Geheimakte Krausinger

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Transcript of Geheimakte Krausinger

Gibt es ausserirdische Technologie nur in den Hangars supergeheimer Luftwaffenlestgelände in den USA?

Was verbergen der ehemalige Stasigeneral und der Standartenführer der SS seit Jahrzehnten in der unterirdischen Anlage in Mecklenburg?

Welche Ziele verfolgt ein KGB-Oberst mit dem dort Versteckten?

Ist die Demokratie im vereinten Deutschland gegen jähe Änderungen der politischen Machtverhältnisse wirklich gewappnet?

Ein Journalist aus Kassel begibt sich bei dem Versuch, ein unglaubliches Komplott aufzudecken in Lebensgefahr.

Ich habe genügend Konstruktionsunterlagen und Produktionspläne

gesehen, um sagen zu können, daß -wenn sie den Krieg noch für einige

Monate hätten verlängern können - wir mit vollkommen neuartigen und

todbringenden Waffen konfrontiert worden wären.

Aus dem Bericht des Leiters einer britischen Spezialistengruppe zur

Untersuchung der deutschen "Wunderwaffen"

Deutschland 1945

Kapitel I

Kassel, Rostock, Berlin - März 1995. Der ICE verließ am frühen morgen den Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe in Richtung Norden. Ich saß in einem der Erste-Klasse-Großraumwaggons und schaute aus dem Fenster. Draußen war es noch dunkel und der Regen peitschte gegen die Schei-ben.

Der Zug hatte relativ schnell beschleunigt und bald das Stadtgebiet ver-lassen. Einige Stunden Zugfahrt hatte ich nun vor mir, denn das Ziel mei-ner Reise war die Hafenstadt Rostock an der Ostsee. Ich fuhr zur Beiset-zung meines Vaters. Eine angenehme Reise war es also keinesfalls. Außerdem würde sie, was ich zu dem Zeitpunkt allerdings noch nicht einmal ahnte, viel Unruhe in mein Leben bringen.

Ich bedauerte, daß ich diese Fahrt nicht schon drei Wochen vorher angetreten hatte, gleich nachdem mein Vater einen ersten Schlaganfall erlitten hatte. Da ich mich mit ihm nicht sehr gut verstand, hatte ich es unterlassen. Dies bereute ich jetzt natürlich sehr. Aber wie das so ist, wenn man etwas bereut, dann ist es in der Regel zu spät.

Der Grund für die Diskrepanzen zwischen uns lag )ahre zurück. Vater hatte mir nie verziehen, daß ich nicht seinem Wunsche entsprechend Offizier, sondern statt dessen Journalist geworden war.

Offizier wollte ich nie werden, schon gar nicht, wie er, beim MfS. Nach meinem Journalistikstudium hätte ich ihn aber durchaus noch versöhnlich stimmen können, wenn ich wenigstens bei einem sogenannten Par-teiorgan Redakteur geworden wäre und seinen geliebten Sozialismus in den höchsten Tönen besungen und in den schönsten Farben gemalt hätte.

Aber Kaisergeburtstagsdichter zu sein, widerstrebte mir ebenso. Ich ver-mochte es nicht, das DDR-Regime, dem ich kaum etwas abgewinnen konnte, zu beweihräuchern. So verzichtete ich trotz eines glänzenden Universitätsabschlusses auf eine mir vorausgesagte Karriere als Journalist und wurde ein schlecht bezahlter Mitarbeiter an einem unbedeutenden heimatgeschichtlichen Blatt, das vom Kreismuseum einer thüringischen Kleinstadt herausgegeben wurde. Inzwischen arbeite ich allerdings seit einigen jahren recht erfolgreich als Redakteur in einem nordhessischen Rundfunkstudio und habe meine Zelte in Kassel aufgeschlagen.

Nun war aber ein Fall eingetreten, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Mein Vater war an den Folgen eines zweiten Schlaganfalls verstorben. Das hatte mir Mutter mühsam gefaßt mitgeteilt, als sie mich vor zwei Tagen angerufen hatte.

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Was mir seitdem nicht aus dem Sinn ging, das waren die Worte, die sie schluchzend hinzugesetzt hatte:"... weil ihn dieser Quader so sehr aufge-regt hat!" Was konnte sie damit nur gemeint haben?

Den erwähnten Quader hatte ich im Wendejahr 1989 kennengelernt. Vater hatte mit Kollegen aus der Waffentechnischen Versuchsanstalt, kurz WVA genannt, seinen Sechzigsten gefeiert. Es war im Sommer, von der kommenden totalen politischen Wende ahnte noch niemand etwas.

Ich baute gerade mit Bernhard, meinem Schwager, den Grill auf, da hörte man sie schon, sich dem Wochenendgrundstück nähern. Als Erster stürmte Quader auf Vater zu, umarmte den etwas verdutzt dreinschauen-den Jubilar und gratulierte lautstark: "Genosse Kaiserr! Du um Forschung und Entwicklung in WVA verdient sich gemacht hast iberr viele Jahrre. Weiß sich Parrtei dies zu wirrdigen. Deshalb gehörrst zu Genossen, wo sich Medaille '40 Jahrre DDR' errhalten zum 7. Oktobern Kann sagen dirr als Parrteisekrretärr schon heute das. Weißt sicherr, daß sich gibt nurr kleines Kontingent fürr WVA!"

Aufgrund seiner Aussprache und wegen des seltsamen Satzbaues glaubte ich zunächst, daß dieser Mann kein Deutscher sei. Quader muß damals so um die Fünfzig gewesen sein. Er war nicht größer als 1,75 und sehr stämmig gebaut. Sein Kopf war fast kahl. An seine kalten grauen, stets nervös zuckenden Augen kann ich mich noch gut erinnern. Der Mann war, wie ich später erfuhr, der Parteisekretär der WVA, Oberst Her-mann Quader, genannt der "Kommissar". Aber was sollte dieser Mensch mit dem Tod meines Vaters zu tun gehabt haben?

Der Zug hatte inzwischen Hannover erreicht. Ich schaute aus dem Fen-ster und beobachtete das rege Treiben auf dem belebten Bahnsteig. Als der ICE wieder anfuhr schlug ich ein Wochenmagazin auf, das ich mir vor Fahrtantritt in Kassel gekauft hatte. Unkonzentriert blätterte ich darin herum. Aber sehr schnell waren meine Gedanken wieder bei der Geburtstagsfeier.

Gleich nach Quader war ein großer, kräftig gebauter älterer Mann an den Senior herangetreten und hatte ihm einen riesigen Blumenstrauß und eine feine Ledermappe überreicht: "Herzlichen Glückwunsch, Genosse Kaiser, mögen alle Ihre Wünsche in Erfüllung gehen. Auf weitere gute Zusammenarbeit." Das war General Keter, der Chef meines Vaters gewe-sen.

An die weiteren Personen kann ich mich nicht mehr so genau erinnern, bis auf Michael Rummel, den Adjutanten des Generals. Er war der Jüng-ste in dieser Gruppe, etwa in meinem Alter, also um die Dreißig, und mir gleich wegen seiner relativ offenen, unkomplizierten Art sympathisch gewesen.

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Die Durchsage, daß der Zug in wenigen Minuten im Hauptbahnhof von Hamburg einlaufen werde, riß mich aus meinen Gedanken.

Zwanzig Minuten später saß ich dann im Interregio nach Rostock. Und schon wieder fielen mir die Worte meiner Mutter ein: "... weil ihn dieser Quader so sehr aufgeregt hat!"

Ich konnte mir einfach keinen Reim darauf machen, denn das Verhältnis meines Vaters zu diesem Quader schien nicht schlecht gewesen zu sein. Ich sehe noch immer vor mir, wie Quader damals im Garten mit einem Teil des Eßbestecks an sein Glas schlug und zum wiederholten Male einen freundschaftlichen Toast auf Vater ausbrachte.

Ich muß gestehen, daß mir der Mann nicht sonderlich sympathisch gewesen war, da er sich immer wieder in den Vordergrund drängte und weil er sich so überhaupt keine Mühe zu geben schien, klares Deutsch zu sprechen.

Michael Rummel, mit dem ich mich an diesem Abend unterhielt, deutete an, Quader wolle als Russe gelten, weil er sich so allen überlegen fühlen konnte. Er wähne sich damit nicht nur auf der Seite der Stärkeren, sondern er vermeine selbst einer der Stärkeren zu sein. Wir machten, da wir uns nicht kannten, natürlich vorsichtig, unsere Witzchen über Quader. Michael meinte aber, der Mann sei eigentlich nicht zum Lachen, eher zum Heulen. Gerade diese letzte Aussage war von beinahe prophetischer Bedeutung. Das konnten wir allerdings damals beide noch nicht wissen.

jetzt aber konnte ich mir einfach nicht erklären, wieso dieser Mensch meinen Vater, der doch seit einiger Zeit beruflich nichts mehr mit ihm zu tun hatte, so aufgeregt haben sollte. Ich nahm mir vor, Mutter noch einmal danach zu fragen, und zwar dann, wenn sie sich nach der Beerdigung etwas beruhigt haben würde.

Das erinnerte mich wieder an die bevorstehende Trauerfeier. Vater ist tot, dachte ich. So früh. - Eigentlich hat er auch immer nur gearbeitet, sogar im Urlaub, solange ich zurückdenken kann. Ein Leben lang. Die meiste Zeit jedoch in der WVA, wie die Waffentechnische Versuchsanstalt des MfS genannt wurde. Die befand sich zu DDR-Zeiten in Warenthin im Bezirk Rostock.

Der Senior, in unserer Familie wurde mein Vater übrigens stets der "Senior" genannt und ich der "Junior", weil wir beide Theo heißen, der Senior also war seit 1972 Mitarbeiter dieser Einrichtung und in den acht-ziger Jahren als Oberst Leiter von Forschung und Entwicklung gewesen. Nach der Wende war er bis Anfang 1995 Mitglied der Geschäftsleitung der aus der WVA entstandenen "Special High Tech Warenthin GmbH (SHT)".

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Da arbeitet man ein Leben lang und freut sich vielleicht auf ein paar schöne Jahre ohne den Berufsstreß - und dann war's das! Ich schüttelte den Kopf. Als ich mir darüber bewußt wurde, schaute ich mich im Abteil um, aber es hatte niemand meine Selbstgespräche bemerkt.

Mit mir hatte Vater ja, ehrlich gesagt, auch keine große Freude. Zwar waren wir nie richtig verfeindet gewesen, aber meine Besuche bei den Eltern waren doch in all den Jahren recht selten gewesen. Ich dachte daran, daß ich dagegen nach der Wende in recht kurzen Abständen mehrmals in Rostock gewesen war. Ich fragte mich, ob es mich wohl dorthin getrieben hatte, um dem Senior deutlich zu zeigen, daß ich Recht gehabt hatte mit meiner politischen Verweigerung, während er mit seinem Engagement so völlig falsch lag? Wie auch immer. Es zeigte sich jedenfalls, daß Vater nach wie vor der Meinung war, daß der Sozialismus eine gute Sache sei, die leider nicht richtig umgesetzt worden wäre. Er war enttäuscht, aber er klammerte sich noch immer an den Gedanken, daß noch nicht alles verloren sei. Irgendwie schienen er und wohl auch seine Genossen in der SHT nach wie vor der Meinung zu sein, man könne die verfahrene Geschichte immer noch zugunsten des Sozialismus korrigieren.

Eine Stimme schreckte mich aus meinen Gedanken auf: "Ihren Fahrausweis bitte!" Irgendwo hatte ich doch ... Ich griff in verschiedene Taschen. Aber ich fand die Fahrkarte nicht. Es wurde schon langsam peinlich. Ein Mädel, das mir schräg gegenüber saß, grinste bereits belustigt vor sich hin. Dann fiel mir plötzlich ein, daß ich den Fahrschein im Mantel hatte.

Ein Blick auf die Uhr bestätigte mir, daß es nicht mehr weit bis Rostock sein konnte.

Ich dachte an Vaters letzte Arbeitsstelle. Womit sich diese Nachfolge-einrichtung der WVA, die SHT, für die er seit 1990 einer der Geschäfts-führer gewesen war, nun eigentlich beschäftigte, das hatte er mir nie gesagt. Eines schien aber klar zu sein. Da hatten ein paar hohe Offiziere den Betrieb, der vorher eine Stasiinstitution gewesen war, per Eintragung als GmbH einfach zu ihrem Eigentum gemacht. So wie sich verschiedene LPG-Vorsitzende und Betriebsdirektoren aller Art das ehemalige "Volksei-gentum" unter den Nagel gerissen hatten, dort wo keine Wessi-Unterneh-mer für den symbolischen Kaufpreis von einer Mark das Rennen gemacht und die Betriebe endgültig zugrunde gerichtet hatten. Moderne Raubritter, wie ich fand, sanktioniert und gefördert durch Unterlassungen oder direkte Kumpanei sogenannter "Treuhänder".

Ich legte das Magazin, das ich ungelesen in Händen hielt, wieder zur Seite, schaute aus dem Fenster auf die vorbeiziehende Landschaft aus Feldern, Wäldern und Ortschaften und versank bald erneut in Gedanken.

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Was hatte Quader mit Vaters Tod zu tun? Vielleicht hing es mit der Umwandlung der WVA in diese GmbH zusammen? Ich mußte Mutter unbedingt danach fragen. Dafür würde sich bestimmt Zeit finden, denn ich hatte vor, einige Tage zu bleiben.

Inzwischen näherte sich der Zug mit Verspätung dem Hauptbahnhof von Rostock. Ich hätte wohl doch besser den früheren Zug nehmen sollen.

Der Platz vor der Trauerhalle war voller Menschen. Als ich das Taxi ver-ließ, dachte ich: Ob die wohl alle für den Senior...? - Aber sicher finden hier mehrere Trauerfeiern kurz hintereinander statt, sagte ich mir. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß so viele Leute zur Beerdigung eines Ver-treters des alten Regimes gekommen sein sollten.

Meine Schwester und ihr Mann hatten Mutter stützen müssen. Sie schauten mich mißbilligend an. Dann machte Bernhard seinen Platz an Mutters Seite für mich frei. Wir betraten die Trauerhalle und setzten uns in die erste Reihe.

Vorn stand, praktisch vergraben unter zahllosen Kränzen und Gebinden, der Sarg. Alles war sehr feierlich. Ich konnte mich einer Träne nicht erwehren, die ich versuchte durch gesenkten Kopf und zusammengeknif-fene Augen zu verhindern. Sie tropfte mir dennoch auf das Jackett. Mutter hatte es bemerkt. Sie drückte mir, ohne aufzublicken meine Hand, in der die ihre lag und sagte leise zu mir, immerhin einem Mittdreißiger: "Guter junge." Das hätte mich fast zu weiteren Tränen veranlaßt, die ich nur mit Mühe verhindern konnte. Ich fühlte mich für einen Augenblick wirklich wie ein kleiner Junge, der seinen Vater verloren hatte.

Nachdem die letzten Töne des Largo von Händel verklungen waren, sprach der Trauerredner über den Verstorbenen, der ein guter Vater und Ehemann gewesen sei und dessen ganze Hingabe der Naturwissenschaft gegolten habe, der er, Dr. Dr. Theodor Kaiser, auch beruflich gedient habe.

Kein Wort fiel über den Dienst, für den er dreißig Jahre seines Lebens tätig gewesen war - eben als Wissenschaftler - aber auch als Offizier. Es war nicht angebracht. Und es war gut so. Es ersparte der Familie Peinlich-keiten. Obwohl ja kaum jemand anwesend war, der von dieser Tatsache keine Kenntnis hatte - außer, ja vielleicht außer dem Trauerredner. Aber selbst das war nicht sicher, denn ich erkannte in ihm einen ehemaligen Universitätsprofessor für Marxismus-Leninismus, der einmal ein Kollege meiner Schwester gewesen war. Der mußte halt jetzt auch sein Geld auf andere Weise verdienen. Und reden hatten solche Leute ja schließlich gelernt.

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Ich hatte mich umgesehen. Hier wurde kein Geächteter zu Grabe getragen. Die Trauerhalle war bis auf den letzten Platz besetzt. Verwand-te, Wohnungs- oder Gartennachbarn, alte Genossen waren gekommen. Von der letzten Gruppe waren mir einige bekannt.

Und auch der ehemalige Oberst Quader war zu sehen, wie ich unan-genehm berührt feststellen mußte. Er saß mit zwei anderen, mir allerdings unbekannten Männern slawischen Typs, in der letzten Reihe. Ich muß gestehen, daß mich ein ganz seltsames bedrückendes, fast Angst erzeu-gendes Gefühl ergriff, als ich ihn sah.

Nach der Trauerrede ging es hinaus und es formierte sich ein Zug, wel-cher dem Sarg folgte. Über zunächst breite, durch Koniferen gesäumte und die Grabreihen trennende, dann enger werdende Wege ging es zu dem Teil des Friedhofs, in dem die Grabstelle lag.

Dort angekommen ließ der Trauerredner noch einige Satze über den Sinn des Lebens und den natürlichen Gang alles Sterblichen hören. Mut-ter schluchzte auf. Bettina und ich stützten sie. Dann warfen wir jeder drei Hände voll Erde auf den Sarg.

Ich wandte mich zur Seite und erblickte am rechten Rand der Trauer-gemeinde erneut diesen Quader und seine Begleiter. Fast schien es mir, als ob sie sich vergewissern wollten, daß Vater tatsächlich bestattet wurde. Als wir die Kondolenzen entgegennahmen, stellte ich fest, daß Quader nicht unter denen war, die zu uns kamen. Irgendwie war ich erleichtert.

Wir verließen den Friedhof und fuhren zu einem Restaurant, wo wir im größeren Familienkreis gemeinsam zu Mittag aßen. Bald rief ich aber, Mutters Wunsch entsprechend, ein Taxi und fuhr mit ihr nach Hause. Sie wollte allein sein, was alle verstanden.

Ich hatte die ganze Zeit über gemerkt, daß Mutter sehr bedrückt war, hatte es aber der natürlichen Reaktion auf ihr plötzliches Witwendasein zugeschrieben. Dennoch beobachtete ich, daß sie, als wir den Friedhof verließen, ängstlich in Quaders Richtung geblickt hatte. Das erinnerte mich wieder an ihre Worte am Telefon. Später, als wir in der elterlichen Wohnung angekommen waren, fragte ich sie: "Mutter, du hast doch etwas. Was bedrückt dich denn? Es ist doch nicht allein Vaters Tod. Ich merke doch, daß da noch etwas ist!"

Sie wehrte ab. Es wäre nichts, wirklich nichts. Es sei einfach die Trauer, das sei doch wohl verständlich. Allerdings merkte ich an ihrer Stimme und an der Tatsache, daß sie es dabei vermied, mir in die Augen zu sehen, daß doch etwas nicht stimmte. Ich ließ nicht locker: "Mir kannst du doch nichts vormachen. Du hast doch Angst vor irgend etwas. - Und wieso hat eigentlich dieser Quader Vater so sehr aufgeregt?"

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Als sie den Namen Quader hörte, brach es dann doch aus ihr heraus. Unter Tränen rief sie, meine Hände ergreifend: "Sie haben ihn umge-bracht!"

"Wer hat ihn umgebracht?" fragte ich erschrocken. Ich hatte mit keiner Silbe damit gerechnet, daß es sich bei Vaters Tod um einen unnatürlichen Vorgang gehandelt haben könnte. Tausend Gedanken schossen mir plötz-lich durch den Kopf, ob das wohl stimmte, was Mutter gesagt hatte, was ich wohl tun mußte, als Sohn und wie gefährlich das Ganze möglicher-weise für uns, die Überlebenden der Familie war. Es wurde mir wechsel-weise heiß und kalt und der kalte Schweiß trat mir vor Aufregung auf die Stirn. Ich sage es ehrlich: Es waren Angst und Wut, die in mir rangen, um die Oberhand zu gewinnen. Im Moment war die Angst stärker, denn ich brauchte mein Leben lang keine zu haben. Dieses Gefühl war für mich also absolut ungewohnt. Aber ich mußte mich zusammenreißen und Mutter durfte nicht merken, wie es mir ging. Ich mußte den Starken spie-len, der die Situation überblickte und gekonnt damit umgehen konnte.

Mutter hatte mir zum Glück meine momentane Schwäche und Ratlo-sigkeit nicht angesehen. Sie starrte vor sich hin und sagte dann, mir nun ins Gesicht blickend, leise und mit angsterfüllter Stimme: "Die sind zu allem fähig. Ich habe Angst, daß sie auch dir etwas antun!"

"Wer sind die? Und wieso sollten die mir etwas antun?" Sie antwortete nicht, hatte wieder den Kopf gesenkt und blickte erneut

vor sich hin. Erst nach längerem Drängen meinerseits entschloß sie sich dann, mir doch zu sagen, was sich an dem Tag zugetragen hatte, als Vater den ersten Schlaganfall erlitt.

Es war am Morgen etwa gegen neun Uhr, als drei Männer Vater auf-suchten. Einer dieser drei Besucher war Oberst Quader gewesen. Die anderen beiden kannte sie nicht. Aber sie nahm an, daß es sich um Rus-sen handelte.

Zunächst sprach Quader leise, dann wurde er immer lauter. Jedenfalls hörte Mutter im Nebenzimmer, wie er mehrmals lautstark die Herausgabe einer Akte forderte. Er bedrängte Vater immer aggressiver werdend. Daraufhin erregte sich auch Vater. Mutter hörte, wie er immer wieder bestritt, irgendeine Akte aus der WVA zu besitzen und sich die unver-schämte Unterstellung und Belästigung verbat.

Plötzlich brach Vaters Stimme ab und sie hörte einen überrascht und zugleich verärgert klingenden Aufschrei Quaders. Sie hielt es nebenan nicht mehr aus, denn sie war voller Angst um ihren Mann. In dem Moment, als sie das Wohnzimmer betrat, muß es wohl passiert sein.

Sie erblickte als erstes Quader, der über den zusammengesunkenen Senior gebeugt stand, ihn betrachtete und dann seinen Begleitern ein Zei-

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chen gab, mit ihm die Wohnung zu verlassen. Im Hinausgehen hatte er gesagt: "Schlaganfall. Rrufen Arrzt, Frrau Kaiserr." Und fast draußen, Mut-ter hatte bereits völlig erschrocken und hilflos vor Vater gekniet, da hatte Quader noch über die Schulter zurückgerufen: "Und kein Worrt zu irr-gend jemand, daß warren hierr!" Es hatte wie ein Befehl geklungen.

Vater war mit einem Notarztwagen in ein Krankenhaus gebracht wor-den. Mutter erfuhr bald, daß er an den Beinen und im Gesicht Lähmungen erlitten hatte und daß sein Sprachzentrum gestört war. Die Ärzte machten ihr allerdings Hoffnungen. Das könne sich alles weitgehend normalisieren, wenn der Patient den nötigen Willen und die Energie aufbrächte, wieder gesund zu werden. Da hätten sie aber bei ihrem Mann keinerlei Bedenken, und andere hätten das schließlich auch schon geschafft.

Nach etwa vierzehn Tagen konnte Vater aus der Klinik entlassen wer-den. Wie bereits im Krankenhaus, verweigerte er aber auch nun jegliche Zusammenarbeit mit Logopäden, die ihm helfen wollten, seine Sprache wiederzuerlangen. Niemand hat das verstehen können.

Bereits am zweiten Tag nachdem er aus dem Krankenhaus entlassen worden war, erschien Quader erneut mit seinen beiden Begleitern. - Als er merkte, daß mein verängstigt wirkender Vater nicht mehr sprechen konnte, wurde er noch wütender und nahm statt seiner, Mutter in die Mangel. Ihr Mann habe eine sehr wichtige Akte mitgenommen, als er aus der Geschäftsleitung der GmbH ausgeschieden sei. Bestimmt aus Verse-hen, er wolle ja nicht unterstellen, daß es Absicht gewesen sei. Sicher wisse sie, wo er die Akte habe.

Als Mutter dies verneinte, bohrte er weiter, ob es spezielle Plätze gebe, wo Vater wichtige Dinge aufbewahre. Ob sie einen Safe oder vielleicht ein Schließfach bei einer Bank oder etwas ähnliches besäßen und so weiter. Schließlich drohte er ihr mit äußerst unangenehmen Folgen, falls die Akte nicht wieder auftauche. Er könne die Staatsanwaltschaft veranlassen, eine Hausdurchsuchung durchzuführen, es könne aber auch Schlimmeres passieren.

Wenngleich sie von einem Staatsanwalt nichts zu befürchten hatte, war ihr doch allein der Gedanke, die Polizei würde in die Wohnung kommen, schon wegen der Nachbarn unangenehm. Die andere Drohung, es könne auch "Schlimmeres" passieren, war ihr jedoch noch viel unheimlicher gewesen. So allein mit einem völlig hilflosen Mann und den unan-genehmen Besuchern, die sie endlich loswerden wollte, willigte sie schließlich ein und ging mit Quader zu ihrer Bank, um ihm das Schließfach zu zeigen.

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Wortlos war Quader gegangen, als er feststellen mußte, daß sich in dem Schließfach keine Akte befand, allerdings nicht, ohne ihr mit dro-hendem Blick und Unterton gesagt zu haben: "Sehen wiederr uns!"

Einige Tage später geschah es dann. Mutter war in die Stadt gefahren. Als sie zurückkam fand sie Vater mit einem zweiten Schlaganfall vor. Er war aus dem Sessel gerutscht und lag stöhnend auf dem Teppich. Das Wohnzimmer war in großer Unordnung.

Sie hatte Vater im Notarztwagen zum Krankenhaus begleitet. Als sie es erreichten, lebte er aber bereits nicht mehr.

Später, als sie mit meiner Schwester wieder die Wohnung betrat, erfaßte sie erst einmal das ganze Ausmaß der Unordnung. Die gesamte Wohnung war, während sie einkaufte, von oberst zu unterst gekehrt worden. Es fehlten zwar auch Wertsachen und Geld. Aber sie vermutete sofort, daß dies nur eine falsche Fährte war, welche die Jäger nach der Akte gelegt haben mußten.

Der Senior, der sich weder hatte wehren, noch um Hilfe rufen können, mußte offensichtlich hilflos mit ansehen, wie seine Wohnung durchwühlt wurde. Infolge der großen Erregung hatte er dann wohl seinen zweiten Schlaganfall bekommen. Spuren von Gewaltanwendung waren jedenfalls bei der Obduktion nicht gefunden worden.

Die Polizei fand auch keinerlei verwertbare Spuren der Einbrecher, Fingerabdrücke etc. Da waren Profis am Werk gewesen. Gegenüber der Polizei, aber auch gegenüber meiner Schwester hatte Mutter Quader und die Akte jedenfalls nicht erwähnt.

Ich hatte mich, während Mutter berichtete, wieder völlig gefaßt und Kampfgeist aktiviert. Ich war empört und voller Wut auf Quader. Ich wollte ihn unbedingt zur Rede stellen, ich wollte ihn anzeigen, ich wollte ihn vernichten. Ich hatte bis dahin nicht geahnt, zu welchen Haßgefühlen ich fähig war. Mutter bat mich jedoch inständig, eine Konfrontation zu ver-meiden.

Nachdem ich mich etwas beruhigt hatte, fragte ich sie, ob sie denn Bernhard, ihren Schwiegersohn, über die Ereignisse informiert habe.

Das habe sie nicht getan, antwortete sie mir und erklärte mir auch, wes-halb. Der Senior sei, als sie Bernhards Namen nach seinem ersten Schlaganfall erwähnt habe, sehr unruhig geworden und habe auf ein Blatt Papier gekritzelt: "Kein Verlaß. Gehört dazu!"

Mutter sagte mir auch, daß schon eine Woche zuvor ein Gespräch zwi-schen Vater und Bernhard stattgefunden habe, welches offensichtlich für beide Seiten nicht erfreulich gewesen sei, denn Bernhard habe sich mißmutig entfernt und Vater sei ebenso die Verärgerung anzusehen gewesen, wenngleich er nichts gesagt habe.

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Mein Schwager Bernhard war zu DDR-Zeiten als Major der Kriminal-polizei tätig gewesen, im Politischen Kommissariat, von dem es nach der Wende hieß, daß es ein Ableger der Stasi gewesen sei. Der Senior war immer stolz auf seinen Schwiegersohn und hatte ihn mir oft als Vorbild hingestellt. Seit der Wende war Bernhard nun Kriminaloberrat, ich glaube beim LKA.

Mutter gab mir einen Zettel, der unter der Sitzfläche eines Küchen-stuhles angebracht war. Als ich verwundert fragte, was das sei, sagte sie nur: "Von Vater für dich."

Ich erfuhr von ihr, daß der Senior, als er nach dem ersten Schlaganfall wieder aus dem Krankenhaus entlassen worden war, mühsam etwas auf diesen Zettel gekritzelt hatte. Ich entzifferte die drei Worte: "Theo, Laube, Akte". Überrascht und befriedigt registrierte ich, daß er nicht seinem "Lieblings"-Schwiegersohn, sondern mir, dem "verlorenen Sohn" seine letzte Nachricht hinterlassen hatte. "Theo, Laube, Akte". Was hieß das? Die eigene Laube konnte er kaum gemeint haben. Aber plötzlich war mir klar, wo ich suchen mußte.

Am nächsten Tag, gleich nach dem Mittagessen, war mein Ziel Großmutters alte Gartenlaube.

Als ich mit dem Wagen des Seniors losfuhr, stellte ich fest, daß ein BMW, besetzt mit vier mir unbekannten Männern, ebenfalls den Parkplatz verließ. Zunächst war das nichts Ungewöhnliches. Ich merkte aber bald, daß sie mir folgten. Deshalb beschloß ich, sie auf jeden Fall abzuhängen. So gut kannte ich Rostock noch, daß ich durch die Benutzung von Nebenstraßen und indem ich dreist eine Einbahnstraße in der falschen Richtung befuhr, entkam. Da die Verfolger solches von mir offensichtlich nicht erwartet hatten, fuhren sie glatt, genau wie ich gehofft hatte, in eine andere Straße. Ich sah jedenfalls nichts mehr von ihnen.

In einer Seitenstraße stellte ich den Wagen ab und lief zur nächsten Straßenbahnhaltestelle. Dort stellte ich mich zwischen andere Wartende und tat so, als ob ich mich für den Straßenbahnfahrplan und für die Wer-bung interessierte, damit ich mein Gesicht vor Blicken aus vorbeifahren-den Pkws verbergen konnte. Zum Glück traf die Bahn bereits zwei Minu-ten später ein. Drei Stationen weiter stieg ich dann schon wieder aus. Nun war es nicht mehr weit bis zur Gartenkolonie.

Ungesehen gelangte ich in den Garten. Den Schlüssel entnahm ich dem mir bekannten Versteck. Als ich die Tür öffnete, schlug mir ein muffiger Geruch entgegen, der sich aus der Feuchtigkeit einer ungeheizten

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Laube ergab und natürlich jetzt, nach dem langen Winter, besonders intensiv war. Ich versuchte meine Augen an das Halbdunkel zu gewöh-nen. Hier hatte sich nichts verändert. Es schien alles in Ordnung zu sein.

Nachdem ich mich noch einmal vergewissert hatte, daß sich niemand dem Garten näherte, begab ich mich zielgerichtet dorthin, wo ich das Ver-steck vermutete, auf das mich der Zettel des Seniors hingewiesen hatte. Ich ging in die kleine Küche, in der ein uralter eiserner Herd stand, auf dem Großmutter immer gekocht hatte. Die letzte Diele unter dem Herd, ganz hinten an der Wand, war in der Länge von etwa einem knappen Meter herausnehmbar. Dort hatte Großvater 1945 seine Pistole versteckt. Irgend jemand hatte ihn bei den Russen angezeigt. Da auf Waffenbesitz die Todesstrafe stand, lernte ich meinen Großvater nicht mehr kennen.

Ich legte mich auf die Seite und tastete mit der Hand des ausgestreckten rechten Armes nach der Diele. Da der Herd ziemlich breit war und unter ihm wenig Platz, mußte ich mich ganz an den kalten Fußboden pressen und extrem strecken. Aber es gelang mir, heranzukommen. Vorsichtig nahm ich das Brett heraus und griff in den Hohlraum, der sich darunter befand. Tatsächlich - da war etwas. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ich mußte den rechten Arm noch mehr strecken. Stell dich nicht so an, sagte ich mir. Großvater und Vater haben es ja schließlich auch geschafft und die waren älter als du es jetzt bist. - Aber vielleicht war es ja leichter, etwas hineinzulegen, als etwas herauszuholen? Sicher, das mußte es sein.

Ich zog den Arm zurück, stand auf, streckte mich und rieb mir mein schmerzendes rechtes Oberarmgelenk. Dann lief ich schnell in den Wohnraum und spähte aus dem leicht geöffneten Türspalt in den Garten und zum Weg. Aber draußen war alles ruhig. Es war von Vorteil für mich, daß man von der Laube aus jede sich nähernde Person bemerken konnte. Ich schloß die Tür ab und begab mich zurück in die Küche. Erneut ver-suchte ich es. Diesmal hatte ich mehr Glück. Ich bekam mit Daumen und Zeigefinger etwas zu greifen und zog es heraus. Dickes braunes Packpa-pier umhüllte ein flaches Paket. Obwohl es noch nicht allzu lange dort gelegen haben konnte, war es voller Staub und Spinnweben. Ich fuhr mit der flachen Linken darüber und öffnete es sofort. Falls es mir meine Ver-folger auf dem Rückweg abjagen würden, wollte ich wenigstens wissen, worum es da eigentlich ging. Der Inhalt bestand, wie ich gleich darauf feststellen konnte, aus einem Ordner. Obenauf lag ein Blatt Papier, auf welchem in der Schrift des Seniors geschrieben stand: "Mach was draus, Theo!" Als ich diese Worte las, war ich wieder ganz seltsam berührt. Was da stand, das war praktisch eines Vaters letzter Auftrag an seinen Sohn, an mich. Würde ich ihn erfüllen können? Ich schlug den Ordner auf. Auf der ersten Seite befand sich folgender Text:

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Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik Staatssekretariat für Sicherheit im Mdl Geheime Verschlußsache (GVS) SfS im Mdl Nr. 0003-211/55 vom 20.05.1955 Vorgang: Krausinger; Martin, Ludwig, geb. am 16.06.1903 in Rosenheim/Bayern Begonnen: 20. Mai 1955 Abgeschlossen:

Ich blätterte weiter. Die nächste Seite war ein maschinenschriftliches

Rechercheergebnis.

Aktennotiz

SfS im Mdl Nr. 0003-211.1/55 v. 20.05.1955 Vorgang: Krausinger, Martin, Ludwig geb. 16.06.1903 in Rosenheim/Bayern Blatt 1 Berlin, den 20.05.1955 Laut Personalverzeichnis der Heeresversuchsanstalt Peenemünde hat besagter K. am 24. März 1941 seine Tätigkeit in selbiger Anstalt aufge-nommen. Verzeichnet im Personalregister als Professor Dr. Martin Ludwig Krausinger. Kein Hinweis auf eine SS-Zugehörigkeit. Vormalige Arbeitsstelle: Universität unter den Linden, Reichshauptstadt Berlin. In den Gehaltslisten letztmalig nachweisbar: Juli 1943. Taucht auch nicht auf in der Gefallenenliste des britischen Luftangriffes vom 17./18.08. 1943 auf Peenemünde. Desgleichen auch nicht als Verwundeter auszumachen. Ab August 1943 wie vom Erdboden verschwunden. Schriebeis, Oberltn. im SfS

Auf dem folgenden Blatt befand sich lediglich ein kurzer handschriftlicher Vermerk:

Zielperson befand sich nicht in alliierter Gefangenschaft und ist auch nicht zu finden auf Gefallenenlisten des Zweiten Weltkrieges. 02. Juni 1955 Siebrecht, Major im SfS

Ich war enttäuscht. Eine Akte aus 1955! Ich hatte eher angenommen, daß sich das, was Vater mir hinterlassen hatte, mit der Stasi, nicht aber mit der Suche nach einem alten Nazi beschäftigen würde. Das war ja wohl Schnee von gestern. Was sollte ich daraus machen? Aber ich wollte nicht vorschnell abbrechen. Erst mußte ich mir einen Überblick über die

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gesamte Akte verschaffen, selbst wenn ich bis spät in die Nacht hinein im Garten bleiben müßte. Um unangenehmen Überraschungen vorzubeu-gen, schaute ich erst noch einmal nach, ob die Fensterläden wirklich dicht waren. Dann vertiefte ich mich in das Material. Ich las einen Zei-tungsausschnitt, der säuberlich auf ein Blatt Papier geklebt worden war.

Es handelte sich um einen Artikel aus dem "Wiesbadener Stadtblatt" vom August 1945.

Alsoss sucht noch immer Oberursel, Samstag, 18.08.1945, Bericht unseres Korrespondenten Franz Schulz

Obwohl der Krieg längst beendet ist, sucht die Amerikanische Militärre-gierung noch immer nach Spitzenkräften der deutschen Raketenfor-schung. Es wird vermutet, daß diese Forscher in die Vereinigten Staaten verbracht werden sollen. Etwa einhundert von ihnen sind in Oberursel, im sogenannten "Camp King" der amerikanischen Militärregierung untergebracht und werden von Spezialisten verhört. Uns wurde bekannt, daß einige weitere führende Köpfe der deutschen Raketenforschung, darunter die Professoren Krausinger und Danzmann noch immer gesucht werden. Es wird vermutet, daß sie zum Troß des wahrscheinlich nach Südamerika geflüchteten Reichsleiters Bormann gehören. Es bleibt abzuwarten, wann und wie die amerikanischen Operationen "Overcast" und "Paperclip" abgeschlossen werden. Wir berichten darüber.

Im Unterschied zu den Amerikanern hatte die Stasi offensichtlich bei der Suche nach Krausinger Erfolg gehabt, wie ich auf den folgenden beiden Seiten feststellen konnte.

Ministerrat der DDR Ministerium des Innern (Mdl), Staatssekretariat für Sicherheit Bezirksverwaltung Schwerin 27. Juni 1955 Kreisdienststelle Parchim Sachbearbeiter: Pieper

Vorgangsübernahme Betr.: Übernahme eines volkspolizeilichen Vorganges in Verantwortung des SfS Vom VPKA Parchim wurde uns mit heutigem Datum die Anzeige eines Bürgers aus der Volksrepublik Polen zuständigkeitshalber übergeben.

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Am Donnerstag, dem 23. Juni d.J. erschien der polnische Staatsbürger Jan Zbigniew Kalpuczky, welcher mit einer Delegation der Kommunisti-schen Partei Polens (PKP) das VEB (K) Bekleidungswerk Parchim-Beils-dorf besucht hatte, auf dem Volkspolizeikreisamt und erstattete Anzeige (s. Anlage) gegen einen Werktätigen aus dem besuchten Betrieb, in dem er einen Raketenforscher der Nazis aus Peenemünde erkannt haben will. Die Ermittlungen der VP ergaben, daß ein Lagerist namens Walter Letticher, wh. in Parchim, Walter-Bleibtreu-Straße 97 gemeint war. Der polnische Genosse hatte nach eigenen Angaben lediglich den Par-teisekretär des Betriebes erstaunt gefragt, warum denn dieser Mann nicht mehr in der Wissenschaft tätig sei. Er habe diesen Professor, wie er die verdächtige Person nannte, in Peenemünde gesehen, als er selbst als Zwangsarbeiter dort eingesetzt gewesen sei. An den Namen konnte er sich nicht erinnern. Aber er habe ihn hundertprozentig wiedererkannt. Der Genosse Parteisekretär (einer unserer IM) habe ihn dann veranlaßt, eine Anzeige bei der Volkspolizei zu machen. Meldung an Bezirksverwaltung und an Staatssekretariat, wegen eventu-eller Nazistraftaten und wegen möglicher Übereinstimmung der Person Letticher mit dem zur Fahndung ausgeschriebenen Krausinger, Martin, Ludwig, erfolgte bereits durch mich. Pieper, Oltn.

Das zweite, als "Vertrauliche Verschlußsache" gekennzeichnete Doku-ment war ein sogenannter "Operativplan", das heißt der Plan zur Bespit-zelung dieses Krausinger. Es hatte den gleichen Dokumentenkopf wie das vorherige Papier und wies das Datum vom 29. Juni 1955 auf.

Operativer Vorgang "Nazi"

1. Operativplan zum Operativen Vorgang "Nazi" Der OV "Nazi" gegen den Lageristen Letticher, Walter, geb. am 16.06.1903 in Rosenheim/Bayern, wh. Parchim, Walter-Bleibtreu-Str. 97 hat das Ziel, a) abzuklären, ob es sich bei dem zu Observierenden um den ehemaligen SS-Führer M. L. Krausinger aus München handelt, welche Verbindungen er pflegt, ob Kontakte, eventuell konspirativer Art, nach Westdeutschland bestehen sowie b) seine Verhaftung vorzubereiten. 1.1. Einsatz Informeller Mitarbeiter Der Einsatz der IM ist vorrangig darauf zu richten, den "Nazi" und sein Umfeld, sowie eventuelle Beziehungen in den westzonalen oder sonstigen imperialistischen Herrschaftsbereich aufzuklären sowie einen

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Grund zu finden, den "Nazi" wegen eines kriminellen Straftatbestandes (Diebstahl o. ä.) belangen zu können.

1.1.1. Informeller Mitarbeiter "Fahrrad" Für den IM "Fahrrad" wird die Möglichkeit geschaffen, in den unmittel-baren Arbeitsbereich des "Nazi" zu gelangen. Seine Aufgabe wird vor allen Dingen darin bestehen, über den "Nazi" persönliche Informationen zu gewinnen, die Aufschluß über seine Person geben. Verantw. für die Instruktion und die Führung des IM: Ltn. Drösel

1.1.2. Informeller Mitarbeiter "Sigrid" Für die Mitarbeiterin "Sigrid" besteht die Möglichkeit, den "Nazi" zu kontaktieren, da er Stammgast in der Stadtbibliothek ist. Ihre Aufgabe besteht darin, eine persönliche Beziehung zu ihm aufzubauen und Infor-mationen über Absichten, Ziele, Charaktereigenschaften und Schwächen zu schöpfen. Verantw. für die Instruktion und die Führung des IM: Ultn. Schmidt

1.2. Koordinierung des Einsatzes der beiden IM Verantwortl.: Oltn. Pieper

2. Koordinierung aller Maßnahmen Koordinierung aller Maßnahmen erfolgt durch Zentrale Ermittlergruppe "Nazistraftäter". Meldungen direkt an diese Gruppe; Durchschläge an Generalmajor Keter, Dienststelle WVA

3. Weitere operative Maßnahmen Im Moment keine. Vorlage erarbeitet: Pieper, Oberleutnant

Dieser Krausinger oder Letticher war also im Zweiten Weltkrieg Rake-tenforscher gewesen. Das erklärte mir nun allerdings das große Interesse aller Seiten an ihm. Was war das aber für ein Mensch? Diese Frage wurde mir durch den in der Akte befindlichen Lebenslauf beantwortet. Es han-delte sich bei dem Mann, wie ich dort lesen konnte, um einen Naturwis-senschaftler, der schon vor vielen Jahrzehnten als Forscher und Hoch-schullehrer tätig gewesen war. Aber er wäre inzwischen bereits über 90 Jahre alt! Wieso bewahrten die eine Akte auf über jemanden, der entwe-der bereits nicht mehr lebte oder doch zumindest schon bald dreißig Jahre lang im Rentenalter war? - Oder sollte der auch als Ruheständler für die gearbeitet haben? Möglich wäre das schon. Aber inzwischen war er doch sicher längst nicht mehr aktiv. Oder?

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Ich hatte bereits längere Zeit fast ohne Unterbrechung gelesen. Es war anstrengend bei dem Licht der kleinen Lampe, zumal ich gleichzeitig darauf bedacht war, mein Gehör darauf zu konzentrieren, ob sich nicht doch jemand an die Laube heranschlich. Ich blätterte weiter. Auf den fol-genden Seiten fand ich den Bericht über Krausingers Festnahme und jede Menge Verhörprotokolle, die ich gespannt las.

