. Anhand verschiedener Tests werden die einzelnen Techniken für diese Auf-gaben bewertet.

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Im weiteren Verlauf des Projektes erfolgt die Integration des Archivs in die Server der Digitalen Bibliothek der Universität Rostock (basierend auf dem IBM Content Manager 4). Die Integration beinhaltet die gemein-same Speicherung der Informationsobjekte, die Anpassung der Schnittstel-len und der Zugriff auf die Daten durch eine gemeinsame Nutzeroberfl äche für möglichst alle Nutzerszenarios. Die Erweiterbarkeit des Systems soll zukünftig genutzt werden, um andere inhaltsbasierte Retrieval-Methoden auf Bild- und Textdaten zu entwickeln.

Abb. 9: Web-Oberfl äche für Handschrift-Analyse

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4. Bildverarbeitung (BV)

Die Bildverarbeitung beschäftigt sich in diesem Projekt mit der Erforschung neuer Methoden, mit denen die Charakteristika einer Schreiberhand automa-tisch erfasst werden können. Das Gebiet der Optical Music Recognition (OMR) beschäftigt sich mit der Entwicklung von Methoden zur automatischen Erken-nung von Musiknotationen auf Papier und weist damit starke Ähnlichkeiten zur optischen Texterkennung (Optical Character Recognition (OCR)) auf. Jedoch sind bisherige OMR-Systeme nur unzureichend für die Erkennung von Musik-handschriften geeignet.14 Neben den persönlichen Merkmalen einer Schrei-berhand zählen auch vergilbtes Papier, Tintenfraß, Flecken, von der Rückseite durchscheinende Musikzeichen und ungerade Notenlinien zu den Schwierigkei-ten (Abb. 10). Außerdem interessiert uns in diesem Projekt in erster Linie die automatische Beschreibung eines Schreibstiles, nicht die optische Erkennung aller Musikzeichen zum Zweck des digitalen Abspielens der Musik.

Die Analyse der digitalisierten Werke soll über einen mehrstufi gen Algorith-mus erfolgen, der sich aus 1. einer Bildvorverarbeitung (Trennung von Vorder- und Hintergrund), 2. einer Primitiverkennung (z.B. Notenhals, Notenkopf), 3. einer Objekterkennung durch Zusammensetzen der Primitive und 4. einer Beschreibung der Charakteristika dieser Objekte anhand von Messun-gen ausgewählter Größen (z.B. Neigung der Notenhälse, Form der Notenköpfe) zusammensetzt.

Die Charakterisierungen (Features) für einzelne Zeichen werden für das jeweilige Digitalisat zusammengefasst, woraus sich ein BV-Metadatensatz ergibt, der später für vergleichende Untersuchungen von digitalisierten Musikhand-schriften zur Verfügung steht.

Es wurden bisher verschiedene Methoden für die ersten beiden Stufen erprobt. Die Aufgabe der Bildvorverarbeitung ist es, den Weg für die folgenden Schritte des Algorithmus zu bereiten. Zunächst wird das Bild mit einem Gauss-Filter geglättet, um das Bildrauschen zu verringern. Da sich die Werte für Vor-dergrund und Hintergrund in den RGB-Farbkanälen stark überlappen, wird eine Histogrammnormalisierung durchgeführt, um die Trennung von Vordergrund und Hintergrund zu erleichtern. Wenn nötig, werden die Bilder um bis zu 10° gedreht, so dass sich die Notenlinien möglichst in horizontaler Lage befi nden. Durch die

14 D. Blostein, H.S. Baird, „A Critical Survey of Music Image Analysis“, in: H. S. Baird, H. Banke, K. Yamamoto (Hrsg.), Structured Document Image Analysis, Berlin, 1992, S.405 - 434.

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Abb. 10, Oben: Eine saubere Musikhandschrift. Mitte: Ein Notenblatt mit Fleck, der sich in Farbe und Intensität kaum von den Notenlinien und den Notationssymbolen unterscheidet. Unten: Eine Musikhandschrift, bei der die Zeichen auf der Rückseite des Blattes durchschei-nen.

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Rotation lassen sich Fehler beseitigen, die bei der Digitalisierung durch ungerades Aufl egen der Originale entstanden sein können. Vordergrund und Hintergrund werden mit Hilfe eines lokalen Schwellwertverfahrens separiert. Anstatt einen Schwellwert global für das ganze Bild anzuwenden, wird das Bild in 30x30 Bild-punkte (Pixel) große Bereiche zerlegt und für jeden Bereich ein individuell ange-passter Schwellwert bestimmt. Dadurch wird eine bessere Trennung erreicht. Im weiteren Verlauf wird mit den separierten Vordergrundbildern gearbeitet. Abschließend werden die morphologischen Operationen Erosion und Dilation angewandt, um kleine, falsch segmentierte Bildbereiche zu löschen.