Plötzlich schreckte ich auf und starrte zur Tür. War da etwas? Ich sprang schnell auf. Die Akte fiel zu Boden. Nachdem ich das Licht gelöscht hatte, tastete ich mich vorsichtig zum Fenster. Dort zog ich den Vorhang zurück und spähte durch einen kleinen Spalt des außen ange-brachten Fensterladens. Draußen war es schon dämmrig. Aber es war nichts Verdächtiges festzustellen. Ich zog den Vorhang wieder zu, lausch-te an der Tür und tastete mich im Dunkeln vorsichtig zurück zur Couch. Dort knipste ich die kleine Lampe wieder an und nahm die Akte vom Boden. Überrascht hob ich einen darunter liegenden Brief auf, der aus ihr herausgefallen sein mußte. Auf dem gefalteten Briefbogen erkannte ich die Handschrift meines Vaters. Es war ein seltsames Gefühl, das mich ergriff, denn praktisch erhielt ich in dem Moment eine weitere Botschaft von einem Verstorbenen. Es dauerte sicher ein, zwei Minuten, bis ich soweit war, daß ich den Brief lesen konnte.

Lieber Theo, wir haben uns zwar über die Jahre entfernt voneinander, was ich immer sehr bedauert habe, aber jetzt sind neue Zeiten angebrochen und der Grund unserer Meinungsverschiedenheiten ist beseitigt. Du bist mein Sohn und Du bist Journalist. Ich glaube, daß das vorliegende Material für Dich so interessant sein wird, daß Du damit an die Öffentlichkeit gehen wirst. Vielleicht kann ich damit etwas zur Aufarbeitung der Vergangenheit bei-tragen und mache damit etwas gut von dem, was ich ja falsch gemacht zu haben scheine. Als einer der Geschäftsführer der SHT Warenthin GmbH hatte ich vor einigen Jahren das ehemalige Dienstzimmer meines früheren Chefs, des Generals Keter - Du kennst ihn - übernommen. Vor wenigen Monaten, als ich mein Dienstzimmer räumte, da ich in den Ruhestand ging, fand ich im untersten Schreibtischfach, ganz nach hinten gerutscht, eine Akte, von der ich glaubte, es sei eine meiner Akten. Allerdings ist es eine Akte, die der General, als er das Dienstzimmer 1990 überstürzt räumen mußte, offensichtlich vergaß. Mir war der Name Krausinger, der darauf stand, unbekannt. Erst als ich den Inhalt las, bekam ich mit, daß sie einen Mitarbeiter, der mir persön-

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lich bekannt war, betraf. Dieser Mann hieß allerdings Dr. Letticher und war seit undenklichen Zeiten, länger jedenfalls als ich, in der WVA tätig. Wenn Du Dich mit der Akte beschäftigst, dann wirst Du bald merken, daß es mit und um diesen Mann herum Geheimnisse geben muß. Mir war das all die Jahre, die ich ihn kannte, nicht bewußt. Aber nun, wo ich diese Akte kenne, werden mir einige Ungereimtheiten klar. Ich habe die Akte mitgenommen. Keter schien sie nicht zu vermissen. Er arbeitete bereits seit Jahren nicht mehr bei uns. Ich hielt sie für interessant. Inzwischen weiß ich, daß die Akte nicht lediglich interessant ist, sondern gefährlich. Ich habe nach meinem Ausscheiden aus der GmbH mehrere Anrufe er-halten, diese Akte betreffend, wo sie sei, nur ich könne sie haben und so weiter. Das hat meinen Verdacht, daß da etwas faul ist, nur noch ver-stärkt. Vor einer Woche, als ich einen Spaziergang gemacht habe, wurde ich von zwei Männern angesprochen und bedroht - wegen der Akte! Ich habe Mutter natürlich nichts davon gesagt. Sie regt sich immer gleich zu sehr auf, hat einfach Angst. Was man verstehen kann. Ich befürchte, daß diese Leute nicht nachgeben werden, bis sie die Akte haben. Ich möchte, daß Du sie Dir ansiehst und recherchierst um möglicherweise Schlimmes zu verhindern. Eigentlich möchte ich Dir die Akte persönlich übergeben. Aber man weiß ja nie, was dazwischen kommt. Vorsichtshalber habe ich sie erst einmal versteckt. Dein Vater PS: Anbei einige Notizen, die meiner Kenntnis entsprechend, Dir helfen können, einiges in der Akte besser zu verstehen.

Ich hatte mich ziemlich gewundert, daß der Senior doch noch eine Wende in seinen Ansichten vollzogen haben sollte. Ich glaube aber, es war nicht ein Bruch mit seinen grundlegenden Überzeugungen, sondern mehr ein Bruch mit Extremisten unter seinen ehemaligen Genossen.

Dieser Brief aber, der mir helfen sollte, die Akte zu verstehen, ließ be-dauerlicherweise weit mehr Fragen offen, als er beantwortet hatte. Of-fensichtlich wußte der Senior auch nichts Genaues, ahnte mehr, als er wußte. Wie sollte nun ich, der ich dieser Sache und diesen Leuten, um die es ging, doch unendlich ferner stand als er, klären, was dahinter steckte?

Der Senior hatte auch Blätter mit Notizen über seine Zeit in der WVA und sein Wissen über Keter und diesen Krausinger alias Letticher beige-legt. Damit konnte ich mich aber nicht mehr befassen, denn es war spät

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geworden und ich mußte mich auf den Heimweg machen. Sicher machte sich Mutter auch schon Gedanken darüber, wo ich so lange blieb. Aber wohin mit der Akte? Ich konnte sie ja nicht einfach mit zu ihr nehmen. Es war schließlich gefährlich, sie zu besitzen.

Dann hatte ich eine Idee. Sie mußte von einer Vertrauensperson an eine Adresse gesendet werden, die der anderen Seite nicht bekannt war. Schnell packte ich alles zusammen, schaute mich noch einmal um, lösch-te das Licht und schloß die Laube ab. Vorsichtig verließ ich den Garten. Es war bereits dunkel. Alles war still. Meine Verfolger schienen zu meinem Glück tatsächlich keine Ahnung von diesem Grundstück zu haben.

Auf dem Weg zur Straßenbahnhaltestelle winkte ich ein Taxi und ließ mich vor dem Haus meiner Tante absetzen. Es war etwa 20.00 Uhr, als ich bei ihr klingelte. Tante Traudchen freute sich über meinen Besuch. Bevor ich mich eine Stunde später von ihr verabschiedete, bat ich sie, am nächsten Tag ein Paket für mich aufzugeben. Ich schrieb ihr die Adresse von Meike, meiner Freundin, auf. Als Absender konnte sie ruhig ihre eigene Adresse angeben. Nun konnte ich einigermaßen sicher sein, daß das Paket gut nach Kassel kommen würde.

Ich rief auch gleich bei Meike an und bat sie, ein in den nächsten Tagen eintreffendes Paket von einer Frau Waltraud Freudenberg ungeöffnet für mich aufzubewahren.

Mit einem Taxi gelangte ich dann zur Wohnung meiner Eltern. Ich wollte an diesem Abend natürlich auf keinen Fall zu dem in der Stadt abge-stellten Wagen, da ich befürchtete, daß er entdeckt worden war und man dort auf mich wartete.

Später, als ich in Mutters Gästezimmer lag und nicht gleich einschlafen konnte, ging mir die Geheimakte erneut durch den Kopf. Ich hatte ja darin gelesen, daß dieser Krausinger erst viele Jahre nach dem Kriege von der Stasi entdeckt und festgenommen worden war. Wo er sich all die Jahre aufgehalten hatte und wie es ihm gelungen war, in der DDR unerkannt zu leben, hoffte ich später noch zu lesen. Ich hatte aber auch geglaubt Informationen zu finden über General Keter, den Mann, der verantwortlich war für die Akte und möglicherweise sogar für Vaters Tod. War er es, der ihm diese Leute auf den Hals gehetzt hatte? War er es, der jetzt auch mich verfolgen und beobachten ließ? Weshalb war er nicht zur Beerdigung erschienen? Oder lebte er vielleicht auch nicht mehr?

Im Gegensatz zu diesem Krausinger, der mir völlig unbekannt war, kannte ich den General persönlich von der erwähnten Geburtstagsfeier. Ich erinnerte mich an einen großen, kräftigen Mann mit militärisch kurzem Haarschnitt, einem ausdrucksvollen breiten Gesicht und einer dröhnenden Stimme. Ein Mann mit durchaus charismatischer Ausstrahlung.

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Es mußte mir gelingen, an die Personalien Keters heranzukommen. Aber wie? Mir wurde klar, daß das, wenn überhaupt, dann nur in Berlin gelingen könnte, denn die WVA unterstand zu DDR-Zeiten direkt einem der Stellvertreter des Ministers. So entschloß ich mich, auf dem Rückweg nach Kassel über Berlin zu fahren.

Am nächsten Morgen erklärte ich Mutter, daß ich Vaters Erwartung gemäß etwas tun wolle: "Dieser Quader kommt mir nicht so einfach davon!"

Sie war erschrocken und versuchte mich erneut davon abzuhalten. "Das bringt uns doch Vater auch nicht wieder und du begibst dich unnötig in Gefahr", warnte sie mich eindringlich.

Ich versicherte ihr, daß ich nicht als ein Robin Hood losziehen wolle, sondern das Ganze journalistisch zu lösen gedächte. Damit konnte ich sie etwas beruhigen. Sie war enttäuscht, als ich meine noch am selben Tage vorgesehene Abreise erwähnte. Ich versprach ihr aber, sie bald wieder zu besuchen, was ihr den Abschied etwas erleichterte. Nach dem Frühstück fuhr ich in die Innenstadt, wo ich den am Vorabend geparkten Wagen abholte und nach einem kurzen Besuch bei meiner Schwester wieder auf den Parkplatz vor Mutters Haus stellte.

Als ich mich von meiner Schwester Bettina verabschiedete, hatte ich meinen Schwager Bernhard angetroffen. Ich sagte ihm, daß ich verfolgt worden war. Überraschenderweise fragte er mich aber nicht etwa nach den Umständen der Verfolgung, sondern meinte sofort, kaum daß ich ausgeredet hatte: "Ach, das bildest du dir doch bloß ein! - Und außerdem, wenn schon, die sind an der Akte interessiert, die sie vom Senior haben wollten. Ist doch klar. Die gehört schließlich ihnen. Ich weiß auch nicht, was sich dein Vater dabei gedacht hat!" Die letzten Worte klangen vorwurfsvoll und er hatte mißbilligend den Kopf geschüttelt. Er gab sich nicht die geringste Mühe, mich in dem Glauben zu lassen, er wisse nichts von einer Akte und ich staunte über die Dreistigkeit, mit der er, auf meine Antwort lauernd, fragte: "Äh, hast du vielleicht diese Akte gesehen?"

Ich hatte mich aber nicht verraten und sofort Empörung geheuchelt: "Was denn nur für eine Akte? Von einer Akte weiß ich nichts. Also ehrlich ich weiß überhaupt nicht, was die von mir wollen!"

Bernhard harte mich mißtrauisch angesehen, aber nicht geantwortet. Dann war ich gegangen. Wieder in Mutters Wohnung, blieb mir nur noch eine halbe Stunde, bis ich endgültig gehen mußte. Mutter hatte meinen Koffer bereits gepackt, so wie in alten Zeiten, wenn ich zum Studienort fuhr. Bald war auch das Taxi da, welches mich zum Hauptbahnhof brach-te.

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Ich vermutete, daß ich möglicherweise wieder beobachtet und verfolgt werden würde. Eventuelle Verfolger wollte ich täuschen und abhängen. Pünktlich um 11.58 Uhr stieg ich deshalb in den Zug nach Hannover über Lübeck, obwohl ich ja beabsichtigte, direkt nach Berlin zu fahren. Ich lief durch zwei Waggons und verließ den Zug wieder auf der dem Bahnsteig abgewandten Seite, nachdem ich mich vergewissert hatte, daß mir niemand gefolgt war. Rasch lief ich über das Gleis zum Nachbar-bahnsteig. Dort setzte ich mich in den Personenzug nach Güstrow. Ich wußte aus dem Fahrplan, wann ich ihn wieder verlassen mußte. Durch das Fenster sah ich den anderen Zug, den ich nur kurz betreten und schnell wieder verlassen hatte, Minuten später abfahren.

Auf dem Bahnsteig, waren nur wenige, mir unverdächtig erscheinende Personen zu sehen. Dennoch wartete ich in dem sich langsam füllenden Zug. Wenige Minuten vor seiner offiziellen Abfahrzeit wechselte ich meine Wendejacke schnell von gelb auf blau. Über den braunen Koffer zog ich eine große gelbe Plastiktüte von Mutters letztem Bettenkauf. Schließlich setzte ich eine Baskenmütze auf, die ich bis dahin in der Tasche gehabt hatte. Derart verändert wagte ich mich auf den Bahnsteig. Da ich noch zwanzig Minuten auf den Zug nach Berlin würde warten müssen, wollte ich nicht wie auf dem Präsentierteller stehen. Deshalb begab ich mich in die Herrentoilette und stellte mich samt Koffer in eine der Kabinen. Vor lauter Langeweile studierte ich die dummen, humorvollen oder perversen Inschriften, die mit Bleistift, Kugelschreiber oder Messern an den Wänden von den Vorbenutzern hinterlassen worden waren.

Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, daß ich noch zehn Minuten ausharren mußte. Es ist ja kaum zu glauben, wie lang ein paar Minuten werden kön-nen! Plötzlich ging mir durch den Kopf: Was würden die machen, wenn die mich erwischten? Würden sie mir nur das Gepäck entreißen, glaubend, die Akte wäre darin? Oder würden sie mich zusammenschlagen -als Warnung? Oder würden die gar so kaltblütig sein, mich ganz auszu-schalten? Könnte ich hier überhaupt Hilfe erwarten? Würde Polizei kom-men? Rechtzeitig?

Ich wähnte mich in einer Falle sitzend. Ich versuchte die unangenehmen Gedanken zu verdrängen, zu ignorieren. Doch sie kamen immer wieder. Aber ich mußte ausharren. Wenn sie mich wirklich verfolgten und wußten im Moment nicht, wo ich war, so war ich hier noch am sichersten, denn wenn ich mich längere Zeit auf dem Bahnsteig aufhielte, würden sie mich vielleicht erkennen.

Dann war es endlich soweit. Der Zug nach Berlin würde in drei Minuten den Bahnhof verlassen. Daß er eingefahren war, hatte ich bereits über die Lautsprecheransage gehört. Ich verließ die Toilette und lief durch die

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Unterführung hinüber zu dem Bahnsteig, auf dem der Zug abfahrbereit stand. In normalem Tempo ging ich dann an dem Zug entlang, da ich nicht auffallen wollte. Ich bestieg den Intercity und suchte mir einen Platz in einem leeren Sechserabteil. Ich hatte gerade mein Gepäck verstaut, da hörte ich bereits den Pfiff der Bahnsteigaufsicht und der Zug ruckte an. Wenige Minuten später war er bereits außerhalb des Bahnhofs in voller Fahrt und bewegte sich in Richtung Neubrandenburgs, seines nächsten Zieles. Sicher konnte ich nicht sein, daß keine Verfolger im Zug waren. Aber ich hatte alles versucht, sie abzuhängen.

Ich versuchte das Wochenmagazin zu lesen, welches ich mir schon in Kassel gekauft hatte, denn ich wollte mich einmal völlig ablenken von der Akte. Aber es gelang mir nur schlecht. Immer wieder mußte ich an den Inhalt dieser Akte denken. Es war mir unverständlich, weshalb meine Eltern wegen dieses mir trotz der Aufschrift "Geheime Verschlußsache" nicht unbedingt brisant erscheinenden Materials unter Druck gesetzt worden waren und weshalb man wahrscheinlich auch mich beobachtete.

Eine Stunde später hatte der Zug Neubrandenburg erreicht. Unter den zahlreichen Menschen auf dem Bahnsteig fiel mir ein Mann besonders auf, der ein Foto in der Hand zu halten schien. Er schaute noch einmal darauf und steckte es dann in die Manteltasche. Dann stieg er in den nächsten Waggon ein.

Als der Zug sich in Bewegung gesetzt hatte, erschien der Mann wenig später und sah sich die männlichen Fahrgäste genau an, während er den Gang entlangkam. Als er mich bemerkte, glaubte ich millisekundenlang ein Erkennen in seinen Augen gesehen zu haben und einen befriedigten Gesichtsausdruck, der zu den Worten gepaßt hätte: "Hab ich dich also." Unbewegten Gesichtes ging er an meinem Platz vorbei in den nächsten Waggon.

Waren es meine überreizten Nerven, oder war das tatsächlich ein Ver-folger? Ich sah den Mann später nicht wieder. Was allerdings nichts heißen mußte. Der hatte mich vielleicht schon längst wieder an einen anderen Beschatter übergeben. Ich versuchte, nicht weiter daran zu den-ken, da mich das ziemlich verunsicherte.

Als ich im Hauptbahnhof von Berlin den Zug verließ, fiel mir niemand auf, den ich als einen Verfolger eingestuft hätte. Ich war erleichtert, aber es war mir klar, daß ich nicht sicher sein konnte.

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Nicht weit vom Bahnhof entfernt fand ich ein Hotel. Das Erste, was ich tat, als ich das Zimmer bezogen hatte, war ein Anruf in meiner Kasseler Redaktion. Ich informierte den Chefredakteur, daß ich dringend einen Re-chercheauftrag mit Stempel und Unterschrift benötigte für eine interes-sante Geschichte, der ich auf der Spur sei. "Wie lange brauchst du dafür, Klaus? Ich möchte mir das Fax abrufen. Ich habe meine Gründe dafür." Mußte ja im Hotel nicht unbedingt bekannt werden, was ich vorhatte.

Gut eineinhalb Stunden später, ich hatte inzwischen im Hotel zu Mittag gegessen und mich dann auf die Suche gemacht, fand ich eine Telefon-zelle mit Faxgerät. Mit dem Fax aus der Redaktion hielt ich nun etwas Offizielles in Händen, das mir meine Aufgabe leicht machen würde, glaubte ich. Ich machte mich sofort auf den Weg zu der Behörde, welche die Akten der Stasi verwaltete. Bei der Anmeldung legte ich meinen Pres-seausweis vor und den Rechercheauftrag. Ich bekam ein Formular herü-bergereicht, das ich im Warteraum ausfüllte.

Als ich den ausgefüllten Antrag vorlegte, sagte mir der Mitarbeiter der Behörde, daß ich in etwa drei Monaten damit rechnen könne, einen Ter-min für den Lesesaal zu bekommen. Ich dachte, ich hörte nicht richtig. Empört wies ich darauf hin, daß ich die Informationen schnellstens be-nötigte, weil wir den Bericht nicht erst nach dem Jahre 2000 senden woll-ten.

Da könne er nichts machen, sagte der Mann, der die Anträge entgegen-nahm, das sei halt so und nur, wenn ich über eine Sondergenehmigung verfügte, könne ich auf einen früheren Termin hoffen, schließlich warteten ja Hunderttausende auf Einsicht in Ihre Akten und man sei ja in erster Linie für die betroffenen Bürger da und nicht für die Medien.

Verdammt, dachte ich. So schwer hatte ich es mir nicht vorgestellt. Ich verließ die Räume der Behörde und begab mich zurück zum Hotel. Unterwegs verfluchte ich die Umstände und suchte krampfhaft nach einer Lösung. Das Wort "Sondergenehmigung" spukte in meinem Kopf. Woher nur nehmen? Dann fiel mir plötzlich ein, daß ich ja möglicherweise doch noch einen Joker im Ärmel hatte. Ein Jahr zuvor hatte ein Absolvententreffen der Journalistischen Fakultät an der Leipziger Uni stattgefunden. Mein Jahrgang hatte sich getroffen und dabei hatte ich auch Hansi Hecht wiedergesehen, mit dem ich zur Zeit meines Studiums in einer Seminargruppe gewesen war und in einer Studentenbude gewohnt hatte.

Hans-Joachim Hecht, der in der Redaktion des "Neuen Deutschland" sein Volontariat gemacht hatte und nach dem Studium Redakteur bei der Armeezeitung "Nationale Volksarmee" geworden war, hatte ganz groß Karriere gemacht. Er war Sozialdemokrat geworden und leitete nun in

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Stellvertretung eine Abteilung des Presse- und Informationsamtes der Landesregierung.

In meinem Hotelzimmer angekommen, suchte ich sofort seine Telefon-nummer heraus und rief ihn an. Ich hatte großes Glück, denn er war gleich selbst am Apparat. Wir verabredeten uns für den Folgetag.

Hansi, recht dick geworden, wie ich still registrierte, schütteres dunkel-blondes Haar mit leicht angegrauten Schläfen, einen großen Kopf auf einem kurzen Hals, hineingezwängt in ein etwas zu enges Sakko, das al-lerdings stoffmäßig vom Feinsten war, saß schon an einem der Tische, als ich am nächsten Tag das Restaurant betrat, in dem wir uns verabredet hatten. Nach der freudigen Begrüßung, unterhielten wir uns zunächst über Privates. Hansi fragte mich auch, ob ich eine Unterkunft hätte und ich nannte ihm das Hotel, in dem ich abgestiegen war. "Hättest sonst bei mir wohnen können", meinte er. Er war schon immer recht unkompliziert.

"Vielen Dank, Hansi. Das ist sehr nett. - Übrigens bin ich nicht einfach auf der Durchreise in Berlin abgestiegen, sondern ich habe hier auch dienstlich zu tun. Ich recherchiere für einen Bericht."

Hansi zeigte sich interessiert. Er war ja schließlich auch vom Fach. "Worum geht's denn?"

"Ich will über die Generale der Staatssicherheit schreiben, über ihre Vergangenheit und was sie heute so tun."

"Was, über die Stasigenerale?" Hansi riß, wie mir schien, betont über-rascht die Augen auf. "Theo! Wir haben 1995! Meinst du, daß dieses Thema noch jemanden interessiert?" Er hatte zweifelnd die Augenbrauen hochgezogen, die Lippen vorgeschoben und schüttelte nun bedächtig den Kopf.

Hansi mußte ja nicht die ganze Wahrheit wissen. Die hatte er von mir schon zu DDR-Zeiten, als wir eine gemeinsame Studentenbude bewohn-ten, nicht immer erfahren. Ein guter Kumpel war er mir gegenüber stets gewesen. Das mußte man ihm lassen. Aber er war im Gegensatz zu mir als Parteilosem stets auch ein eifriger Genosse. In unserer Sektion Journalismus war er sogar Studentenvertreter in der Parteileitung. Ich erinnere mich, wie er einmal einen Kommilitonen bei der Parteileitung wegen irgendeiner Verfehlung verpfiffen hatte und dies mir gegenüber legitimieren wollte, indem er meinte: "Ich will ihm ja nichts Schlechtes, aber melden muß ich ihn, schon um ihm zu helfen." Mich daran erinnernd sagte ich: "Ach weißt du, mein Chefredakteur hat sich das vorgenommen und ich muß die Arbeit machen. Kennst das ja. Jetzt habe ich nun ein Problem

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bei der Behörde, die die Akten verwaltet. Ich soll drei Monate warten. Aber der Bericht muß in zwei Wochen bereits gesendet werden. Nur mit Sondergenehmigung geht es angeblich schneller."

Hansi sah mich nachdenklich an. Nach einer kurzen Pause meinte er dann aber: "Na gut, wenn Ihr das wirklich machen wollt." Er schien nun meine Absicht zu akzeptieren und war sogar bereit, mir zu helfen. "Da helfe ich dir. Das ist kein Problem für mich. - Interessieren dich da ganz bestimmte Generale?" Dabei betrachtete er mich, wie mir schien sehr aufmerksam.

Vorsicht, sagte mir, für mich überraschend, eine innere Stimme, Vor-sicht! In dieser Sache kann man keinem trauen! "Ach wo. Ich kenne doch keinen von denen. Ist mir eigentlich egal, wessen Unterlagen die mir zei-gen. Aber ein paar brauche ich schon. Damit ich Substanz habe, für die Sendung. Du weißt schon!"

Hansi schien zufrieden mit der Antwort. "Weißt du, komm einfach mit. Mein Amt ist nicht weit von hier. Mein Wagen steht vor der Tür. Ich lasse dir die Genehmigung ausfertigen."

Dreißig Minuten später hielt ich tatsächlich eine solche Sondergeneh-migung in Händen. Meinen Dank beantwortete Hansi: "Ja, wozu hat man denn Freunde, Theo?" Und er setzte hinzu: "Um der guten alten Zeiten willen!" Dabei lächelte er mir, die Aussage bestärkend, mit dem Kopf nickend zu.

Noch am gleichen Nachmittag legte ich in der Behörde das neue Papier auf den Tisch. "Gut", sagte der Mitarbeiter und fügte hinzu: "In zwei Wochen."

Ich glaubte wiederum nicht recht gehört zu haben. Zwei Wochen? Ich arbeitete mit allen Mitteln, ich bat, ich drohte, ich appellierte an die Ein-sicht, bis ich den Mann, der nun glaubte, in wenigen Tagen sei bereits Sendung über das Thema und wahrscheinlich einfach Mitleid für mich empfand, dann doch so weit hatte, daß er sagte: "Gut. Kommen Sie über-morgen wieder. Ab neun Uhr liegt das Material für Sie bereit. - Eins noch: Es gab ja, wie Sie sicher wissen, eine Menge Generale bei der Stasi, wür-den Ihnen die Unterlagen von etwa zehn dieser Leute reichen? - Und haben Sie spezielle Wünsche?"

"ja, zehn reichen. Wissen Sie, welche das sind, das ist mir eigentlich egal, aber ich benötige unbedingt auch Material über den General Keter, Fritz Keter." Das war aber ein großer Fehler, wie ich später noch merken sollte.

Der Mann sah mich mit einem mal mißtrauisch an. "Keter? Kenne ich nicht. Was haben Sie denn speziell mit dem vor?"

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Mir wurde schlagartig klar, daß ich die Auswahl der Generale praktisch der Behörde überlassen hatte und einzig Keter namentlich erwähnt hatte. Wie dumm von mir. Schnell erwiderte ich: "Ich habe den Namen mal gelesen. Ich glaube der war mehr so ein Techniker, kein operativer Gene-ral. Den brauche ich, damit die Sendung nicht so einseitig ausfällt, ver-stehen Sie?"

Ich hatte den Eindruck, daß der Mann damit zufrieden war. Er notierte sich den Namen Keter und ich verließ das Gebäude. An diesem Tag nahm ich mir nichts weiter vor und begab mich zurück in das Hotel. Ich schaute mir eine TV-Sendung nach der anderen an, denn ich wollte mich gedanklich einmal überhaupt nicht mit der Akte beschäftigen. Nach dem Abendessen im Hotelrestaurant legte ich mich dann auch bald schlafen.

Am nächsten Tag bummelte ich durch Berlin, denn ich hatte ja nun unfreiwillige Wartezeit. Als ich dann abends zum Hotel zurückkam und das Foyer betrat, bemerkte ich zwei Männer, die in einer Sitzgruppe gegenüber dem Empfang saßen und jeden, der das Hotel betrat, aufmerk-sam beobachteten, so auch mich.

Ein Blick zum Portier zeigte mir, daß dieser gerade den beiden Männern unauffällig, wie er sicher glaubte, zunickte. Die warteten also auf mich. Da waren sie also wieder - die Verfolger.

Ich ließ mir den Schlüssel geben, fragte, ob es für mich eine Nachricht gebe oder ob jemand nach mir gefragt habe, was bezeichnenderweise verneint wurde, und begab mich auf mein Zimmer. Sofort als ich den Raum betrat, sah ich, daß er durchwühlt worden war. Mein Koffer, das Bett, die Sachen, die im Schrank hingen, einfach alles, selbst meine Badetasche.

Sie suchten nach der Akte. Das war offensichtlich. Wie konnte ich so naiv sein, zu glauben, daß sie mir nicht mehr auf der Spur waren? Aber ich hatte ja niemanden bemerkt, als ich vom Hauptbahnhof zu diesem Hotel gelaufen war. Ich war mir da ziemlich sicher gewesen, daß mir nie-mand gefolgt sein konnte. Wie waren die dann aber auf meine Spur ge-kommen? Da wurde es mir schlagartig klar: Die Behörde! Ich hatte ja dort ausdrücklich Keters Akte verlangt! Und dieser Name mußte eine Art Sig-nalwirkung haben! Irgend jemand dort hatte die Leute informiert, die mich beobachteten. Verdammt! Was sollte ich machen? Polizei? Nein. Das brächte ja auch nur Unannehmlichkeiten und würde mir nicht helfen.

Ich suchte nach einer Wanze, die ich aber, falls überhaupt eine da war, ungeübt in solchen Dingen, nicht fand, und schaute mir dann, nachdem ich aufgeräumt hatte, als sei nichts geschehen, einen Fernsehfilm an. Später legte ich mich angezogen auf das Bett, nicht ohne vorher einen Stuhl mit der Lehne unter die Türklinke der bereits doppelt abgeschlossenen

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Tür geklemmt zu haben, denn nun befürchtete ich einen nächtlichen Überfall. Ich mußte nun mit allem rechnen. Ich hatte mir vorgenommen, nur zu ruhen, aber ich schlief ein. Aber es passierte zum Glück nichts.

Am nächsten Tag stand ich um neun Uhr in der Behörde vor dem Schreibtisch des für mein Anliegen Verantwortlichen. Bis zum Tor hatten mich in diskretem Abstand aber unübersehbar - sollte wohl eine Drohung sein - zwei Männer begleitet, die im Hotelfoyer bereits auf mich gewartet hatten.

Ich erhielt einen Platz in einem Leseraum zugewiesen und man brachte mir eine Art Teewagen voller Akten. Alles Akten von Generalen. Leider war aber ausgerechnet die von Keter nicht dabei, wie ich schnell feststell-te. Ich ging zur Aufsicht des Leseraumes und fragte nach der Akte Keter.

"Keter harn wir nich", sagte die ältere Frau im blauen Kittel und drehte sich zur anderen Seite, Geschäftigkeit vortäuschend.

"Hören Sie! Sie wollen mir doch wohl nicht etwa erzählen, Sie hätten die Unterlagen von allen Generalen, nur von einem nicht?" Das fing ja schon gut an. War diese Frau einfach zu faul nachzuschauen oder war das Absicht, mir diese Akte nicht geben zu wollen?

"Harn wir nich", antwortete die Frau wie ein Roboter und blätterte, ohne mich eines Blickes zu würdigen weiter in irgendwelchen Unterlagen. Und das sagte mir, daß sie gar nicht mit mir reden wollte. Die hatte einen Auftrag. Hielten die mich hier für dumm? Glaubten die, mich so leicht abwimmeln zu können?

"Führen Sie mich bitte zu Ihrem Vorgesetzten." "Is nich da." Sie beachtete mich immer noch nicht und beschäftigte sich

weiter mit dem Material, das sie auf einer Ablage liegen hatte. "Dann zum nächsthöheren Vorgesetzten." "Na, wenn Se det unbedingt wollen. Kommen Se." Die Frau ging ohne

sichtliche Eile, den Kopf über so viel Penetranz meinerseits schüttelnd, voran und klopfte an einer Tür im nächsten Gang. "Der Bürger hier will Se sprechen", sagte sie zu dem Mann im mittleren Alter, der hinter einem Schreibtisch saß, indem sie auf mich zeigte.

"Setzen Sie sich bitte", sagte der Mann, seinen Krawatten knoten festziehend und sich von seinem Platz erhebend zu mir und wies auf den Besucherstuhl. "Was kann ich für Sie tun?" fragte er, sich dabei setzend, in freundlichem zu jeder Gefälligkeit bereit scheinendem Ton.

"Ich habe eine Sondergenehmigung wegen eines journalistischen Pro-jektes über Generale des MfS. Die Unterlagen eines der Generale will man mir offensichtlich vorenthalten."

"Vorenthalten?" Der Mann verzog, als könne er sich das nicht vorstellen, das Gesicht. "Wo Sie doch eine Sondergenehmigung haben, wie Sie

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sagen? Das glaube ich nicht. Entschuldigen Sie bitte, falls unsere Mitar-beiterin sich etwas unfreundlich verhalten haben sollte, sie ist sicher überlastet. Der große Andrang im Haus. Sie verstehen?" Als er meinen regungslosen Gesichtsausdruck bemerkte, fragte er schnell: "Aber wes-halb sollte Ihnen gerade von einem einzigen General etwas vorenthalten werden? - Um wen handelt es sich denn bitte?"

"Keter. General Keter." "Keter? Hm." Der Mann schien zu überlegen, brach aber schnell den

offensichtlichen Versuch ab, Keter als einen der Generale zu identifizie-ren, deren Namen ihm geläufig waren. "Wissen Sie, das MfS hatte zuletzt 50 Generale gleichzeitig. Ich selbst kenne deren Namen natürlich nicht alle auswendig. - Aber ein besonders bekannter und in der Hierarchie oben angesiedelter scheint der ja nicht gewesen zu sein. - Weshalb beste-hen Sie denn eigentlich gerade auf den Unterlagen von diesem General ... wie hieß er gleich noch mal ... Peter?"

"Keter". "Gut, dann eben Keter. - Wir können Ihnen jede Menge Akten geben.

Warum aber gerade die von dem?" Er sah mich dabei, wie mir schien, lauernd an. Und ich glaubte trotz der freundlich gestellten Frage Tücke zu hören. "Haben Sie die Akte Keter nun für mich oder... oder muß ich erst von journalistischen Mitteln Gebrauch machen?"

Das saß. Der Mann, schlagartig bar jeden Lächelns, sah mich beleidigt an, griff nach dem Telefon und sagte nachdrücklich: "Die Akte Keter bitte auf den Arbeitstisch unseres Besuchers ... Wie war gleich Ihr Name? ... unseres Besuchers Herrn Kaiser." Er hatte aufgelegt und sah mich Dank heischend an.

Vielleicht war ich ungerecht. Aber ich war wütend. Ich sagte nur: "Na also, es geht doch. Warum dann das Theater?" Ohne Gruß verließ ich den Raum.

Als ich an meinen Tisch zurückkam, wurde gerade von einer anderen Mitarbeiterin der Behörde die Akte Keter gebracht. Ich machte mir Notizen daraus und zum Schein dann auch welche aus anderen Generalsakten. Da ich aber meine Zeit nicht vergeuden wollte und außerdem zu Recht annehmen konnte, daß meine wahren Absichten längst bekannt waren, konzentrierte ich mich bald wieder auf Keters Akte.

Am späten Nachmittag verließ ich mit umfangreichen Notizen die Behörde und begab mich, gefolgt von zwei neuen unerwünschten Beglei-tern, zurück in mein Hotel.

Ich hatte nicht vor, noch an diesem Tag weiter zu fahren. Ich mußte erst einmal gedanklich verarbeiten, was ich über Keter erfahren hatte. Nach-dem ich im Hotelrestaurant zu Abend gegessen hatte, rief ich deshalb von

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meinem Zimmer aus den Bahnhof an und erkundigte mich nach der gün-stigsten Zugverbindung nach Kassel für den folgenden Vormittag. Es war mir egal, ob das Telefon abgehört wurde oder nicht. Daß ich in Kassel wohnte und nach dort fahren würde, das wußten die sicher längst. Ich mußte dann nur am nächsten Tag in Kassel aufpassen, daß mir niemand folgte, wenn ich zu Meike fahren würde, bei der sich ja inzwischen die Akte befand.

Ich las meine Aufzeichnungen noch einmal durch. Da waren Beurtei-lungen und verschiedene andere Papiere und da war der Lebenslauf Keters. Ich hatte ihn mir auszugsweise abgeschrieben. Ich hatte gehofft, durch die Einsicht in Keters Akte neue Informationen über ihn zu erhalten, die mir helfen sollten, die Hintergründe besser zu verstehen. Leider war das nicht so. Der Lebenslauf war nicht überraschend. Es war der Ent-wicklungsweg eines kommunistischen Funktionärs vom alten Schlage. Auch die Informationen über seine Tätigkeit als Chef der WVA brachten leider nichts wesentlich Neues.

Bevor ich mich auf das Bett legte, klemmte ich wieder die Lehne eines Stuhles unter die Zimmertür. Ich verschloß die Fenster, und versuchte wach zu bleiben. Irgendwann in dieser Nacht schlief ich ein.

Warenthin, Frühjahr/Sommer 1955. Im Dienstzimmer des Leiters der im April 1955 gegründeten WVA Warenthin brannte auch an diesem Maiabend um 23.00 Uhr noch immer Licht. Ein kräftig gebauter Vierziger in Uniform, mit den Schulterstücken eines Generalmajors und mit militärisch kurzem Haarschnitt, saß hinter einem schweren Schreibtisch. Vor ihm lagen Listen mit Namen von Wissenschaftlern und Technikern aus zivilen Bereichen der DDR, die er für die WVA gewinnen wollte. Er hatte aber außerdem vor, nach verschollenen Waffenforschern des Dritten Reiches zu suchen. Er war sich ziemlich sicher, daß die Siegermächte nicht aller dieser für ihn möglicherweise interessanten Leute hatten habhaft werden können. Mit solchen Experten, die beträchtliches Wissen und Erfahrung mitbringen würden, wollte er die Forschungsgruppen ergänzen.

Jetzt wandte er seine Aufmerksamkeit einer völlig anderen Liste zu. Er überprüfte eine Aufstellung des wissenschaftlich-technischen Personals der ehemaligen Raketenversuchsanstalt Peenemünde aus den vierziger Jahren. Neben den verschiedenen Namen waren unterschiedliche Zei-chen zu sehen. Er schaute auf ein anderes Blatt, das er vor sich liegen hatte und setzte hinter einen weiteren Namen ein Kreuz. Der Betreffende lebte also nicht mehr. Auf dem nächsten Blatt entdeckte er einen der ihn interessierenden Namen. Er nickte befriedigt und unterstrich ihn. Rechts daneben schrieb er ein großes "S", welches für "Suchen" stand. Der so

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markierte Name lautete: Prof. Dr. Martin Ludwig Krausinger. Die Fahn-dung nach Krausinger würde er am folgenden Morgen einleiten lassen.

Keter griff nach der auf dem Aschenbecher vor sich hin glimmenden Zigarre, lehnte sich zurück, nahm einen genießerischen Zug, betrachtete die Glut und stieß dann den Rauch aus. Dabei dachte er an sein strategi-sches Entwicklungsziel für die Einrichtung, deren Leitung man ihm über-tragen hatte. Er wollte eines Tages eine Reihe hervorragender waffentechnischer Entwicklungen auf den Parteitagstisch legen "mit den besten Empfehlungen - Generalmajor Keter".

Der General riß sich von seinem Tagtraum los, in dem er sich bereits von der Staats- und Parteiführung beglückwünscht sah, und konzentrierte sich wieder ganz auf seine Arbeit. Nun galt es, die konkreten nächsten Schritte ins Auge zu fassen.

Etwa eine Stunde später drückte er, zufrieden mit sich, den Rest seiner Zigarre im Ascher aus, nahm seine Uniformmütze vom Haken, löschte das Licht und verließ den Raum.

Es war genau ein Vierteljahr später, an einem sehr heißen Julitag. Die Fenster von Keters Dienstzimmer in der WVA waren weit geöffnet. Zwei Ventilatoren sollten die Luft im Raum erträglicher machen. Aber sie schafften es kaum.

General Keter steckte sich gerade eine neue Zigarre an. An der Wand in seinem Rücken hing ein Porträt von Feliks Edmundowitsch Dzierzynski, dem Gründer der Tscheka, wie der sowjetische Geheimdienst in den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution hieß. Gegenüber dem Fenster befanden sich die Porträts des Staatspräsidenten Wilhelm Pieck, des SED-Parteichefs Walter Ulbricht und des Ministerpräsidenten Otto Grotewohl. Keter diktierte gerade seiner Sekretärin ein Schreiben. Ein Klopfen an der Tür unterbrach das Diktat. Er rief: "Herein!"

Ein Offizier betrat den Raum. "Genosse General, die von Ihnen gewünschte Akte."

"Danke, Sie können wegtreten." Der Ordner, den Keter nun in der Hand hielt, war als "Geheime Ver-

schlußsache" gekennzeichnet und enthielt den Vorgang Krausinger, der ständig vom Abwehrchef der WVA aktualisiert wurde. Er öffnete den Aktendeckel und las das oberste Blatt, welches das Datum 04. Juli 1955 trug. Er lebt! Und sogar hier bei uns in der DDR. Ich habe es gewußt! Die Amerikaner haben ihn also nicht. - Das nenne ich Glück.

Ein Lächeln veränderte seinen vorher gespannten Gesichtsausdruck. Seine Leute hatten den Gesuchten aufgespürt. Zufrieden nickte er und schlug die Asche seiner Havanna an einem schweren Messingascher ab. Dann griff er in ein Schreibtischfach, holte eine Flasche hervor und zwei

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Kognakschwenker. Er nickte seiner Sekretärin gönnerhaft zu: "Sie trinken doch auch ein Gläschen?"

Parchim, 19. August 1955. Über dem Eingangstor des "VEB Textilmode Parchim-Beilsdorf (K)" hing in ehemals weißer, jetzt verstaubter Schrift auf verwittertem rotem Grund die Losung: "Der erste Fünfjahrplan wird vor-fristig erfüllt!" Die Fabriksirene heulte. Aus dem Tor des Betriebes strömte die Belegschaft dem tristen sozialistischen Feierabend entgegen.

Am Straßenrand parkte ein schwarzer BMW, Vorkriegsmodell, an dem zwei junge Männer in Staubmänteln lehnten. Sie gaben sich betont lässig und beobachteten hinter ihren dunklen Brillen die Menschen, die den Betrieb verließen. Eine Hand wies aus dem rückwärtigen Fenster auf einen Mann, der gerade aus dem Werkstor trat und eine Stimme sagte: "Das ist er. Festnehmen. - Aber unauffällig!"

Als die Zielperson vor dem Wagen die Straße überqueren wollte, stellte sich ihr einer der Männer in den Weg, der andere postierte sich seitlich daneben. "Herr Letticher?" Der so Angesprochene schien etwas über Vier-zig, war von eher schmächtiger Gestalt, aber von tadelloser Haltung, trug eine randlose Brille, einen gepflegten Vollbart und extrem kurz geschnit-tenes borstiges Haar. Er war mit einem abgetragenen, aber sauberen dun-kelblauen Anzug bekleidet. Trotz der abgeschabten Aktentasche und trotz seines eher ärmlichen Aussehens wäre einem Menschenkenner und guten Beobachter sofort aufgefallen, daß dieser Mann bereits bessere Tage erlebt haben mußte.

Der Angesprochene stutzte: "Ja. Was wollen Sie von mir?" Der vor ihm Stehende sah ihn bedeutsam an und antwortete halblaut: "Kriminalpolizei. Wir haben ein paar Fragen an Sie. - Auf dem Revier. Steigen Sie bitte ein."

Der mit Letticher Angeredete reagierte ungehalten: "Wieso Revier? Was soll das heißen?" Er versuchte an dem Mann vorbeizukommen, aber des-sen Begleiter stellte sich ihm in den Weg und sagte mit unterdrückter, aber scharfer Stimme: "Steigen Sie sofort ein, Bürger, sonst wird das sehr schwerwiegende Folgen für Sie haben!"

Der so Angefahrene hielt weiteren Widerstand für zwecklos. Er setzte sich auf den Rücksitz zwischen zwei dieser Leute. Der Wagen fuhr los und bog um die nächste Straßenecke. Schon bald merkte er, daß die Fahrt nicht wie behauptet zum Revier führte. Er fuhr sich durch sein stoppliges Haar. Gedanken jagten ihm durch den Kopf. Er überlegte fieberhaft, was man wohl von ihm wolle und wie gefährlich diese Sache für ihn werden könnte. Ich muß jetzt stark sein, sehr stark sein, dachte er. Selbst wenn sie mich brechen werden, alles darf ich verraten, nur nicht dieses eine wirkliche Geheimnis, das ich seit zehn Jahren für mich bewahre.

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Der Wagen verließ die Stadt und fuhr in Richtung Süden. Er fuhr zügig und ohne Halt. Dennoch wurde erst nach etwa zwei Stunden das Ziel erreicht. Es lag in Berlin-Lichtenberg. Die Fahrt, während der nicht gesprochen worden war, endete vor einem Gebäude, das seinen Gefäng-nischarakter nicht zu leugnen vermochte.

Berlin-Lichtenberg, August 1955. Eine schmale Zelle. Einzelzelle. Ein für viele Insassen von Gefängnissen schwer zu ertragender Fall. Letticher aber registrierte diese Tatsache mit dem Gefühl der Erleichterung. Wenig-stens allein. Er wollte niemanden in seiner Nähe haben, denn er befürch-tete, daß das Spitzel sein würden. Er dachte daran, daß ihm vermutlich ein solcher Spitzel erst wenige Wochen zuvor im Betrieb als Mitarbeiter zugeordnet worden war. Das war ein Mann, der ihn fast pausenlos aus-fragen wollte.

Er lief, soweit der wenige Platz es zuließ, hin und her und registrierte dabei die an die Wand geklappte Pritsche, auf der er würde schlafen müssen. Auf einem dreibeinigen Holzschemel lagen zwei graue, schmut-zig aussehende Decken. Und dann war da noch ein kleiner Tisch. Und in einer Ecke stand der Kübel für die Notdurft. Es roch unangenehm in der Zelle. Hier mußte er möglicherweise für längere Zeit einsitzen?

Er strich sich nervös mit der Hand durch sein Borstenhaar. Seine Schul-tern hingen kraftlos herab. Was würden die über ihn wissen? Weshalb war er hier? Bisher hatten sie auch nicht einmal andeutungsweise zu erkennen gegeben, daß sie wüßten, wer er wirklich war. Er hatte sich auf den Schemel gesetzt, stand aber ganz kurze Zeit danach wieder auf und lief erneut ruhelos auf und ab. Zu sehr bewegte ihn die Ungewißheit darüber, wie groß die Gefahr für ihn war. Er kannte den Verhaftungsgrund nicht. Man hatte ihm keinen Haftbefehl vorgelegt. Er ahnte, bei welcher Institution er sich tatsächlich in Haft befand. Er konnte also keinen Bei-stand durch einen Anwalt erwarten. All das war unüblich, wenn man erst einmal denen von der Staatssicherheit in die Hände gefallen war.

Er suchte weiter nach denkbaren Ursachen für seine Festnahme. Er hatte sich doch ganz bewußt rausgehalten, damals am 17. Juni. Es war immer seine Devise gewesen, nicht aufzufallen. Seit 1945. Zehn Jahre lang hatte das geklappt. Was aber war jetzt? Er hatte sich doch nicht anders verhalten als all die Jahre vorher. - Oder diente diese Festnahme lediglich einer routinemäßigen Überprüfung? Hatten die sich vielleicht nach dem Volksaufstand von 1953, den sie faschistischen Putschversuch nannten, in ihrer Angst jeden Nichtkommunisten vorgenommen und nun war auch er dran? - Aber das wären ja einfach zu viele. Er war nahe daran, den Gedanken völlig zu verwerfen. Vielleicht ist es aber doch so, aber sie

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sind nach dem Zufallsprinzip vorgegangen? Und er hatte das Pech? -Sicher würden sie bald merken, daß er sich in keiner Weise beteiligt hatte. An diese Hoffnung klammerte er sich. Erleichtert beendete er sein rast-loses Hin- und Herlaufen. Dann erinnerte er sich der Zeit, als er - ebenfalls wider Willen - wochenlang in einem Lager vegetieren mußte. Er fand, daß es in dieser Zelle, trotz allem, im Vergleich zu damals wesentlich besser sei. Hatte er das "Sonderlager Nr. 7" des KGB damals Fünfundvierzig überlebt, dann würde er das jetzt erst recht überstehen.

Warenthin, August 1955. Die Luft im Arbeitszimmer von Generalmajor

Keter war wie immer vom Qualm seiner dicken Havanna geschwängert.

Der General besprach mit Major Sorge, seinem Stellvertreter für For-

schung, die Aufstellung der Forschungskollektive. Es klopfte. Ein Uniformierter trat ein und meldete: "Genosse General,

die Festnahme des Letticher ist erfolgt. Im Moment befindet er sich in der Rummelsburger."

Keter vernahm die Meldung sichtlich erfreut. "Danke, Genosse Ober-leutnant", antwortete er wohlgelaunt und ließ den Offizier wegtreten. Dann wandte er sich wieder seinem Gesprächspartner zu. "Diese Meldung kommt ja genau richtig. Was meinen Sie, wer uns da ins Netz gegangen ist? Es ist einer der ganz Wenigen, die uns Riesenschritte voranbringen können. - Die Amis haben Wernher von Braun und praktisch die meisten Peenemünder Raketenforscher. Unsere Genossen in Moskau haben bzw. hatten andere Experten auf dem Gebiet der Waffentechnik, wie Manfred von Ardenne und Klaus Fuchs, aber auch eine Reihe anderer." Keter machte eine bedeutungsvolle Pause und setzte dann fort: "Und wir haben - sie haben's ja gerade gehört... Letticher!"

Sein Gegenüber sah ihn fragend an, denn dieser Name sagte ihm nichts.

Keter beugte sich etwas vor und sprach mit gesenkter Stimme, dabei seine Rechte auf das linke Handgelenk des Majors legend: "Ich sage Ihnen, Genosse Sorge, eigentlich müßten wir den Mann gleich nach Moskau weiterreichen, aber..." Keter zog seine Hand wieder zurück. Von seiner Zigarre, die er wie immer mit der linken Hand hielt, war etwas Asche auf seinen Uniformrock gefallen. Er wischte sie mit der freien Hand weg. Es schien so, als ob er kurz nachdenke, dann setzte er fort:"... wir müssen jetzt auch einmal an uns denken. Proletarischer Internationa-lismus - schön und gut. - Aber das ist ein nationales Projekt!" Erwartungs-voll schaute er Sorge, wohl Zustimmung heischend, an.

Major Sorge wußte nicht, ob diese nicht gerade sowjetfreundliche These, provozierend gemeint war, um ihn zu testen, oder ob sie tatsäch-

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lich die gefährliche Meinung des Generals darstellte. Aber selbst wenn das ehrlich war, so konnte sich ein General vielleicht solche Gedanken leisten. Ein kleiner Major jedenfalls mußte verdammt vorsichtig sein. Er reagierte nicht sofort. Dann sagte er schließlich: "Ich habe die ganze Zeit mein Hirn gemartert und versucht, den Namen Letticher einzuordnen. Aber ich muß Ihnen ehrlich gestehen, Genösse General, ich kenne einen solchen Forscher weder als Physiker oder Ingenieurwissenschaftler, noch als sonst einen für uns interessanten Naturwissenschaftler. - Nein, also Letticher..., Letticher? Dieser Name sagt mir gar nichts. Und Sie wissen, daß ich mich da auskenne."

"Genosse Sorge, ich weiß, ich weiß." Keter legte Sorge beschwichti-gend die Hand auf den Arm. "Sie sind der Fachmann. Sie kennen natür-lich alle wichtigen Fachkollegen." Er zwinkerte Sorge verschwörerisch zu: "Letticher ist selbstverständlich nicht sein richtiger Name. Das ist nur der Name unter welchem er seit dem Krieg gelebt hat. Halten Sie sich jetzt fest! - Der richtige Name dieses Mannes lautet ... Martin Ludwig Krausinger!" Keter schaute Sorge triumphierend und beifallheischend an.

Sorge starrte seinen Vorgesetzten an und man sah, wie er im Geiste nach der Person suchte, die zu dem Namen paßte. Dann machte sich ein zweifelnder Ausdruck auf seinem Gesicht breit: "Krausinger? Meinen Sie etwa Professor Krausinger - den Bayern?"

"Ich habe doch gewußt, daß Sie ihn kennen", bestätigte Keter. "ja, es handelt sich um Professor Dr. Krausinger. Und er stammt ursprünglich aus Bayern. Stimmt auch." Keters Gesicht spiegelte seinen Stolz über den guten Fang unübersehbar wider.

"Genosse General, Sie werden es nicht glauben, aber ich kannte den Professor vor dem Krieg sogar persönlich. Ich studierte bei ihm an der Berliner Universität. Allerdings wird er sich nicht an mich erinnern. Ich war einer von hunderten Studenten, die seine interessanten Vorlesungen besuchten. Er ist - zumindest aber war - in der Tat eine echte Koryphäe auf seinem Gebiet. Sie können zu recht stolz sein, daß Sie ihn gefunden haben."

"Ich sagte es Ihnen doch", erwiderte Keter und zog zufrieden an seiner Zigarre.

Berlin-Lichtenberg, September 1955. Keter stand vor einer großen Glasscheibe. Als der von ihm beobachtete Letticher alias Krausinger, der im Nebenraum zum wiederholten Male verhört wurde, für einen Moment in Richtung des großen Spiegels blickte, als welchen er diese Glasscheibe von seiner Seite aus wahrnahm, zuckte Keter zurück und sah den Haupt-mann fragend an, der neben ihm stand.

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"Keine Sorge, Genosse General. Der Untersuchungshäftling kann uns durch dieses Glas nicht sehen, selbst wenn er genau in diese Richtung schaut. Und er kann uns auch nicht hören."

Keter nickte zufrieden. "Und wie kommen Sie voran?" "Wir haben ihn jetzt bereits seit drei Wochen in der Mangel. Er scheint

verunsichert. Ich bin sicher, daß er etwas verheimlicht. Irgend etwas. Das sagt mir meine Erfahrung als Verhörleiter. Aber er ist eine harte Nuß. Und verschärfte Bedingungen sollen wir ja nicht schaffen. Einfaches Verhör, so war die Anweisung." Der Hauptmann sah Keter fragend an: "Oder sollen wir jetzt einen Zahn zulegen?"

"Nein, nein, das hat alles seine Richtigkeit. Ihr solltet ihn ja nur ein bißchen weichkochen. Wir beschäftigen uns weiter mit ihm. Er wird mor-gen abgeholt. - Ich bekomme zwar die Protokolle der Verhöre, aber sagen Sie mir, hat er irgend etwas Substantielles geäußert? Schuldbekenntnisse? Hat er sich in Widersprüche verstrickt?"

"Widersprüche nicht. Er antwortet sehr überlegt. Entweder sagt er die Wahrheit oder, was ich eher glaube, er hat ein perfektes Lügengebäude errichtet. Er gibt zu, daß er 1947 zwei Anzüge - aus gutem Offizierstuch und als Reparationsleistungen gedacht für die Genossen in Moskau - in seinem Betrieb gestohlen und in Berlin auf dem Schwarzmarkt verscho-ben hat. Kleinbürgerliche kriminelle Gewinnsucht habe ich ihm vorge-worfen. Er bekennt sich zwar schuldig, verteidigt die Tat aber als aus der Not geboren. Als Kriegsfolge unterernährt, habe er dringend Fleisch und Butter benötigt." Der Hauptmann blickte Keter Zustimmung heischend an und setzte empört hinzu: "Dann hätten wir ja alle klauen müssen!" Als Keter nicht reagierte, fragte ihn der Offizier: "Wenn Sie ihn morgen abho-len lassen, dann können wir wohl das Verhör beenden?"

"Ja, machen Sie Schluß. Wenn er in den letzten drei Wochen nicht wesentlich mehr erzählt hat, als das, was Sie mir gerade sagten, dann wird er auch in den nächsten Stunden kaum neue Aussagen machen. Außerdem wollen meine Leute ja auch noch etwas tun."

Keter sah den Hauptmann bedeutsam an und sagte mit Nachdruck: "Also weiterhin verschärfte Beobachtung in der Zelle, rund um die Uhr. Ich will nicht, daß der Mann in einer Kurzschlußreaktion noch die Schnürsenkel nimmt." Er lachte kurz und trocken auf. "Die hat er zwar nicht mehr. Aber Sie wissen ja, was ich meine! Der Mann ist mir zu wich-tig. Wir brauchen ihn lebend und unversehrt!"

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Letticher hörte die Tür seiner Zelle quietschen. Er richtete sich auf der Pritsche auf. Wie spät würde es wohl sein? Seine Uhr hatte man ihm abgenommen. In der Zelle war es vom ersten Tag seines Aufenthaltes volle vierundzwanzig Stunden ununterbrochen hell gewesen. An der Deckenbeleuchtung konnte er sich also auch nicht orientieren.

"Machen Sie sich fertig Untersuchungshäftling Letticher!" Sicher geht es wieder zum Verhör, dachte der Häftling. Bisher hatte ihm

niemand Schmerzen zugefügt. Die redeten zwar mit scharfen Zungen, wurden auch beleidigend, aber seltsamerweise wurde er geschont. Wes-halb? Das mit den Anzügen schien sie ja nicht befriedigt zu haben. Den-noch hatten sie Geduld. Wenn dagegen aus den Nachbarzellen welche vom Verhör zurückgebracht wurden, dann hörte man oft Stöhnen.

Er hatte sich eiligst frisch gemacht und angekleidet, da betrat der Wär-ter erneut die Zelle, um ihn zu holen. Er wurde den langen Gang mit den schweren, mehrfach verriegelten Zellentüren entlanggeführt. Er registrier-te aber, daß es diesmal nach links ging. Also nicht zum Verhör? - Würde er etwa entlassen? Hoffnung wurde aber gleich von Skepsis verdrängt. -Nein. Die hatten doch immer wieder mit Bautzen und Waldheim gedroht! Sicher ging es jetzt in eines dieser berüchtigten Stasigefängnisse. Als er dann aber die Effektenkammer betrat, keimte erneut Hoffnung auf und wurde stärker und stärker.

"Hier sind Ihre persönlichen Sachen. Überprüfen Sie!" Er nickte, die Vollständigkeit bestätigend und unterschrieb eine Quit-

tung. "Bin ich frei?" Ein höhnisches Grinsen überzog das Gesicht des Wärters. "Das könnte

Ihnen so passen. Sie Volksfeind Sie! Man erwartet Sie bereits!" Also doch Bautzen. Letticher wurde aschgrau im Gesicht, hielt sich aber

aufrecht. Er hörte, wie der Wärter sagte: "Genosse Major, ich übergebe Ihnen den Untersuchungshäftling."

"In Ordnung, Genosse." Letticher wurde prüfend betrachtet: "Geht es Ihnen nicht gut, Herr Letticher?"

"Es geht schon." Nur keine Schwäche zeigen! "Folgen Sie mir bitte" forderte ihn der ihm unbekannte Offizier auf.

Mährenholz bei Berlin, Herbst 1955. Letticher sah sich um: Ein helles, freundliches Zimmer war es, in welches man ihn nach einer diesmal nicht so langen Autofahrt gebracht hatte. Es war ansprechend ausgestattet: Ein Bett, ein Tisch mit zwei Stühlen und sogar ein bequemer Sessel. Was für ein Unterschied zur Zelle. Und auch sehr viel besser, als er es bei sich zu Hause hatte - wenn da nicht die Gitter vor den Fenstern wären. Das Zimmer befand sich in einer weißen Villa aus den zwanziger Jahren,

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die am Rande eines kleinen Ortes nördlich von Berlin lag. Sie stand in einem parkähnlichen Grundstück an einem See.

Während der ganzen Fahrt war kein Wort gesprochen worden. Ihn hat-ten Gedanken gequält. Einen Anzugdieb begleitet doch kein Stabsoffizier. Wenn ich nur wüßte, was sie mit mir vorhaben und was sie von mir wis-sen, hatte er gedacht. Jetzt aber begann er wieder ruhiger zu werden und die Situation gelassener zu betrachten. Selbst wenn die irgend etwas wis-sen, sie können niemals die ganze Wahrheit kennen. Niemals. Das ist absolut unmöglich. Und sie werden sie auch niemals erfahren!

Er begab sich zu dem Spiegel, der sich über dem Waschbecken befand, um sich zu betrachten. Er strich sich sein borstiges Haar zurecht und glät-tete seinen Bart. Dabei fiel ihm auf, daß der Spiegel fest in die Wand ein-gelassen war. Er würde also nie allein sein. Einen Intimbereich gab es auch hier nicht.

Es klopfte. "Ihr Mittagessen." Ein junger Mann, Mitte der Zwanzig, in Zivil setzte ein Tablett auf dem Tisch ab.

Er staunte. Eine verführerisch duftende Rinderroulade, Rotkohl und Salzkartoffeln, Schokoladenpudding mit Vanillesauce und ein Glas Rot-wein. Das in einem Raum mit vergitterten Fenstern? Das für einen Unter-suchungshäftling? - Wollten die ihn kaufen? Die erwarteten jedenfalls mehr von ihm, als ein paar Anzugdiebgeständnisse. Das war klar.

Er war gerade mit dem Essen fertig und hatte sich bequem in dem Ses-sel zurückgelehnt, da öffnete sich erneut die Tür. Er wurde in einen Raum am Ende eines Ganges gebracht. Hinter einem in der Mitte des ansonsten leeren Raumes stehenden Tisch saß ein älterer Mann in Uniform.

"Setzen Sie sich bitte, Herr Letticher. Ich bin Oberstleutnant Pauser, Sonderverhörer des Staatssekretariats für Sicherheit. - Damit Sie wissen, wer Ihre Gastgeber sind und mit wem Sie es zu tun haben."

Letticher setzte sich und sah den neuen Verhörer gespannt an. Der ergänzte seine Vorstellung: "Ich bin zuständig für Nazistraftäter."

Letticher zuckte zusammen, hatte sich aber in der Gewalt. Jetzt war es raus. Aus dieser Ecke wehte der Wind. Verdammt, das könnte ins Auge gehen. - Aber erst einmal abwarten.

"Herr Letticher, Sie waren Mitglied der Nazipartei und SS-Führer. Nen-nen Sie mir Ihren dienstlichen Werdegang. Und zwar so detailliert wie möglich!"

"Wie kommen Sie denn auf diese absurde Idee? Ich ein alter Nazi?" Let-ticher, der sich schnell gefaßt hatte, spielte den zu Unrecht Verdächtigten: "Ich war niemals in meinem Leben bei der SS! Gott bewahre! Mit denen hatte ich nichts zu tun! Wie kommen Sie nur auf so etwas?" Er wies auf seine linke Hüfte, wo er bei Kriegsende eine Verletzung erlitten hatte

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und setzte fort: "Und außerdem. Ich war mein Leben lang invalid. Deshalb war ich auch nicht Frontsoldat, sondern nur Volkssturmmann, damals Fünfundvierzig."

Der Verhörer verzog keine Miene: "Also Herr Letticher, ich denke, Sie haben da nur einiges Wichtiges aus Ihrem früheren Leben verdrängt. Ginge mir ja vielleicht ebenso, wenn ich in Ihrer Lage wäre." Die letzten Worte waren in einem beinahe mitfühlenden Ton gesprochen worden.

Letticher hielt dem lauernden Blick seines Gegenüber wortlos stand. Der entnahm nun einem Umschlag ein Foto. "Sehen Sie mal, Herr Letticher. Was halten Sie denn von diesem Foto?" Er legte ein etwa 7x10 cm großes, vergilbtes Schwarzweißfoto mit geriffelten Rändern vor ihn auf den Tisch.

Letticher machte unversehens den Hals etwas lang, hob das Bild aber nicht auf. Was er da sah reichte ihm schon. Auf dem Foto war eine Grup-pe von Männern zu sehen. Einen der Uniformierten erkannte er sofort wieder. Das war ein Mann in SS-Uniform mit den Rangabzeichen eines Hauptsturmführers. Er war unangenehm überrascht: Verdammt! Da gab es also doch noch ein Foto von ihm aus dieser Zeit in Uniform. Woher haben die das nur? Er hatte sich doch so gut wie nie fotografieren lassen, jedenfalls nicht in Uniform. Er hatte nie eine eigene Familie, für die sich Fotos aufzuheben gelohnt hätte. - Ja und dann, 1943, da kam die An-weisung vom Reichssicherheitshauptamt an die gesamte "Dienststelle Forst", daß sich keiner ablichten lassen dürfe. Aus Sicherheitsgründen. Die hatten wohl irgendwie erfahren, daß die Amerikaner dabei waren, Informationen über deutsche Spitzenwissenschaftler, insbesondere über solche, die für Waffenforschung das notwendige Wissen besaßen, zu sammeln. Und sie machten sich einen Reim darauf, daß diese Forscher von amerikanischen Spezialeinheiten entweder aus Deutschland entführt oder im Reich getötet werden sollten. Zu den potentiellen Zielpersonen solcher Aktionen wurden zu recht die Angehörigen der "Dienststelle Forst" gezählt. - Aber irgendwo mußte er doch einmal fotografiert worden sein.

Dann kam ihm schlagartig etwas Schreckliches zu Bewußtsein: Ob die ihn etwa mit den Konzentrationslagern in Verbindung bringen wollen? Na dann gute Nacht! Vielleicht war es doch besser, gleich klarzustellen, daß er kein SS-Mann im üblichen Sinne war, keiner von den KZ-Wach-mannschaften und auch nicht von der Waffen-SS. Schnell sagte er: "Ja. -Auf dem Foto, das ... das bin ich." Das letzte hatte er mit Mühe herausge-bracht, denn der Mund war ihm vor Aufregung trocken geworden.

Zufrieden sah ihn der Verhörer an: "Ich habe ja gewußt, daß Sie das nur vergessen hatten. Sie haben sich erinnert und wir können uns nun über Einzelheiten unterhalten." Dann folgten wie aus der Pistole geschossen

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Fragen auf Fragen, so daß Letticher ihnen kaum folgen konnte. "Wie war Ihre NSDAP-Mitgliedsnummer, Herr Letticher? Wo waren Sie eingesetzt? Gehörten Sie zu Sonderkommandos, SS-Einsatzgruppen? Waren Sie an der Ostfront?" Der Verhörer wartete keine Antwort ab.

Die glaubten wirklich, daß er Letticher hieß. Die wußten also nicht, wer er wirklich war, schoß es dem so mit Fragen Überhäuften durch den Kopf. Das könnte gut sein für ihn, es würde jedenfalls die richtige Fährte verwischen. Doch er mußte bereits wenig später feststellen, daß dies gar nicht so gut für ihn war.

Der Verhörer sagte nämlich nun in völlig verändertem, scharfem Ton: "Herr Letticher, Sie werden seit 1945 vom Internationalen Kriegs-verbrechertribunal gesucht. Sie waren als Höherer Polizei- und SS-Führer Chef einer Sondereinheit zur Partisanenbekämpfung im Bereich Torno-polsk und sind für die Erschießung von achtundvierzig sowjetischen Zivi-listen verantwortlich."

Letticher war wie vor den Kopf geschlagen: Da gab es also fatalerweise einen SS-Führer, der Letticher hieß, anstelle dessen er nun über die Klin-ge springen sollte! Partisanen erschossen? Um Gottes Willen! Das bedeu-tet doch Auslieferung an die Russen und Todesstrafe. - Nein. Das durfte nicht sein! Er hatte einen Termin. Er mußte leben! Also schnell antworten, richtigstellen, aber trotzdem nichts Wesentliches verraten! "Sie irren in Ihren Annahmen. Das muß eine Verwechslung sein! Ja, ich heiße Letti-cher. Ja, ich war Hauptsturmführer. Nein, ich war niemals an der Ostfront. Ich habe niemals eine Waffe richtig gebrauchen gelernt. Ich mußte zwar eine tragen, das gehörte dazu. Aber ich habe niemals einen Menschen mit meiner Dienstwaffe erschossen. Geschweige denn, wie sagten Sie ... achtundvierzig Zivilisten? Und das auch noch an der Ostfront, wo ich nie war! Ich kann Ihnen sagen, was ich war: Ich war Sachbearbeiter im Rüstungsamt beim Führungshauptamt der SS."

Sein Gegenüber hatte ihn die ganze Zeit reden lassen, ohne ihn auch nur ein einziges mal zu unterbrechen. Auch sein Gesichtsausdruck war völlig unbewegt. Letticher vermutete, daß der Verhörer darauf hoffte, daß er sich im Eifer des Gefechts versprach und das dann alles auf einem ver-steckten Tonaufzeichnungsgerät dokumentiert werden konnte. Jetzt aber reagierte sein Gegenüber wieder: "Ach, das ist ja interessant."

"Also, es muß da eine Verwechslung vorliegen", sagte Letticher hastig. "Es gab wahrscheinlich einen Hauptsturmführer gleichen Namens. Es ist ein Irrtum, wenn Sie mich für diesen Mann halten. Es muß doch Fotos von dem geben. Prüfen Sie das doch bitte!"

Er hatte die letzten Worte gerade ausgesprochen, da öffnete sich die Tür. Ein kräftig gebauter Mann in Generalsuniform, von gut 1,80 m

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Größe, in dessen breitem Gesicht eine große fleischige Nase auffiel, etwa Mitte Vierzig, betrat den Raum. Es war General Keter.

Der Verhörer erhob sich: "Genosse General, der Häftling ist geständig." Der General dankte. An den Gefangenen gewandt sagte er in ruhigem

Ton: "Folgen Sie mir bitte." In einem hellen Raum bot der General Letticher einen von zwei Sesseln

an, die an einem kleinen Tisch standen: "Setzen Sie sich doch bitte - Herr Professor Krausinger - Herr Standartenführer Professor Dr. Krausinger! ... Im Sitzen redet es sich besser."

Im Begriff sich zu setzen, zuckte der so Angeredete im gleichen Moment zusammen: Sie wissen es!

Keter registrierte dieses Zucken mit Genugtuung. Er setzte sich in den anderen Sessel, Letticher, der in Wahrheit Krausinger hieß, gegenüber.

Dieser, Letticher-Krausinger, verarbeitete blitzschnell die Informationen zu der neuen Situation. Die hatten also offensichtlich von Anfang an gewußt, wer er war. Deshalb diese besondere Behandlung, die man einem Anzugdieb nicht angedeihen läßt. Und sie hatten ihn mit den Ver-hören und den Vorwürfen, für Erschießungen verantwortlich zu sein, gefügig machen wollen. - Ja, aber wofür gefügig?

General Keter entnahm einem Etui, das er aus der Innentasche seines Uniformrockes hervorholte, eine dicke Havanna-Zigarre, rollte sie prüfend zwischen Daumen, Zeige- und Mittelfinger, schnitt sich das Mundstück zurecht, zündete sie an und machte genießerisch einen ersten Zug. Dann hielt er Krausinger, der das Ritual verfolgt hatte und darauf wartete, was nun weiter passieren würde, das Zigarrenetui hin: "Bitte bedienen Sie sich."

"Danke. Ich rauche nicht." Keter schlug sich mit der freien Linken vor die Stirn. "Ach ja, wie konnte

ich das nur vergessen. Man nannte Sie ja den 'Spartaner1. Sie kannten ja keine weltlichen Genüsse - nur die Forschung."

General Keter hatte seine Hausaufgaben in Vorbereitung auf dieses Gespräch und für die ganze "Operation Krausinger" gemacht. Gut gemacht. Das heißt, nicht er. Andere hatten für ihn die Informationen zusammengetragen. Ermittler des Staatssekretariates hatten in München und in Berlin, an den Stätten, an denen Krausinger überwiegend gelebt und gearbeitet hatte, recherchiert sowie Informationen aus Archiven geschöpft. Auf diese Weise war wie ein Puzzle ein Gesamtbild der Per-sönlichkeit von Martin Ludwig Krausinger in ihrer Entwicklung über die Jahrzehnte zusammengesetzt worden.

Allerdings wies es noch gewisse Lücken auf. Und das ärgerte Keter. In diesem speziellen Fall war es von besonderer Wichtigkeit, den Pro-

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banden ganz genau zu kennen. Hier reichten Personaldaten und Lebens-lauf und die grobe Kenntnis über Gewohnheiten und psychische Charak-teristika nicht aus. Hier mußte man möglichst jede Einzelheit kennen.

Das Gesamtbild, das Keter von Krausinger hatte, zeigte diesen als einen Mann, der nur eines kannte - seine Forschungsarbeit. Vergnügen, Gaumenfreuden, Geld und Frauen, das waren Dinge, die ihn praktisch kaum berührten. Dieser Mann war übertrieben ehrgeizig. Schon während des Studiums galt er unter seinen Kommilitonen als ein Genie. Richtige Freunde hatte er offensichtlich nie. Eine Freundin wahrscheinlich auch nicht. Sicher war, daß er nie geheiratet hatte.

All diese Informationen prägten das Bild eines lebensabgewandten Wissenschaftlers. Und es formte Keters Strategie ihm gegenüber. Er brauchte ihn und er wußte, er konnte ihn nur mit zwei Dingen dazu brin-gen, für ihn zu arbeiten: mit Forschungsmöglichkeiten und mit Schutz vor Bestrafung für seine Vergangenheit.

"Ich will Ihnen einmal sagen, was wir alles über Sie, Herr Martin Ludwig Krausinger, in Erfahrung gebracht haben. - Sie sind Jahrgang 1903." Keter betrachtete Krausinger prüfend: "Sie haben sich übrigens er-staunlich gut gehalten. Das muß Ihnen der Neid lassen. Ich selbst bin zwar zehn Jahre jünger als Sie, aber ich glaube, ein Dritter würde glatt mich für den Älteren von uns beiden halten."

"Vielen Dank", sagte Krausinger, still in sich hineinschmunzelnd, denn nur er kannte den Grund dafür.

Der General fuhr fort: "Sie wurden in Rosenheim geboren und wuchsen in München auf. Studiert haben Sie an den Technischen Hochschulen in München und Berlin-Charlottenburg. Ihr Studiengebiet war die Physik. Ihr besonderes Interesse galt der Mathematischen Physik und der Astro-physik. Sie waren Schüler der damals berühmtesten Professoren. Ihr Stu-dium schlossen Sie 1927 vorzeitig ab. Sie hatten eine exzellente Diplom-schrift zum Thema "Neutronenfluß in der Nebelkammer unter Beachtung thermionischer Effekte" abgeliefert. Bereits ein Jahr später promovierten Sie zum Thema "Mechanik, Aerodynamik, Atom".

Krausinger genoß es, nach Jahren des Abtauchens in der forschungs-fremden Umgebung eines Textillagers, die Lorbeeren, die er am Anfang seiner Forscherlaufbahn errungen hatte, erwähnt zu hören.

Keter zog ein Fazit: "Ja, man kann wirklich sagen, auf dem Feld der Wissenschaft war das eine hervorragende und problemlose Karriere, eine positive Entwicklung ..."

Krausinger erfaßte sofort die relativierende Formulierung. Worauf wollte der General wohl hinaus? Sollte es um seine politische Vergangenheit gehen? Aber es kam noch schlimmer als er erwartet hatte.

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Keter legte eine Pause ein, um Krausingers volle Aufmerksamkeit für seine folgenden Worte zu erhalten. "Menschlich dagegen... ", hub er, die Worte besonders nachdrücklich aussprechend, an und wiederholte "... menschlich dagegen haben Sie eine völlig gegensätzliche Entwicklung genommen. - Als Sie nach einem einjährigen Intermezzo an der Techni-schen Hochschule Berlin-Charlottenburg zurück nach München kamen ..."

Krausinger, bemüht, keine Erregung zu zeigen, starrte Keter in Erwar-tung von Folgenschwerem gespannt an. Keter erhob seine Stimme, um noch nachdrücklicher als schon zuvor fortzusetzen "... wurden Sie zum Mörder!"

Krausinger durchfuhr es eiskalt: Das wissen sie also auch! Das war doch so lange her: 1927! Er erinnerte sich sofort an die Situation, die er ein Leben lang verdrängt hatte. Er hatte an einer politischen Veranstaltung teilgenommen. Vor dem Versammlungslokal warteten Rote, kommunisti-sche Rot-Front-Kämpfer und sozialdemokratische Reichsbannerleute. Als er mit seinen Parteifreunden das Lokal verließ, kam es zu Schlägereien. Es war schon dunkel. Er hörte die Schreie der sich Prügelnden und die Pfiffe herannahender Polizisten. Sie schlugen auf ihn ein. Er blutete im Gesicht. Und er hatte Angst um sein Leben. Ein SA-Mann drückte ihm eine Pistole in die Hand und lief davon. Als sie weiter auf ihn einschlugen, da sie die Waffe sahen, schoß er in seiner Panik. Dann war er davon-gerannt. Am nächsten Tag stand die Polizei vor seiner Tür. Sie nahmen ihn mit. Er wurde allerdings noch am gleichen Tag wieder freigelassen. Es gab Zeugen aus den eigenen Reihen, die beeideten, daß er zur Tatzeit an anderer Stelle gewesen sei. Eine Gegenüberstellung ergab zum Glück, daß ihn kein Zeuge der Roten mit letzter Sicherheit wiedererkannte. Die Waffe hatte er unterwegs weggeworfen. Sie war nicht gefunden worden. Ein der NSDAP nahestehender Anwalt erreichte, daß das Verfahren nie-dergeschlagen wurde, mangels Beweises.

Keter riß Krausinger aus seinen Gedanken: "Sie waren alter Kämpfer, haben an Ihrer Uniform den Winkel getragen. Das heißt, Sie waren vor der Machtergreifung bereits NSDAP-Mitglied. Wir wissen sogar auf den Tag genau, wann Sie eingetreten sind. Eine ziemlich niedrige Mitglieds-nummer, wie ich hier sehe."

Keter blätterte in der Akte, die er vor sich liegen hatte. "1929 wurden Sie Dozent an der TH Charlottenburg. 1934 erhielten Sie eine Professur. Und dann, 1939 ...", Keter sah Krausinger mit dem Blick eines Allwissenden an, dem keiner etwas vormachen kann und setzte fort"... wurden Sie Abteilungsleiter im Rüstungsamt der SS. - Von wegen Sachbearbeiter!"

Krausingers ausdrucksloses Gesicht zeigte, daß er sich nun voll unter Kontrolle hatte. Während sich bei der Erwähnung dieser Geschichte von

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1927 ein ganz unangenehmes Gefühl in ihm auszubreiten begann, der nun wahrscheinlich zu erwartenden späten Folgen wegen, war das nun ganz anders. Eine Entwarnung für seine Gefühlslage hatte es mit den letz-ten Sätzen Keters gegeben, als dieser, ohne sich weiter bei dem, was er als Mord bezeichnet hatte, aufzuhalten, die Aufzählung von Details aus seinem Lebenslauf fortgesetzt hatte. Das war denen also doch nicht so wichtig, beruhigte er sich selbst. Jedenfalls schienen sie ihn nicht deswe-gen festgenommen zu haben.

"Uns ist auch bekannt, daß Sie 1941 nach Peenemünde gingen, um in der dortigen Raketenversuchsanstalt des Heeres tätig zu werden. Sie haben unter General Dornberger gearbeitet und waren an verschiedenen Teilprojekten maßgeblich beteiligt. Natürlich kannten Sie alle ihre Kollegen persönlich: Oberth, von Braun, Roth, Nebel, Gröttup, Riedel, Kunze und andere. Aber es scheint keine engere Beziehung entstanden zu sein. - Wir sind ziemlich sicher, daß keiner dort wußte, daß Sie SS-Führer waren, da Sie ja in Peenemünde als ziviler Mitarbeiter arbeiteten. Uns ist auch bekannt, weshalb Sie dort waren. Ihr Reichsführer SS war 1943 zweimal in Peenemünde, mit der Absicht, es unter seine Kontrolle zu bekommen. Wir glauben, daß Sie so etwas wie einen geheimen Brückenkopf der SS in Peenemünde dargestellt haben. Es gelang Himmler allerdings nicht, die Raketenversuchsanstalt zu übernehmen. Die Wehrmachtsführung wehrte seine Versuche entschieden ab. Deshalb war Peenemünde wahrscheinlich nicht mehr von Interesse. Sie verschwanden jedenfalls von dort. Praktisch spurlos. Wir wissen leider bis heute nicht, wohin Sie gegangen sind. - Was haben Sie nach Ihrer Zeit in Peenemünde gemacht? Wo haben Sie sich aufgehalten?"

Krausinger machte keinerlei Anstalten, auf Keters Fragen zu antworten. Sie wußten also doch nicht alles. Es schien so, daß sie seine Spuren nur bis 1943 hatten verfolgen können. Das ist gut so ... gut so, dachte er.

"Sie waren Standartenführer der SS, Oberst also. Das ergaben Recher-chen im 'Berlin Document Center'. - Hat viel Arbeit gekostet, kann ich Ihnen versichern. Aber irgendwann fanden unsere Rechercheure Ihren Namen. Und daß da Standartenführer stand, das war für uns ebenfalls sehr interessant, denn Sie waren ja im Rüstungsamt nur Sturmbannführer gewesen. - So kamen wir darauf."

Wie meinte der General das? Worauf kamen sie ...? Sollten die etwa doch etwas wissen? Krausinger wurde wieder unsicher.

General Keter setzte mit zynischem Unterton fort: "Sie wären mit Sicherheit nicht zu Ihrem hohen Rang gekommen, wenn Sie nicht etwas, ... etwas ganz Besonderes geleistet hätten, für 'Führer, Volk und Vater-land', Professor Krausinger!"

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Keter hatte eine Pause gemacht, weil er hoffte, daß dies Krausinger ver-anlassen würde, auf seine letzte Feststellung hin Position zu beziehen. Als der aber auch diesmal schwieg, setzte er fort: "Wir haben auch Quellen aus der Umgebung Himmlers ausgewertet. Von daher wissen wir, daß er seine Absicht, mit SS-Wunderwaffen seine Konkurrenten aus Hitlers Gunst zu verdrängen auch dann weiter verfolgte, als es ihm nicht gelun-gen war, Peenemünde unter seine Verfügungsgewalt zu bekommen. - Wir können uns also gut vorstellen, daß Ihr Verschwinden damit zusammen-hing. Sie waren vermutlich auch wirklich nie an der Front. - Wo waren Sie, nachdem Sie Peenemünde verlassen hatten?"

Krausinger sah den General noch immer wortlos an, bemüht seinem Blick stand zu halten.

Keter reagierte darauf in scharfem Ton: "Wissen Sie, ich werde Ihnen einfach noch eine Reihe Informationen nennen, die wir bereits über Sie haben. Das wird Ihnen zeigen, daß wir ganz nahe dran sind und daß es keinen Sinn hat zu mauern. Ich setzte einfach auf Ihre überragende Intel-ligenz." Keter schaute in den Ordner und hob dann wieder den Kopf: "Unsere Recherchen haben auch ergeben, daß Sie auf einer ganz beson-deren Soldliste standen. Als Dienststelle war dort lediglich angegeben 'SE RF 222F'. Wie unsere Spezialisten feststellten, bedeutet dies 'Sonderetat des Reichsführers SS'."

Keters Stimme wurde noch lauter und schärfer: "Das gab uns natürlich zu denken, Professor Krausinger. Da ging doch bei uns ein rotes Licht an! Sie waren also an eine ganz besondere Aufgabe angesetzt worden. Anders ergebe das alles keinen Sinn. Wissen Sie: Uns sind die Strukturen der SS bekannt. Ebenso die Sondergruppen, die es gab. Und auch über die Finanzierung wissen wir Bescheid. Ein Sonderetat mit der erwähnten Bezeichnung war aber bislang weder uns, noch den Faschismus-historikern der DDR oder etwa den sowjetischen Genossen bekannt." Zuletzt war Keters Stimme ziemlich leise geworden, fast so als seien ihm die schlechten Rechercheergebnisse sehr unangenehm.

Ach da sind ja Euere Lücken. Krausinger war erleichtert und kostete die Gewißheit des Informationsvorsprunges zufrieden lächelnd aus.

Keter hatte den Gesichtsausdruck Krausingers nicht wahrgenommen. Er war mit seiner Zigarre beschäftigt, die ihm ausgegangen zu sein schien. Er machte einen Zug und betrachtete die wiedererstehende Glut an der Spitze befriedigt. Dann fuhr er fort: "Ich erwarte von Ihnen, daß Sie uns helfen, unser diesbezügliches Informationsdefizit zu beseitigen."

Krausinger reagierte immer noch nicht. Nun schien Keter endgültig der Geduldsfaden gerissen zu sein. Er

wechselte die Taktik. Seine Stimme wurde wieder scharf: "Wissen Sie,

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wenn Sie sich so absolut unkooperativ verhalten, dann können wir auch anders. Ich möchte Sie lediglich fairerweise vorher informieren. Wir kön-nen Sie dreifach festnageln: Erstens wegen des Mordes 1927. Das war ein Junge von uns, den Sie damals erschossen haben. Damals in München. Ein Rot-Front-Kämpfer! Dafür können Sie schon mit der Todesstrafe rechnen. Und machen Sie sich keine Illusionen, von wegen Verjährung und so." Keter hatte mit den letzten Worten die Stimme gesenkt und machte nun eine bedeutungsvolle Pause. Dann ließ er seine Stimme wieder scharf werden: "Zweitens können wir Sie festnageln wegen Ihrer Zugehörigkeit zur SS und wegen des hohen Ranges, den Sie bekleideten. Das bringt auch ordentlich was. Sibirien für den Rest Ihrer Tage! Die Bleigruben von Magadan würden Ihnen gewiß nicht behagen! Und wer weiß, was noch alles ans Licht kommt, wenn wir die Untersuchung fortsetzen. Vielleicht haben Sie sich ja doch 1943 zu Partisanenjagdverbän-den gemeldet, als Sie Peenemünde verließen - so wie dieser Letticher!"

Keter legte wiederum eine Pause ein, um die Wirkung seiner Worte zu beobachten, und setzte leiser, aber mit deutlich drohendem Unterton fort: "Wissen Sie, wir könnten das so sehen, ob es da Beweise gibt oder nicht! Das wäre die zweite Todesstrafe." Wieder ließ er seine Aussage wirken und beobachtete, wie sich Krausingers Gesicht verfärbte, während er bemüht war, Haltung zu bewahren.

Völlig in dem Gefühl, erfolgreich starke Trümpfe auszuspielen, legte Keter einen weiteren hinzu: "Drittens schließlich gehörten Sie zur Rüstungsforschungselite des Dritten Reiches. Sie wurden 1945 und später von den Amis und von unseren sowjetischen Freunden gesucht. Und gerade die Tatsache, daß Sie sich der sowjetischen Seite vorenthalten haben, quasi mögliche Wiedergutmachungsleistungen als Forscher in der UdSSR sabotiert haben, das werden Ihnen die Genossen dort sehr übel-nehmen! Glauben Sie mir. Ich kenne die sehr genau. Und was meinen Sie denn, wie viele Forscherkollegen von Ihnen nach 1945 drüben waren oder noch sind, in der UdSSR? Sie dagegen haben sich verweigert. Ja, Sie sind untergetaucht! In einer Zeit, wo der Rüstungswettlauf vor sich geht, wo es von existentieller Bedeutung für das sozialistische Lager ist, ihn zu gewinnen oder wenigstens ein Patt zu garantieren, wird jeder Forscher Ihres Formats gebraucht. Sie aber haben sich Ihrer Verantwortung und Pflicht zur Wiedergutmachung für Ihre Schuld entzogen! Darauf steht die Todesstrafe! Auch jetzt, wo Generalissimus Stalin nicht mehr lebt. - Das können Sie mir getrost glauben!"

Krausinger war zum zweitenmal an diesem Tag blaß geworden. Die Androhung gleich dreier Todesstrafen hatte ihn beeindruckt. Er bekam Magenschmerzen und der Kragen wurde ihm eng.

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Keter hatte die Wirkung seiner Worte aufmerksam beobachtet. Er war jetzt sicher, daß sein Gefangener früher oder später reden würde und auch reif sein würde für das, was er mit ihm vorhatte. "Wenn Sie heute nicht reden wollen, Professor Krausinger, bitte. Wir haben Zeit. Irgend-wann werden Sie reden. Glauben Sie mir. Irgendwann reden nämlich alle!" Keter machte eine Pause und wartete ab, ob Krausinger antworten würde. Als dies nicht geschah, stand er auf und sagte: "Wir sehen uns wieder". Dann verließ er den Raum.

Kurz danach wurde Krausinger in sein Zimmer zurückgebracht. Er ließ sich auf das Bett fallen. Der Kopf brummte ihm. Die wußten zwar bei weitem nicht alles. Die könnten ihn aber zu Tode bringen, wenn sie woll-ten. Dagegen wäre er absolut machtlos. - Aber das hätten die ja auch schon tun können, ohne lange darüber zu reden. - Nein, die wollten etwas von ihm. Der General benötigte wahrscheinlich Informationen zur Raketenforschung. Aber was wollte die DDR mit Raketen? Und die Rus-sen, die hatten doch die Reste aus Peenemünde, aus dem Stollen im Harz und anderen Produktionsstätten? - Wie sollte er sich verhalten? Klar war, daß die kommunistische Justiz unberechenbar war. Und er wollte und durfte schon seines fernen Termins wegen nicht für immer in einem sibi-rischen Lager verschwinden.