Die zweite Stufe des Algorithmus beschäftigt sich zunächst mit der Erkennung der Notensysteme mit den einzelnen Notenlinien (Abb. 11), da diese Systeme als Referenz für nachfolgend erkannte Notationssymbole dienen. Zunächst werden die Systeme mittels Kantendetektion und horizontaler Projektion als Ganzes erkannt, ohne die genaue Lage einzelner Linien zu bestimmen. Erst im nächsten Schritt wird für jedes Notensystem individuell die Lage der Notenlinien festge-stellt. Dies geschieht mit Hilfe eines Notenlinientemplates, das Stück für Stück über das Notensystem geschoben wird, um die genaue Position der Notenlinien zu ermitteln. Indem glatte Übergänge gefordert werden, lassen sich Fehler vermei-den, und durchgehende Notenlinien sind das Ergebnis. Mit den Notensystemen als Referenzsystem können nun andere Primitive entdeckt werden. Dabei unter-scheiden wir senkrechte Linien als Kandidaten für Taktstriche und Notenhälse, kleine runde Objekte als Kandidaten für Notenköpfe, Mehrlinienstrukturen als

Abb.11: Beispiel der automatischen Erkennung der Notensysteme.

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Kandidaten für komplexe Symbole wie z.B. Notenschlüssel und schließlich restli-che Strukturen wie z.B. textuelle Informationen. Neben den Objekten, die sich aus Primitiven zusammensetzen, werden auch Kandidaten für komplexere Notations-symbole, wie z.B. die Notenschlüssel, ermittelt. Über Interaktionsmöglichkeiten im BV-Softwaresystem wird dem Nutzer angeboten, korrigierend auf diese auto-matische Selektion einzuwirken.

Im dritten Schritt werden die primitiven Objekte zu komplexeren Objekten (z.B. Noten) zusammengefasst. Zum Beispiel setzt sich eine Achtelnote aus Notenkopf, Notenhals und Fähnchen zusammen. Aus der Menge der Kandidaten werden durch Untersuchung der Lagebeziehungen zueinander die richtigen Pri-mitive ausgewählt und als zusammen zu betrachtende Einheit markiert. Durch diese Untersuchungen lassen sich auch Einteilungen in einzelne „Notenarten“ (ganze Noten, halbe Noten, Viertelnoten, usw.) vornehmen, wobei noch unter-sucht werden muss, ob eine derartig feine Gliederung hilfreich ist. Eventuell reicht es auch aus, allgemein die Charakteristika aller Notenköpfe, der Notenhälse (getrennt für Kaudierung aufwärts und abwärts) und der Fähnchen vorzuneh-men. Für die Notationssymbole, die sich nicht aus Primitiven zusammensetzen (z.B. Schlüssel), entfällt diese dritte Stufe. Sie werden direkt an die Methoden der vierten Stufe weitergeleitet.

Die vierte Stufe schließlich befasst sich mit der Ermittlung der Charakte-ristika selber. Hierbei werden bewusst andere, insbesondere metrische Maße ermittelt, um einen Gegenpol zu den kategorischen Charakteristika der manuel-len Analyse zu schaffen. So werden z.B. der Neigungswinkel bei der Kaudierung und die Länge der Notenhälse und Taktstriche (in bezug auf die Spatienabstände) bestimmt. Bei den komplexeren Notationssymbolen wie den Schlüsseln lassen sich diese Methoden jedoch nur bedingt anwenden. Jedoch bieten sich auch hier BV-Methoden an, um eine Charakterisierung vorzunehmen. Hierzu sollen die Methoden der Hauptkomponentenanalyse (Principal Component Analysis) und der Hausdorff-Distanz im weiteren Verlauf des Projekts auf ihre Eignung unter-sucht werden.15 Als Ergebnis der vierten Stufe steht ein BV-Datensatz, der die einzelnen Features zusammenfasst. Über einen Vergleich der Featurewerte soll eine Suche nach Handschriften mit ähnlichen Schriftstilen ermöglicht werden, wobei noch untersucht werden muss, wie die Ähnlichkeitsbeziehungen am besten ausgedrückt werden können.

15 D. P. Huttenlocher, G. A. Klandermann, W. J. Rucklidge, „Comparing Images Using the Haus-dorff Distance“, in: IEEE Transactions on Pattern Analysis and Machine Intelligence, Bd. 15, Nr. 9, September 1993, S.850-863.

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Zur praktischen Erprobung dieser Methoden wurde und wird ein BV-Softwa-resystem entwickelt. Abb. 12 zeigt die Nutzeroberfl äche dieses Systems. Hierin ist es möglich, ein Digitalisat in verschiedenen Vergrößerungsstufen anzeigen zu lassen. Es kann ein Bereich des Digitalisats zur Untersuchung ausgewählt werden. Diese Funktion ist von Interesse, wenn die Schreibstile mehrerer Schreiber auf einer Seite zu sehen sind und natürlich getrennt voneinander untersucht werden sollen. Erweiterungen des BV-Softwaresystems sind mit Fortschritt des Projekts geplant, so dass im Laufe des Projekts ein komplexes Analysesystem entsteht.

Abb. 12: Die graphische Oberfl äche des Bildverarbeitungssoftwaresystems zur Erpro-bung der Methoden der verschiedenen Stufen.

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