Es gab folglich keine andere Möglichkeit. Er mußte sich kommunikati-onsbereit zeigen. Aber es galt dabei höllisch auf der Hut zu sein, damit er nicht die ganz entscheidende Sache, die keiner außer ihm kannte, offen-barte. Jetzt und vielleicht für viele Jahre mußte er in Sklavensprache reden und sich ducken. Doch eines Tages würde er über unvorstellbare Macht verfügen und diejenigen, welche jetzt die Herren waren, würden zu seinen Füßen liegen. Auch dieser General. Mit dieser Gewißheit und erfüllt von einem wohligen Gefühl kommender Macht und sich daraus ergebender Rachemöglichkeiten, schlief er beruhigt ein.

Am nächsten Morgen wurde er nach dem Frühstück erneut zum General geführt. "Guten Morgen Professor, ich darf Sie doch so nennen? Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Nacht. Haben Sie einmal über unser Gespräch von gestern nachgedacht?"

Krausinger nickte stumm. Keter setzte, dieses Nicken innerlich befriedigt registrierend, fort: "Also

Professor, ... betrachten Sie es bitte als forscherische Hartnäckigkeit -solch ein Gefühl ist Ihnen ja nicht unbekannt - daß ich Sie erneut befrage. Wie Sie sich erinnern können, wissen wir alles, aber auch alles über Sie, bis ... ja eben bis zu dem Zeitpunkt 1943, als Sie Peenemünde verließen. Wohin gingen Sie damals? - Erzählen Sie mir aber bitte nicht, Sie wären an die Front gegangen."

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Zu seinem Erstaunen antwortete Krausinger diesmal tatsächlich: "Nein, Herr General, an die Front bin ich nicht gegangen. - Jedenfalls nicht sofort."

Ein Lächeln machte sich auf Keters Gesicht breit. Er schien sichtlich zufrieden damit zu sein, daß er seinen Gefangenen mit seiner Methode endgültig zum Reden gebracht hatte. Seine freundliche Miene verriet sei-nem Gegenüber nicht, wie sehr er auf die Antwort lauerte. Er sagte auch kein Wort. Er wartete einfach.

Ich bin am Zug. Ich muß etwas sagen, dachte sein Gefangener und ant-wortete, hoffend, daß ihm der General das abnehmen würde: "Ich ging zurück in das Rüstungsamt."

Der schien die Antwort zu akzeptieren, denn er fragte sofort: "Sie waren dort Abteilungsleiter. Worin bestand Ihre Aufgabe?"

"Ich war zuständig für die Raketenforschung." Das war nicht so sehr ge-logen, als daß es nicht hätte sein können. Genügend Wissen um diese Materie hatte er auch und es würde den General auf eine falsche Fährte locken.

Keter ließ sich nichts vormachen. Daß Krausinger für die Raketenfor-schung verantwortlich war, war für ihn denkbar. Aber daß er damit völlig aus der Forschung ausgeschieden wäre, das paßte für ihn nicht zu dem Bild, das er von ihm gewonnen hatte. "Professor, Sie wollen mich doch wohl nicht glauben machen, daß man eine solche Forscherkapazität, wie Sie es waren, hinter einen Schreibtisch verbannt hat, in einem Moment, wo es aus existentiellen Gründen für die Nazis auf den Durchbruch an der waffentechnischen Forschungsfront ankam!" Keter hatte mit erhobener Stimme geredet, deutlich erregt, weil er sich von Krausinger hinters Licht geführt fühlte.

Jetzt sprach er die Vermutung aus, die er die ganze Zeit über bereits gehegt hatte: "Ich glaube eher, daß Sie im 'Mittelwerk' waren." Er blickte Krausinger prüfend und auf dessen Reaktion lauernd an und ergänzte im Stillen: Obwohl wir ja dafür bisher noch keine Beweise haben.

Krausinger, der bei der Nennung des "Mittelwerkes", wo die 'V2' nach der Bombardierung Peenemündes durch die Engländer produziert wur-den, die Alarmglocken läuten hörte, beeilte sich zu entgegnen: "Nein, nein, General! Da irren Sie aber gewaltig, wenn ich so sagen darf. Ich war zwei oder dreimal im Kohnstein bei Nordhausen, aber nur zur Inspektion. Ansonsten hatte ich, wie bereits erwähnt, meinen Arbeitsplatz im Rüstungsamt in der Reichshauptstadt."

In Wahrheit war er nie im "Mittelwerk" gewesen. Da er aber die Legende gewählt hatte, der Verantwortliche für die Raketenforschung gewesen zu sein, wäre es unglaubhaft gewesen, wenn er behauptet hätte, nie eine

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Inspektion in der Hauptproduktionsstelle vorgenommen zu haben. Ande-rerseits war der Verdacht, im Kohnstein gewesen zu sein, gefährlich, weil dort ein KZ angegliedert war und er befürchtete auf diese Weise neue Munition für seine Erschießung zu liefern. Er erkannte, daß die Geschich-te, die er sich ausgedacht hatte, um von seinem wahren Aufenthaltsort und seiner wirklichen Betätigung abzulenken, auch ihre Tücken hatte und ihn durchaus aufs Glatteis führen konnte.

Keter merkte, daß sein Gefangener auf seiner Geschichte beharrte und offensichtlich irgend etwas verheimlichte. Er beschloß aber zunächst nicht direkt nachzuhaken, sondern ihm Zeit zu lassen. "Über das Mittelwerk wissen wir praktisch alles, Professor. Allerdings, da haben Sie recht, wir fanden keinen Hinweis darauf, daß Sie dort stationiert waren. Sonst wären Sie höchstwahrscheinlich entsprechend den Operationen 'Paper-clip' und 'Overcast' zusammen mit den 120 anderen Peenemündern bei Garmisch-Partenkirchen festgenommen worden und heute in den USA tätig. Das wäre schade gewesen - für uns."

Keter nickte Krausinger zu und sagte anerkennend: "Die Amerikaner waren da wirklich clever. Sie erlangten durch Luftbeobachtung und Geheimdienstaktionen einen weitgehenden Überblick über die deutsche Raketenforschung. Sie hatten eine Liste der Forscher aufgestellt, die sie unbedingt in die USA bringen wollten, sobald der Krieg beendet sein würde. - Nebenbei gesagt: Sie können davon ausgehen, daß auch Ihr Name auf dieser Liste verzeichnet war. - Jedenfalls haben die Amerikaner ihren Plan 1945 verwirklicht. Keter faßte Krausinger fest ins Auge: "Sehen Sie - und Sie waren nicht dabei! Das ärgerte die Amis mit Sicherheit."

Dieser General wußte eine ganze Menge. Sein wirkliches Geheimnis kannte er aber zum Glück nicht. Krausinger war erleichtert.

Keter erteilte ihm abschließend einen Auftrag: "Professor, ich möchte Sie bitten, mir einen Bericht zu schreiben, über alle ihre Aufgaben im Rüstungsamt, insbesondere die Frage der Raketenforschung betreffend. Wir sehen uns dann in einigen Tagen wieder." Dabei beobachtete er Krausinger. Aber dessen Miene blieb unbewegt. Deshalb sagte er: "Sie können gehen." Die letzten Worte waren wieder in freundlichem Ton gesprochen worden.

Krausinger erhob sich ohne Hast, nickte Keter wortlos zu und verließ den Raum. Ein Bewacher begleitete ihn zurück in sein Zimmer. Dort fand er einen Schreibblock, einen Füllfederhalter und ein volles, noch ver-schlossenes Tintenfaß.

Er setzte sich an den Tisch, schloß die Augen und ließ in Gedanken die letzte Begegnung mit dem General Revue passieren. Was wollte der General wirklich von ihm? Wollte er ihn auspressen wie eine Zitrone und

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dann den Russen als Präsent übergeben? Was sollten Berichte über das Rüstungsamt? Diese Informationen besaß die Staatssicherheit doch garantiert seit langem? Immerhin lag der Krieg schon zehn Jahre zurück. Da waren sicher andere aus dem Amt schon Jahre vor ihm in deren Hände gefallen und hatten ausgesagt. Und solche Informationen hatten doch höchstens noch Wert für historische Untersuchungen irgendwelcher Nischenforscher aus dem Bereich der Sozialwissenschaften. - Vielleicht aber steckte etwas ganz anderes dahinter? Vielleicht war das alles nur Beschäftigungstherapie, um festzustellen, inwieweit er kooperationsbereit war?

Er entschloß sich, seinen eingeschlagenen Weg der Kommunikations-bereitschaft fortzusetzen. Er mußte eine Auslieferung an die Russen ver-hindern. Es war für ihn von höchster Priorität, in Deutschland zu bleiben, ansonsten würde alles umsonst gewesen sein, denn dann hätte er auch gleich Fünfundvierzig auf das Zyankaliröhrchen beißen können. Aufgrund dieser Überlegungen raffte er sich auf, schraubte die Kappe vom Füllfederhalter, blätterte den Schreibblock auf und begann zu schreiben.

Wenige Tage später wurde er um die Mittagszeit in einen kleinen Klub-raum geleitet. Dort erwartete ihn bereits der General, der sich ihm erst-mals namentlich vorstellte: "Ich glaube, ich war so unhöflich, daß ich mich Ihnen bisher noch nicht vorgestellt habe. Keter ist mein Name. Ich bin General Fritz Keter."

Der General öffnete sein Zigarrenetui, hielt es Krausinger entgegen, besann sich aber darauf, daß dieser ja Nichtraucher war, und entnahm ihm eine Zigarre. Nachdem er das umständliche Ritual der Vorbereitung zum Rauchen beendet hatte, machte er den ersten Zug, genoß diesen sichtlich, blies den Qualm an Krausinger vorbei schräg gegen die Decke, und redete dann weiter: "Professor, ich bin ehrlich erfreut darüber, daß Sie sich die Mühe gemacht haben, diesen Bericht, um den ich Sie gebeten hatte, zu schreiben. - Übrigens: Ich habe mir erlaubt, für uns Zwei ein Essen vorbereiten zu lassen, ein bescheidenes Menü. - Sie speisen doch mit mir?"

"Ja, sehr gern", antwortete Krausinger, dem klar wurde, daß eine neue Phase seiner Behandlung begonnen hatte.

"Also, ...", setzte Keter fort,"... ich habe aus Ihrem Bericht viel über die Strukturen des Amtes entnehmen können. Dagegen fiel die Seite der Raketenforschung...", er machte eine bedauernde Handbewegung "... ziemlich bescheiden aus. Ich möchte Sie bitten, in einem Ergänzungsbe-richt darauf genauer einzugehen. Ebenso erwarte ich von Ihnen, daß Sie mir eine Liste aufstellen über die Forscher aus der zweiten und dritten Reihe, das heißt, die Schüler der bekannten Raketenforscher, die in der

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Öffentlichkeit weniger bekannt waren und den Alliierten möglicherweise nicht in die Hände gefallen sind. Schreiben Sie bitte dazu, welchen Rang diese bekleideten, falls sie zu einer militärischen Organisation gehört haben und wo genau sie eingesetzt waren."

"Wie Sie wünschen." Nach dem gemeinsamen Essen tranken sie noch einen guten Weißwein

und Keter rauchte eine Zigarre, ohne die er nicht auszukommen schien. Dann sagte der General: "So, Sie ergänzen bitte den Bericht. Ich habe ebenfalls Pflichten nachzugehen. In den nächsten Tagen erlaube ich mir, Sie wieder zu einem Essen einzuladen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag." Damit war Krausinger entlassen.

An den folgenden Tagen kam es zu weiteren Gesprächen und Krausin-ger erhielt neue Vergünstigungen für die gezeigte Kooperationsbereit-schaft. So durfte er im Garten spazieren gehen. Das tat er stets ausgiebig, bis ihn der jeweilige Bewacher, der ihn von der Terrasse aus im Auge behielt, in sein Zimmer zurückgeleitete.

Seine Lage einschätzend, hielt er sich vor Augen, daß er sich im Grun-de genommen verbessert hatte. Wenn er an sein Zimmer in Parchim dachte, an den schlecht heizenden Ofen und an die spärliche Einrichtung, da hatte er doch durch diesen unfreiwilligen Wechsel letztlich einen guten Tausch gemacht. Er lebte jetzt wesentlich komfortabler. Er wurde sehr gut verpflegt und mußte für all das im Moment praktisch so gut wie nichts tun. Er galt zwar als "Spartaner", aber den enormen Unterschied, der sich in seiner Lebenslage vollzogen hatte, den nahm er schon wahr. Allerdings vergaß er nicht, daß er ein Gefangener war.

Major Dr. Sorge, Keters Stellvertreter für Forschung, 1936/37 einer der Studenten Krausingers, wußte, daß sich dieser, obwohl ein Nazi, damals weniger um Politik, als vielmehr um Physik und Mathematik gekümmert hatte. Als Wissenschaftler war dieser Mann in seiner Aufgabe aufgegan-gen. Er hatte schon damals keine Familie gehabt und von seinen Studen-ten den gleichen grenzenlosen Einsatz, die gleiche Hintansetzung von Privatleben zugunsten der Forschung erwartet, wie er selbst diese prakti-zierte. Deshalb konnte sich Sorge jetzt auch nicht vorstellen, daß Krau-singer auf Dauer derart abstinent von Forschung und Laborarbeit würde leben können.

Diesen Gedanken hatte er General Keter erläutert und beide waren übereingekommen, Krausinger zunächst die Möglichkeit zu geben, sich über den Zugang zur Fachliteratur allmählich den aktuellen Wissensstand

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anzueignen und auf dem Laufenden zu halten. Deshalb versorgten sie ihn mit qualifizierter wissenschaftlicher Literatur zur Physik. Die Zeit würde ihnen in die Hände spielen. Lange würde dieser Vollblutphysiker und Experimentator nicht mehr ohne Labor und Werkstatt leben können. Damit würde die Stunde für den Pakt gekommen sein: Ausgezeichnete Forschungsbedingungen und natürlich stillschweigende Rehabilitation, für Forschungsergebnisse der Spitzenklasse. Jetzt mußte man nur noch abwarten, sagten sich der General und sein Forschungsleiter.

Im August hatten sie ihn vor dem Fabriktor festgenommen. Inzwischen war es November geworden. Krausingers Verlangen nach praktischer Anwendung seiner theoretischen Studien wurde tatsächlich immer stärker. Er hatte aus den Gesprächen mit dem General und der ganzen Logik des Verhaltens ihm gegenüber den Schluß gezogen, daß er für die DDR Raketen bauen sollte. Er dachte: Besser für die DDR Raketen bauen, als in Sibirien zu sterben. Ich muß hier bleiben, um mein großes Ziel zu errei-chen. Ich arbeite jetzt für sie, später drehe ich den Spieß um!

Der General hatte sich bereits seit Wochen nicht sehen lassen. Eines Tages wurde Krausinger wieder in den Raum gebracht, in dem er bereits mehrmals mit Keter gesessen hatte. "Guten Tag Professor. Setzen Sie sich bitte. Wie geht es Ihnen?" Keter war aufgestanden, als Krausinger den Raum betrat und hatte ihn zu einem Sessel geleitet.

"Danke der Nachfrage. Mir geht es gut." Keter ging schnurstracks auf sein Ziel zu, Krausinger für die Mitarbeit

als Forscher zu gewinnen. "Professor. Seien Sie froh, daß Sie hier in der Deutschen Demokratischen Republik leben und nicht drüben im Westen. Wir bauen den Sozialismus auf. Unserer Gesellschaftsordnung gehört die Zukunft. Sie können auf der Seite der Zukunft stehen, wenn Sie mit uns gemeinsam arbeiten. Und dazu gebe ich Ihnen die Gelegenheit."

Aha, jetzt ist es soweit. Jetzt läßt er die Katze aus dem Sack. "Herr General, ich weiß nicht, ob Ihrem Sozialismus die Zukunft gehört. Das kann ich nicht einschätzen. Auf jeden Fall möchte ich mich politisch nicht festlegen."

"Professor, sicher habe ich mich falsch ausgedrückt. Wir brauchen Sie als Fachmann, als Waffenforscher. Wir brauchen die Besten auf unserer Seite. Und dazu gehören Sie. Und sicher werden Sie mit der Zeit selbst merken, daß der Sozialismus eindeutig die bessere Gesellschaftsordnung darstellt. Zusammenarbeiten können wir doch aber bereits heute." Keter hatte geendet und sah Krausinger erwartungsvoll an.

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"Ihr Angebot an mich, als Fachmann mit Ihnen zusammenzuarbeiten reizt mich, denn die Forschung ist meine Berufung. Ich akzeptiere gern. Lassen Sie mich aber, wenn es irgend geht, bitte mit Ihrer Ideologie in Frieden." Krausinger wollte seine Spielräume möglichst ausweiten und betrachtete die Gelegenheit dafür als reif. Um Gottes Willen nicht auch noch Kommunist werden müssen, dachte er, obwohl er selbst das bereit war hinzunehmen, falls es nicht anders gehen würde, allein um seine wirklichen geheimen Ziele nicht zu gefährden.

General Keter war begeistert über Krausingers Zusage. Das war es, was er seit Monaten vorbereitet hatte. Jetzt fuhr er die Ernte ein. Dieser Mann in seiner Versuchsanstalt, dazu das wissenschaftlich-technische Wissen von heute und das sozialistische Forscherkollektiv - da mußte doch etwas noch erfolgreicheres herauskommen, als Peenemünde! Und er, Keter, würde seiner Partei Ergebnisse präsentieren können, die ihm einen Platz im Zentralkomitee einbringen würden. Keter wähnte sich bereits dem Ziel seiner Träume sehr nahe. Er war zufrieden mit diesem Tag. Schnell sagte er: "Professor, ich freue mich für Sie und gratuliere Ihnen zu diesem wohlüberlegten Entschluß. Den werden Sie nie zu bereuen brauchen. Eines Tages, sicher sehr bald, werden Sie rehabilitiert und können sich dann wieder überall frei bewegen. Sie werden sich auch finanziell sehr gut stehen, das ist selbstverständlich. Und die Arbeit wird Ihnen Spaß machen. Ich leite eine waffentechnische Versuchsanstalt. In den nächsten Tagen werden Sie umziehen. Dann werden Sie Ihren Kollegen vorgestellt, und können bereits anfangen zu arbeiten." In Gedanken setzte er jedoch hinzu: Rehabilitiert werden? Natürlich nicht. Das würde Öffentlichkeit bedeuten, die können wir uns nicht leisten. Frei bewegen? Ja, hinter den Mauern der Versuchsanstalt. Anfangen zu arbeiten? Natürlich. So schnell wie es geht!

Keter lächelte Krausinger aufmunternd und wohlwollend zu. "Professor, Sie werden in Warenthin hervorragend untergebracht und erhalten Ver-pflegung wie ein hoher Offizier unseres Ministeriums. Das entspricht der Kategorie 'Schwerstarbeiter der Adolf Hennecke-Bewegung'. - Was haben Sie als Lagerist verdient?" Er wartete Krausingers Antwort nicht erst ab: "Jetzt werden Sie das Doppelte erhalten. Und zwar in West! Sie sollen sehen, daß sich Ihr Engagement für die Arbeiter- und Bauernmacht wirk-lich lohnt. Selbstverständlich wird dieses Geld für Sie auf einem Sperr-konto aufbewahrt, bis Sie rehabilitiert sind." Er hatte weder solches Geld zur Verfügung, noch hätte er es für diesen Zweck bekommen.

Krausingers Hirn arbeitete fieberhaft. Dieses Gefecht war gewonnen. Er hatte erreicht, was er wollte. Dafür nahm er auch gern die politische Agi-tation in Kauf. Und es ging in Richtung Norden, wie er gerade gehört

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hatte: nach Warenthin. Das ist ja auch nicht weiter von Waldheide weg als Parchim, dachte er zufrieden. Und schon begann er gedanklich den General, seinen Gefängnisoberaufseher und zukünftigen Chef in seine eigenen Pläne einzubeziehen: General, du glaubst, du bist der Sieger und hast mich umgepolt. Irrtum, du wirst der von uns beiden sein, der eines Tages froh sein wird, auf der richtigen Seite stehen zu dürfen - nämlich auf meiner! Nach Warenthin, wiederholte er den Namen des Ortes, in dem er die nächsten Jahre leben und arbeiten würde. Warenthin ...?! Plötzlich wurde ihm klar, daß er unbedingt noch einmal nach Parchim mußte, denn dort befanden sich für ihn immens wichtige Dinge. Von deren Besitz hing seine Zukunft ab. Sie würden ihm in Jahrzehnten helfen, der mächtigste Mensch der Erde zu werden. Er fragte, ja fast rief er: "Was geschieht denn eigentlich mit meiner Wohnung?"

"Ihre Wohnung?" Für Keter schien das die nebensächlichste Sache der Welt zu sein: "Ach Gott, die Lücke füllt sich doch schnell. - Bei der Woh-nungsnot!"

Bei Krausinger dagegen löste diese Antwort eine Art Schock aus. Das kann nicht sein. Ich muß dort hin. Hoffentlich hat noch niemand mein Versteck entdeckt! Ich muß die Kapseln und das Heft haben, sonst war alles umsonst! Um Fassung bemüht sagte er: "Ich habe den Eindruck, Herr General, daß Sie mich leider nicht ganz verstehen. Ich meine mein Hab und Gut. Sie müssen mir doch Gelegenheit geben, meine Sachen zu packen für den Umzug."

Keter winkte einer Ordonnanz. Er ließ sich ein Telefon bringen. Dann wählte er. Dabei sah er Krausinger an. "Hier General Keter", meldete er sich. "Sagen Sie, Genosse, was ist eigentlich mit der Wohnung und den persönlichen Sachen des Festgenommenen Letticher geschehen? Ach ja? ... Da ist nichts mehr zu ... ? Versuchen Sie doch ... Nein? - Gut, da kann man nichts mehr machen." Er legte den Hörer auf, und sagte mit einer Geste des Bedauerns: "Ja, also Professor: Ihre Bücher, Kleidung und anderen persönlichen Dinge sind sichergestellt worden. Die können wir abholen lassen. Ihre Zimmer aber sind von der Kommunalen Wohnungs-verwaltung bereits möbliert vermietet worden an Bürger, die auf der Warteliste standen. Tut mir wirklich ausgesprochen leid für Sie."

Krausinger starrte Keter an. Das soeben Gehörte brachte ihn fast um seinen Verstand, denn seine Zukunftsvisionen waren dabei, in Scherben zu zerfallen. Jetzt war jegliche Taktik, jegliches Verstellen seinem Gefäng-nisdirektor gegenüber zweitrangig geworden. Er schrie Keter förmlich an: "Was denn? Sie können mir doch nicht einfach hinter meinem Rücken die Wohnung wegnehmen und meine Möbel irgendwelchen wildfremden Leuten geben! Was ist denn das für eine Art? Das ist doch,... Straßen-räubermentalität!" 56

Jetzt schlug Keter mit der flachen Hand auf den Tisch und sagte in scharfem Ton: "Also, Professor. Die Möbel gehörten doch Ihrer Wirtin, die verstorben ist, ohne Erben, ohne Testament! Das fällt alles dem Staat zu. Da haben Sie überhaupt keinen Anspruch darauf. Und außerdem denken doch die Genossen in Parchim, daß der SS-Hauptsturmführer Letticher, der Partisanenmörder, längst im Gefängnis von Leipzig dem Scharfrichter übergeben wurde!"

Krausinger wurde der Kragen eng, er fuhr sich mit dem Zeigefinger zwi-schen obersten Hemdenknopf und Hals. Ihm wurde schlagartig klar, daß das ins Auge hätte gehen können. Verdammt ich muß vorsichtiger sein. Ich muß es anders versuchen. Vielleicht auf die sentimentale Art? Deshalb sagte er: "Herr General, ich muß mich bei Ihnen entschuldigen. Ich weiß auch nicht, wieso ich mich so echauffiert habe. Aber Sie müssen verstehen, ich habe nach dem Krieg bei der alten Frau Weber ein Obdach gefunden und zehn Jahre meines Lebens, auch nach dem Tod meiner Wirtin, in dieser Wohnung gelebt. Sie ist mir zu meiner zweiten Heimat geworden. Gestatten Sie mir bitte, an Ort und Stelle Abschied zu nehmen von einem ganzen Lebensabschnitt. Ich wäre Ihnen wirklich ganz außer-ordentlich verbunden, wenn Sie mir dies genehmigen würden."

Keter überlegte. Was will der dort? Sucht er eine Gelegenheit zur Flucht? - Ach, ist vielleicht doch nur ein bißchen sentimental. Will sich von der Wohnung verabschieden. Na, soll er. Aber vorsichtig sein müssen wir. Solch einen Gefühlsausbruch wie eben kannte ich bisher nicht von dem Mann. Vielleicht kenne ich ihn wirklich noch nicht genügend. Ich muß ihn noch schärfer überwachen lassen. - Nun gut, er soll die Gelegenheit bekommen, nach Parchim zu fahren. Es darf dort aber keiner mitbekommen, daß es ihn noch gibt. Wir haben ja das Gerücht verbreitet, er sei republikflüchtig geworden. Laut sagte er: "Gut, ich werde sehen, was sich machen läßt. Natürlich werden Sie von unseren Genossen begleitet. Es muß gewährleistet sein, daß niemand in der Wohnung ist und daß niemand Sie sieht in Parchim. - Aber ich denke, das läßt sich organisieren."

Als Krausinger erleichtert antwortete: "Danke, Herr General", ergänzte Keter seine Worte: "Allerdings wird es nicht so schnell gehen. Ich denke, Sie werden von Warenthin aus ebensogut einmal nach Parchim gebracht werden können.

"Warenthin, November 1955. Drei Tage später war Krausinger in Warenthin, seiner neuen Heimat für Jahrzehnte, angekommen. Der Kom-plex, ein riesiges Areal von etwa 500 mal 800 Metern Fläche war auf der Frontseite zur Straße von einer hohen Mauer abgeschirmt. Drei vierge-

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schossige Bürogebäude, eine große Villa, mehrere Holzbaracken, zwei große Wellblechhallen, ein Heizhaus und ein Garagenkomplex befanden sich auf dem Gelände, als Krausinger Ende des Jahres 1955 dort eintraf. Wie er in den dann folgenden Tagen mitbekam, befanden sich in zwei Gebäuden Büro- und Arbeitsräume, Beratungsräume und eine ganze Reihe von Labors und Werkstätten. Ein weiteres Gebäude beherbergte die Sozial- und Kultureinrichtungen sowie die Versammlungs- und Schu-lungsräume. In einem der Häuser befanden sich die Dienstwohnungen. In diesem Gebäude erhielt auch Krausinger eine kleine, gut ausgestattete Wohnung.

Gleich am Nachmittag des Tages war er Leitungsoffizieren und zukünf-tigen Kollegen vorgestellt worden. Anwesend waren außer Keter und ihm der Oberst Pachulke, ein alter Berliner, der damals Keters Stellvertreter gewesen war, Major Dr. Sorge, der Stellvertreter für Forschung, der Balli-stiker Dr. Köhler, der Physiker Dr. Baumgart und der Flugzeugingenieur Detlef Schultze, der auch im damals noch existierenden zivilen DDR-Flugzeugbau als leitender Entwicklungsingenieur eine Rolle gespielt hatte.

Keter hatte Krausinger als Dr. Letticher vorgestellt. Er hatte ihn vorher unter vier Augen darüber informiert, daß er diesen Offizieren erklärt habe, daß es sich bei ihm um einen ehemaligen Waffenforscher der Wehrmacht handele, der sich aus eigenem Entschluß angesichts der militaristischen Wiederaufrüstung in Westdeutschland in den Dienst der Arbeiter- und Bauernmacht gestellt habe. Seine Mitarbeit müsse streng geheim bleiben, damit der imperialistische Klassengegner diese Tatsache nicht für seinen schändlichen antikommunistischen Propagandafeldzug gegen die DDR ausnutzen könne. Er habe auch festgelegt, daß niemand der Anwesenden ihn jemals auf seine Vergangenheit hin ansprechen dürfe. Er brauche also diesbezüglich keine Komplikationen zu befürchten und von selbst solle er zweckmäßigerweise ebenfalls dieses Thema nicht anschneiden.

An dieser Stelle sei erwähnt, daß einer der Anwesenden, der Haupt-mann Dr. Köhler, bereits ein Jahr später die Fronten wechselte und in der BRD über die WVA berichtete. Es ist nicht bekannt, was er ausgesagt hat. Bekannt ist aber, daß in den nachrichtendienstlichen Kreisen der Bundes-republik lange Zeit gerätselt wurde, wer Dr. Letticher wirklich sei. Seine wahre Identität allerdings wurde im Westen niemals bekannt.

Krausinger war bereits seit zwei Wochen in Warenthin, als Keter ihm mitteilte, daß er am folgenden Tag nach Parchim gefahren werde, um noch einmal seine alte Wohnung zu sehen. Als er dies hörte, mußte er sich zur Ruhe zwingen, damit Keter nicht seine innere Erregung mitbe-kam. Von da an konnte er keinen anderen Gedanken mehr fassen, als den

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an diese Fahrt. Wie würde er die Wohnung vorfinden? Würde alles noch an seinem Ort sein? War das Versteck unentdeckt geblieben? All diese Gedanken hatten ihn auch schon seit Keters Information, daß die Woh-nung vermietet sei, kaum noch schlafen lassen. Er hatte sich die vergan-genen vierzehn Tage zwingen müssen, Keter nicht weiter zu drängen, um ihn nicht noch mißtrauischer zu machen. Er hatte den Eindruck gewon-nen, daß er intensiver beobachtet wurde, seit er sich dem General gegen-über wegen der Wohnung so sehr erregt gezeigt hatte.

Am nächsten Morgen war es dann so weit. Pünktlich um acht Uhr stand ein Wagen vor dem Gebäude. Er stieg ein und setzte sich auf die Rück-bank. Außer dem Fahrer saß nur Hauptmann Weise, der damalige Abwehrchef der WVA, im Wagen. Seine Begleiter trugen wie er Zivil. Der dicke, leicht asthmatische Weise zündete sich während der Fahrt eine Zigarette an der anderen an. Die Luft wurde immer stickiger.

Der Wagen fuhr zügig seinem Ziel entgegen. Aber Krausinger kam es viel zu langsam vor. Er schaute nach draußen auf die Landschaft, doch er war mit seinen Gedanken woanders. Hoffentlich haben die neuen Mieter noch nicht die Schränke von den Wänden gerückt und renoviert, dachte er. Würde er seine Begleiter ablenken können, um das in der Wohnung Versteckte unbemerkt an sich nehmen zu können?

In Parchim hupte der Fahrer dreimal vor dem Tor einer Villa. Ein Zivilist ließ den Wagen auf den Hof fahren. Weise, der sich in das Haus begeben hatte, erschien nach wenigen Minuten in Begleitung zweier Männer. Er stieg wieder ein. Die beiden Mitarbeiter der Kreisdienststelle, auch in Zivil, setzten sich in einen IFA F9 und fuhren voraus. Krausinger registrierte, daß es nun vier Mann waren, mit denen er es zu tun hatte. Es würde nicht leicht sein, sie alle abzulenken.

Nachdem sie einige Straßen hinter sich gelassen hatten, kannte er sich wieder aus. Beide Fahrzeuge bogen in die nächste Straße rechts ein und hielten am Straßenrand, direkt vor dem Haus, in dem er viele Jahre lang gewohnt hatte. Hier hatte sich nichts verändert. Hoffentlich war das oben in der Wohnung auch noch so.

Während die Männer aus dem IFA sich erst auf der Straße umsahen und dann das Haus betraten, rührte sich in dem Wagen aus Warenthin nichts. Weise sagte über die Schulter hinweg: "Wir warten." Dabei reichte er Krausinger ein "Neues Deutschland", die großformatige Parteizeitung der SED, und forderte ihn auf: "Schlagen Sie bitte die Zeitung auf. Schauen Sie hinein. Es darf Sie hier niemand erkennen!"

Krausinger tat, wie angeordnet, spähte aber über den oberen Zeitungs-rand zum Hauseingang hinüber. Er sah, wie einer der beiden Begleiter aus dem Hauseingang trat und Weise ein Zeichen gab.

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"Kommen Sie. Wir gehen jetzt hinein", sagte Weise. Krausinger stieg aus dem Wagen, betrat das Haus und ging vor Weise,

der ihm langsamer und ächzend die Treppe hinauf folgte zu seiner ehe-maligen Wohnung. Sie lag in der ersten Etage. Dort stand der zweite Par-chimer Stasimann und erwartete sie bereits. Weise sagte, ziemlich außer Atem, zu diesem: "Sie bleiben hier an der Tür."

Krausinger registrierte das mit Zufriedenheit. Er würde es also nur mit dem langsamen Weise zu tun haben. Sie betraten die Wohnung. Er schaute sich im Flur um. Im Grunde genommen war alles so, wie er es immer angetroffen hatte, wenn er aus der Textilfabrik nach Feierabend nach Hause gekommen war. Jetzt galt es zu vermeiden, daß bei Weise irgend ein Verdacht entstand. Er betrat das Wohnzimmer. Erleichtert stell-te er fest, daß sich alles in einem unveränderten Zustand befand. Alle Möbel standen noch an der gleichen Stelle. Und es war auch nicht frisch tapeziert oder gestrichen worden. Er setzte sich auf das alte Sofa und schaute sich um. Wie fremd ihm doch dieses Zimmer auf einmal war, trotz der Jahre, die er es bewohnt hatte. Dabei war es doch nur wenige Monate her, seit er das letzte mal in dieser Wohnung war. Weise, der sich den Schweiß mit einem großen blaukarierten Taschentuch von der Stirn wischte, befand sich ebenfalls im Zimmer. Offensichtlich wollte er ihm nicht von der Seite weichen.

Krausinger erhob sich und ging an Weise vorbei über den Flur in das Schlafzimmer. Er staunte darüber, daß die neuen Mieter sogar noch ein Kinderbett in dieses kleine Zimmer hineinbekommen hatten. Sich zur Tür drehend bemerkte er Weises lauernden Blick. Wütend fuhr er ihn an: "Las-sen Sie mich doch bitte einmal für fünf Minuten allein. Es reicht doch wohl, wenn Sie vor der Tür stehen und aufpassen, daß ich Ihnen nicht davonlaufe!"

Weise, Keters Weisung in den Ohren, Krausinger keine Sekunde aus den Augen zu lassen, antwortete völlig verdattert: "Da ... das sehen ... sehen Sie völlig falsch. Ich bin zu Ihrem Schutz ..." Er brach ab und begab sich zurück in den Wohnungsflur.

Krausinger ging an ihm vorbei, betrat die Küche und schloß die Tür hin-ter sich. Er schaute sich kurz um: Gott sei Dank! Auch hier alles beim Alten. Ein Blick zur Küchentür und konzentriertes Lauschen sagte ihm, daß er handeln konnte. Er bückte sich und griff unter den Küchenschrank. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Was, wenn der Umschlag nicht mehr da ist? Nicht auszudenken! Doch in dem Moment berührten seine Finger das von ihm seit langem dort Versteckte. Blitzschnell riß er den zwischen Zimmerwand und der Rückseite des Schrankes befestigten Umschlag los und zog ihn hervor. Hoffentlich ist auch noch alles drin.

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Schnell machte er ihn auf, griff hinein, stellte fest, daß sich das Heft und der Brustbeutel noch darin befanden. Er zog die Blechdose heraus und öffnet ganz kurz den Deckel. Erleichtert stellte er fest, daß sich die unvor-stellbar wertvollen Kapseln noch immer darin befanden. Eilig öffnete er das Hemd, hängte sich den Brustbeutel mit der kleinen Blechdose um den Hals und verschloß den Kragen. Den Umschlag mit dem Heft steckte er sich unter dem Jackett in den Hosenbund. In dem Moment klopfte es an der Tür. "Ja, was ist denn?" rief er.

"Wir haben nicht mehr viel Zeit." Weise durfte auf keinen Fall den Triumph in seinen Augen sehen. Es fiel

ihm nicht leicht, aber er zwang sich dazu, ein gleichgültiges Gesicht zu zeigen, als er die Tür öffnete und an Weise vorüberging: "Ich bin fertig. Wir können gehen."

Sie betraten das Treppenhaus. Der Stasimann aus Parchim verschloß die Tür der Wohnung. Sie stiegen die Treppe hinunter und verließen das Haus. Weise sprach noch kurz mit ihren Parchimer Begleitern, während Krausinger bereits auf dem Rücksitz des Wagens Platz nahm. Dann setzte sich Weise neben den Fahrer und wies an: "Fahren wir."

Krausinger dachte erleichtert: Nun kann ich die Zeit in Warenthin getrost absitzen. Ob als Gefangener oder als freier Mann, das ist dabei völlig unerheblich. Ich habe die Mittel für meine zukünftige Macht bei mir. Er blickte zufrieden aus dem Wagen. Und allmählich begann sich ein ungeheures Gefühl von Allmacht in ihm auszubreiten, so daß er sich zwingen mußte, sich auf seine gegenwärtige Lage zurückzubesinnen.

Am nächsten Morgen fragte ihn Keter: "Na, Sie haben gefunden, was Sie gesucht haben?"

Krausinger hörte Alarmglocken läuten. Hatte Weise etwa etwas mitbe-kommen und es dem General gemeldet? Ruhig bleiben! Aber jetzt schnell antworten. "Danke der Nachfrage. Ich fand eigentlich alles so vor, wie ich es in meiner Erinnerung bewahrt hatte. Lassen Sie mich Ihnen noch einmal danken für diese Möglichkeit, Herr General. Das war wirklich außerordentlich entgegenkommend!" Er beobachtete genau jede Regung im Gesicht Keters und versuchte, jede verdächtige Schwingung im Ton seiner Stimme zu erfassen, als dieser ihm antwortete.

"Aber das war doch selbstverständlich, Professor. Es war doch Ihr Wunsch. Nichts soll die, wie ich erwarte, gedeihliche Zusammenarbeit zwischen uns trüben."

Krausinger konnte nichts feststellen, was ihm ein Hinweis darauf gewe-sen wäre, daß Keter irgend etwas wüßte. Die Stimme des Generals klang keineswegs ironisch und was er gesagt hatte, zeigte ebenfalls, daß er keine Ahnung davon hatte, daß da etwas von ungeheurem Wert aus die-ser Wohnung geholt worden war.

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Warenthin, Juni 1957. Es war der 16. Juni 1957 - Krausingers Geburts-tag. Am Abend dieses Tages hatte sich Keter in Krausingers kleiner Woh-nung eingefunden. Sie saßen sich in bequemen Sesseln gegenüber, auf dem Tisch standen Wodka und Kognak. Keter rauchte eine dicke Zigarre.

Sie unterhielten sich anfangs über technischen Fortschritt, Entwicklun-gen in der Medizin und ähnliche unverfängliche Dinge. Zu fortgeschrittener Stunde forderte Keter Krausinger auf, doch endlich einmal zu erzählen, wie es ihm gelungen sei, fast zehn Jahre lang unterzutauchen, ohne aufzufallen und erkannt zu werden. "Keine Angst, Professor, das ist keine Falle. Namen brauchen Sie nicht zu nennen. Es interessiert mich einfach nur Ihr Schicksal - rein menschlich, verstehen Sie?"

Krausinger, dem die ungewohnte Menge Alkohols bereits die Zunge gelockert hatte, war in einer Stimmung, in der er einfach einmal reden mußte. Zehn Jahre lang konnte er niemandem erzählen, was er erlebt hatte und was ihn bewegte. Nun bot sich ein Ohr, das zuhören wollte. Der Mensch ist ein kommunikatives Wesen. Auch Krausinger, eher wortkarg und zurückhaltend, war da letztlich keine Ausnahme. Allerdings war er nicht betrunken genug, um nicht mehr zu wissen, was er sagen durfte und was er besser für sich behielt. So lehnte er sich bequem in seinem Sessel zurück und begann dem General zu erzählen, wie er untergetaucht war und die zehn Jahre nach Kriegsende mit einer fremden Identität verbracht hatte. "General, im April fünfundvierzig setzten sich alle ab aus... aus dem Rüstungsamt." Fast hätte er gesagt, aus Waldheide, konnte sich aber gerade noch verbessern. "Ich hatte mir eine Luftwaffenuniform besorgt und lief am 30. April durch das zerbombte und brennende Berlin. Ich wollte mich bei Verwandten verstecken. Auf dem Wege dorthin wurde ich von Russen gefangengenommen. Aus war der Traum vom Untertauchen. Ich kam in ein Lager bei Oranienburg. Ich glaube Sachsenhausen war das."

Keter unterbrach ihn: "Das war doch eines Ihrer Konzentrationslager, Professor!"

"Was heißt hier 'Ihres'? Ich hatte keine Konzentrationslager" erwiderte Krausinger bissig und setzte dann gelassen hinzu: "Sie wissen ganz genau, daß ich damit nichts zu tun hatte, General."

"Sie können sich von einer Mitschuld nicht freisprechen, Standarten-führer!" ereiferte sich Keter, dem der Alkohol auch zu Kopfe gestiegen war und der in dem Moment nicht realisierte, daß es unklug war, Krausinger zu provozieren.

Nun fühlte sich Krausinger, sonst eher vorsichtig, zutiefst getroffen, da er plötzlich erkannte, daß trotz zweier Jahre Arbeit für die Kommunisten jederzeit der Stab über ihm gebrochen werden konnte und hinter Keters

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freundlicher Fassade der Haß gegen ihn lauerte. Wütend rief er: "Selbst wenn! Ich habe miterleben müssen, wie Ihre kommunistischen Genossen aus Rußland sich als Lagerherren gebärdet haben. Da gab es genügend totgeschlagene und erschossene Deutsche! Obwohl der Krieg ja längst vorüber war!"

Keter hatte bereits eine aggressive Erwiderung auf den Lippen, als er sich daran erinnerte, daß er Krausinger für die Realisierung seiner ehrgei-zigen Pläne brauchte. Deshalb versuchte er eiligst, ihn zu beschwichtigen: "Professor, beruhigen Sie sich doch um Gottes Willen. Es war ja nicht gegen Sie persönlich gerichtet. - Sie haben ja vielleicht sogar recht. Es ist auf beiden Seiten nicht gerade mit weichen Bandagen gekämpft worden. - Allerdings müssen Sie auch immer bedenken, wer als erster dem anderen etwas angetan hatte. Im Übrigen: Lassen wir uns unsere gute Laune nicht verderben, heute, an Ihrem Geburtstag. Entschuldigen Sie schon, Professor, stoßen wir noch einmal auf Ihre Gesundheit an. Sehr zum Wohl!"

Krausinger hatte sich wieder beruhigt, denn auch er hatte sich der Situation erinnert in der er sich befand und ebenso der Ziele, die er ver-folgte. Ihm wurde schnell wieder klar, in welch ohnmächtiger Lage er war und daß sogar sein Leben von Keters Wohlwollen und Gunst abhängig war. Deshalb beschloß er, ihn nicht weiter zu provozieren. Keters einlen-kende Worte und seine Entschuldigung hörte er dennoch voller Genugtu-ung.

"Sie waren also im Lager angekommen. Wie ging es weiter?" "Wochenlang waren wir in hoffnungslos überbelegte Baracken hinein-

gepfercht. Wir hungerten und froren nachts. Viele von uns krepierten an Erschöpfung, an der Ruhr, an Typhus und an anderen Krankheiten. Fast täglich erfolgten Selektionen. Dabei entschieden die Russen, wer nach Sibirien abging und wer im Lager blieb. Die Lücken füllten sich nach den Abtransporten sofort wieder mit Neuankömmlingen. Es wurde nach Angehörigen der SS, Gestapo, des SD und der NSDAP gesucht. Ich hatte mir die Lebensgeschichte meines Cousins Walter Letticher eingeprägt, der Pilot war und 1943 abgeschossen wurde. Mein Glück war es, daß eine Fleischwunde am linken Arm die Blutgruppentätowierung, die mich als SS-Angehörigen verraten hatte, ausradiert hatte. Da war nichts mehr zu sehen. Wegen meiner Verwundungen und aufgrund meines Alters, schätze ich, entließen mich die Russen Ende September 1945. Für Wor-kuta war ich offensichtlich nicht besonders geeignet. Sie konnten mir auch nichts vorwerfen, ich war einfach nur ein Luftwaffenunteroffizier, einer von vielen.

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Krausinger hielt kurz inne, dann setzte er seinen Bericht fort: Meine Wunden waren nicht gut verheilt. Wie sollten sie auch - unter diesen Umständen. Sie bereiteten mir Schmerzen und ich konnte von einem ganz enormen Glück reden, daß ich keine Infektion bekommen hatte. Was ich nun dringend brauchte, waren medizinische Versorgung, ein Dach über den Kopf und etwas Vernünftiges zu essen. Deshalb machte ich mich auf den Weg nach Oranienburg. Von dort kam ich in einem total überfüllten Vorortzug nach Berlin. Ich erkannte es nicht wieder. Nach dem 30. April mußte doch noch eine Menge zerstört worden sein. Es lag alles in Schutt und Asche. Auch das Haus, in dem meine Verwandten wohnten, existierte nicht mehr." Krausinger redete nicht weiter und sah still vor sich hin.

Keter meinte: "Das war keine angenehme Situation. Das glaube ich schon. Aber... erzählen Sie Professor, wie ging es weiter?"

Krausinger gab sich einen Ruck: "Also ich betrat eines der wenigen übriggebliebenen Nachbarhäuser, wie die anderen eine halbe Ruine. Dort fragte ich nach den von mir Gesuchten. Ich erfuhr, daß alle Bewohner des betreffenden Hauses im Luftschutzkeller umgekommen waren. Eine junge Frau bot mir an, bei ihr zu wohnen. Ich nahm dankend an." Vor seinem geistigem Auge spielte sich all das ab, was er damals erlebt hatte. Dem General erzählte er nur einen Teil davon und den auch nur verfremdet. Ab und zu stockte sein Redefluß, weil er vergaß, daß er ja einen Gast hatte. Der Alkohol tat das seine.

Mit einem mal zuckte er zusammen. Er realisierte, daß ihn Keter erwar-tungsvoll ansah. "Oh entschuldigen Sie bitte. Ich war etwas in Gedanken versunken. Also ich bin der Frau wirklich zu Dank verpflichtet. Sie hat mich beherbergt und gepflegt. Aber irgendwann hielt ich es dort nicht mehr aus."

Die Wahrheit war anders, aber der General mußte ja nicht unbedingt alle Einzelheiten kennen. Er hatte gemerkt, daß die Frau größeres Interes-se an ihm zeigte, als ihm lieb war. Er brauchte keine engeren Bindungen, ja sie waren ihm sogar bei der Erreichung seiner Ziele hinderlich. Heimlich plante er deshalb, zu verschwinden. Er wollte weiter nach Norden in die Nähe des Ortes, wo er auf seinen Termin warten wollte. Als während der Abwesenheit seiner Wirtin eine Nachricht von deren totgeglaubtem Mann eintraf, war dies für ihn die letzte Bestätigung dafür, daß es eine richtige Entscheidung war, zu gehen. Er hatte den bereitliegenden Rucksack ergriffen, sich noch einmal umgesehen und sich gedanklich von einem vorübergehenden Zuhause verabschiedet, in dem er monatelang Unterschlupf gefunden hatte. Dann war er durch die von Ruinen gesäum-ten Straßen zum stark zerstörten Stettiner Bahnhof gelaufen.

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Er zuckte wieder zusammen. Verdammt, wo war ich stehen geblieben? "Also", hub er an, so als hätte er gerade erst seinen letzten Satz beendet, "... ich wollte aus Berlin heraus. Da die Züge damals sehr unregelmäßig fuhren, stieg ich in den einzigen Zug, der noch an diesem Tage abfahren sollte. Der fuhr in Richtung Norden. Als er in den Bahnhof von Parchim einfuhr, entschied ich mich spontan dazu, dort zu bleiben. Fragen Sie mich nicht warum - ich weiß es nicht. Ich lief ziellos durch die Straßen. Plötzlich bemerkte ich eine alte Frau, die sich mit einem Handwagen abmühte. Ich zog ihr den Handwagen bis zu ihrer Wohnung. Wir kamen ins Gespräch und sie bot mir Unterkunft an. Das war ein Glücksfall. Es gelang mir dann auch bald eine Arbeit in einem Betrieb zu finden. Das war übrigens die Textilfabrik, vor deren Tor ich von Ihren Leuten verhaftet wurde."

Keter merkte, daß Krausinger stockte und ihm die Augen zufielen. Er verabschiedete sich. Krausinger, der das nicht einmal mitbekam, schlief im Sessel ein, und zwar ganz gegen seine Gewohnheit, bekleidet wie er war und ohne Abendtoilette gemacht zu haben.

Kassel, März 1995. Wie nach dem Besuch der Gauck-Behörde geplant, fuhr ich am nächsten Morgen ziemlich müde, denn ich hatte aus Angst, im Hotelzimmer überfallen zu werden, kaum geschlafen, mit dem ICE von Berlin nach Kassel.

Meine Gedanken waren bald wieder bei der Akte und bei diesem Krau-singer. Natürlich fragte ich mich, wie es wohl dazu kam, daß dieser Mann, der ja von der Stasi verhaftet worden war, später für sie arbeitete. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß ein Standartenführer der SS sich in den Jahren nach dem Kriege zum Kommunisten gewandelt haben sollte. Wie war es der Stasi gelungen, einen solchen politischen Gegner zur erfolgreichen Zusammenarbeit zu bewegen? Sicher nur durch Zwang. Denn wenn der diese Zusammenarbeit gewünscht hätte, dann hätte er sich doch nicht so lange vor ihnen versteckt. Die richtige Antwort auf meine Frage erhielt ich später in Kassel, als ich, was ich an dieser Stelle vorwegnehmen möchte, folgendes las. Aktennotiz:

K. ist zur Mitarbeit zu bewegen durch: 1) Ausnutzung seiner zweifellos vorhandenen Ängste vor einer Verurteilung. Diese Ängste sind weiter zu schüren, durch verbale Bedrohung und Verdeutlichung mögl. lebensbe-drohender Strafen. 2) Ausnutzung seines unbändigen Verlangens nach Forschungsmöglichkeiten. Der Mann leidet unter Entzugserscheinungen. Erste Möglichkeiten bieten. Zeigen, daß viel mehr möglich wäre. Angebot machen. 30. August 1955 Keter

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In Kassel angekommen, ließ ich mich von einem Taxi nach Hause fah-ren. Ich hatte meinen Koffer nur abgestellt und sofort wieder das Haus verlassen, um mich zu einer Telefonzelle zu begeben. Von meinem Apparat aus wollte ich nicht telefonieren. Ich rief Meike an und verabre-dete mich mit ihr für den späten Nachmittag in ihrer Wohnung.

Am Nachmittag verließ ich dann das Haus durch den Hintereingang. Ich brauchte fast eine Stunde, um auf Umwegen zu Meike zu gelangen. Wir sind seit einigen Jahren eng befreundet. Sie ist Ende Zwanzig, hat Kunstwissenschaft studiert und arbeitet bei der Documenta. Mit ihren 1,70 m ist sie mit Pumps fast genau so groß wie ich. Ihre langen blonden Haare fallen ihr bis auf die Schultern herab.

Als Meike nach meinem Klingeln die Tür öffnete, fiel sie mir, wie immer, wenn ich mal ein paar Tage weg war, um den Hals. Ich befreite mich zu ihrer Verwunderung eilig von ihr und schlug schnell die Tür hinter uns zu. Dann lief ich in ihr Wohnzimmer zu einem der Fenster an der Straßenseite und spähte, um nicht gesehen zu werden, vorsichtig nach unten. Sie starrte mich mit ihren blauen Augen fassungslos an. "Was ist denn mit dir los? Schiebst mich einfach weg und rennst zum Fenster? Wirst du verfolgt? Hast du etwa eine Tankstelle überfallen?"

Ich winkte ärgerlich ab, schaute weiter hinunter auf die Straße und frag-te sie, ohne in ihre Richtung zu blicken: "Hast du das Paket erhalten?"

"Ja ja, das liegt doch dort in der Diele. Was ist denn damit? Und willst du mir nicht erklären, was das alles soll?" Sie war offensichtlich verärgert. Und wenn ich ehrlich war, dann mußte ich ihr das zugestehen, so wie ich hereingeplatzt war und wie ich mich verhielt.

Unten war niemand zu sehen. Auch kein verdächtiges Fahrzeug am Straßenrand. Scheinbar waren sie mir wirklich nicht gefolgt bis hierher. Aber die könnten vielleicht bald raushaben, daß hier meine Freundin wohnte und kämen dann sicher mit Richtmikrofonen. Dann würde ich mit ihr auch hier nichts Wichtiges mehr unbelauscht besprechen können. Ich mußte auf jeden Fall verhindern, daß sie auf Meike überhaupt erst aufmerksam wurden. "Du wirst mich gleich verstehen, wenn ich dir etwas erzähle, was ich in Rostock erfahren und erlebt habe. - Aber zeig mir doch erst mal das Paket, bitte."

Sie ging voran in die Diele. Ich sah das Paket, nahm es auf und prüfte es sofort. Es war zum Glück alles in Ordnung. Aber es hätte ja auch auf dem Postweg einreißen können. Ich öffnete es und holte die Akte heraus. Schnell blätterte ich sie durch. Ja, das war sie, so wie ich sie an dem Abend in der Laube gelesen und später bei meiner Tante eingepackt hatte. Da war niemand dran gewesen. Ich klemmte sie unter den linken Arm, griff mit meiner Rechten nach Meikes Hand und zog sie in ihr

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Wohnzimmer, wo wir uns auf die Couch setzten. "Was ich hier habe", sagte ich, sicher ziemlich geheimnisvoll klingend und wies dabei auf die geschlossene Akte, "... ist etwas offensichtlich ganz Geheimes, denn ich werde verfolgt, seit ich das in Rostock in die Hände bekommen habe -und mein Vater mußte deswegen sterben."

Meike sah mich überrascht an. Sie zog eine Augenbraue hoch und frag-te in ironischem Ton: "Was denn, Mafia-Unterlagen ... oder Atomprotokolle aus dem Osten?" Sie schien gerade die Berichte über die Plutonium-Mafia gelesen zu haben.

"Nein, nein. Etwas ganz anderes. Es hat mit der Stasi zu tun ... und mit der SS."

"Mit der Stasi? Die gibt's doch gar nicht mehr. Und die SS? Das ist ja wohl nun ganz und gar Geschichtsbuch! Was hast du gesagt? Du wirst deswegen verfolgt? - Das kann ich mir nicht vorstellen. Das gibt's doch nur im Film! Sag mal, hast du deine DDR-Zeit immer noch nicht verkraf-tet? Ich habe mir ja schon immer gedacht, daß Ihr alle einen Knacks weg-gekriegt haben müßt, die Ihr dort gelebt habt."

Ich ließ mich nicht ärgern. Sonst konnte das schon mal passieren, daß sie mit ihrer intellektuellen Arroganz es fertigbrachte, mich auf die Palme zu bringen. Im Westen geboren und aufgewachsen, niemals ein DDR-Leben aus der Nähe erlebt, bestenfalls mal für drei Tage Berlin- oder Ver-wandtenbesuch, da konnte man ja gar nicht mitreden. Solche Leute soll-ten zu dem Thema DDR den Mund halten, fand ich. Jetzt aber war das alles ziemlich unwichtig. Wichtiger war, daß ich die Akte in Händen hielt. Ich erzählte ihr, was der Senior früher beruflich gemacht hatte. Sie wußte es bisher noch nicht.

An ihrem Blick sah ich, daß es sie irritierte, zu hören, daß ich der Sohn eines hohen Stasioffiziers war. Für sie war ja das Wort Stasi kaum anders belegbar, als unheimliche, nicht faßbare, anonyme Geheimmacht, die kein Gesicht besaß, gleichzusetzen mit der Gestapo. Für uns DDR-Bürger aber hatten die Leute Gesichter, waren oftmals einfach nur der Nachbar oder der Bruder des Sportkameraden aus dem Verein. Und sie sahen aus, wie du und ich. Es gab solche, die heraushängen ließen, daß sie Macht hatten und diese gegen Menschen ausnutzten und es gab solche, die einfach, ohne Arroganz und ohne über ihre Arbeit zu sprechen, Nachbarn waren, die wahrscheinlich niemandem direkt geschadet hatten. Es gab schlimme Typen, die ebenso für die Gestapo oder für Stalins brutale GPU hätten arbeiten können. Es gab aber auch solche, die glaubten durch ihre Tätigkeit das meiste für die Sache tun zu können, an die sie glaubten. Einige von denen verzweifelten mit der Zeit an ihrem Beruf, sahen aber kaum eine Möglichkeit, da wieder raus zu kommen. Der Senior war, wie

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bereits gesagt, einer von denen, die an das hehre Ziel "ausbeutungsfreie Gesellschaft" geglaubt hatten und der als Forscher eine ähnliche Arbeit tat, wie er sie vorher bereits im zivilen Forschungsbereich getan hatte.

Jedenfalls informierte ich Meike über den Tod des Seniors, über seinen Brief, die Akte und alles was folgte, bis ich bei ihr angekommen war. "Verstehst du nun, daß ich vorsichtig sein muß, weil sie mir möglicher-weise gefolgt sein könnten, bis hierher, zu dir?"

"ja, aber da gibt es doch wohl ein probates Mittel - die Polizei." Sie griff nach dem Telefon.

Schnell drückte ich ihre Hand nieder. "Sag, hast du denn immer noch nicht begriffen? Die Polizei hätte doch keine Möglichkeit, die Kerle fest-zuhalten, wenn sie hier unten warten würden, weil es keinen ausreichen-den Straftatbestand gäbe. Und außerdem: Ich glaube, die Macht, die hin-ter allem steht, hat auch ihre Leute überall. Überall!"

"Was denn, du meinst doch nicht etwa ...?" "Doch. Auch hier in den alten Ländern." Sie schaute mich ungläubig an und schüttelte den Kopf. "Glaub mir nur. Das alles ist noch lange nicht ausgestanden. Ich

befürchte sogar, daß im Osten die alten Strukturen mit den neuen unter der Oberfläche eine gewisse Symbiose eingegangen sind, die der normale Bürger überhaupt nicht durchschauen kann. Und hier gibt es ja angeblich auch noch mehr als zehntausend nicht enttarnte Ostagenten unter den Bundesbürgern. - Jedenfalls muß ich hinter das Geheimnis kommen. Und ich sage dir, wenn ich es herausbekommen habe, dann platzt eine Bombe, das bin ich meinem Senior schuldig."

Sie hatte sich etwas gefaßt, obwohl ihr, das konnte ich mir durchaus vorstellen, der Kopf schwirrte. Sie kannte die DDR-Verhältnisse nicht, konnte sie sich trotz meiner Erzählungen nur vage vorstellen, etwa so wie einen Film, den man nicht selbst gesehen hat. Außerdem war sie fast zehn Jahre jünger als ich. Sie hatte ja Vieles, weil vor ihrer Zeit, überhaupt nicht mitbekommen können. Ich war froh, als Meike dann sagte: "Gut. Ich verstehe das alles zwar immer noch nicht, aber ich werde vorsichtig sein, wie du von mir erwartest und ich werde dir helfen, wo ich kann."

Was das für sie bedeutete, die sie in einer Demokratie aufgewachsen war und Vorsichtsmaßnahmen gegen Abhörmethoden, gegen heimliche Durchsuchungen der eigenen Wohnung, gegen Beobachtung und Verfol-gung niemals treffen mußte, war mir klar. Hoffentlich wußte sie wirklich, worauf sie sich da einließ. Aber sie hätte ja auch sagen können: Laß mich in Ruhe damit. Ich will mit sowas nichts zu tun haben. Raus mit der Akte aus meiner Wohnung! Das tat sie nicht. Sie stand auf meiner Seite. Sie hielt zu mir. Und darüber freute ich mich natürlich.

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Ich wollte die Akte bei ihr lassen und sie auch nur bei ihr lesen. Mein Ansinnen, mich mit ihr in der nächsten Zeit als Vorsichtsmaßnahme zu ihrem Schutz nicht in der Öffentlichkeit zu zeigen, rief zunächst wieder Unverständnis hervor. Ansatzweise Bedenken, ich könne möglicherweise eine Andere haben, konnte ich aber zerstreuen.

Abends, bevor ich einschlief, dachte ich weiter über Keter, die Akte und Krausinger nach. Bisher war das Ganze von der Quellenlage her keines-wegs so, daß ich mir die Aktionen der anderen Seite gegen den Senior und mich hätte erklären können. Das Fazit, das ich beim gegenwärtigen Stand meiner Erkenntnisse ziehen konnte, lautete: Erstens war da offen-sichtlich ein ehemaliger Raketenforscher des Dritten Reiches für die Stasi tätig gewesen. Das wäre nun durchaus nichts Geheimnisvolles, hatte doch, wie ich einst lernen mußte, bereits Lenin gefordert, man müsse bürgerliche Spezialisten "als nützliche Idioten" für sich arbeiten lassen. Das reichte also nicht hin, um groß "etwas daraus zu machen", wie der Senior von mir erwartet hatte. Es war aber schon interessant, wenn man bedenkt, welch gewaltiges Raketen- und Weltraumprogramm die Amis auch aufgrund der Tatsache entwickeln konnten, daß ihnen solche Leute in die Hände gefallen waren und für sie gearbeitet hatten. Aber auch das war nun, da es die DDR nicht mehr gab, nicht mehr der Rede wert und ebenfalls kein Grund, die vermeintlichen Besitzer der Akte zu bedrängen, diese herauszugeben. Zweitens war dieser Waffenforscher kein Zivilist gewesen und auch kein Wehrmachtsoffizier, sondern ein hoher SS-Offi-zier. Das war allerdings ungewöhnlich und einer gewissen Geheimhaltung wert, da doch die DDR offiziell immer wieder betont hatte, bei ihr würden Nazis verfolgt und sie dürften, im Gegensatz zur BRD, nicht in staatlichen Institutionen arbeiten. Die Veröffentlichung, daß da ein SS-Offizier für die Stasi tätig gewesen war, würde aber nun, da es die DDR nicht mehr gab, keine journalistische Bombe darstellen. Und es konnte auch kein Grund sein für die Beobachtung und Verfolgung, der meine Familie und ich ausgesetzt war. Drittens hatten die Nazis offensichtlich auch außerhalb von Peenemünde und außerhalb des Kohnsteins im Südharz irgendwo auf dem späteren Territorium der DDR mindestens ein weiteres geheimes, das heißt, der Weltöffentlichkeit unbekannt gebliebenes Waffenforschungszentrum. Und das wurde nach dem Kriege seit Jahren vom MfS genutzt. - Aber was bedeutete das schon, wenn da alte Räumlichkeiten weiter genutzt wurden?

Aus dem mir vorliegenden Material konnte man, so schätzte ich ein, bestenfalls eine zwanzigminütige Sendung im regionalen Hörfunk gestal-ten und eine kleine Serie mit zwei bis drei Folgen in einer unbedeutenden Zeitschrift schreiben, aber mehr war es kaum wert. Denn ich war

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nicht gewillt das Ganze aufzubauschen, aus einer Mücke einen Elefanten zu machen, nur um bei einer großen Zeitschrift eine Exklusivstory landen zu können, a la "Hitlertagebücher". Diese Cleverness oder besser Skru-pellosigkeit hatte ich auch nach mehreren Jahren journalistischer Tätigkeit im Westen noch nicht erworben.

Die Informationen aus der Akte und aus den Notizen des Seniors erklär-ten jedenfalls nicht die Aktivitäten der anderen Seite. Es stellte sich damit wieder und wieder die Frage, ob die Beobachtung und Verfolgung nicht vielleicht dadurch erklärbar war, daß es etwas gab, das entweder in der Akte stand, ohne von mir bisher wirklich wahrgenommen worden zu sein, oder das nur indirekt mit der Akte zu tun hatte, aber für diese Leute sehr gefährlich werden könnte, wenn Außenstehende darauf stoßen würden. Auch fiel mir auf, daß der Name Quader nicht auftauchte, obwohl der doch im Zusammenhang mit der Akte eine äußerst gefährliche Rolle spielte. Also war die Akte vermutlich nur Teil eines Puzzles und die anderen Teile würde ich erst noch finden müssen. Anders war es nicht zu erklären.

Jedenfalls konnte ich meine Recherchen nicht abbrechen, die Akte ein-fach liegen lassen und den Wunsch des Seniors ignorieren. Im Gegenteil. Das Gefühl, daß ich verpflichtet sei, den praktisch letzten Wunsch meines Vaters "Mach was draus, Theo!" zu erfüllen, wurde stärker und stärker. Nun lege ich keine Leute um - ich bin kein Killer. Ich schreibe auch keine Dossiers, welche anonym an Strafverfolgungsorgane gesendet werden - ich bin kein Spitzel. Aber ich schwor mir in diesem Augenblick, sobald ich alles wissen würde, die Öffentlichkeit zu informieren und den Tod des Seniors zu rächen.

Am folgenden Tag, ich hatte noch immer Urlaub, besuchte ich die Hochschulbibliothek am Holländischen Platz, in der Absicht, mein Hin-tergrundwissen über die Raketenforschung der Nazis zu vertiefen. Ich fand tatsächlich eine Menge Literatur zu diesem Thema. Und ich fand Spuren, die auf Krausinger hinwiesen. So stieß ich in einem Buch über Wunderwaffen auf folgendes Schriftstück:

SS-Obergruppenführer Dr.-Ing. Kammler

Wirtschaftsverwaltungshauptamt, Amtsgruppe C Geheime Reichssache!

Betr.: Richtlinie für die Sicherheit des Forschungs- und Entwicklungsstabes Wunderwaffen (Dienststelle Forst)

An den SS-Gruppenführer Holt

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In der Anlage erhalten Sie die Richtlinie für die Sicherheit Ihrer Dienst-stelle. Sie sind mir für die unbedingte Beachtung und Durchsetzung ver-antwortlich. Heil Hitler gez. Kammler Aul.: 2 geheftete Anl. 1 und 2

Es handelte sich bei dem Papier zwar nur um ein Anschreiben zu einer Sicherheitsvorschrift, der Autor war offensichtlich nicht an die Sicher-heitsvorschrift selbst gelangt, aber es war daraus immerhin zu entnehmen, daß es damals einen "Forschungs- und Entwicklungsstab Wunderwaffen" gab, der als "Dienststelle Forst" bezeichnet wurde.

Ich konnte in der Uni-Bibliothek mein Wissen zu der Materie in zweierlei Hinsicht abrunden, und zwar zum einen dahingehend, daß die Nazis vermutlich wirklich "Wunderwaffen" konstruiert und vielleicht auch gebaut haben mußten, die gegenüber den bekannten V1 und V2 einen Jahrhundertschritt in der Waffentechnik voraus waren. In den Quellen wurde das entweder nur aus den Fußnoten oder zwischen den Zeilen heraus lesbar oder es hieß, daß die Prototypen und Baupläne in den letz-ten Tagen des Krieges vernichtet worden seien. Zum anderen zeigte sich, daß Professor Krausinger tatsächlich zu den damals exponiertesten Rake-tenspezialisten gehört hatte, denn er wurde öfter erwähnt, bzw. es wurde auf seine Arbeiten aus den dreißiger Jahren Bezug genommen.

Noch am gleichen Abend beschäftigte ich mich erneut mit dem Material, nun aber bereits ein klareres Bild über die Hintergründe besitzend. Aus den Notizen des Seniors wußte ich, weshalb der ihm damals völlig unbekannte Ort Waldheide zur Außenstelle der WVA geworden war. General Keter hatte gehofft, daß man in dem dort befindlichen ehemaligen Waffenforschungszentrum aus dem Dritten Reich bislang unbekannte Waffen, vielleicht sogar die von den Nazis damals vielbeschworenen "Wunderwaffen", finden werde.

Der Senior hatte aufgrund der Tatsache, daß der ihm als Dr. Letticher bekannte Krausinger dorthin versetzt worden war vermutet, daß dieser möglicherweise dort einmal tätig gewesen sein mußte. In seinen Notizen schrieb er auch, daß es ihn sehr gewundert habe, daß Waldheide nach der Wende ein totales Tabuthema geworden sei. Auf eine Frage nach der Außenstelle hatte ihm Quader zu verstehen gegeben, daß er diesen Ort unbedingt aus seinem Gedächtnis streichen solle. Da hätten "Andere" die Hände drauf. Könnte Waldheide möglicherweise diese ominöse "Dienst-stelle Forst" gewesen sein?

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Warenthin und Waldheide rückten nun in das Zentrum meiner Überle-gungen und wurden Gegenstand meiner Neugier. Ich beschloß, diese Orte aufzusuchen, auf Spuren- und Zeugensuche zu gehen.

Am nächsten Tag meldete ich mich beim Chefredakteur, der wissen wollte, wie weit ich mit der angekündigten Story über die Stasigenerale sei. Es gelang mir unter Hinweis darauf, daß noch einige wichtige Recherchen notwendig seien, eine Dienstreise nach Warenthin genehmigt zu bekommen. Er wollte erst nicht so recht, als ich ihm aber deutlich machte, daß ich ja durch die bisherigen Recherchen bereits meinen Urlaub für den Sender geopfert hatte, gab er mir sein Okay: "Gut. Drei Tage und keinen Tag länger!"

Mecklenburg-Vorpommern, März 1995. Am folgenden Morgen machte ich mich auf den Weg. Diesmal fuhr ich allerdings mit einem Mietwagen. Während ich bereits in Richtung Norden unterwegs war, dachte ich schmunzelnd daran, daß Quaders Leute vermutlich zur gleichen Zeit den Eingang des Hauses in dem ich wohnte sowie meinen davor abgestellten Pkw observierten.

Nach einigen Stunden anstrengender Fahrt, nur unterbrochen durch kurze Aufenthalte auf verschiedenen Autobahnraststätten, hatte ich Warenthin erreicht. Schon von weitem sah ich die den ganzen Ort über-ragenden Gebäude der ehemaligen WVA, genau so, wie es der Senior beschrieben hatte.

Ich stellte meinen Wagen auf einem Parkplatz im Zentrum der kleinen Stadt ab. Dann machte ich mich auf den Weg zu dem Objekt, das jahr-zehntelang eine Stasiinstitution beherbergt hatte und in dem sich nun bereits seit einigen Jahren die aus der WVA mutierte "SHT Warenthin GmbH" befand. Da saßen die gleichen Leute, die schon vor der Wende dort gearbeitet hatten. Es war ein riesiger Komplex, an dessen hohen Außenmauern ich entlangschritt. Und es war schon ein seltsames Gefühl, zu wissen, hier draußen ist die Bundesrepublik und gleich hinter der Mauer ist praktisch noch eine Art Rest-DDR.

Ich kam an dem geschlossenen Haupttor vorbei. Auf einem Schild war zu lesen: "SHT Warenthin GmbH". Selbst einem weniger guten Beobach-ter als ich mich bemühte zu sein, wären die zahlreichen in alle Richtungen weisenden Kameras nicht entgangen. Ich hatte den Eindruck, daß jeder meiner Schritte beobachtet wurde.

Weit und breit war ich der einzige Passant. Nach circa 200 Metern, wechselte ich die Straßenseite und schlenderte langsam zurück in Rich-tung Stadtzentrum. Wieder kam ich am Tor vorüber. Diesmal standen jedoch zwei Männer davor, die mich unverhohlen anstarrten. Der eine

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hielt eine mir riesenhaft erscheinende Dogge straff an der Leine, die wie wild in meine Richtung zog und bellte. Ein Lieferwagen passierte das nun geöffnete Tor und fuhr auf der Straße im Tempo meiner Schritte neben mir her. Die Scheiben waren dunkel getönt und für mich undurchsichtig.

Es wurde mir langsam unheimlich. War es ein Fehler gewesen, allein hier an den Rand der Stadt zu kommen und diese Leute zu provozieren? Sicher war es ein Fehler gewesen. Unwillkürlich beschleunigte ich meine Schritte. Der Lieferwagen, zwei Meter neben mir an meiner linken Seite, fuhr nun ebenfalls schneller. Was wollten die von mir? Ganz klar: Die wollten mich einschüchtern. Vielleicht machten sie auch hinter der dunklen Seitenscheibe Fotos von mir? Ich mußte unbedingt zurück auf die andere Straßenseite, wenn ich keinen Riesenumweg zum Stadtzentrum laufen wollte. Aber ich hatte plötzlich Angst, daß die im Wagen darauf nur warteten, um mich zu überfahren. Aber wieso nur diese Angst? Die konnten doch nun wirklich nicht jeden Neugierigen überfahren. - Oder, oder wußten die etwa schon, wer ich war? Und außerdem. Es würde kaum Zeugen geben, wenn die jetzt einen Verkehrsunfall inszenieren würden. Und die könnten es sicher auch so drehen, daß eventuelle Zeugen genau das gesehen haben würden, was sie sehen sollten - einen Verkehrsunfall.

Hör auf, sagte ich mir, nimm dich zusammen. Nur keine Panik! Schließlich kam ich an eine Kreuzung, die etwas belebter war. Schnell rannte ich über die Straße. Ich blickte mich um, als ich auf der anderen Straßenseite angelangt war und sah, daß der Lieferwagen angehalten hatte. Zwei Männer stiegen aus und überquerten ebenfalls die Straße. Sie hefteten sich an meine Fersen.

Mir war natürlich klar, daß ich jetzt nicht zu dem abgestellten Wagen konnte. Also entschied ich mich dafür, die Informationen die ich noch brauchte, eben unter Beobachtung einzuholen.

So sprach ich in der Stadt verschiedene Passanten auf die ehemalige WVA an. Ich sei Journalist, der an einer Reportage zu dem Thema arbei-te, erklärte ich mein Ansinnen. Viele wußten nichts mit der Bezeichnung WVA oder SHT anzufangen, hatten keine Ahnung von einer Stasiinstituti-on in ihrer Stadt. Wenige interessierten sich dafür. Einige sagten, die alten Geschichten solle man doch endlich ruhen lassen. Von einem bekam ich Prügel angedroht: Die Scheiß-Wessis sollten doch vor ihrer eigenen Tür den Dreck wegkehren.

Die ganze Zeit über befanden sich auch die beiden Männer aus dem Lieferwagen in der Nähe. Aber sie unternahmen nichts. Mir wurde klar, daß sie mir folgen würden, wenn ich zu meinem Wagen ginge. Dann fiel mir plötzlich ein, daß die ja möglicherweise den Wagen bereits ausge-

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macht hatten. Wenn die schon wußten, wer ich war, dann würde denen auch klar sein, daß der Golf mit dem Kasseler Kennzeichen zu mir gehör-te. In so einer kleinen Stadt mußte der ja einfach auffallen. Deshalb be-schloß ich, zunächst in einem Restaurant zu Abend zu essen und mir dann ein Hotelzimmer zu nehmen, falls es in dem Ort überhaupt ein Hotel gab.

Überraschend schnell fand ich aber einen Gasthof, in dem ich ein Zim-mer buchte und in dessen Restaurant ich speiste. Als ich dabei war, eine Vesperplatte mit einem dunklen Hefeweizen zu mir zu nehmen, sah ich, wie die zwei Männer aus dem Lieferwagen sich an einem anderen Tisch niederließen und mir beim Essen zusahen. Ich ignorierte sie, zahlte, und verließ das Restaurant, um den Wagen zu holen.

Die beiden Männer folgten mir wieder. Es war mir klar, daß ich in die-sem Ort keine Chance hatte, diese Leute loszuwerden. Erstens war ich hier fremd und zweitens war dieses Städtchen nun einmal nicht Rostock oder Kassel, wo man einfach mehr Möglichkeiten hatte, Verfolger abzu-schütteln. So ging ich schnurstracks zu dem Parkplatz und fuhr zu dem Gasthof zurück. Ich nahm mein Gepäck und begab mich auf mein Zimmer. Da es nach vorn hinaus gelegen war, konnte ich den Parkplatz vor dem Haus überblicken. Es schien da alles in Ordnung zu sein. Die Verfolger waren nirgendwo zu sehen.

Bevor ich an diesem Abend einschlief, beschloß ich, gleich nach dem Frühstück abzureisen. Um den Verfolgern mein wahres Ziel nicht zu ver-raten, wollte ich zunächst in Richtung Rostock fahren.

Am folgenden Morgen frühstückte ich, bezahlte meine Rechnung und begab mich zum Wagen. Ich bemerkte sofort, daß die Reifen auf der lin-ken Seite platt waren. Zerstochen! Ich ging um den Wagen herum. Was ich befürchtet hatte, erwies sich als zutreffend: Alle vier Reifen zerstochen! Scheiße! Was nun? Ich blickte mich um. Niemand war zu sehen.

Von der Gaststube aus rief ich eine Werkstatt an, die den Wagen mit einem Abschleppfahrzeug abholte. Dann ging ich auf Anraten des Wirtes, der mit Sicherheit sowieso die Polizei informiert hätte, zum Polizeirevier und gab eine Anzeige gegen Unbekannt auf. "Schon wegen der Versiche-rung", hatte der Wirt gemeint. Der Polizeimeister, der die Anzeige auf-nahm, machte mir keine Hoffnung, daß der Fall geklärt werden könnte. "Jugendliche! No future-Mentalität", sagte er. Damit schien für ihn der Fall erledigt zu sein.

Zwei Stunden später saß ich in einem Taxi, welches mich nach Wismar brachte. Dort buchte ich in einem Hotel zwecks Täuschung meiner wahren Absichten gleich für mehrere Tage ein Zimmer. Natürlich rechnete ich mit Verfolgern. Allerdings hatte ich auf der Fahrt nach Wismar nichts

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bemerkt, was auf eine Verfolgung hindeutete. Dennoch war ich vorsichtig. An der Rezeption ließ ich mir die "Gelben Seiten" geben und kaufte einen Stadtplan von Wismar.

Auf meinem Zimmer suchte ich die Adressen von Autovermietungen heraus und markierte diese auf dem Stadtplan. Dann verließ ich das Hotel und lief scheinbar ziellos durch die Innenstadt. Als ich mir relativ sicher war, daß mir niemand folgte, ging ich zu einer der Autovermietungen. Von dort fuhr ich dann mit einem gemieteten Kleinwagen nach Gre-ventorf, in dessen Vorort sich die geheimnisvolle Außenstelle der ehemaligen WVA befinden sollte. Gut eine Stunde später kam ich in Waldheide an.

In der einzigen Gaststätte des kleinen Ortes aß ich zu Mittag. Ich wech-selte mit dem Wirt ein paar belanglose Sätze und fragte ihn dann ganz unverfänglich über das Objekt im Wald aus. Da er ein gesprächiger Mann war und ich der einzige Gast, war er für diese Abwechslung offensichtlich dankbar. Er erzählte mir, was er darüber wußte. Das war allerdings nicht sehr viel. Ihm war bekannt, daß dort im Wald seit ewigen Zeiten ein militärisches Objekt war, schon zur Nazizeit und auch danach. Zuletzt sei das eine Dienststelle der NVA gewesen, meinte er.

Es gelang mir durch seine Vermittlung eine alte Frau zu sprechen, die schon während des Krieges dort in der Küche gearbeitet hatte. Sie bestätigte mir einiges von dem, was ich bereits aus dem mir zur Verfügung stehenden Material wußte. Sie hatte in der Küche natürlich wenig davon mitbekommen, was wirklich dort geschah. Aber sie kannte auch Krausinger, über den sie voller Respekt sprach. Dann erzählte sie mir von ihrem Mann. Der war zu jener Zeit Schutzpolizist. Ende November 1944 habe er eines nachts mit einem Kollegen in den Wald gemußt. Auf dem Gelände der "Dienststelle Forst" sei ein seltsames Flugzeug abgestürzt. Dieses runde Flugzeug habe geglüht. Da seien aber auch zwei seltsame kleine Piloten gewesen, Zwerge praktisch. Das habe sie alles von ihrem Mann erfahren, der am frühen Morgen zurückgekommen sei. Nach kaum zwei Stunden Schlaf habe ihn völlig überraschend die Gestapo abgeholt. Wochen später habe sie die Nachricht erhalten, daß er an der Ostfront gefallen sei.

Was sie mir da erzählte, hätte mich an ihrem Verstand zweifeln und ihre anderen Aussagen über die "Dienststelle Forst" als ebenfalls nicht glaubhaft ansehen lassen, wenn mir der Wirt nicht bereits vorher gesagt hätte, die Alte sei zwar ein bißchen seltsam, denn seit Jahrzehnten erzäh-le sie im Dorf, im Wald habe ihr Mann im letzten Krieg Zwerge mit einem runden glühenden Flugzeug ohne Flügel gesehen. Der Wirt hatte aber auch betont: "Die ist vermutlich so seltsam geworden, weil ihr Mann gefallen ist. - Aber sonst ist die eigentlich ganz normal."

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Die alte Frau erzählte mir dann auch, daß um die Jahreswende 1944/45 vor einem der Gebäude etwas Kreisförmiges mit Tarnplanen abgedeckt gestanden habe und von der SS scharf bewacht worden sei. Bald darauf seinen umfangreiche Bauarbeiten durchgeführt worden, was da genau gebaut wurde, wisse sie nicht. Aber die hätten immer Gesteinsbrocken und Erde aus dem Gebäude Nr. 3 herausgeschafft und später sehr viel Beton hineingebracht. Danach sei der Gegenstand, der unter den Tarn-planen versteckt war, eines morgens als sie in der Frühe zum Dienstbe-ginn in der Küche eingetroffen sei, einfach nicht mehr da gewesen.

Hier in Waldheide erfuhr ich zum ersten Mal in Zusammenhang mit der Akte etwas über ein mysteriöses Flugobjekt, konnte diese Information jedoch nicht einordnen und schon gar nicht akzeptieren. Ich ignorierte sie einfach und redete mir ein, das habe ja alles wenig zu tun mit dem, wonach ich suchte.

Die Frau sagte mir auch, daß die Dienststelle am 20. oder 21. April 1945, genau wußte sie es nicht mehr, überraschend geräumt und von den eigenen Leuten gesprengt worden sei. Einige Jahre nach dem Kriege habe dann die Grenzpolizei der DDR auf dem Gelände Holzbaracken errichtet. Da sei eine Hundeschule gewesen, über viele Jahre, aber da könne mir ihre Enkelin mehr erzählen, denn die habe dort auch als Küchenfrau gearbeitet.

Es stellte sich heraus, daß die ebenfalls in Waldheide lebende Enkelin von 1979-1990, zunächst in der Hundeschule der Grenztruppen der NVA, dann in der WVA, die sie angeblich auch für eine NVA-Dienststelle hielt, tätig gewesen war. Von ihr erfuhr ich auch einige Details, die mir einen Eindruck von dem Tagesablauf dort vermittelten. Und sie hatte miterlebt, wie die Außenstelle scheinbar aufgelöst worden war: "ja, den Professor habe ich gekannt. Auch den General habe ich einige male dort gesehen, in Uniform. Aber dann haben die uns allen gekündigt. Das wurde doch aufgelöst. Ich denke, seit 1990 ist dort nichts mehr."

Ich fuhr hinaus zum Objekt und versuchte, das Gelände in Augenschein zu nehmen. Aber ich kam überhaupt nicht bis an den Zaun heran. Ich bemerkte, zum Glück bevor sie mich sahen, im Wald schwerbewaffnete Männer, die russisch miteinander sprachen. Es stimmte also nicht, was die Küchenfrau gesagt hatte. Aber wahrscheinlich konnte sie es nicht anders wissen, denn sie war nach 1990 nicht wieder dort gewesen.

Mir zeigte meine Beobachtung im Wald jedenfalls, daß da offensichtlich irgend etwas versteckt war, was schwer bewacht werden mußte. Das bedeutete, daß Waldheide wirklich der Schlüssel zu einem Geheimnis war. Dort schien die ganze Brisanz der Angelegenheit zu liegen, die der Senior bestenfalls geahnt haben konnte.

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Ich fuhr zurück nach Wismar, gab den Wagen ab und blieb einen wei-teren Tag in der Stadt. Ich mußte all die neuen Informationen, all das, was ich gesehen und gehört hatte, erst einmal verdauen. Am nächsten Tag reiste ich dann ab. Mit einem Taxi erreichte ich Warenthin. Nachdem ich den Mietwagen aus der Werkstatt geholt hatte, konnte ich unbehelligt von irgend jemandem zurück nach Kassel fahren.

In Kassel angekommen, gab ich den Mietwagen ab und fuhr mit der Straßenbahn zum Rathaus am oberen Ende der Königstraße. Als ich dort die Bahn verlassen hatte, lief ich, so wie ich es vorher geplant hatte, blitz-schnell durch den der Haltestelle gegenüberliegenden Supermarkt, und verließ ihn durch den Hinterausgang. Ich wandte mich nach rechts und erreichte die Wilhelmstraße. Dort bog ich erneut nach rechts ab und betrat das Haus, in dem sich die Außenstelle der BfA befand. In der ersten Etage nahm ich im Warteraum Platz und blätterte in Informationsbroschüren über die Rentenarten, die auf dem Tisch lagen, dabei immer die Tür beobachtend, von der aus man entweder zum Anmeldeschalter oder in den nach vorne offenen Warteraum gelangen konnte.

Ich wartete fast eine Stunde. Da der Warteraum gut besetzt war, fiel ich nicht auf. Als in dieser Zeit kein mir verdächtig erscheinender Besucher den Raum betreten hatte, verließ ich das Haus und wendete mich in Richtung der Friedrich-Ebert-Straße. Von dort fuhr ich mit der Straßen-bahn drei Stationen und war wenige Minuten später bei Meike. Ich erzählte ihr natürlich nichts von den Männern, die mich in Warenthin beobachtet hatten und auch nichts von den zerstochenen Reifen. Ich wollte sie nicht ängstigen.

Kassel, März 1995. Einige Tage später war ich abends allein in meiner Stammkneipe in der Friedrich-Ebert-Straße. Von den Kollegen hatte kei-ner Zeit gehabt und Meike war mit ihrer Chefin zu einem Kunstkolloquium nach Zürich gereist. Paul, der Wirt, reichte mir mein drittes Bier über den Tresen und ich schaute mich um, da die Tür in meinem Rücken geklappt hatte.

Ich bemerkte einen neuen Gast, der im Begriff war, sich zu setzen. Unsere Blicke begegneten sich. Ich erkannte ihn sofort. Er mich offen-sichtlich auch. Der Mann war schlank, dunkelblond, etwa Ende Dreißig, einiges über einsachtzig groß, vielleicht achtzig Kilo schwer, sportliche Figur. Es war Michael Rummel, den ich Jahre vorher anläßlich der Feier zum Sechzigsten meines Seniors kennengelernt hatte. Er war damals der Adjutant von General Keter. Und deshalb nahm ich sofort an, er sei einer meiner Verfolger.

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Er starrte mich an. Ich ihn. Beide lauerten wir darauf, was der jeweils andere wohl tun würde. Ich dachte: Geh auf ihn zu. Stell ihn zur Rede. Angriff ist die beste Verteidigung. Gesagt, getan. Ich ging hinüber zu sei-nem Tisch. Er beobachtete mein Kommen argwöhnisch.

"Was wollt Ihr von mir? Ich habe die Akte nicht!" Ich sprach wohl ziem-lich laut und wütend. In der Kneipe wurde es still. Rummel blickte in die Runde und bewegte die erhobene Linke beruhigend im Sinne von: Alles in Ordnung. Keine Panik. Die anderen Gäste sprachen wieder und küm-merten sich nicht mehr sonderlich um uns.

"Was für eine Akte? Wovon redest du eigentlich? - Komm setz dich ... Theo? Theo heißt du doch, wie dein Vater, stimmt's?"

Ich setzte mich. Ruhiger geworden, aber mit Nachdruck sprechend, wiederholte ich: "Ich habe die Akte nicht."

"Ich weiß nicht was du von mir willst?" Michael hatte halblaut gespro-chen. Brauchte ja keiner zu hören, worüber wir redeten.

"Was machst du denn sonst hier in Kassel?" fragte ich ihn. "Das gleiche könnte ich dich fragen." Ich dämpfte meine Stimme: "Na, ich war ja schon immer auf der ande-

ren Seite der Barrikade. Ich passe schon in den Westen, aber du, als ehe-maliger Adjutant eines Stasigenerals, dich hätte ich jetzt eher im Osten vermutet."

"Na, ich denke du schätzt mich völlig falsch ein, Theo." Rummel sprach beruhigend auf mich ein und sah sich vorsichtig um.

"Wieso, was weiß ich denn von dir? Die paar Witzchen, die du damals über Quader gemacht hast, die haben mir zwar gefallen. Aber sie sind doch kein Beweis dafür, daß du nicht auf seiner Seite stehst."

"Wieso auf Quaders Seite? Was hast du denn mit Quader zu schaffen?" "Na, das mußt du doch am besten wissen!" "Ich? Ich habe doch mit denen schon seit Jahren nichts mehr zu tun." Ich war überrascht und erleichtert zugleich: "Was denn, dann bist du

nicht in seinem Auftrag hier?" "Wovon redest du denn nur? Was denn für ein Auftrag? Rück doch end-

lich mal raus damit!" "Na, mich zu beschatten! Oder was machst du sonst hier in Kassel?

Und auch noch in meiner Stammkneipe. So viele Zufälle gibt es ja gar nicht!"

Er lachte befreit auf. "Du glaubst, daß ich dich verfolge. Paß auf, das habe ich gerade von dir gedacht. - Ich dachte, du bist ein Verfolger und man hat dich auf mich angesetzt! - Du scheinst offensichtlich genauso wie ich mit den gleichen Leuten Probleme zu haben. Und was meine Anwesenheit in Kassel betrifft: Ich bin nicht erst seit gestern hier, sondern ich lebe bereits seit zwei Jahren in dieser Stadt."

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Meine Erleichterung verstärkte sich. Ich glaubte ihm. Wenn das stimmte mit den zwei Jahren, dann hätte Michael offensichtlich wirklich nichts mit der Sache zu tun, da der Senior die Akte ja erst seit wenigen Monaten in seinem Besitz gehabt hatte.

Michael schaute sich um, ob jemand mithören konnte und sagte: "Theo, ich bin vor drei Jahren aus der WVA ausgestiegen. Ich kann dir jetzt nicht sagen weshalb, aber ich mußte untertauchen."

Wieso untertauchen? Ich registrierte was Michael gesagt hatte, wollte aber erst einmal wissen, wieso er mich für einen hielt, der ihn verfolgte: "Wie kommst du überhaupt darauf, daß ich dich verfolgen könnte?"

"Da wunderst du dich? Na schließlich war dein Vater ja auch Oberst und ein Kollege von Quader!"

"Mein Vater ist tot...", entgegnete ich mit fast tonloser Stimme. Michael schaute mich erschrocken an: "Tot? Dein Vater tot? - Das tut

mir leid. Er war doch noch gar nicht so alt. Woran ist er denn gestorben -oder war es ein Unfall?"

"Schlaganfall. Wir haben ihn vor vierzehn Tagen bestattet. - Aber erzähl mal weiter."

"Da gibt's nicht viel zu erzählen. Ich arbeite hier in Kassel." "Du hast vorhin gesagt, du wärst ausgestiegen ... wie hast du das

gemeint?" "Weißt du Theo, die hatten da etwas am Kochen - das war mir einfach

zu heiß. Und ich habe Angst, daß die noch immer hinter mir her sind." "Na, dann sitzen wir scheinbar beide im gleichen Boot." Ich weiß nicht

weshalb, aber ich hatte auf einmal das Gefühl, daß dieser Mann ehrlich war. "Dann kann ich dir ja auch sagen, daß Quader wahrscheinlich für den Tod meines Vaters verantwortlich ist."

Michael sah mich mit großen Augen an. "Das kannst du mir glauben. - Aber ich kann dir das nicht hier im ein-

zelnen erzählen. Da müssen wir uns mal woanders treffen." Ich trank mein Bier aus. Michael gab mir seine Visitenkarte und ich verabschiedete mich. Als ich die Kneipe verlassen hatte, wollte ich eigentlich in meine Wohnung gehen. Aber auf halbem Wege kam mir plötzlich die Idee, daß ich doch noch einen Blick in die Akte und in die Notizen des Seniors werfen müßte, um nachzuschauen, ob Michael Rummel darin erwähnt wurde. Ich wollte sichergehen, daß er mir keinen Bären aufgebunden hatte.

Ich schaute mich um, änderte meine Richtung und lief durch verschie-dene Querstraßen, immer auf der Hut vor Verfolgern. In Meikes Wohnung nahm ich den Brief des Seniors und die dazugehörigen Anlagen aus dem Versteck. Meine Suche nach Angaben über Michael hatte zum

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Glück keinen Erfolg. Michael wurde nicht erwähnt. Ich beschloß deshalb, ihn wirklich anzurufen.

Zwei Tage später trafen wir uns in der Stadtbibliothek im Kasseler Rat-haus. Wir setzten uns in eine Leseecke. Ich berichtete ihm halblaut, so daß keiner der vielen Besucher der Bibliothek etwas von unserem Gespräch mitbekommen konnte, über die Hintergründe vom Tod meines Vaters und wie ich auf die Akte Krausinger gestoßen war. "Ich werde seit der Beerdigung meines Vaters, beobachtet. Ich weiß auch, daß sie die Akte bei mir vermuten. Aber ich weiß bis heute nicht, worin der Zusam-menhang zwischen der Akte, der WVA und meinem Vater besteht. Viel-leicht kannst du mir helfen?" Michael sagte zögernd: "ja, dazu müßte ich erst einmal die Akte kennen."

Ich rang mit mir. Sollte ich sie ihm zeigen? Er schaute mich abwartend an. Dann entschied ich mich. War ich so weit gegangen, dann konnte ich sie ihm auch zeigen. Kurz entschlossen fragte ich ihn: "Hast du noch Zeit?"

"Ja, ich habe heute nichts anderes vor." "Gut, dann komm mit, ich werde dir die Akte zeigen" Unbemerkt

erreichten wir Meikes Wohnung. Michael fand es außerordentlich inter-essant, was in der Akte stand, zumal ihm Krausinger persönlich bekannt war. Allerdings hatte er bis dahin nicht gewußt, wie die Stasi Krausinger gesucht, gefunden und seine Mitarbeit erpreßt hatte. Er pfiff leise durch die Zähne: "Und das alles hinter dem Rücken der Russen!" Er erwies sich als eine unschätzbare Quelle. Ich erhielt von ihm viele neue Informationen und es füllten sich eine Menge von Lücken, die es für mich bei der Krausinger-Geschichte noch gab. Nun wurde mir auch manches klarer, was ich bis dahin noch nicht verstanden hatte, zum Beispiel, wieso der kleine Ort Waldheide so bedeutsam für die WVA wurde, warum Waldheide noch immer so bewacht wurde und daß dieser Krausinger und der General sich wahrscheinlich auch in diesem Moment noch dort befanden. Er klärte mich auch darüber auf, daß Quader seit der Wende der Mann war, der alle Fäden in Händen zu halten schien. Michael konnte mir auch vieles von dem bestätigen, was mir der Senior über die Ereignisse in der WVA vor und nach der Wende als Notizen hinterlassen hatte, aus einer anderen Sicht und natürlich, da ich direkt nachfragen konnte, auch detaillierter.

"Was meinst du, weshalb ist denn diese Akte so brisant, daß die meinen Vater deswegen so bedrängt haben und auch mich verfolgen und be-obachten? Hängt das damit zusammen, daß der Krausinger mit seiner du-biosen Vergangenheit für die Stasi gearbeitet hat? Will man das geheim halten, auch noch so lange nach der Wende? Das gibt doch keinen Sinn, oder?"

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"Also Theo, wenn ich mir die Akte so ansehe, dann glaube ich fast, daß Quader und seine Leute befürchten, daß derjenige, der sie hat, nicht Ruhe gibt, bevor er nicht genau weiß, was dahinter steckt. Und das könnte recht unangenehm für deren Pläne werden."

Michael war wie ich der Meinung, daß wir etwas unternehmen müßten. Er versprach mir, mich bei meinen weiteren Recherchen zu unterstützen. Als er ging, meinte er, er befürchte, daß die Jäger nach der Akte, die mir möglicherweise bis Kassel gefolgt waren, ihn vielleicht erkennen könnten und er, der geglaubt hatte, ihnen entwischt zu sein, nun wieder auf der Hut vor ihnen sein mußte.

Ich weiß nicht, aber als er die Wohnung verließ, hatte ich kein gutes Gefühl. Ich befürchtete, daß ich ihn möglicherweise in Lebensgefahr gebracht hatte.

Am nächsten Tag besuchte ich Michael. Er wohnte in Baunatal bei Kas-sel. In dem Hochhaus, in welchem sich seine Wohnung befand, fuhr ich mit dem Fahrstuhl bis in die neunte Etage. Ich hatte mich vergewissert, daß mir niemand gefolgt war, denn das Spiel, das wir spielten, war für uns beide gefährlich.

Dieser Abend brachte eine große Überraschung und einen Riesenschritt bei der weiteren Aufarbeitung der Ereignisse um diesen Krausinger. Michael entschuldigte sich, daß er mir verschwiegen habe, daß er über ein wichtiges Dokument verfüge, welches für die ganze Angelegenheit von großer Bedeutung sei. Aber er habe mich erst einmal besser kennen-lernen wollen. Er traute mir also auch nicht von Anfang an. Nun reichte er mir einen Packen alter Zink-Oxid-Kopien. Auf dem Deckblatt stand "Tagebuch" und darunter der Name des Schreibers "Bergwald". Dieser Name sagte mir nichts.

Wie Michael in den Besitz dieser Kopie gekommen war, werde ich spä-ter darlegen. Er bat mich jedenfalls, sofort das Material zu lesen. Das tat ich auch, neugierig darauf, was ich wohl erfahren würde. Der Inhalt erin-nerte mich allerdings an ein Märchenbuch. Ich mußte immer wieder den Kopf schütteln.

Michael beobachtete gespannt meine Reaktion. Als ich fertig gelesen hatte und aufblickte, fragte er sofort: "Und, wie findest du das?"

"Wie soll ich das denn finden? Das entbehrt doch wohl jeder Realität. -Wer ist denn das, dieser Bergwald? Ein Science fiction-Schriftsteller oder ein Märchenbuchautor?"

"Also wer der Mann ist, bzw. war, das läßt sich ja aus dem Inhalt erschließen. Das war offensichtlich einer, der in einem SS-Objekt gefan-gene alliierte Flieger bewachen mußte."

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Das hatte ich ja auch gelesen. Da hatte Michael recht, aber das war sicher auch alles, was daran real war. "Und der vor lauter Langeweile an-gefangen hat, ein Märchenbuch zu schreiben" ergänzte ich seine Worte.

"Also sagen wir mal so: Es sind ja einige harte Fakten in dem, was er schreibt, feststellbar. Zum Beispiel der Professor Krausinger, den können wir ja identifizieren."

"Ja, das wird das einzige Authentische daran sein. Aber mehr mit Sicherheit nicht."

Michael schien meine Ignoranz völlig unverständlich. "Sag mir doch bitte; Theo, was ist es denn, was dir dabei so märchenhaft erscheint?" Er blickte mich fragend an.

"Na, das ist ja wohl klar: Kleine Männchen, vielleicht auch noch grün, sprechen in die Köpfe von Menschen und sind wohl mit einem UFO vom Mars gekommen. Das ist ja wohl lauter Unsinn."

"Theo, entschuldige bitte, aber hast du noch nie von solchen Dingen gehört? Kannst du dir so etwas wirklich nicht vorstellen?"

"Vorstellen kann man sich vieles. Man kann sich auch viel Unsinn vor-stellen. - Gehört habe ich auch schon von UFOs, die bringen das ja manchmal sogar im Fernsehen. Aber da muß man ja ein Gläubiger sein, denke ich. Und das bin ich nicht. Ich bin ja auch in keiner Kirche. Mir kann keiner was erzählen, ob nun von Engeln oder von UFOs. Dafür bin ich ein zu rational denkender Mensch ..."

In dem Moment, als ich das sagte, schoß es mir wie ein Blitz durch den Kopf "glühende Scheibe ... kleine Männchen", das hatte ich doch schon einmal gehört! - Ach, natürlich, die alte Frau in Waldheide, die hatte ja auch so was erzählt. Aber sollte da wirklich etwas dran sein? . "Sag mal Michael, wie bist du denn eigentlich an dieses Material gekommen?" fragte ich, denn ich wollte nun unbedingt den Realitätsgehalt dieser Geschichte abchecken.

"Das ist eine lange Geschichte. Da muß ich weit zurückgehen. Du hast mich ja gefragt, weshalb wohl die Akte so brisant sei, obwohl doch außer Krausingers Herkunft nichts Besonderes und erst recht nicht etwas wirk-lich Geheimnisvolles drin zu stehen scheint. Das was ich dir sagen werde, wird dich genauso irritieren, wie dieses Tagebuch, weil du ja in dieser Frage ein ungläubiger Thomas bist."

"Was meinst du damit?" fragte ich verwundert. "Paß mal auf, Theo. Ich war in Berlin in einer ganz besonderen Arbeits-

gruppe tätig, bevor ich wegen einer Weibergeschichte nach Warenthin versetzt und dort Adjutant von General Keter wurde. Diese Arbeitsgruppe im Ministerium beschäftigte sich mit der Analyse unbekannter Luftraum-phänomene in der DDR."

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"Was denn für Luftraumphänome? Meinst du vielleicht Nordlichter oder so was ähnliches?" Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, daß die Stasi, die doch immer als rational und materialistisch aufgetreten war, sich nun möglicherweise mit UFOs beschäftigt haben sollte.

"Nein. Ich meine unidentifizierte Flugobjekte, UFOs!" "Ach, hör schon auf. Das glaubst du doch selber nicht. Im MfS! Nee,

also du kannst mir ja viel erzählen, aber sowas nicht." "Doch, doch. Natürlich fiel das unter strengste Geheimhaltung. Bevor ich

dort hinkam, hätte ich das auch nicht geglaubt. Aber paß auf, es kommt noch besser. Also, wie gesagt. Ich kam 1986 nach Warenthin und dort habe ich dann auch noch so etwas kennengelernt, wovon ich bis dahin nur Berichte gelesen hatte. Als Waldheide Außenstelle der WVA wurde, hatte uns General Keter informiert, daß sich dort einmal eine Waffenschmiede der Wehrmacht befunden habe. Lange Zeit wußte ich nicht mehr als das, bis mir Keter nach der Wende gezeigt hat, was dort in einer Tiefetage verborgen war. Halt dich fest, du wirst es nicht glauben: Sie haben dort tatsächlich ein UFO. Es ist eine glänzende Scheibe. - Ich habe sie mit eigenen Augen gesehen!"

Ich starrte Michael an. Auf den Arm nehmen wollte er mich sicher nicht. Aber wie konnte das sein? "Haben die Nazis sowas gebaut? War das die vielbeschworene Wunderwaffe?"

"Das dachte ich zunächst auch", erwiderte Michael.

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Kapitel II

Aktennotiz vom 24.09.1961 K. verhält sich seltsam abweisend, wenn es in Gesprächen auf das Thema der Erfolge der sowjetischen Raumfahrt kommt. Er tut die gran-diosen Leistungen ab und verhält sich so, als kenne er Besseres. Auch den Raumfahrtergebnissen der Amerikaner steht er ablehnend und iro-nisch gegenüber. Da er als Raketenforscher recht gut einschätzen kann, wie enorm sich seit Fünfundvierzig auf diesem Sektor alles entwickelt hat, erscheint mir diese Haltung sehr merkwürdig. Weshalb tut er das? Was verheimlicht er? Keter

Warenthin, Oktober 1957. In einem der Labore der WVA verfolgte Pro-fessor Krausinger gerade aufmerksam, wie sein Kollege Dr. Bernert und ein Laborassistent eine Versuchsanordnung überprüften. Das Telefon schrillte. Er nahm den Hörer ab und erkannte die Stimme des Generals: "Professor, kommen Sie doch bitte sofort zu mir."

"Ich bin gerade mit einer Versuchsanordnung ...", blockte Krausinger ab, aber der General unterbrach ihn: "Das müssen Sie zurückstellen. Es ist außerordentlich wichtig. Kommen Sie umgehend!"

"Dr. Bernert, beginnen Sie bitte mit dem Versuch auf keinen Fall bevor ich zurück bin." Nach einem kurzen Augenblick setzte Krausinger hinzu: "Es wird sicher nicht sehr lange dauern." Er nickte seinem Kollegen zu.

"Wir benötigen ohnehin noch etwa eine halbe Stunde, bevor wir soweit sind, Dr. Letticher".

Krausinger legte den weißen Kittel ab, verließ das Labor und schloß sorgfältig die gepanzerte Tür hinter sich. Auf dem Gang der Baracke begegnete er zwei Technikern. Im Vorübergehen grüßten sie höflich. Er galt in diesem Institut als Kapazität und erfuhr Achtung, auch wenn er keinen militärischen Rang und keine Leitungsposition bekleidete.

Durch eine zweiflüglige Tür verließ er die Baracke und trat ins Freie. Es war ein angenehmer Frühherbsttag, dieser 04. Oktober 1957. An dem zur rechten Hand liegenden Heizhaus waren zwei Heizer damit beschäftigt, eine riesige Briketthalde abzutragen, indem sie die Kohlen durch eine Luke in den Kohlenbunker schaufelten. Sie verursachten eine Staubwolke, die in seine Richtung zog. Deshalb machte er einen großen Bogen um das Heizhaus. Dann kam er am Haupttor vorbei. Die beiden Soldaten vom Wachregiment des MfS trugen, um den wirklichen Charakter des Objektes nicht nach außen publik werden zu lassen, blaue Polizeiunifor-

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men ohne Schulterstücke, mit denen die Mitarbeiter des Betriebsschutzes in sämtlichen wichtigen Betrieben, Instituten und Einrichtungen ausge-stattet waren und sie waren unbewaffnet.

Krausinger hatte den ganzen Weg über bereits überlegt, was es wohl sein könne, das den General dazu veranlaßt hatte, ihn aus dem Labor herauszurufen. Er hatte auch die leichte Aufregung in Keters Stimme bemerkt. Sollte es etwas Unangenehmes sein? Würde das möglicherwei-se Auswirkungen auf seine persönliche Situation haben?

Er erreichte das Hauptgebäude und betrat es durch die weit geöffnete Eingangstür. Dann stieg er die breite Treppe hinauf in den zweiten Stock, klopfte an und betrat das Vorzimmer des Leiters der WVA.

Die Sekretärin des Generals, etwa Dreißig, sehr gut aussehend, halblang geschnittenes blondes Haar, begrüßte ihn wie immer recht freundlich. Da ihm klar war, daß Chefsekretärinnen immer alles Wichtige wußten, war ihr Verhalten für ihn ein Entwarnungssignal.

"Sie können sofort hineingehen, Genose Profesor" - sie sagte immer Genose zu ihm und sprach auch Professor so aus, als werde es nur mit einem 's' geschrieben. Er korrigierte sie nie. "... der Genose General erwartet Sie bereits", flötete sie freundlich weiter.

Leni Schröder kleidete und frisierte sich so, daß man sie sich eher als Mannequin in einem Modeinstitut, denn als Leutnant der Staatssicherheit vorstellen konnte. Und sie sah gut aus, verdammt gut aus. Alle Männer in der WVA waren von ihr begeistert und sie hatte wohl auch bereits, obwohl verheiratet, ein paar Affären im Hause hinter sich. Der General besaß dafür entweder keine Antenne und seine Genossen hatten ihn in Unkenntnis gelassen oder er wußte es und dachte sich, wenn es ja im Hause bliebe, dann könnte es ihm egal sein. Seine tüchtige Chef-sekretärin schien er auf jeden Fall behalten zu wollen. Vielleicht war sie ja auch für ihn selbst zumindest eine angenehme Augenweide.

Krausinger lächelte ihr ebenfalls freundlich zu - Chefsekretärinnen muß man sich warm halten, zumal dann, wenn sie keine menschlichen Vor-zimmerdrachen waren - und ging an ihrem Schreibtisch vorüber.

"Kommen Sie bitte, Professor", sagte Keter, der bereits die Tür seines Zimmers geöffnet hatte. "Haben Sie schon gehört? Die Sowjetunion hat einen Satelliten in eine Umlaufbahn um unsere gute Mutter Erde gebracht."

Keter ging zu dem neuen Schwarz-Weiß-Fernsehgerät und schaltete es ein. Über die Schulter gewandt sagte er: "Setzen Sie sich doch bitte. Die Nachrichten kommen in zwei, drei Minuten. Sie werden es selbst sehen und hören!"

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Krausinger war bei Keters Mitteilung zusammengezuckt. Sind die doch schon so weit, dachte er unangenehm überrascht. Die Fernsehnachrich-ten bestätigten dann tatsächlich Keters Worte. Es handelte sich um eine unbemannte Raumkapsel namens "Sputnik". Und landen würde sie am Fallschirm. Schön vorsintflutlich, dachte er erleichtert.

"Ist das nicht ganz phänomenal?" meinte Keter begeistert und ließ sich dann in endlosen Tiraden über den angebliche existierenden wissen-schaftlich-technischen Vorsprung der UdSSR gegenüber den USA im speziellen und des Weltsozialismus gegenüber der untergehenden kapita-listischen Welt im allgemeinen aus.

Krausinger hatte gedankenzerstreut dazu genickt, was der General als Zustimmung betrachtet hatte und es war ihm erst nach dreißig Minuten begeisterter Monologe Keters über die "ruhmreiche sowjetische Raum-fahrt" unter dringlichem Hinweis auf den wichtigen Laborversuch gelun-gen, Keters Dienstzimmer wieder zu verlassen. Die Tatsache, daß ein raumschiffähnliches Objekt um die Erde kreiste, lange Zeit, bevor er sei-nen Trumpf würde aus dem Ärmel ziehen können, hatte ihn damals und in der Folgezeit mehr und mehr beunruhigt. Er begann aufmerksam diese Entwicklung zu verfolgen.

Warenthin, Herbst 1961. Krausinger hatte mit Beunruhigung die Ent-wicklung verfolgt, die sich auf dem Gebiet der Weltraumtechnik und der Erkundung des erdnahen Raumes seit dem Start des ersten Sputniks voll-zogen hatte. Ab 1958 waren von Seiten der Russen und der Amerikaner Satellit auf Satellit gefolgt. Als dann am 12. April 1961 mit Juri Gagarin der erste Mensch die Erde umkreiste, verstärkten sich seine Befürchtungen, daß die technische Entwicklung seine Pläne überholen könnte, denn schließlich mußte er ja noch gut drei Jahrzehnte warten. Und in einem solch langen Zeitraum konnte noch so viel passieren auf diesem Gebiet. Das bewies ihm ja nun die rasante Entwicklung in den Jahren seit 1945.

Eine andere Mitteilung des Generals beunruhigte ihn in jener Zeit aller-dings um ein Vielfaches mehr. Es war im Herbst des Jahres 1961. Die Ereignisse des 13. August, als die Mauer in Berlin errichtet wurde, lagen bereits viele Wochen zurück, als ihm Keter eines Tages bei einer ihrer inzwischen häufig gewordenen abendlichen Runden am Schachbrett, diesmal in Keters Privatzimmer, eine interessante Nachricht offenbarte, die eindeutig unter strengste Geheimhaltung fiel. Keter nahm es damit nicht so genau. Da Krausinger für ihn praktisch lebendes Inventar der WVA war und ohnehin niemals das Objekt verließ, bzw. es nicht verlassen durfte, hielt er die Einhaltung der Geheimhaltungsnomenklatur für nicht so wichtig.

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Bei dem im Februar 1961 stattgefundenen Ereignis handelte es sich nach Keters Auffassung um einen hochbrisanten Vorgang, der beinahe einen Dritten Weltkrieg ausgelöst hätte, wenn nicht beide Seiten, insbe-sondere aber die sowjetische, wie er meinte, relativ besonnen gehandelt hätten. "Stellen Sie sich vor, Professor, am 14. Februar haben wir alle ein ganz unververschämtes Glück gehabt, daß der Kalte Krieg nicht zu einem heißen Dritten Weltkrieg geworden ist."

Krausinger wußte mit diesem Datum absolut nichts anzufangen, zumal die Propaganda im Zusammenhang mit Krieg und Frieden immer wieder einen Augusttermin genannt hatte: "Wieso? Was war denn da? Am 14. Februar? Ich denke am 13. August wurde der Frieden gerettet? Sie haben mir doch oft genug in den letzten Wochen erklärt, der Mauerbau oder wie Sie sagen, die Errichtung des antifaschistischen Schutzwalles, habe den beabsichtigten Einmarsch der Bonner Ultras mit klingendem Spiel durch das Brandenburger Tor verhindert und einen Dritten Weltkrieg vermieden." Er hatte ironisch hinzugesetzt: "Wieso soll nun auf einmal der 14. Februar dieser Wundertag gewesen sein? Das müssen Sie mir bitte erklären."

"Ich bin ja dabei, Professor. Ich bin ja dabei", hatte Keter ihm geantwor-tet. Auf den ironischen Ton, den er nicht überhört haben konnte, war er nicht eingegangen, sondern hatte fortgesetzt: "Es stimmt schon. Sie haben ja recht. Ich komme etwas spät mit dieser Information. Aber ich muß Ihnen dazu sagen, daß ich sie selbst erst im April erhalten habe. Sie war in eine der höchsten Geheimhaltungskategorien eingestuft worden. Dann kam die gespannte Lage um den 13. August herum. Da vergaß ich es natürlich. Die akut gefährliche Situation hatte das völlig in den Hinter-grund gedrängt!" Keter hatte ihn bedeutsam angeschaut: "Daß ich Ihnen diese hochbrisante Information gebe, ohne daß Sie normalerweise zu dieser Geheimhaltungskategorie Zugang hätten, Professor, das können Sie als einen Beweis meiner persönlichen Wertschätzung für Sie und Ihre ausgezeichnete Arbeit hier in der WVA betrachten."

Wem sollte ich es denn verraten, General, hatte Krausinger gedacht. Laut hatte er erwidert: "Lieber General, ich bedanke mich für die Worte Ihrer Wertschätzung. Ich weiß sie zu würdigen. Worum handelt es sich denn, bitte?"

"Ja also, Professor, ich wurde dieser Tage daran erinnert, als ich in einer westlichen Zeitung eine Karikatur zu sogenannten 'fliegenden Untertassen' sah, um die ja in der westlichen Welt so ein Wind gemacht wird. -UFOs, sagt Ihnen das etwas?"

Krausingers Nerven waren gespannt. UFOs? Worauf spielte der General an? Wußte der etwas? Nein, das konnte unmöglich sein, hatte er sich sofort

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wieder beruhigt und geantwortet: "Ja, was ist denn damit? Gehört habe ich wohl schon einmal davon. Haben Sie etwa so etwas gesehen?" Um seinen Mund hatte er vorsichtshalber ein spöttisches Lächeln spielen lassen.

"Also ich persönlich nicht. Ich bin eher ein Anhänger von Karikaturen über solche ... Phänomene ... gewesen", hatte ihm Keter geantwortet.

"Gewesen? Sie sagen das so, General, als habe sich da etwas geändert? Erzählen Sie doch bitte endlich." Vom Thema stark berührt war Krausinger ungeduldig geworden.

Keter hatte offensichtlich sein spöttisches Lächeln und die Ironie in sei-ner Stimme registriert. Er schien sich nicht erst genommen zu fühlen. "Wenn Sie mir nicht ins Wort gefallen wären, dann hätte ich Ihnen bereits alles erzählen können!" Keter, dessen Schulbildung darin bestanden hatte, was eine achtklassige Volksschule bieten konnte und der später nur diverse Lehrgänge und Fachschulen besucht hatte, die ihn das lehrten, was er als Offizier im allgemeinen und als Mann der Staatssicherheit im besonderen brauchte, um seinen Aufgaben gerecht werden zu können, neidete dem Akademiker Krausinger, einer Koryphäe der Naturwis-senschaften, den Bildungs- und Geistesvorsprung. Deshalb war er immer dann besonders sensibel, wenn der Professor ironisch wurde, weil er glaubte, der wolle ihn als Depp vorführen.

Krausinger seinerseits, erpicht auf Keters Informationen, sagte schnell: "Entschuldigen Sie schon General."

"Also, ich hatte ja bereits gesagt, daß wir am 14. Februar diesen Jahres noch einmal haarscharf an einem Atomkrieg vorbei gekommen sind. Stel-len Sie sich vor: In der Nacht vom 13. zum 14. Februar mußte in der UdSSR die höchste Alarmstufe ausgelöst werden, weil unbekannte Flug-objekte, aus Richtung Alaska kommend, in den sowjetischen Luftraum eingedrungen waren. Es muß kurz nach Mitternacht gewesen sein, als fünfzig - stellen Sie sich doch nur einmal vor - fünfzig, gewaltige Objekte in sehr großer Höhe über Sibirien in Richtung Westen zu den sowjetischen Zentren von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Verteidigung flogen. Die Bedrohung konnte ernster nicht sein! Es wurde natürlich sofort der Schluß gezogen, es handele sich um einen amerikanischen Erstschlag mit atomar bestückten Interkontinentalraketen. Deshalb wurde die höchste Alarmstufe ausgelöst. Zahllose Abfangjäger stiegen auf, weitere warteten am Boden auf ihren Einsatz. Truppen der Landstreitkräfte bestiegen Panzer und Schützenpanzerwagen in den Kasernen von Saratow bis nach Salzwedel und bereiteten sich auf den Abmarsch in Richtung Westen vor. In einigen Großstädten wurde bereits Flieger- oder sogar Atomalarm gegeben. Die Atomraketen in den Silos wurden für den Start vorbereitet. Der Genosse Chrustschow hatte bereits den Finger auf dem Knopf im

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Startkoffer, hieß es. Gleichzeitig wurden die Beobachtungsdaten in den Analysezentren fieberhaft ausgewertet. Und was glauben Sie, wie hoch die Objekte danach flogen?"

Es war nur eine rhetorische Frage gewesen, die Keter gestellt hatte. Er hatte sie sofort selbst beantwortet. Krausinger aber hatte gespannt zugehört, während er seinem Gesicht den Ausdruck relativer Desinteres-siertheit zu geben versuchte.

"Sie flogen in einer Höhe von 35000 km und sie hatten wechselnde Geschwindigkeiten drauf, die zwischen - Sie werden es wieder nicht für möglich halten - ", Keter hatte Krausinger letzteres unterstellt, obwohl dieser, was Keter nicht wußte, dies durchaus für möglich hielt, "... also zwischen 8000 und 18000 km/h lagen!"

Krausinger hatte Keter mit einem betont überrascht klingenden "Ach? " erfreut.

Keter hatte ihm zugenickt: "Sehen Sie! Die aufgestiegenen MiGs kamen jedenfalls nicht an sie heran. Hatten überhaupt keine Chance. Mußten unverrichteter Dinge wieder umkehren. Die Formation dieser unbekannten Objekte erreichte die westlichen Zentren der Sowjetunion, ohne anzugreifen. Ich kann mir gut vorstellen, wie die Genossen in den Leitzentralen und Führungsbunkern sprachlos starrten, die Finger druck-bereit auf den entsprechenden Auslöseknöpfen für die Maßnahmen des Gegenschlages. Und Sie können sich sicher vorstellen, daß allgemein ein großes Aufatmen einsetzte, als der Spuk vorbei war. Wieder einmal hatte die Besonnenheit der verantwortlichen Politiker und Militärs der ruhmrei-chen Sowjetunion, den Frieden der Welt gerettet!"

Keter hatte eine Pause eingelegt. Sein Bericht und besonders die Erin-nerung daran, wie Krieg und Frieden damals auf des Messers Schneide standen, schienen ihn persönlich mitgenommen zu haben. Dann hatte er fortgesetzt: "Ja, was aber war das alles? Die Genossen in den Führungs-stäben glaubten, als die unmittelbare Gefahr vorüber war, das Ganze sei nichts anderes als eine gewaltige Provokation und Machtdemonstration der NATO gewesen, die mit dieser Aktion ihren waffentechnischen Vor-sprung demonstrieren und den Weltsozialismus einschüchtern wollte. Allerdings hätte die NATO dann einen schier unglaublichen Entwick-lungsschub in der Waffentechnik gemacht haben müssen, den sich nie-mand erklären konnte. Jedenfalls flogen die Objekte weiter über die Volksrepublik Polen und unser DDR-Territorium. Dann aber überquerten sie die Staatsgrenze West und erreichten den Luftraum der Bundesrepu-blik. Über der BRD machten sie aber überraschend eine Wendung nach Norden, überflogen Dänemark und Norwegen und verschwanden end-gültig von den Radarschirmen, als sie das Nordpolarmeer erreicht hat-

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ten." Keter hatte noch einmal wiederholt: "Der Besonnenheit der soziali-stischen Politik und des sowjetischen Militärs verdanken wir also erneut die Verhütung einer atomaren Katastrophe, Professor."

An dieser Stelle soll nicht verschwiegen werden, daß Keter damals für sich behielt, daß in den unterirdischen Raketensilos der sowjetischen Streitkräfte auf ein Codesignal aus Moskau hin bereits die in versiegelten Glasbehältern verschlossenen Schlüssel für den Start der Atomraketen herausgeholt, eingeführt und gedreht worden waren. - Allerdings ohne Erfolg. Zum Glück für uns alle, für die gesamte Menschheit. Die Start-codes für die Raketen, die dadurch ausgelöst worden wären, um Raketen-silos, Großkasernen, militärische, politische und wirtschaftliche Zentren im Bereich der NATO zu vernichten, funktionierten einfach nicht. Die sowjetische Raketenmacht war wie gelähmt. Vermutlich war es in Wahr-heit diese Tatsache, die den Dritten Weltkrieg und damit einen alles Leben auf der Erde auslöschenden atomaren Winter verhindert hatte.

Krausinger, der sich an dieses Gespräch mit Keter erinnerte, hatte die ganze Zeit über geahnt, wer wirklich hinter dieser Machtdemonstration stand. Auf keinen Fall die NATO, auch nicht die Chinesen oder sonst wer. Er hatte den General, sich völlig unwissend stellend, gefragt: "Sagen Sie General, ist denn dieser enorme Vorsprung des Westens hier im Osten nicht bekannt gewesen?"

"Wissen Sie, Professor", hatte dieser, etwas beschämt, wie ihm schien, geantwortet: "... Ihre Frage ist ganz berechtigt. Der sowjetischen Fernauf-klärung ist Derartiges nicht bekannt gewesen. Es sollten schon Köpfe rol-len, deswegen, im KGB. Da wurde gerade noch rechtzeitig durch sowjet-ische Kundschafter im Pentagon und im NATO- Hauptquartier in Brüssel bekannt, daß die westliche Seite von der Situation genauso überrascht und geschockt gewesen war, wie die unsrige! Die im Westen dachten damals wiederum, daß wir sie angreifen wollten und waren auch hart daran gewesen, mobil zu machen."

Keter hatte wiederum eine Pause eingelegt. "Als alles vorbei war, mach-te sich die NATO allerdings einen ganz anderen Reim auf die Geschichte, als wir. Aufgrund der Analysedaten kamen die nämlich zu dem Schluß, daß die Flugeigenschaften dieser unbekannten Flugobjekte so weit dem wissenschaftlichen und technischen Stand auch der entwickeltsten Staaten voraus seien, daß diese Objekte ..." Keter hatte aufgehört zu sprechen, ihn eindringlich angeschaut und dann fortgesetzt:"... halten Sie sich fest, Professor, ... nicht von dieser Erde gewesen sein konnten!"

"Nicht von dieser Erde?" hatte Krausinger mit genau dem überraschten und zweifelnden Ausdruck in der Stimme, den Keter offensichtlich von ihm erwartet hatte, von sich gegeben.

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"Sehen Sie ...", hatte Keter zufrieden gemeint, "... Sie können sich das auch nicht vorstellen. - Ich glaube ja nicht, daß es so etwas gibt. Aber manchmal frage ich mich schon, was sich da oben wohl wirklich abgespielt hat."

Krausinger war innerlich ungeheuer aufgewühlt gewesen. Sie waren also da. Suchten sie vielleicht die Gefangenen? Er allein unter den gegen-wärtig Lebenden, so glaubte er, hatte bereits direkte Kontakte mit ihnen gehabt. Was würde die Zukunft mit sich bringen? Wenn die jetzt so offen und so zahlreich auftraten, dann war doch zu vermuten, daß sie bald auch offizielle Kontakte zur Menschheit herstellen würden! Das wäre allerdings eine Katastrophe für ihn. Sein Trumpf, den er die ganzen Jahre über in der Hand zu haben geglaubt hatte, wäre dann entwertet. Es wären verlorene Jahre des Wartens auf seinen Termin gewesen. Alles wäre umsonst, ganz und gar umsonst gewesen! Plötzlich hatte er das Gefühl als drehe sich alles in seinem Kopf. Es wurde ihm regelrecht schwindlig. Er versuchte sich zu beruhigen. Vielleicht war ja doch nicht alles so, wie er befürchtete. "Sagen Sie, General, haben diese seltsamen Flugobjekte sich denn wieder gezeigt, seitdem?"

"Nicht, daß ich wüßte", hatte Keter geantwortet und hinzugesetzt "... übrigens wurde nach Konsultationen mit der NATO auf allerhöchster Ebene als offizielle Version in alle Stäbe der beteiligten Seiten hinein ver-lautbart, daß spezielle Untersuchungen ergeben hätten, es habe sich bei dem vermeintlichen Raketenpulk um einen Schwarm hochfliegender Wildgänse gehandelt. Damit wurden die Gemüter der Offiziere in den Leitzentren, die auf den Radarschirmen alles beobachtet hatten, beruhigt. Und außerdem wurde dadurch eine Panik unter der Weltbevölkerung verhindert, denn es hätte ja durchsickern können, was da geschehen war. - Irgend etwas war da jedenfalls. - Am Besten, man denkt nicht weiter darüber nach, Professor - oder?"

"Ja, ja das denke ich auch ... Dennoch, dieses Phänomen ist hochinter-essant und weckt meine wissenschaftliche Neugierde", hatte sich Krau-singer beeilt zu sagen. "Wäre es denn möglich, darüber Literatur zu bekommen?"

"Professor, natürlich komme selbst ich nicht an den Geheimbericht heran. Aber Veröffentlichungen über solche seltsamen und unbekannten Objekte, die es ja hin und wieder mal in der Westpresse gibt, die kann ich Ihnen vielleicht besorgen lassen. - Ja, also wenn Sie das wirklich ernstlich interessiert, dann werde ich sie besorgen lassen. - Was halten Sie denn nun selbst davon? Ist diese 'Nicht von dieser Erde' - Theorie haltbar? Oder könnte irgendeine irdische Macht dieser Welt doch bereits weiter sein auf diesem Gebiet, als alle anderen?"

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Krausinger hatte kurz überlegt und dem General dann, jedes Wort abwägend, geantwortet: "Auch ich glaube nicht, daß irgendeine Nation dieser Erde gegenwärtig bereits zu solchen technischen Leistungen fähig wäre. Dagegen würde ich den extraterrestrischen Charakter solcher tech-nisch dem gegenwärtigen Weltstand weit voraus befindlicher unbekannter Flugobjekte nicht völlig von der Hand weisen." Krausinger hatte Keter bedeutungsvoll angeschaut und mit Nachdruck sprechend hinzugefügt: "Alle von Ihnen erwähnten Fakten und die Wahrscheinlichkeit sprechen sehr dafür. Vermutlich sind wir nicht die einzige technische Zivilisation in den unendlichen Weiten des Alls. Und warum sollten die uns nicht besu-chen, so wie Kolumbus einst Amerika besucht hat?"

"Dann verhüte Gott", sagte der Atheist Keter, "daß diese Besucher uns so behandeln, wie Kolumbus und andere Kolonisatoren die Ureinwohner Amerikas behandelt haben." Es sollte wohl mehr ironisch gemeint sein, Krausinger glaubte aber ein Fünkchen Furcht aus Keters Stimme heraus-gehört zu haben.

Sie hatten den ganzen Abend über dieses Thema gesprochen, wobei Krausinger darauf bedacht gewesen war, sich mit keiner Silbe zu verraten. Später, als er dann in seine eigenen Räumen war, ging ihm das Thema einfach nicht aus dem Sinn. Es hatte ihn weiter beschäftigt und in dieser Nacht hatte er von seinen Gefangenen geträumt.

Warenthin, Sommer 1969. Es war am 20. Juli 1969, als die Weltöffent-lichkeit von einer Nachricht überrascht wurde, die auch Krausingers Zukunftspläne in gewisser Weise tangierte. Es war der Tag gewesen, an dem die Meldung um die Welt gegangen war, daß die amerikanischen Astronauten Armstrong und Aldrin als erste Menschen auf dem Mond gelandet seien.

Im Gegensatz zu den vielen Begeisterten, für welche diese Nachricht ein Triumph des menschlichen Geistes, menschlicher Technik und des Dranges der Menschheit nach Erkenntnis sowie der erste Schritt in die Weiten des Kosmos war, gehörte Krausinger zu denen, die diese Begei-sterung nicht teilten.

Das waren jene Menschen, denen es relativ egal war, ob jemand auf dem Mond gelandet war oder nicht. Dann waren da die Kommunisten, die es den Amerikanern nicht gönnten, eher als die Russen den Mond betreten zu haben und nun lamentierten, es sei eine ungeheuerliche Mißachtung von Menschenleben, Astronauten dort hinauf geschickt zu haben. Humaner sei es gewesen, ein unbemanntes Erkundungsgerät zu landen, so wie es die Sowjetunion mit "Lunochod" getan habe. Wieder andere schimpften auf die ungeheure Vergeudung von Milliarden-

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summen für ehrgeizige Weltraumprojekte, obwohl auf der Erde jährlich Millionen Menschen verhungerten.

Krausinger dagegen hatte die Nachricht geschockt, da er erneut und verstärkt befürchten mußte, daß sein Geheimnis durch dieses Ereignis entwertet werden würde und sein Lebensziel in Frage gestellt wäre.

Ein in den Monaten danach aufgekommenes Gerücht, die Amerikaner hätten die Mondlandung in einem Filmstudio der CIA oder in einer Wüste auf der Erde lediglich simuliert und wären niemals auf dem Mond gelan-det, griff er begierig auf. Er meinte, daß es sicher zum psychologischen Kampf in dieser Phase des "Kalten Krieges" gehöre, die Weltöffentlichkeit zu täuschen. Er redete sich ein, daß die Amerikaner mit ihren Behauptun-gen, bereits auf dem Mond gelandet zu sein, die Russen schocken und aller Welt ihre Überlegenheit über den roten Machtblock zeigen wollten. Schließlich suggerierte er sich selbst, daß die Mondlandung eine Propa-gandaente sein mußte, weil die Brüder der Zwerge, wie er seine Gefan-genen nannte, die Amerikaner mit Sicherheit nicht so nahe an eine ihrer erdnahen Basen, die Rückseite des Mondes, wie er aus einer zuverlässi-gen Quelle, dem Tagebuch Bergwalds wußte, herangelassen hätten. Auch jetzt dachte er erneut über Möglichkeit und Unmöglichkeit der Mondlandung nach und beruhigte sich, indem er sich wieder für die Unmöglichkeit entschied. Es konnte einfach nicht sein, was nicht sein durfte. Von nun an begann er bewußt alle Nachrichten über Fortschritte auf dem Gebiet der Weltraumtechnologie, welche seine Lebenspläne zu entwerten begannen, durch eine aufgesetzte Ignoranz zu filtern.

Bestätigung für das oben erwähnte Gerücht, die Mondlandung sei nicht wirklich erfolgt, das ihm zur Selbstberuhigung so gut zupaß kam, erhielt er im Laufe der folgenden Jahre durch die Tatsache, daß die Amerikaner nach angeblich mehreren Mondlandungen erstaunlicherweise niemals wieder dort landeten und all ihre Pläne, den Erdtrabanten als Rohstoffbasis und zu anderen Zwecken zu nutzen, offensichtlich und überraschenderweise ohne vernünftige und glaubwürdige Erklärung aufgegeben hatten.

Beruhigend war für ihn auch, daß die Amerikaner noch viele Jahre lang ihre Kapseln bei der Rückkehr zur Erde wassern lassen mußten und daß die Russen die Raumkapseln mit ihren Kosmonauten an Fallschirmen in die Wüste hinabfliegen und aufprallen ließen. Denn das sagte ihm, daß die Weltraumtechnologie der Großmächte offensichtlich doch noch weit weniger entwickelt war, als er zunächst befürchtet hatte.

Warenthin, April 1976. General Keter blätterte in den Papieren, die er gerade auf seinen Schreibtisch bekommen hatte. Es handelte sich dabei um einen neuen Forschungsbericht von Professor Krausinger.

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Er blickte auf und schaute aus dem Fenster in den blaugrauen Himmel, über den weiße Wolken zogen. Es hat sich als richtig erwiesen, daß ich den Professor damals habe suchen lassen, dachte er, Bilanz ziehend. Das Renommee meiner Versuchsanstalt ist ganz enorm geprägt durch die von ihm erbrachten Leistungen. Davon habe ja auch ich selbst profitiert, bin zum Generalleutnant befördert worden und habe viele Orden und Aus-zeichnungen erhalten. - Wie lange ist der Professor jetzt eigentlich schon bei uns? Überrascht stellte er fest, daß das bereits mehr als zwanzig Jahre waren. Zwanzig Jahre! Und wieder bewegte ihn die Frage, was eigentlich diesen Mann wirklich motiviert hatte, so viele Jahre im Verborgenen und ohne öffentliche Anerkennung zu arbeiten und zu leben? Er suchte nach einer Antwort. Er fand sie auch diesmal nicht.

Was er zu diesem Zeitpunkt nicht wissen konnte, das war die Tatsache, daß Krausinger nur von einem einzigen Motiv getrieben wurde, das ihn alle Begrenzungen seines nichtfreien Daseins vergessen und ertragen ließ. Und das bestand in dem unbändigen Willen, sein Lebensziel zu erreichen: Er wollte seinen "Termin" erleben und unter Ausnutzung der Möglichkeiten, die er sich davon versprach, zu einem der mächtigsten, wenn nicht gar zum mächtigsten Menschen der Erde werden. Das zu erreichen und auszuleben, das waren ihm die vielen Jahre im Schatten des wissenschaftlichen Ruhms und in einer Quasigefangenschaft wert.

Jeder normal denkende Mensch hielte es für undenkbar und schon gar nicht für durchhaltbar, sein ganzes Leben freudlos auf ein Jahrzehnte ent-fernt liegendes und noch dazu phantastisch, ja wahnsinnig anmutendes Ziel hin auszurichten. Der Mann, von dem hier die Rede ist, war allerdings kein "normal denkender Mensch". Nicht normal denkend war er in zweierlei Hinsicht: Erstens, weil ja normal praktisch für durchschnittlich steht. Mit dieser Elle aber konnte man diesen Menschen nicht messen. Zweitens dachte er nicht normal, also durchschnittlich, weil sich hinter der Maske des biederen Forschers und in der relativ unscheinbaren Gestalt dieses Mannes ein Machtmensch verbarg, der von einer an Wahnsinn grenzenden Zielstrebigkeit getrieben und gesteuert wurde. Und schließlich muß man, um dieses Verhalten Krausingers zu verstehen, auch wissen, daß er meinte, er habe Zeit, mehr Zeit zur Verfügung, als jeder "normal denkende Mensch" - unendlich viel Zeit.

All das wußte Keter nicht, trotz der intensiven Beobachtung Krausin-gers, trotz aller Verhaltensanalysen und all der Informationen über diesen Mann, die er vor Jahren schon hatte zusammentragen lassen. Er blieb ihm ein Rätsel.

Krausingers Verhalten über die Jahrzehnte kann auch nur jemand nach-vollziehen, der sein Geheimnis kennt. Das bewahrte er bereits seit Jahr-

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zehnten, ohne je einen anderen Menschen einzuweihen. Es hatte seine Wurzeln in einer Zeit, über die er mit Keter schon gesprochen hatte, aller-dings ohne tatsächlich auch nur einen Zipfel des Geheimnisses zu lüften. Diese Zeit, aus der es herrührte, das waren die Monate von Ende 1944 bis zum April 1945.

Waldheide, Sommer 1943. Anfang August 1943, nur wenige Tage vor dem überraschenden Vernichtungsangriff der 8. britischen USAAF-Flotte auf die Anlagen der Raketenversuchsanstalt, verließ Professor Krausinger Peenemünde. Der Marschbefehl aus dem Stab Himmlers führte ihn zu einer "Dienststelle Forst".

Am Bahnhof der norddeutschen Kleinstadt Greventorf wurde er vom Adjutanten seines neuen Chefs abgeholt. Der Fahrer verstaute sein Gepäck in einem schwarzen BMW. Nach wenigen Minuten lag Greventorf hinter ihnen. Sie erreichten den Ortsteil Waldheide, der etwas abseits von Greventorf lag. Dann ging die Fahrt über eine auf beiden Seiten von Kiefernwald gesäumte Landstraße. Nach wenigen Kilometern bog der Wagen rechts ab und erreichte nach kurzer Fahrt über einen unbefestig-ten Waldweg das Ziel. Das erwies sich als ein Objekt, welches einer klei-nen Kaserne ähnelte. Über der scharf bewachten Einfahrt war ein Schild angebracht, auf welchem zu lesen war: "Forst-Objekt".

Krausinger hatte gelächelt. Sicher sollten Uneingeweihte glauben, das Objekt heiße so, weil es dem Reichsjägermeister unterstehe. Und wenn man es recht überlegte: Wer kannte schon Brigadeführer Forst. Er selbst hatte den Namen noch niemals gehört.

Rechts und links des Tores zog sich ein etwa 2,50 Meter hoher Bretter-zaun entlang, der die Sicht versperrte. Der Schlagbaum wurde geöffnet und der Wagen fuhr auf das Gelände. Linkerhand befand sich ein größe-res Gebäude, das Stabsgebäude. Es war, wie weitere Gebäude, zwei-stöckig, hatte ein flaches Dach, das mit Gras, Gesträuch und kleineren Bäumen bepflanzt worden war, um die Luftbeobachtung zu erschweren. Alle Außenwände waren mit grün-braun gefleckten Tarnanstrichen verse-hen. Die Fenster waren selbst zu dieser Tageszeit verdunkelt. Die festen Gebäude und ebenso einige der Holzbaracken waren mit Tarnnetzen gegen Lufteinsicht geschützt. Tarnnetze überzogen auch eine Reihe von Fahrzeugen, die vor den Häusern standen, darunter auch Schützenpan-zer. Zwischen den Gebäuden standen auffallend viele Bäume. Die gesamte Anlage war offensichtlich künstlich aufgeforstet worden, so daß aus der Luft nur äußerst schwer irgend etwas am Boden erkannt werden konnte.

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Vor dem Stabsgebäude wurde Krausinger von Brigadeführer Forst emp-fangen. Forst, ein Mittfünfziger, mittelgroß, in der feldgrauen Uniform eines Generalmajors der Waffen-SS, begrüßte ihn ausgesprochen freund-lich. Er hieß ihn in der "Flugwaffentechnischen Versuchsanstalt" willkom-men.

In seinem Dienstzimmer erklärte ihm Forst dann, daß diese Versuchs-anstalt auf Befehl des Reichsführers gegründet worden sei, als heimliche Antwort der SS auf die rüstungstechnischen Forschungen von Heer und Luftwaffe. Himmler wolle dem Reichsmarschall Göring, der seine Luft-waffe für etwas besseres halte, so hatte Forst erbost gesagt, beweisen, daß die SS auf allen Gebieten die deutsche Elite darstelle und der Luftwaffe allemal überlegen sei. Der Reichsführer hätte ihn, Professor Krausinger, als Forschungsleiter dieser neu errichteten Anstalt vorgesehen. Forst nahm ein Schriftstück von seinem Schreibtisch und überreichte ihm die Ernennungsurkunde.

Krausinger hatte sich schnell ein Bild von Forst gemacht. Er merkte, daß es nicht weit her war mit Forsts forscherischer Befähigung und daß ihm die Ausstrahlung einer Führerpersönlichkeit fehlte. Vielleicht hat er irgendwelche Verdienste aus der Bewegung, die ihm den Rang und die-ses Amt eingebracht haben, dachte er abfällig und er wußte, daß er freie Hand haben würde.

Forst dagegen war begeistert darüber, mit Professor Krausinger einen berühmten Physiker als Stellvertreter zu bekommen. Er erwies sich, wie sollte es anders sein, als fanatischer Nationalsozialist. Da trafen sich zwei verwandte Seelen, denn das war Krausinger zu dieser Zeit ebenfalls. Er übernahm also die Leitung der Forschung, während Forst die Gesamtlei-tung der Versuchsanstalt hatte. Die Sicherung des Objektes erfolgte durch eine Kompanie der Waffen-SS. Eine in der Nähe stationierte Flakbatterie diente dem Luftschutz der Versuchsanstalt und gleichzeitig war sie Bestandteil des vorgeschobenen Abwehrgürtels der Reichshauptstadt.

In den oberirdischen Räumen der Gebäude wohnte das Personal und waren die Forschungs- und Konstruktionsbüros untergebracht. Das Objekt war allerdings von Spezialgruppen der "Organisation Todt" und von Baueinheiten der SS drei Etagen in die Tiefe gebaut worden. Beobachter des Baugeschehens hätten vermuten können, daß dort ein neues Führerhauptquartier errichtet wurde, als 1942/43 daran gebaut worden war.

Krausinger wurde Herr über 100 Wissenschaftler, diplomierte, promo-vierte und sogar einige habilitierte Männer sowie einige hundert Techniker und Hilfskräfte. Zu den wichtigsten Forschungsprojekten der Flugwaf-fentechnischen Versuchsanstalt Waldheide gehörten in den Jahren 1943

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bis 1945 das Raketenflugzeug "Götterbote", das schneller sein sollte als die Me 262, die Me 163 und die Ju 263, eine abwerfbare Druckkabine besaß und mit infrarot-zielsuchenden Raketen bewaffnet war. Als Vergel-tungswaffe V3 wurde eine Boden-Luft-Rakete A 7, vorgesehen. Aber auch andere Waffen, wie etwa die leichte automatisch justierende Bordkanone "Krau 12", die für die neuen Rotor-Fluggeräte gedacht war, wurden unter seiner Leitung entwickelt. Keine dieser Waffen kam je zum Einsatz. Es gab nur Prototypen, die allerdings zur beabsichtigten Serienproduktion in geheime unterirdische Produktionsstätten im Thüringer Wald und in Österreich gebracht wurden, wohin genau, hatte selbst Krausinger nie erfahren. Man munkelte allerdings, daß diese Prototypen in Wahrheit mit U-Booten nach Brasilien verschifft worden seien, wo das Reich im Urwald eine Basis mit unterirdischen Produktionsstätten besitzen sollte, für den Angriff auf die Vereinigten Staaten von Nordamerika, die sich nicht aus diesem Kriege heraus gehalten hatten und zudem noch die "roten Hunnen im Osten" wirtschaftlich und militärisch unterstützten.

Das Personal der einzelnen Projekte arbeitete entweder in oberirdi-schen Labors und Werkstätten oder in den einzelnen Tiefetagen. Keiner wußte Konkretes über die Arbeiten der anderen Projektgruppen. Strikte Geheimhaltung war befohlen worden und wurde vom SD unter Führung des bulligen Obersturmführers Pluntke ständig überprüft.

Krausingers Arbeitszimmer befand sich ebenso wie sein Wohnraum in einem der wenigen zweistöckigen Gebäude. Dieses Gebäude war so gebaut, daß seine linke Seite einen scheunentorähnlichen Eingang im Erdgeschoß aufwies, die Einfahrt in den Lastenfahrstuhl. Darüber war im oberen Geschoß kein Raum, sondern der Aufzugsmechanismus des Lastenfahrstuhls. Das Ganze war so geschickt gemacht worden, daß Außenstehende nicht ahnen konnten, daß sich in dem zweistöckigen Gebäude mit Flachdach ein Fahrstuhl befand. Zur Tarnung befanden sich im Obergeschoß links und rechts des Einganges insgesamt jeweils sechs Fenster und ein dreizehntes war direkt über der Eingangstür des Erdge-schosses. Auf der linken Seite waren allerdings zwei der sechs Fenster nur Scheinfenster, die den Eindruck vermitteln sollten, es befänden sich dort Räume. Auch im Erdgeschoß gab es rechts und links der Tür jeweils sechs Fenster. Die beiden äußeren auf der linken Seite waren allerdings nur auf das Tor zum Lastenfahrstuhl gemalt worden, um es zu tarnen. Nur wenn man nahe genug heran gekommen war, erkannte man die beinahe perfekte Tarnung als Täuschung.

Im März 1944 ließ sich Brigadeführer Forst an die Ostfront versetzen, um es "den Russen mal so richtig zu zeigen", wie er Krausinger gegenüber geäußert hatte. Er könne nicht in der Etappe bleiben, wenn im Osten eine

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Schicksalsschlacht für das deutsche Volk geschlagen werde. Wie Krausin-ger erfuhr, fiel Forst wenige Wochen später in einem Hinterhalt sowjeti-scher Partisanen.

Neuer Leiter der Versuchsanstalt wurde Hans Holt. Er erschien zu sei-nem Antrittsbesuch in der Uniform eines SS-Gruppenführers. Am Ärmel trug er den Streifen mit der Aufschrift "RFSS", der deutlich machte, daß er zum persönlichen Stab des Reichsführers SS gehörte.

Holt ließ sich nach diesem Besuch, während dessen er sich alles in sei-nem neuen Reich zeigen ließ, recht selten in Waldheide sehen. Er über-trug, ebenso wie es bereits Forst getan hatte, Krausinger weitgehende Kompetenzen. Holt, einer der wenigen Duzfreunde des Reichsführers, blondhaarig, blauäugig, groß und schlank, ein Vorzeigegermane der SS, hatte seinen Freund Heinrich um diesen Posten gebeten. Im Gegensatz zu Brigadeführer Forst, der sich freiwillig zur Front gemeldet hatte, war Holt ein echter Etappenhengst. Er liebte das gute Leben und die Frauen und hatte nicht die geringste Lust, an der Front seinen edlen Körper ver-letzen zu lassen oder gar auf dem "Felde der Ehre" zu sterben.

Krausinger, der bereits 1943 Obersturmbannführer geworden war, wurde im September 1944 vom Reichsführer SS persönlich zum Standar-tenführer befördert. Im Anschluß daran hatte Himmler mit ihm im Beisein von Obergruppenführer Dr. Kammler, dem Flugzeug- und Raketenchef der SS, und Gruppenführer Holt ein Gespräch geführt, das ihm gezeigt hatte, welch große Verantwortung auf seinen Schultern lag und das ihn in seiner Arbeit zusätzlich beflügelte.

Himmler, extrem kurz geschnittenes Kopfhaar, rundes Gesicht, runde Nickelbrille durch die ein stechender Blick sein Gegenüber fixierte, hatte zunächst über das gesprochen, was der Führer wenige Tage zuvor ihm gegenüber geäußert habe. Kern dessen sei gewesen, daß der anglo-ame-rikanische Bombenterror in barbarischer Weise die Heimstätten des deut-schen Volkes vernichte. Reichsminister Speer benötige Zeit für den Wie-deraufbau Berlins. Die Welthauptstadt Germania werde wie Phoenix aus der Asche wiedererstehen. Die Situation in anderen deutschen Städten sei aber leider auch nicht besser. Deshalb sei es notwendig, nach dem bevorstehenden Endsieg intakte fremde Städte zur Verfügung zu haben, in welchen das deutsche Kernvolk vorübergehend siedeln könne. Mehrere Millionen Menschen germanischen Blutes müßten für eine gewisse Zeit umgesiedelt werden. Das erfordere, daß die feindlichen Zentren von Menschen freigemacht würden, jedoch der Siedlungswert dieser Zentren, er denke an Paris und London aber auch an andere überwiegend noch intakte feindliche Großstädte, erhalten bleibe. Sie seien also auf eine Weise zu erobern oder zurückzuerobern, die den Feind vernichte, die

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Städte entvölkere, aber Wohnhäuser, Infrastruktur und Fabrikanlagen weitestgehend intakt lasse. Die Vergeltungswaffen V1 und V2 seien offen-sichtlich dafür nicht geeignet, wenngleich man sie nach wie vor für andere Ziele verwenden könne. Adolf Hitler erwarte Vorschläge, wie dieses Problem zu lösen sei. Himmler hatte alle in der Runde aus seiner randlo-sen Brille blinzelnd angesehen und nach einer kurzen Pause betont arti-kuliert fortgesetzt, er habe dem Führer versprochen, daß die SS an einer erfolgversprechenden Lösung arbeiten werde.

Kammler hatte sofort zugestimmt. Holt, der Himmler in Anwesenheit anderer Personen siezte, hatte übertrieben begeistert geäußert: "Reichs-führer, das ist eine Aufgabe, die wir, die 'Dienststelle Forst' lösen werden. Sie können sich auf uns verlassen. Sie und natürlich unser Führer Adolf Hitler!" Und alle Drei hatten ihn, Krausinger, wie auf Kommando, ange-sehen. Und er hatte gewußt, daß er der Hoffnungsträger geworden war. Holt hatte ihm zugenickt. Und so hatte er gesagt: "Natürlich. Sie können sich darauf verlassen, Reichsführer."

Auch Kammler hatte sich beeilt zu sagen: "Reichsführer, ich garantiere persönlich, daß die Produktion einer entsprechenden, wie auch immer gearteten Waffe, die von der 'Dienststelle Forst' entwickelt wird, schnell-stens in größerer Stückzahl im Kohnstein oder an anderer Stelle erfolgen kann."

Krausinger fuhr von dieser Beratung zurück nach Waldheide, stolz dar-auf, daß gerade er mit dieser Aufgabe betraut worden war. Unterwegs überlegte er bereits, wie die Waffe sein mußte, die genau das vom Führer Erwartete leisten könnte. Sie benötigte natürlich auch einen Träger, der sie in die Zielorte bringen würde. Auch den wollte er liefern und sich nicht auf die V2 verlassen. Er dachte sofort an die A7, eine Boden-Luft-Rakete, die Holt und er als "Vergeltungswaffe 3", also als V3 bezeichneten. Diese Rakete war fast einsatzbereit. Sie stellte eine Weiterentwicklung der V2 dar. Sie war exakt 9,53 m lang und hatte einen Durchmesser von 73 cm. Als Treibstoff wurde eine Mischung aus flüssigem Sauerstoff und Alkohol verwendet. Die äußere Hülle bestand aus einer Aluminiumlegierung. Durch die damit erreichte Gewichtsminderung sollte ihre Flugleistung verbessert werden. Der Antrieb der Rakete bestand aus zwei getrennt nebeneinander angeordneten Triebwerken mit je 1002 Tonnen Schubkraft. Diese waren auf zwei Kardanwellen aufgehängt, wodurch sie zum Zweck der Flugbahnänderung geschwenkt werden konnten.

Der Prototyp wurde nachts auf dem Schießplatz Waldheide, der zum "Forst-Objekt" gehörte, gestartet. Die V3 flog bis in eine Höhe von 72 km und 254 km weit. Während des Fluges mit einer Stundengeschwindigkeit von 5600 km, gelang eine ferngesteuerte Kurskorrektur. Schließlich war

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die Rakete mangels Treibstoffs in die Ostsee gestürzt. Sie hatte zwar die Komponenten und die Leistung der V2 noch nicht erreicht, aber in der "Dienststelle Forst" waren sich alle darin einig gewesen, daß dieser erste Versuch sehr vielversprechend war und daß die zwar bedingte, aber mögliche Lenkbarkeit und damit Manövrierfähigkeit der Rakete einen deutlichen Fortschritt gegenüber der V2 darstellte. Auf dem Erreichten aufbauend würden sie den Träger für die gewünschte Waffe entwickeln. Das sollte kein Problem sein, dachte er. Aber wie mußte die Waffe selbst sein? Sie sollte ja kaum etwas zerstören, aber die Zielgebiete trotzdem feindfrei machen?

Er dachte an seine Arbeiten zur Atomwaffenforschung. Er hatte an der Konferenz teilgenommen, auf welcher der Reichsminister für Rüstung, Albert Speer, von den deutschen Atomphysikern wissen wollte, ob sie in der Lage seien, die Gesetze des Atoms für eine Wunderwaffe auszunutzen. Die Physiker Hahn, Heisenberg und von Weizsäcker, die auf diesem Forschungsgebiet im Reich führend tätig waren, referierten über die Möglichkeiten der Kernspaltung in Deutschland. Das Fazit lautete: Die theoretischen Grundlagen sind gelegt, aber die technische Umsetzung wird noch Jahre dauern und vermutlich erst 1945 abgeschlossen sein.

Da der Krieg bis dahin längst siegreich beendet sein sollte und weil der Führer die Kernphysik unter das Verdikt stellte, "jüdische Physik" zu sein, wurde die Forschung an A-Waffen offiziell eingestellt. Allerdings hatte der Gedanke der Kernwaffe Krausinger nie in Ruhe gelassen und er hatte unter anderem auch daran weiter gearbeitet. Diese Waffe aber, das war ihm klar, war für das beabsichtigte Ziel nicht geeignet, da ihre Zerstörungskraft ungeheuer sein würde. Vielleicht aber war sie nur nicht so, nicht auf die Weise wie sie angedacht war, geeignet? - Es müßte ihm gelingen, die Waffe, die er auf dem Papier bereits fertig hatte, zu modifizieren.

Als der Wagen den Schlagbaum seiner Dienststelle passierte, war bereits die Idee gereift, daß die gewünschte Waffe eine spezielle Atom-waffe sein mußte. Es sollte eine A-Waffe sein, bei der die Explosivkraft und die Folgewirkungen, Druckwelle und Hitzeentwicklung, gebremst waren. Dadurch würde die Zerstörungskraft minimiert. Dafür müßte ihre Sofortkernstrahlung möglichst kurzzeitig so extrem stark sein, daß sie alle Gegner kampfunfähig und die Zielgebiete menschenleer machte. Diese Sofortkernstrahlung würde bei günstiger Wetterlage rasch verfliegen, wodurch Folgeschäden für die neuen deutschen Bewohner der so freige-wordenen Städte vermieden werden würden. Krausinger triumphierte. Er würde keine vier Wochen brauchen, um dem Reichsführer sein Konzept zu präsentieren.

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Bereits drei Tage später hatte er den schriftlichen Auftrag Himmlers vor sich liegen. Er schaute ihn sich an:

Der Reichsführer SS Berlin, den 24. November 1944 Tgb. Nr. 114/44 g. Kdos. 4 Nebenabdrucke 3. Nebenabdruck 3 Ausfertigungen Pr. Nr. 2

Betr.: Sonderauftrag des Führers

Im Einvernehmen mit dem Oberkommando der Wehrmacht habe ich zur Durchführung der mir vom Führer gegebenen Sonderbefehle und übertragenen Sondervollmachten für das Gebiet der siegbringenden Waffen die "Dienststelle Forst" vorgesehen. Für die Lösung dieser vor-rangigen Sonderaufgabe lege ich mit Zustimmung des OKW sowie des Reichsmarschalls folgendes fest: 1. Die Dienststelle Forst beginnt sofort unter Hintansetzung bestehender Prioritäten mit der Entwicklung einer unseren Feinden furchtgebietenden Waffe. Diese Waffe soll bei minimaler Zerstörungskraft von Sachwerten eine maximale Feindvernichtung garantieren. 2. Der Codename der Waffe wird festgelegt mit "Zeusstrahl". 3. Die Dienststelle Forst bzw. Gruppenführer Holt erhält alle notwendige materielle und personelle Unterstützung.

Wolf H. Himmler SS-Obergruppenführer Reichsführer SS Chef des Stabes gez. H. Himmler F. d. R. gez. Breibier F. d. R. d. A. SS-Hauptsturmführer gez. Laller Hptm.

Verteiler:

RFSS 1. Ausfertigung

Ogrf. Dr. Kammler 2. Ausfertigung

Grf. Holt 3. Ausfertigung

Drei Wochen später trug Krausinger dem Gruppenführer seine Idee vor und konnte auf entsprechende Grundlagen verweisen, an denen er in den Wochen seit der Auftragserteilung intensiv gearbeitet hatte.

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Holt berichtete dem Reichsführer und gab Krausinger danach grünes Licht für die weiteren Arbeiten. Der sorgte dafür, daß parallel von zwei Forschergruppen an den beiden Hauptprojekten gearbeitet wurde, an dem atomaren Sprengkopf und an der Trägerrakete. Er ließ es sich nicht nehmen, an beiden Projekten mitzuarbeiten. Es war für ihn eine wissen-schaftliche Herausforderung und er wollte persönlichen Anteil daran haben, das Reich aus seiner bedrohten Situation zu retten und mit dieser Wunderwaffe mitzuwirken am Endsieg. Aber dann kam der Tag, der alles veränderte und einen gravierenden Einschnitt in sein weiteres persönli-ches Schicksal brachte.

Man schrieb den 17. Dezember 1944. Krausinger saß mit seinen eng-sten Mitarbeitern, Professor Danzmann und Sturmbannführer Dr. Schulze, im Offizierskasino bei gutem Wein. Sie sprachen über die Frontlage und über den enormen Beitrag für eine Wende, den sie bald mit den Ergebnissen ihrer Forschungs- und Entwicklungsarbeiten leisten würden.

Zur gleichen Zeit wurde in einem Holzturm am Rande des zum Objekt gehörenden Truppenübungsplatzes von einer kleinen Forschungsgruppe mit einem Flugzeugerfassungsverfahren experimentiert. Bei diesen Radarerprobungen wurde auch ein praktischer Nutzen erzielt, da die nördlich des Schießplatzes stationierte Flakbatterie und ein auf einem Feldflugplatz in 30 km Entfernung stationiertes Jagdfliegergeschwader sofort alarmiert werden konnten, wenn Feindflieger im Anflug auf das Reichsterritorium ausgemacht wurden.

Wie Krausinger erst am nächsten Tag erfuhr, hatten die Radarforscher am Abend zuvor, als er sich im Kasino mit Danzmann und Schulze unter-hielt, ein ihnen äußerst seltsam erscheinendes Objekt ausgemacht, das sich auf ungewöhnliche Weise über den Bildschirm bewegte. Es sei den Beobachtern als außergewöhnlich aufgefallen, weil es einfach in einer unvorstellbaren Geschwindigkeit seine Positionen verändert habe und dabei im Zickzack zu fliegen schien. Dann sei es plötzlich verschwunden. Sie hätten das ganze natürlich als eine Störung am Erprobungsgerät betrachtet, hatte der Leiter der Gruppe ihm gemeldet. Erst die folgenden Ereignisse, von denen sie dann gehört hatten, habe ihn veranlaßt, das Ganze nun mit anderen Augen zu sehen und zu melden.

An diesem Abend allerdings wußte Krausinger von diesen Radarbeob-achtungen noch nichts. Es war gegen elf Uhr, als seine beiden Mitarbeiter und er gerade dabei waren, sich gegenseitig dabei zu überbieten, wie lange es wohl noch dauern würde, bis nach dem Einsatz der neuen Waffe, an der sie arbeiteten, ganz Europa vom Feinde befreit sein werde.

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Da brachte eine Ordonnanz einen Telefonapparat, eine lange Schnur hin-ter sich her schleifend, zum Tisch, knallte die Hacken zusammen und meldete: "Standartenführer, der Diensthabende Offizier!"

Der Diensthabende klang sehr aufgeregt: "Standartenführer, die Flak-leute... die Flakleute haben im ... im Wald ein seltsames Objekt geborgen, das sie abgeschossen haben ... glaube ich? Sie haben die Besatzung gefangengenommen! Die sollen völlig ... völlig anders aussehen ... ausse-hen ... als, als..."

Krausinger hatte sich gewundert, daß der Offizier so stotterte und war verärgert darüber, daß er wegen einer solchen Geschichte, die nicht in seinen Kompetenzbereich fiel, gestört wurde. Er herrschte ihn an: "Unter-sturmführer, ich verstehe nicht, was das mit unserer Dienststelle zu tun haben sollte. Lassen Sie das doch die Flak machen!"

Der Offizier vom Dienst ließ sich jedoch nicht abwimmeln: "Standar-tenführer ... es ... es ist aber sehr ungewöhnlich, was ich gerade von ... von einem Kradmelder erfahren habe ... Unsere ... unsere Leute sind auch schon dort..."

Krausinger, der die Tragweite des Ganzen im Moment überhaupt nicht hatte erfassen können und lediglich wünschte, nicht weiter gestört zu werden, antwortete wütend über die penetrante Beharrlichkeit des Man-nes: "Herrgott, wenn wir da bereits involviert sind, ja dann kümmern Sie sich doch drum, Untersturmführer! Ein abgeschossener Engländer, das ist ja wohl keine Sache der Forschung!"

Professor Danzmann und Dr. Schulze, die Krausinger selten so erlebt hatten, schauten gespannt zu ihm hin. Sie konnten nicht verstehen, was der Anrufer sagte.

Der Offizier am anderen Ende der Leitung ließ nicht locker: "Nein, nein, Standartenführer. Sie verstehen mich leider nicht. Das war ... das war kein ... kein gewöhnliches Flugzeug. Das muß eine ... eine Wunderwaffe der Engländer sein! Der Kradmelder hat es selbst gesehen. Der Mann, sonst sehr zuverlässig, ist völlig fertig mit den Nerven. Ich denke, Sie müssen sich das unbedingt einmal selbst ansehen!" Im Hintergrund waren Stimmen zu hören. "Ich übergebe an Hauptsturmführer Schubert."

"Schubert hier, Standartenführer. Ich bin auch gerade erst informiert worden. Ich fahre selbstverständlich mit raus."

Krausinger zeigte seinen beiden Gesprächspartnern eine Geste des Bedauerns und sagte in die Sprechmuschel des Apparates: "Gut, lassen Sie einen Wagen vorfahren." Krausinger legte auf. Danzmann und Schul-ze sahen ihn erwartungsvoll an.

"Meine Herren, tut mir leid, aber wir müssen raus in die Kälte! Die Flak scheint eine englische Wunderwaffe abgeschossen zu haben. Die sehen

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wir uns einmal an. - Und wenn es stimmt und sie gut ist, dann können wir sie vielleicht nachbauen."

Die drei Offiziere zogen ihre pelzgefütterten schwarzen Ledermäntel über und verließen das Gebäude, vor dem bereits zwei Kübelwagen war-teten. In dem ersten saß Hauptsturmführer Schubert, der Stabschef. Krau-singer und seine Leute stiegen in den zweiten ein.

Schubert fuhr voraus. Es ging mehrere Kilometer über den Truppen-übungsplatz, ein wüstes Gelände, das von Tümpeln, tiefen Panzerspuren, vereinzelten Sträuchern und Bäumen gekennzeichnet war. Am nordwest-lichen Rand gelangten sie auf einen Weg, der durch einen Kiefernwald führte. Sie mochten auf diesem Waldweg etwa zwei Minuten gefahren sein, da trafen sie auf eine Streife, die zur Wachmannschaft gehörte. Sie wurden nach links in einen abbiegenden Waldweg gewiesen. Nach wei-teren zwei, drei Fahrtminuten gelangten sie zu einer Schneise. Dort erwartete sie eine gespenstisch anmutende Szene.

In der Schneise lag, rötlich glühend, eine Art überdimensionierte Dis-kusscheibe. Sie wies eine deutliche Schräglage auf, da sie an einem Rand auf einem Baumstumpf auflag. Eine Art Dreibein, drei teleskopartige Stel-zen, schauten aus der Unterseite heraus.

Krausinger schätzte den Durchmesser der Scheibe auf mindestens zehn Meter. Spätere Messungen ergaben etwas über zwölf Meter. Es waren keine Geräusche zu vernehmen, aber die Scheibe vibrierte leicht. Was dort lag, ähnelte zwei gegeneinander gesetzten Suppentellern. Der sich in der Mitte ausstülpende Rand wies rot, blau und grün blinkende Lichter auf. Am Oberteil war eine geöffnete Tür zu sehen, von welcher eine mehrstufige gebogene Treppe nach unten führte. Auf den ersten Blick waren keinerlei Beschädigungen zu erkennen.

Auf der Lichtung befanden sich mehrere Fahrzeuge und alles in allem etwa zwanzig Personen. Ein Hauptscharführer warnte Krausinger und seine Begleiter davor, zu nahe an die Scheibe heranzutreten. Sie sei noch extrem heiß. Einer seiner Leute habe sich bereits eine Hand verbrannt, als er sie angefaßt habe.

Krausinger und Danzmann sahen sich an. "Flügellos", meinte Danz-mann. "Die Luftwaffe arbeitet daran ...", bemerkte Krausinger, und setzte hinzu: "Wenn das alles ist, dann ist aber das 'Wunder' nicht sehr groß." Er ärgerte sich schon wieder. Das hätte man ihm auch bei Tage zeigen kön-nen. Er schaute sich um. Etwa ein Dutzend junger Flakhelfer bestaunte das Fluggerät. Ein etwa sechzigjähriger invalider Hauptmann löste sich aus der Gruppe und kam auf ihn zu. Drei SS-Leute sicherten den Flugkör-per. Zwei Bauern wurden am Waldrand offensichtlich von einem Schutz-mann daran gehindert auf die Lichtung hinauszutreten. Ein weiterer

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Schutzpolizist stand mit einem Angehörigen der SS-Wachmannschaft bei irgendwelchen auf dem Boden Liegenden. Genaueres war aus der Entfer-nung und bei den Lichtverhältnissen nicht auszumachen. Der Haupt-scharführer, der Krausingers Blick folgte, sagte: "Der Feldscher der Flak-batterie kümmert sich um die beiden Piloten."

"Standartenführer", meldete sich der Flakhauptmann, der inzwischen hinkend auf ihn und seine Gruppe zugekommen war, hob den ihm ver-bliebenen linken Arm und legte die Hand lässig zum militärischen Gruß an den Mützenschirm.

"Heil Hitler" antworteten Krausinger und seine Begleitung betont und hoben den rechten Arm zum Deutschen Gruß.

"Standartenführer, das war kein Treffer von uns. Leider. Wir hätten die auch nicht erwischt, selbst wenn wir gewollt hätten. Unmögliche Flugbe-wegungen. War nichts zu machen. Kamen praktisch von selber runter."

"Kamen von selber runter?" Dr. Schulze konnte seine Überraschung nicht verbergen.

"Ja, ist abgestürzt, das Ding da", bestätigte der Hauptscharführer. "Wir waren gerade auf Patroullienfahrt - Sicherungsraum C -, da sahen wir es runterkommen. Haben erst gedacht, die Flak hätte es runtergepustet. War aber kein Schuß zu hören gewesen."

Konstruktionsfehler? Krausinger nickte gedankenversunken. "Noch nicht ausgereift... ", ließ sich Danzmann vernehmen.

"Wenn wir das Gerät selber verbessern würden, hätten wir die Luftwaffe bei der Entwicklung der Flügellosen überholt!" stellte Krausinger fest. An Schubert gewandt, der das Fluggerät bestaunte, sagte er: "Hauptsturm-führer, Sie nehmen sich natürlich die Besatzung vor. Ich will alles wissen: Wieviel dieser Scheiben gibt es? Seit wann sind sie im Einsatz? Reichwei-te? Antrieb? Bewaffnung? Kurz sämtliche taktisch-technischen Daten!"

"Ob die ihm antworten werden?" Der Flakhauptmann sprach zu Krau-singer und schaute Schubert skeptisch an.

"Wieso? Wie meinen Sie das?" reagierte Schubert gereizt, da er Zweifel an seinen Verhörfähigkeiten herausgehört hatte.

"Na sehen Sie sich die doch mal an", antwortete der Hauptmann viel-deutig und nickte mit schräg gelegtem Kopf in Richtung des Waldrandes, wo die Piloten auf dem Erdboden lagen.

"Ja, sehen wir sie uns einmal an", entschied Krausinger und begab sich, gefolgt von seinen Offizieren, zum Waldrand.

Was sie dann sahen, erstaunte sie über alle Maßen. Es verwunderte sie praktisch weit mehr, als die Scheibe selbst, die sie als flügellose Militär-maschine betrachteten, da sie diese einordneten in ihr Erfahrungssystem.

Die Wachen, ein Schutzmann und ein SS-Mann, nahmen Haltung an. Der dritte Mann, der am Boden hockte und sich um die beiden Piloten

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kümmerte, drehte sich zunächst nicht um. Es war der Feldscher der Flak-batterie.

Es war unglaublich, was sie da sahen. Da lagen in einer Art einteiligem, metallisch schimmerndem Anzug, der bis zum Hals geschlossen war und keine erkennbare Öffnungen aufwies, zwei Wesen, gefesselt und offen-sichtlich ohnmächtig.

"Was ist denn das?" entfuhr es Schulze. Er starrte auf die vor ihm liegenden Gefangenen.

"Kinder?" staunte Danzmann, ungläubig den Kopfschüttelnd. "Also, wie die aussehen ... ", äußerte Schubert angewidert. "Sehen Sie, das meinte ich doch ...", sagte der Batteriechef. Auch Krausinger hatte so etwas noch nie in seinem Leben gesehen. Da

lagen zwei Lebewesen, wohl menschenähnlich, aber eben ganz fremdar-tig aussehend. Sie mochten höchstens 1,20 Meter groß sein, hatten über-große Köpfe im Verhältnis zu ihren schmächtigen Körpern und zarte Gliedmaßen, von denen die Arme extrem lang erschienen. Die Hände wiesen sechs Finger auf. Die Gesichter waren charakterisiert durch über-große, schrägstehende Augen, die im Moment allerdings von großen Augenlidern verschlossen waren. Eine Nase war kaum erkennbar, es waren eigentlich nur zwei Nasenlöcher unter einer leichten Erhöhung zu sehen. Der Mund war lippenlos und mehr einem kurzen Strich ähnlich. Ohren waren nur als Löcher erkennbar. Eigentlich war bei Betrachtung des gesamten Kopfes der Vergleich mit runden Babygesichtern gerechtfertigt. Ihre Haut war hell. Kinder sind das sicher nicht, obwohl das den Engländern zuzutrauen wäre, stellte er für sich fest.

"Liliputaner?" fragte Dr. Schulze. "Ich glaube nicht", meinte der Feldscher, der langsam aufstand und sich

dabei den Ankommenden zuwandte. "Buschneger! Könnten das Buschneger aus den englischen Kolonien

sein? Die sind doch zwergwüchsig!?" rief Danzmann. "Die Idee der Engländer ist gut ... ", sagte Krausinger, Danzmanns

Gedanken aufgreifend, und setzte fort: "... minimale Belastung des Flug-gerätes durch besonders kleine Besatzungsmitglieder. - Aber Buschneger, die sind doch nicht so hell!"

"Ja und sechs Finger haben die sicher auch nicht", meinte Danzmann nachdenklich.

"Vielleicht eine Züchtung?" fragte Dr. Schulze vorsichtig, dem die leichte Aggressivität in der Stimme seines Chefs aufgefallen war.

"Eine lebensunwerte Rasse!" meinte Hauptsturmführer Schubert in einem Ton, als wolle er bereits im nächsten Moment ihre Vernichtung befehlen.

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"Ja, es könnte sein, daß es sich um eine spezielle Züchtung handelt", sagte Krausinger.

"Das beweist uns wiederum, daß die dekadente Plutokratie im Bündnis mit dem Weltjudentum zu allem fähig ist", rief Schubert empört.

"Was ist los mit denen - verletzt? Tot?" Krausinger wandte sich an den Feldscher, der lässig vor ihm stand.

"Sind nur bewußtlos, Herr Oberst", antwortete der. "Standartenführer", korrigierte ihn Krausinger. Der Feldscher korrigierte sich nicht: "Sie scheinen unverletzt zu sein.

Ihre Leute haben sie gefesselt. Glaube nicht, daß das nötig ist." "Das lassen Sie mal unsere Sache sein!" zischte Schubert. "Kommen Sie mal mit", sagte Krausinger und nickte seinen Offizieren

zu. Er ging einige Meter auf die Lichtung hinaus, bis er sicher war, von anderen nicht mehr gehört zu werden: "Das ganze scheint mir brisanter, als ich bisher vermutet habe. Als erstes müssen wir die Scheibe sicher-stellen. Die beiden Gefangenen sind, sobald vernehmungsfähig, zu ver-hören. - Hauptsturmführer, Sie übernehmen die Verantwortung für den Abtransport der Scheibe und die Einlieferung der Piloten in unseren Med.-Punkt, sowie deren Bewachung. Ich informiere Gruppenführer Holt. - Ach, eins noch: Sie sorgen auch für eine Verpflichtung aller Beteiligten zum Schweigen."

Krausinger schaute sich noch einmal auf der Lichtung um, bestieg dann mit seiner Begleitung den Wagen und zurück ging es zum Objekt. Unter-wegs sprachen sie erregt über das gerade Erlebte. Im Objekt angekom-men verabschiedeten sie sich voneinander und suchten ihre Privaträume auf. Keiner von ihnen schlief in dieser Nacht richtig.

Am nächsten Morgen war Krausinger bereits um 07.00 Uhr in seinem Arbeitszimmer und ließ sich von Schubert Bericht erstatten. Der hatte in der vergangenen Nacht befehlsgemäß alles Notwendige in die Wege geleitet. Die Scheibe war mit Hilfe eines Autodrehkranes auf einen Sattel-schlepper geladen und dann in das Objekt gebracht worden. Dort wurde sie mit Tarnnetzen gegen Luftbeobachtung gesichert. Vorher waren auf dem Waldweg eine Reihe von Bäumen abgesägt worden, weil man sonst nicht durchgekommen wäre. Auch der Eingang zum "Forst-Objekt" mußte an einer Seite durch Einreißen des Zaunes erweitert werden. Beim Abtransport der Scheibe, die recht schnell abgekühlt war, hatte man fest-gestellt, daß sie silbrig metallisch glänzte und ziemlich leicht war. Schubert meinte, zuerst hätten er und seine Leute gedacht, es könne sich viel-

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leicht um eine Art Segelfluggleiter handeln, der von einer Transportma-schine über dem Reichsgebiet ausgeklinkt worden sei, um feindliche Spione oder Einsatzgruppen geräuschlos an ihr Ziel gelangen zu lassen. Aber das Verhör der Flakhelfer habe sie alle eines Besseren belehrt.

Die jungen Männer, sechzehn-, siebzehnjährig, hatten berichtet, was sie am Abend vorher erlebt hatten. In ihrer Flakstellung hockend, hatten sie wie immer den Himmel nach feindlichen Flugzeugen abgesucht. Plötzlich sei ihnen etwas aufgefallen, was sie zuerst als einen hell leuchtenden Stern angesehen hatten. Dieser sei lautlos, aber sehr schnell näher gekommen, sei dann abrupt unbeweglich stehen geblieben, habe seine Farbe von gelblichweiß auf rötlich verändert und sei dann überraschend schnell im rechten Winkel davongerast. Spätestens da sei ihnen klar gewesen, daß es sich um keinen Stern gehandelt haben konnte. Es war auch keine Sternschnuppe, denn das fliegende Objekt habe seine Kontu-ren bewahrt und einer Sternschnuppe, von denen sie auch schon sehr viele gesehen hätten, nicht im geringsten geähnelt. Gleich darauf sei es wieder angeschossen gekommen und in etwa 100 Metern Höhe über ihnen stehen geblieben. Sie hatten außer einem leichten Rauschen kei-nerlei Geräusche vernommen. Da sei es ihnen allen ein bißchen gruselig geworden. Ihr Wachtmeister habe den Hauptmann geweckt.

Gerade als der Batteriechef aus seinem Unterstand gekommen sei, habe sich das Flugobjekt in rasender Geschwindigkeit in Richtung "Forst-Objekt" entfernt. Dann hätten sie gesehen, wie es plötzlich in starke Schlingerbewegungen geraten sei. Danach sei es langsamer geworden, stehen geblieben, habe stark geschwankt und sei schlingernd zurückge-kommen in Richtung ihrer Batterie, bevor es auf halbem Wege unter lau-tem Zischen in den Wald gestürzt sei. Daraufhin hätte ihr Batteriechef sie vom Bereitschaftszug ablösen lassen und mit einem Mannschafts-transporter auf die Suche geschickt. Durch das Leuchten der Scheibe geleitet, hätten sie diese auf der Lichtung gefunden. Etwa zur gleichen Zeit sei auch eine Streife vom "Forst-Objekt" eingetroffen.

"Ich werde die Scheibe gleich inspizieren", sagte Krausinger, als Schubert seinen Bericht beendet hatte. "Nach allem, was die Flakleute beobachtet haben, scheint das tatsächlich kein Gleiter zu sein, sondern über einen eigenen Antrieb zu verfügen. - Was haben denn andere Zeugen ausgesagt?"

"Unsere Außenpatrouille hat das praktisch alles bestätigt was die Jungs ausgesagt haben. Die haben nicht alles so genau verfolgt, wie die von der Flak, aber den Absturz der Scheibe haben unsere Leute ebenfalls gese-hen. Und dann waren da ja noch die Bauern und die Schutzmänner."

"Was haben Sie alles unternommen?"

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"Ich habe Verstärkung kommen lassen. Dann haben wir erst einmal großräumig die Zufahrtswege zu der Stelle abgeriegelt. Alle Anwesenden wurden zum Schweigen verpflichtet."

"Wo sind die Leute jetzt?" fragte Krausinger. "Die Flakleute sind wieder in ihrer Stellung. Die Schutzleute schlafen

sicher, nach dieser Nacht." "Und die Bauern?" fragte Krausinger kurz. "Die Bauern? Ich denke, die werden auch schlafen." "Hören Sie, Hauptsturmführer, ich glaube, die Angelegenheit ist

bedeutsamer, als wir im Moment ahnen. Wenn es sich bei dem Gerät um eine Neuentwicklung der Briten handelt, dann dürfen die auf keinen Fall erfahren, daß wir ein solches Exemplar besitzen. Wir selbst - nicht hier -aber anderswo, experimentieren mit solch einem flügellosen Objekt. Vielleicht hilft die Analyse dieses Gerätes, unser eigenes serienreif zu machen und die deutsche Luftwaffe kann wieder die Lufthoheit gewinnen. Es wäre aber fatal, wenn der Feind erführe, wie weit wir sind und daß wir wissen, wie weit er ist. - Lassen Sie alle Beteiligten noch einmal vom SD verhören!"

"Jawohl, Standartenführer", antwortete Schubert, sich erhebend. "Was ist mit der Besatzung?" "Die wurde bereits vom Doktor untersucht. Er sagte, sie seien unver-

letzt. Vielleicht ein Schock, aber sonst nichts, meinte er. Sie sind aber immer noch bewußtlos. Werden beide natürlich auf das schärfste bewacht."

"Gut. Ich sehe mir Scheibe und Piloten an. Jetzt kann ich den Gruppen-führer ohnehin noch nicht aus dem Bett klingeln. Ich werde ihn später in Berlin anrufen. Informieren Sie den SD."

Der Hauptsturmführer knallte die Hacken zusammen, hob den Arm zum Deutschen Gruß, sagte "Heil Hitler" und verließ nach einer Kehrtwendung den Raum.

Krausinger hatte zurückgegrüßt. Dieser Schubert ist doch ein ganz brauchbarer Mann, dachte er. Schubert war zwar als Stabschef ihm fast gleichgestellt, aber er hatte ihn von Anfang an so behandelt, daß er den Dienstgradunterschied deutlich zu spüren bekam. Im Grunde sah er in Schubert nur den Leiter der Wache, den Mann fürs Grobe.

Er verließ sein Dienstzimmer und begab sich hinüber zum Med.-Punkt, der in einer der Baracken untergebracht war. Sturmbannführer Dr. Knaus, der Leiter des medizinischen Personals, das die fast 600 Mann der Dienststelle betreute, empfing ihn. "Tag Doktor", sagte Krausinger. Dr. Knaus war neben Professor Danzmann der einzige Angehörige der Dienststelle, mit dem er recht zivil und bürgerlich umging. Er sah auch

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ihn zwar bei weitem nicht als gleichwertig an, aber er wußte als Mann, der viele Jahre seines Lebens eher kränklich gewesen war, wie ohnmächtig und klein man sein konnte, wenn man als Kranker in den Händen der Weißbekittelten war, von denen man Hilfe erhoffte. Deshalb ging er stets höflich mit Ärzten um.

"Was kann ich für Sie tun, Standartenführer?" fragte Dr. Knaus freund-lich, und setzte gleich hinzu: "Sie wollen sicher unsere neuesten Patienten sehen?"

"Genau das, Doktor", antwortete Krausinger. "Wie geht es denen denn? Sind sie munter?"

"Blutdruck und Puls sind nach unseren Maßstäben etwas niedrig - aber vielleicht für die ganz ideal? Ich weiß es nicht. - Sie haben vor etwa zwanzig Minuten die Augen geöffnet, sind nun also munter. Kommen Sie bitte hier hinein, dort liegen sie."

Dr. Knaus ging auf eine Tür zu, vor der zwei Posten mit Sturmgewehren standen, die Haltung annahmen. Dann drehte sich einer von ihnen zur Tür, und klopfte.

Die Tür wurde geöffnet. Ein weiterer Posten stand hinter der Innenseite, ebenfalls schwer bewaffnet, obwohl die Fenster des Zimmers vergittert waren.

Das hat der Schubert gut gemacht. Krausinger war zufrieden. Knaus wies mit dem Kopf zu den vergitterten Milchglasfenstern: "Habe

meinen gesicherten Medikamentenraum geopfert für diese Beiden." Und damit wies er auf die Krankenbetten, in denen die Gefangenen lagen, die mit großen dunklen und unergründlichen Augen zu den Eintretenden schauten.

Krausinger trat an eines der Betten und dachte: Wirklich seltsam, diese Wesen. Er sah sie jetzt erstmals bei Tageslicht und er konnte ihre geöffne-ten Augen betrachten. Sie besaßen weder Pupillen, noch eine Iris. Sie waren einfach nur schwarz, tief und unergründlich. "Wissen Sie, wo Sie sich befinden?" fragte er den im vorderen Bett Liegenden. Als dieser nicht antwortete, wandte er sich an den anderen Gefangenen und wiederholte seine Frage auf Englisch: "Do you know, where you are landing?"

Wiederum erhielt er keine Antwort. Die beiden fremdartigen Flieger blickten ihn unverwandt mit ihren großen, nicht nur seltsam, sondern auch unheimlich wirkenden Augen an, sprachen aber kein Wort.

"Unverletzt sind sie also. Gesund scheinen sie auch zu sein. Sprechen wollen sie nicht mit uns. Dann brauchen sie auch nicht hier in diesen schönen weißen Betten zu liegen." Krausinger hatte wie zu sich selbst gesprochen. Jetzt sprach er direkt zu den Gefangenen: "Wenn Sie bis heute nachmittag nicht gesprochen haben, lasse ich Sie in die Arrestzelle verlegen. Dort wird es nicht so bequem sein, wie hier!" 110

Die beiden Gefangenen schauten ihn weiter stumm und sichtlich unbe-wegt an.

Krausinger drehte sich zu Dr. Knaus um und sagte: "Dann bekommen Sie Ihr Medikamentenzimmer wieder frei, Doktor". Er verließ, gefolgt von dem Arzt das Zimmer. Der Posten salutierte erneut und schloß die Tür hinter ihnen ab.

"Haben die schon etwas zu sich genommen, Doktor?" fragte Krausinger draußen.

"Nein, Standartenführer, nichts zu fressen, nichts zu saufen. Hatte Hauptsturmführer Schubert angeordnet."

Der spricht ja, als ginge es um die Fütterung von Tieren dachte Krausin-ger und bestätigte: "Ja, ist richtig so. Lassen wir sie mal ein Weilchen auf ihr Frühstück warten. - Solange sie nicht kooperationsbereit sind, kriegen die nichts!"

"Gut, wird gemacht. Die werden nicht gleich verhungern, scheinen ja, gesundheitlich soweit in Ordnung zu sein."

"Wenn sich irgend etwas in ihrem Zustand verändern sollte, Doktor, dann informieren Sie mich bitte sofort."

"Selbstverständlich, Standartenführer. - Ich habe übrigens bei der Untersuchung festgestellt, daß diese Kreaturen anatomisch doch recht merkwürdig aufgebaut sind. Sie haben eine ganz makellose gummiartige Haut, scheinen keine Rippen und auch keine Gelenke zu besitzen. Und stellen Sie sich vor, das sind weder Männer noch Frauen - nach unseren Maßstäben. - Ich habe da übrigens noch einen Vorschlag. Ich möchte diese Kreaturen gern näher untersuchen. Ich meine ..., ich meine auch innen, wie sie ..., wie sie aufgebaut sind und so weiter. - Sie verstehen?"

"Bei lebendigem Leibe?" "Ja, warum nicht? Man könnte doch auch gleich testen, welche

Schmerzgrenzen die haben. - Ich meine, wenn deren Flugzeug eine Geheimwaffe ist, dann kommen die doch hier sowieso nicht mehr lebend raus... !?"

"Hören Sie Doktor: Ich will nicht, daß denen irgend etwas geschieht, bevor wir fertig sind mit ihnen. Später werden wir weitersehen."

Dr. Knaus hatte Krausinger bis zur Tür begleitet. Krausinger lief über den Platz zu der Stelle, an der unter einer Plane und einem darüber gezo-genen Tarnnetz, bewacht von mehreren Angehörigen der Wachmann-schaft, die Scheibe lag.

Er wies an, daß das Tarnnetz und die Plane an einer dem Platz abge-wandten Stelle geöffnet wurde, so daß er die Scheibe sehen konnte. Danzmann gesellte sich zu ihm. Die Treppe, die sie in der Nacht auf der Lichtung gesehen hatten, war verschwunden und es war auch keine Tür zu sehen. Krausinger war überrascht: "Hauptscharführer! Wo ist die Tür?"

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"Standartenführer! Die Tür läßt sich hier öffnen und schließen. Das hat einer meiner Männer heute Nacht, als wir die Scheibe abtransportierten, durch Zufall entdeckt". Damit wies der Hauptscharführer auf eine unscheinbare kleine ovale Stelle, die leicht erhöht war. Sie befand sich über Krausingers Kopf in dem Mittelwulst, der sich um die gesamte Schei-be zog und in dem auch die pulsierenden Lichter zu sehen waren. Krau-singer hätte sich auf Zehenspitzen stellen müssen, um diese Stelle zu erreichen. Deshalb wies er an: "Öffnen Sie!"

Der wesentlich größere Hauptscharführer berührte die Stelle leicht mit dem Zeigefinger, worauf sich langsam und nur von einem kaum wahr-nehmbaren Zischen begleitet, oberhalb des Wulstes aus der Metallwand ein Teil nach unten herausklappte, an dem ein Gestell befestigt war, das sich ebenfalls ausklappte und sich dadurch als Treppe erwies, die fast bis zum Boden reichte.

"Guck an", entfuhr es Danzmann. "Hatten Sie die Scheibe schon so auf-gestellt, daß die Tür hier hinten sein würde?" fragte er den Hauptschar-führer.

"Nein, das ist ja auch so ein Ding! Die Tür ist immer dort, wo man ganz nahe an dieses Flugzeug herangeht. Egal von welcher Seite man kommt."

"Erstaunlich", entfuhr es Krausinger. Er betrat die Treppe und sagte an Danzmann gewandt, der ihm folgte: "Schauen wir mal."

In der Scheibe gab es noch mehr zu wundern. In der Mitte des Innen-raumes befand sich eine Säule, an deren einer Seite ein Glaskasten etwa in Bauchhöhe angebracht war, in dem sich etwas Pulsierendes befand.

"Die Kraftstation?" meinte Danzmann, der Krausinger über die Schulter schaute, unsicher.

"Ich weiß nicht ..." antwortete der, den Kasten nach Schaltern oder Knöpfen absuchend.

Ringsum waren die Innenwände der Scheibe verkleidet mit einem flu-oreszierenden Material. Sie sahen sich um und suchten nach Tanks, fan-den aber keine. Offensichtlich besaß dieser Flugkörper weder einen Fest-stoff-, noch einen Flüssigtreibstoffantrieb. Da der umbaute Raum der Scheibe beinahe identisch war mit dem Innenraum, konnte es kaum ver-deckte Tanks geben. Die unglaublichen Flugmanöver und die Geschwin-digkeit, mit der sich die Scheibe bewegt haben sollte, deuteten auf etwas anderes hin. Es war Danzmann, der es als erster aussprach: "Die werden doch wohl nicht etwa einen Weg gefunden haben, die Schwerkraft aus-zuschalten?"

Krausinger reagierte nicht darauf. Er schien in Gedanken versunken zu sein. Ein Antigravitationsfeld, ja ein Antigravitationsfeld! Aber wie haben die das gelöst? Darüber muß man nachdenken. Er schaute sich weiter um.

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An der Wand über der Tür sahen sie seltsame Zeichen, die beiden wie ägyptische Hyroglyphen anmuteten. In nach innen gerichteten Ausbuch-tungen war so etwas wie Armaturen untergebracht. Zwei kleine Piloten-sessel waren in entgegengesetzten Richtungen mit Blick zur Wand ange-bracht. Vor diesen, wie auch in regelmäßigen Abständen rings um die Wand, befanden sich Ausbuchtungen nach außen, die jedoch, wie man leicht von außerhalb der Scheibe sehen konnte, keine wirklichen Aus-buchtungen waren. Beide vermuteten, daß es sich dabei um Fenster han-delte, die aber auf irgendeine Weise erst aktiviert, das heißt durchsichtig gemacht werden mußten. Im Moment sahen sie farblich und vom Material her aus, wie die übrige innere Wandverkleidung.

Krausinger betrachtete Decke und Boden. Danzmann meinte "Sie den-ken sicher das Gleiche wie ich." "Nun, was meinen Sie", fragte Krausinger, seinen Kollegen prüfend anblickend.

"Decke und Boden sind tiefer- bzw. höhergezogen. Da ist, wenn auch nicht besonders viel, aber doch etwas Stauraum."

"Richtig. Das werden wir uns Stück für Stück vornehmen. Aber nicht jetzt."

"Es ist ja doch sehr seltsam, daß es keinerlei Beschädigungen gibt", sagte Danzmann, den Kopf ungläubig schüttelnd.

"Aber das ist ja doch gerade unser Glück. So können wir diese Maschi-ne doch besser analysieren und um so schneller nachbauen oder die Luft-waffe kann Verbesserungen in ihre eigene im Versuchsstadium befind-liche flügellose Maschine einbringen!"

Die beiden verließen die Scheibe und ließen sie von der Wache wieder schließen.

"Ich versuche jetzt den Gruppenführer zu erreichen. Zu Kammler soll er dann selbst Verbindung aufnehmen. Das soll nicht meine Aufgabe sein ...", sagte Krausinger und entfernte sich in Richtung seines Arbeitszimmers.

Danzmann begab sich in sein Labor. Krausinger erreichte tatsächlich mit seinem ersten Anruf seinen Vorge-

setzten in Berlin. Er informierte ihn darüber, daß eine hochmoderne, bis-her gänzlich unbekannte Feindmaschine mit seltsamer Besatzung im Wald abgestürzt und geborgen worden sei. Die Maschine mit ihren von Augenzeugen bekundeten außergewöhnlichen Flugeigenschaften sei so fortgeschritten in der Technologie, daß es erstaunlich sei, daß der Feind bereits über so etwas verfüge.

Holt entschied sich, sofort das Ganze in Augenschein zu nehmen. Am frühen Nachmittag traf er ein. Im seinem meist verwaisten Arbeitszimmer ließ er sich von Krausinger Bericht erstatten. Dann begaben sie sich zu der Scheibe.

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Holt, der nicht nur im Eingang, sondern auch im Inneren seinen Kopf einziehen mußte, meinte: "Das ist also die britische Wunderwaffe. -Haben wir etwas Vergleichbares?"

"Ich bin nicht eingeweiht in den neuesten Stand, Gruppenführer", ant-wortete Krausinger. Da müßten Sie zur Luftwaffe und zu den entspre-chenden Rüstungsbetrieben Verbindung aufnehmen bzw. Dr. Kammler fragen. Ich weiß nur, daß an etwas Ähnlichem gearbeitet wird. Ich denke da an die Projekte der Herren Kapitän Schriever und Dr. Miehte."

"Und Sie sind sicher, daß das Ding, so ohne Flügel und Leitwerk, richtig fliegt?"

"Ich habe es selbst nicht fliegen sehen, Gruppenführer, aber es gibt genügend Zeugen dafür. Sie werden schon den ganzen Tag vom SD verhört."

Holt betrachtete interessiert den Glaskasten mit dem Pulsator. "Können Sie mir das erklären, diese Geräte hier?"

"Leider nicht. Wir wissen auch noch nicht, was das alles zu bedeuten hat. Wir haben auch keine Zeit dafür übrig. Können uns nicht genügend damit beschäftigen. Sie wissen doch, unsere Prioritäten liegen bei der Realisierung des Sonderauftrages 'Freimachung von Siedlungsgebieten'."

Holt überhörte Krausingers Rechtfertigungen: "Haben Sie sich denn nicht von den Piloten erklären lassen, wie diese Maschine geflogen wird?"

Krausinger sah Holt konsterniert an: "Ich hatte Ihnen doch bereits gesagt, die sind recht seltsam und sprechen nicht."

Holt blickte von der Konsole auf, fixierte Krausinger und sagte in scharf werdendem Ton: "Na, Standartenführer, jetzt tun Sie aber mal nicht so, als ob man hier in Waldheide nicht wüßte, wie man mit Gefangenen umgeht, die nicht sprechen wollen! Hat sich denn der Pluntke vom SD die noch nicht vorgenommen?"

"Die liegen noch im Med.-Punkt. Ihre Verlegung in die Arrestzelle habe ich für heute nachmittag angekündigt, falls sie bis dahin nicht geredet haben sollten."

"Richtig. Anders gar nicht. Seit wann sind wir denn zimperlich, dem Feind gegenüber?!" Holt drehte sich um: "Wo ist der Med.-Punkt? Ich will mir die Kerle ansehen."

Als Krausinger und Holt in Begleitung von Dr. Knaus das Krankenzim-mer betraten, schauten die Gefangenen sie mit ihren großen dunklen Augen an, in denen ein stiller Vorwurf ausgedrückt zu sein schien.

Holt blieb irritiert stehen, als er sah, was da auf den Feldbetten lag. Dann ging er etwas weiter nach vorn und trat an eines der Betten heran. Er beugte sich kurz über einen der Gefangenen und sagte dann, sich wie-der aufrichtend, angeekelt zu seinen Begleitern: "Das sind doch aber

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keine normalen Menschen! Die müssen doch völlig degeneriert sein! -Halten Sie solche Kreaturen etwa für lebenswert?"

Krausinger antwortete nicht. Dr. Knaus pflichtete dem Gruppenführer sofort eifrig bei: Unwertes

Leben, ja unwertes Leben. Ich habe dem Standartenführer bereits vorge-schlagen, daß ich sie zum Zwecke - äh der..." Knaus sah kurz in Krausin-gers Richtung, der die Stirn runzelte und ihn zum erstenmal, solange er ihn kannte, drohend ansah, und setzte dann an Holt gewandt eilig fort: "... äh, zum Zwecke der Forsch ... äh der Forschung sezieren ...?"

"Sezieren? Nein, Sturmbannführer", entschied Holt. Er schien kurz nachzudenken, dann setzte er fort: "Erst werden die mal schön zum Spre-chen gebracht, vom SD. Dann werde ich sie dem Rassenamt übergeben. Wenn die sich nämlich tatsächlich züchten lassen, wie uns die Engländer ja hier gezeigt haben, dann könnten wir doch ideale Besatzungen produ-zieren für Einmanntorpedos, Grabenpanzer und Mini-U-Boote und brau-chen kein kostbares arisches Blut mehr für diese Zwecke zu opfern."

Nach einem letzten verächtlichen Blick auf die Gefesselten wandte sich Holt dem Ausgang zu. Krausinger und Knaus folgten ihm.

In dem Moment vernahm Krausinger eine tiefe, beruhigende Stimme: "Fürchtet Euch nicht." Er drehte sich um.

Holt, bereits an der Tür, wo der dort stehende Posten salutierte, fragte im Gehen etwas verhaltend über die Schulter: "Was meinten Sie, Standar-tenführer?"

Doch der Angesprochene antwortete ihm nicht. Er starrte auf die beiden Gefangenen.

Holt drehte sich nun ebenfalls um. Ebenso Dr. Knaus. "Fürchtet Euch nicht. Wir bringen Frieden." Holt reagierte auf diese, wie er meinte, Unverfrorenheit der Gefangenen,

indem er empört rief: "Na was denn - also sprechen diese Gnome doch Deutsch!?"

Krausinger durchzuckte der Gedanke: "War das eine Art Waffenstill-standsmission? Waren das Emissäre der Briten?"

Knaus allerdings hatte genau beobachtet, daß keiner seiner beiden son-derbaren Patienten, die er so gern mit dem Skalpell zu Nutz und Frommen seiner wissenschaftlich-medizinischen Karriere auseinandergeschnitten hätte, den Mund oder überhaupt nur die Lippen bewegt hatte.

Die Stimme sprach weiter: "Gebt uns frei." Nun hatte auch Holt bemerkt, daß keiner der Gefangenen den schmalen

Strichmund bewegt hatte. "Bauchredner, diese Clowns", rief er wütend aus.

Krausinger begriff schlagartig, was vor sich ging: Telepathie war im

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Spiel. Er merkte, daß nicht seine Ohren Schallwellen aufnahmen, sondern daß die Stimme ganz einfach in seinem Kopf war. "Die sprechen in unser Hirn", sagte er fast tonlos und völlig überrascht.

Holt schrie: "Standartenführer, meinen Sie, die Engländer arbeiten mit schwarzer Magie?" Holt hatte davon gehört, daß Churchill die Engländer auf Anraten des Magiers AI lister Crowley angehalten hatte, dem Deut-schen Gruß das "Victory"-Zeichen entgegenzusetzen.

Fast tonlos antwortete Krausinger: "Nein. Keine Magie. Telepathie. Sie beherrschen die Gedankenübertragung."

"Das ist Teufelei! Erschießen, erschießen", schrie Holt und nestelte am Verschluß seiner Pistolentasche.

Der Sturmmann entsicherte hörbar sein schußbereites Gewehr. Die bei-den Männer, die vor der Tür Posten bezogen hatten, stürmten herein.

Die Stimme sprach wieder, wohl in die Köpfe aller Anwesenden, denn keiner sagte mehr etwas, keiner bewegte sich mehr: "Die Erde braucht Frieden. Wir bringen ihn Euch."

Wie wollt Ihr uns Frieden bringen? Nur unser Sieg bringt uns Frieden. Krausinger hatte diese Gedanken gerade erst verächtlich gefaßt, da hörte er, als sei es eine Antwort auf eine gestellte Frage, die Stimme sagen: "Euer Sieg brächte der Erde keinen Frieden."

Holt schrie mit wutverzerrtem Gesicht: "Lassen Sie mich los, Stan-dar...", dann erstarb seine Stimme.

Krausinger blickte zur Seite, wo Holt stand. Fassungslos mußte er regi-strieren, daß dieser, eine Hand an seiner Pistolentasche, wie zu einer Salzsäule erstarrt, neben ihm stand. Ebenso die drei Wachtposten. Nur Dr. Knaus bewegte sich. Er schwankte und stürzte bewußtlos in voller Länge, wie ein Brett, mit hartem Aufschlag zu Boden.

Aschfahl im Gesicht und nervös die Lippen bewegend, ohne ein ver-nünftiges Wort herauszubringen, betrachtete Krausinger die Szene. Erneut ertönte die tiefe fremde Stimme in seinem Kopf: "Wer böse ist, wird böse enden. Gebt uns frei."

Plötzlich fiel es Krausinger wie Schuppen von den Augen: ja, das ist es. Keine englischen Agenten! Keine Buschneger! Die ganze Technologie, die beobachtete unglaubliche Manövrierfähigkeit dieser Scheibe, die psychischen Kräfte, über welche diese Wesen verfügten, all das ist ja schier unglaublich. Ja, die scheinen ..., die sind nicht von dieser... Bevor er zuende denken konnte, sagte die Stimme: "Wir wollen Euch helfen, Frieden zu finden. - Gebt uns frei."

"Wir kön ... können Euch ... nicht frei ... geben", brachte er stammelnd heraus. Solch einen Trumpf geben wir nicht aus der Hand, da läßt sich doch etwas draus machen, dachte er. Ich muß mich stark machen, daß

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sich Knaus nicht durchsetzt und daß Holt sie nicht an das Rassenamt wei-tergibt.

"Gebt uns frei", forderte die Stimme erneut. "Euch wird nichts geschehen", antwortete Krausinger, der sich wieder

einigermaßen gefaßt hatte. Verhören müssen wir sie aber ... eventuell auch scharf, setzte er in Gedanken hinzu.

"Ihr werdet uns Schmerzen zufügen", kommentierte die Stimme seine Gedanken.

"Nein, das wird nicht geschehen, das garantiere ich Euch ... äh Ihnen ..." antwortete Krausinger laut. Aber ich kann es nicht garantieren. Holt hat hier das Sagen, dachte er.

"Du kannst uns nichts garantieren." Verdammt, hier ist ja kein Gedanke sicher. "Ich will meinen Einfluß gel-

tend machen, beim Gruppenführer. Aber Sie müssen ihn freigeben." Gleich darauf bemerkte er Bewegung in seinem Rücken. Er wendete sich zur Seite und sah, wie Holt verdutzt auf die Gefangenen schaute. Auch die Wachtposten erwachten aus ihrer Starre. Knaus, der direkt auf sein Gesicht gefallen war, kam ebenfalls wieder zu sich. Er blutete aus einer Platzwunde an der Stirn und aus der Nase und stöhnte, offensichtlich hatte er sich das Nasenbein gebrochen.

"Damit du siehst, Mensch, daß wir uns auf Eueren Verstand verlassen", sagte die Stimme in Krausingers Kopf. "Halt, Gruppenführer, nicht schießen!" Krausinger hatte bemerkt, daß Holt erneut zur Waffe griff. "Ich muß Sie dringend unter vier Augen sprechen!"

Holt zögerte einen Moment, warf einen vernichtenden Blick auf die Gefangenen und antwortete kurz: "Gut."

"Keiner rührt die beiden an!" ordnete Krausinger an. Dann folgte er Holt, der bereits vorausging. "Begeben wir uns in Ihr Dienstzimmer?" fragte er seinen Vorgesetzten.

"Ja", antwortete der knapp. Er war dabei, das soeben Erlebte zu verar-beiten. In seinem Dienstzimmer angekommen ließ er sich erschöpft in den Schreibtischsesse) fallen.

Krausinger wahrte keine der üblichen Höflichkeitsregeln und nahm unaufgefordert auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch Platz. "Ich hoffe, Gruppenführer, daß wir hier weit genug entfernt sind von den Gefange-nen, so daß sie nicht mitbekommen, was wir besprechen werden."

"Diese verdammten Kreaturen. Ich werde Sie erschießen! Das war doch Hexerei!" ereiferte sich Holt, der langsam wieder in den Vollbesitz seiner Kräfte gelangte. Die hypnotische Lähmung hatte sich verflüchtigt.

"Das war keine Hexerei, Gruppenführer", begann Krausinger vorsichtig und in ruhigem Ton.

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"Ja was denn sonst?" brüllte Holt. "Was würden Sie davon halten, Gruppenführer, wenn Sie einem Men-

schen begegneten, der im Dunkeln rennen könnte, ohne irgendwo anzu-stoßen?"

Holt starrte seinen Untergebenen irritiert an. Krausinger redete sofort weiter, um ihm jede Chance eines Einwandes

zu nehmen: "Dieser Mensch würde nichts wesentlich anderes zeigen, als eine Fledermaus, der aus Gründen, die allein die Vorsehung kennt, die Fähigkeit gegeben wurde, Infrarotsignale auszusenden. - Warum also sollten Fähigkeiten, die wir Menschen nicht haben oder nicht mehr haben oder aber aufgrund des Standes unserer evolutionären Entwicklung noch nicht haben, nicht bei anderen Lebewesen vorhanden sein?"

Holts Gesichtsausdruck erweckte den Eindruck, er rechne eine schwie-rige Mathematikaufgabe im Kopf aus.

Krausinger schob schnell nach: "Und was das Erschießen betrifft. Aus eben erwähnten Gründen glaube ich nicht, daß das vernünftig wäre, Gruppenführer."

"Nicht vernünftig? Überlegen Sie gefälligst wen Sie vor sich haben, Standartenführer", rief Holt wutentbrannt und sprang hinter seinem Schreibtisch auf. Notgedrungen mußte sich auch Krausinger erheben. "Entschuldigen Sie, Gruppenführer. Ich würde mir nie erlauben, Ihnen zu nahe zu treten."

Holt ließ sich wieder in seinem Sessel nieder. Sein Mund stand immer noch vor Erregung offen und sein Gesichtsausdruck war gezeichnet von Empörung.

Krausinger nahm mit etwas Verzögerung ebenfalls wieder Platz. Du arrogantes Arschloch. Wer bist du denn? Was hast du denn geleistet? Gegen mich bist du doch ein Nichts. Krausinger ließ sich äußerlich nicht anmerken, was er von seinem Vorgesetzten hielt. Er redete weiter: "Was ich meinte, war dies: Dient es dem Führer, dem deutschen Volk, dem Reich, wenn wir die Gefangenen erschießen?"

"Wozu sollten die sonst gut sein?" fragte Holt, bereits weniger erregt. "Gestatten Sie mir, daß ich ein klein wenig weiter aushole?" Krausingers

Frage war rhetorisch gemeint und er fuhr, ohne Holts Zustimmung abzu-warten, fort: "Können Sie sich vorstellen, daß es außerhalb unserer Erde intelligente Wesen gibt, die technisch und in der Entwicklung ihrer men-talen Kräfte bereits wesentlich weiter sind als wir?"

Holt starrte Krausinger an, als habe er es mit jemandem zu tun, der die Unverfrorenheit besaß, ihm, einem SS-General und Duzfreund des Reichsführers SS mit Humbug zu kommen. "Das ist völlig undenkbar. Alles Quatsch. Und überhaupt: Der höchstentwickelte Teil der Mensch-

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heit ist die germanische Rasse. - Was wollen Sie mir da eigentlich erzählen?"

Krausinger wunderte sich sehr, daß Holt so ablehnend auftrat, wo doch Himmlers Hang zum Esoterischen bekannt war und jeder, der im Reich ein höheres Amt oder einen höheren Rang bekleidete, sein Bekenntnis zu Hörbigers Welteislehre abgegeben haben mußte. Heuchelte Holt Himmler gegenüber? Er war auf jeden Fall ein Mann, der für nichtmaterialistische Gedanken und für Überlegungen, die nichts unmittelbar mit seinem Leben und seinen Gelüsten zu tun hatten, keine Zeit verschwendete.

Krausinger versuchte dennoch, ihm vorsichtig seine Idee von der Her-kunft der Gefangenen nahezubringen. Und er wollte ihm klarmachen, wie man einen Nutzen aus ihrer Anwesenheit im Reich ziehen könnte. "Da haben Sie ohne Frage recht, Gruppenführer. Aber ich sprach ja auch nicht von einer höheren Rasse. Wir sind die Herrenrasse, da gibt es doch nicht den allergeringsten Zweifel. - Dennoch existieren auf dieser Erde niedere Völker, die ebenfalls über Waffentechnik verfügen und die unserer tapfer kämpfenden Truppe an der Front erheblichen Widerstand ent-gegenzusetzen vermögen."

"Das werden sie nicht mehr lange! Der Endsieg steht kurz bevor!" erei-ferte sich Holt in völliger Ignoranz gegenüber den Realitäten an den Fron-ten.

"Richtig. Und dabei können wir Hilfe gebrauchen." Holt starrte Krausinger verständnislos an. Bevor er etwas erwidern

konnte, redete Krausinger eilig weiter: "Gruppenführer, die beiden Gefan-genen sind, da bin ich ziemlich sicher, nicht von dieser Erde."

"Was? Was heißt hier, nicht von dieser Erde? Meinen Sie etwa, die seien vom Mars? Das ist doch Blödsinn! Sie reden ja Schwachsinn! Sind Sie etwa krank? Muß ich Sie etwa von Ihrem Posten als mein Stellvertreter ablösen lassen?"

"Ich bin so normal wie Sie, Gruppenführer." Du kannst mich nicht beleidigen, dachte Krausinger, du nicht. Er fuhr fort: "Als Naturwissen-schaftler habe ich mir oft Gedanken gemacht, ob wir allein in diesem rie-sigen Universum sind. Ich halte es, wie übrigens viele meiner Kollegen auch, für durchaus denkbar, daß auch andere Planeten bewohnt sind. Nicht unbedingt in unserem Sonnensystem. Hier wohl eher nicht. Aber dort draußen. Irgendwo." Krausinger wies in Richtung Himmel, der mit Blick aus dem Fenster zu sehen war. "Aufgrund dessen und wegen der unvorstellbar hoch entwickelten Technik ihrer Flugmaschine glaube ich, daß unsere Gefangenen Fremde auf unserer Erde sind."

"Wie kommen Sie denn darauf?" Holt, ruhiger geworden, fragte in sehr ironischem und zugleich arrogantem Ton.

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"Sie haben ja selbst bereits festgestellt: Die beiden Zwerge, ich möchte sie einmal so nennen, entsprechen nicht den nationalsozialistischen ras-senästhetischen Idealvorstellungen. Ganz eindeutig. Da gibt es gar keine Frage. - Sie sehen aus wie eine intelligente biologische Art, die sich nicht auf unserer Erde entwickelt hat. Es gibt schließlich keinerlei vergleichbare Rasse auf unserem Planeten und ich glaube auch nicht, daß die Engländer eine neue Rasse gezüchtet haben. Die sind dazu einfach intel-lektuell nicht in der Lage. Das wäre der erste Beweis. Der zweite Beweis besteht in der Tatsache, daß es sich bei der Scheibe um ein unvergleich-lich leistungsfähiges Fluggerät handelt. Ihre Manöver wurden von einem guten Dutzend geschulter und erprobter Luftbeobachter verfolgt und uns gegenüber bestätigt. Unsere Feinde sind zu solchen großen Würfen in der Waffentechnik doch überhaupt nicht fähig! Und wir selbst sind leider einfach noch nicht so weit, weil wir andere Prioritäten gesetzt haben. -Ich glaube, wir haben da draußen vor dem Gebäude eine, was heißt eine, die neue Wunderwaffe stehen. - Gruppenführer, stellen Sie sich doch einmal vor, wir würden solche Scheiben in Serie herstellen. Damit wären unsere Flieger in wenigen Minuten über London und bald darauf sogar über New York! Wir hätten die beste aller Wunderwaffen, die wir uns vorstellen können. Und vor allem, Gruppenführer: Wir - die SS - nicht die Wehrmacht, nicht die Luftwaffe und auch keines der Forschungsinstitute, die für Speers Rüstungsministerium arbeiten, hätte das geschafft."

Krausinger starrte Holt mit seinen kleinen Augen durch die mittelstarke randlose Brille hypnotisierend an und beobachtete die Wirkung seiner Worte. Er stellte zufrieden fest, daß Holt ihm atemlos und fasziniert zuhörte. Nun setzte er, seine Bürstenfrisur mit der rechten Hand strei-chend, noch eines drauf, da er sah, daß Holt Feuer gefangen hatte: "Ich glaube, Gruppenführer, dann würde es sich der Führer persönlich nicht nehmen lassen, Ihnen die Brillanten zum Ritterkreuz mit Eichenlaub und Schwertern anzustecken."

Holt gefiel schon das, was Krausinger ihm vorher aufgezeichnet hatte. Das letzte ging ihm nun gar hinunter, wie Öl. Um den Eindruck von Gefaßtheit und Sachlichkeit bemüht, fragte er: "Nehmen wir einmal an, das stimmt, was Sie da über die Fähigkeit dieser Scheibe geäußert haben. Das könnte tatsächlich endlich die Wende im Krieg für uns bringen. -Standartenführer, wenn wir das schaffen, dann ... ! Also, wenn uns das gelingt, diese Scheiben im Dutzend, ja was heißt im Dutzend, zu Hun-derten bereitzustellen, dann ... Betrachten Sie sich schon mal als Brigade-führer. Heinrich wird mich zum Obergruppenführer, wenn nicht gar zum Oberstgruppenführer befördern. Und - der Führer persönlich wird uns danken!" Damit hatte Holt zu guter letzt den Knochen aufgenommen, der ihm zugeworfen worden war. 120

Krausinger sah, daß er Holt überzeugt hatte. Schnell ging er weiter in die Offensive, denn es war ihm klar, daß man das Eisen schmieden mußte, so lange es heiß war: "Obergruppenführer", Krausinger registrierte befriedigt, wie sich Holt bei seinem absichtlichen Versprecher kerzenge-rade im Sessel aufrichtete, "... äh, ich meine Gruppenführer, ich schlage deshalb folgendes vor: Erstens, das Fluggerät wird in einem bombensi-cheren Versteck untergebracht und analysiert. Zweitens, die Gefangenen werden von der Öffentlichkeit isoliert und gut behandelt. Ich übernehme persönlich die Kommunikation mit diesen Zwergen, um Informationen zur Bauweise der Scheibe, Funktionsweise und so weiter zu erhalten. Drittens: Festlegung der obersten Geheimhaltungsstufe für das Projekt, für das ich die Bezeichnung 'Marsschwert' vorschlage, da ich mir diese Scheibe besser als unsere geplante A7 als Träger für den 'Zeusstrahl' vor-stellen kann. Ich gehe sogar soweit, zu fordern, daß Einzelheiten des Pro-jektes unter uns bleiben müssen. Wir sollten nur von einer Wunderwaffe sprechen, nicht woher sie kommt etc. Mehr würde nur verwirren. Außer-dem hört der Feind ja überall mit."

Holt bestätigte Krausingers Vorschläge im Wesentlichen. Er hatte nicht vor, den Reichsführer und auch Kammler über die beiden Piloten zu informieren. Er befürchtete, sich lächerlich zu machen. Umso mehr, als er selbst nicht recht glaubte, was ihm Krausinger als wahrscheinliche Herkunft der Gefangenen dargelegt hatte. Er würde Himmler lediglich mitteilen, daß die "Dienststelle Forst" an einer neuen Wunderwaffe arbeite. Ein herbeigerufener Stenograph nahm Holts entsprechend formulierte Befehle auf, die anschließend im Schreibzimmer getippt wurden und wenig später bereits von Holt im Original unterschrieben werden konnten.

Die Zeugen des Absturzes, die zur gleichen Zeit vom SD verhört wurden und noch nichts von dem ihnen bevorstehenden Schicksal ahnten, wurden am Ende ihres Verhörs bei Androhung der Todesstrafe zum Schweigen verpflichtet und verließen gegen Abend das Objekt in andere Richtungen, als in die, aus denen sie gekommen waren: Die Flakeinheit wurde in den Raum Berlin verlegt. Kein einziger Angehöriger dieser Einheit erhielt auch nur noch einen einzigen Tag Urlaub. Die Einheit wurde im Kampf um Berlin total dezimiert. Das hatte man auch gehofft. Ein der Einheit als angeblicher Feldwebel beigegebener SD-Mann mit Sonderauftrag liquidierte am 25. April 1945 befehlsgemäß die beiden überlebenden Zeugen der Flakeinheit, einen sechzehnjährigen Flakhelfer und den invaliden Hauptmann, bevor er selbst, um nicht den Russen in die Hände zu fallen, Selbstmord verübte. Die beiden Dorfgendarmen wurden direkt an die Ostfront versetzt und mit einem Stoßtrupp in einem russischen

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Minenfeld verheizt. Die beiden Bauern kamen in ein Gestapogefängnis, mit der Maßgabe: "Auf unbestimmte Zeit. Dürfen nicht lebend entkom-men!" Auch sie überlebten das Ende des Krieges nicht. Die Angehörigen der Wachmannschaft, welche die Scheibe auf der Waldlichtung gesichert und die Gefangenen gefesselt hatten - ein Hauptscharführer mit sieben Mann - wurden zu Geheimnisträgern der höchsten Stufe erklärt und hatten fortan die Bewachung des Fluggerätes rund um die Uhr zu gewährleisten. Sie durften mit niemandem über all das zu reden. Ihre Feldpost wurde geöffnet, kontrolliert und vernichtet.

Holt entschied, dabei Krausingers Vorschläge akzeptierend, daß die Scheibe und die Gefangenen in einer schnellstens zu errichtenden neuen, vierten unterirdischen Etage untergebracht werden sollten. Das erforderte materielle und personelle Potentiale, die in der angespannten Lage des Reiches nur schwer würden verfügbar gemacht werden können. Der Kreis der eingeweihten Personen sollte so klein wie möglich sein. Es bestünde, so meinte Holt, kein Grund dafür, daß die an der Scheibe arbeitenden Forscher überhaupt von der Existenz der Gefangenen wissen, geschweige denn, diese zu Gesicht bekommen mußten.

Am späten Nachmittag verabschiedete sich Holt, nicht ohne Krausinger aufgefordert zu haben, ihn stets auf dem laufenden zu halten, was die Befragung der Gefangenen betraf und die Fortschritte bei der Analyse der Scheibe.

Krausinger beauftragte sofort eine kleine, sorgfältig ausgewählte Grup-pe von fünf Spezialisten, mit der konkreten Untersuchung der Scheibe zu beginnen.

Bereits drei Tage später traf in der "Dienststelle Forst" eine SS-Bauein-heit ein. Die Einheit bereitete die Arbeiten vor, während Bunkerarchitekten der "Amtsgruppe Bau" ihr Architekturbüro im Stabsgebäude einrichteten, in der Tiefe des Komplexes Probebohrungen vornahmen, in ihrem Büro Statikberechnungen durchführten und an großen Zeichenbrettern Bauzeichnungen anfertigen ließen. Eine Woche später war es dann so weit. Die eigentlichen Bauarbeiten konnten beginnen. In Tages- und Nachteinsätzen wurde von der dritten Tiefetage aus acht Meter tiefer gehend gebohrt und gegraben. Die neue vierte Tiefetage würde nur zu einem kleineren Teil unter der dritten liegen. Ihr größerer Teil führte nach der Seite weg.

Später trafen ununterbrochen Fahrzeuge mit Beton ein. Außerdem stan-den große Betonmischer, sorgfältig gegen Lufteinsicht getarnt, am ande-ren Ende des Übungsplatzes und produzierten aus zahlreichen vorher herantransportierten Haufen von Sand, Kies und Zement Beton, der in der Baustelle mit Stahl armiert wurde. 50000 Tonnen Stahlbeton wurden ver-arbeitet. 122

Im "Forst-Objekt" wurde verbreitet, bei den Arbeiten handele es sich um eine Verstärkung der Wände wegen befürchteter Luftangriffe und wegen der beabsichtigten Laborexperimente mit einer in Arbeit befindlichen Wunderwaffe - Eingeweihte dachten sofort an die Strahlenwaffe. In der dritten Tiefetage wurden zur Bekräftigung dieser Version zusätzliche Stempel aus Stahlbeton eingezogen und in allen unterirdischen Stock-werken erhielten die Wände zur Täuschung eine schwache zusätzliche Betonschicht aufgesetzt.

Die Forscher und Techniker wurden während der Bauarbeiten in den oberirdischen Gebäuden beschäftigt. Die Angehörigen der Baueinheit wurden zu strengstem Stillschweigen verpflichtet. Sie glaubten, daß sie an einem neuen Führerhauptquartier arbeiten würden. Fünf Wochen nach ihrem Eintreffen verließ die Baueinheit das Objekt. Ihr Weg führte sie auf Befehl von ganz oben direkt an die Ostfront. Ihr Spezialauftrag lautete nun: Minenräumung unter feindlichem Sperrfeuer. Es kam niemand lebend zurück. Auch keiner der Offiziere. Dafür war gesorgt worden.

Die fertige vierte Tiefetage bestand aus einem 30 x 20m großen Raum, in dem die Scheibe untergebracht werden sollte. Neben dieser, später Hangar genannten kleinen Halle, befand sich ein weiterer großer Raum, in welchem ein Modell und ein Prototyp gebaut werden sollten.

Mehrere kleinere Räume als Werkstätten und Materiallager, und ein Raum, in welchem die Gefangenen untergebracht werden sollten sowie ein Wachraum ergänzten die Tiefetage. Ein langer Gang verband alle Räume und den Vorraum mit dem Aufzug und dem Zugang zum gehei-men Treppenschacht. Letzterer war die Verlängerung eines bestehenden Nottreppenschachtes. Dieser führte in einen neben dem Aufzug befindli-chen Raum im Erdgeschoß des Gebäudes und hatte bislang in der dritten Tiefetage geendet.

Die drei Zugänge in den Tiefetagen wurden zugemauert und unkennt-lich gemacht. Der oberirdische Zugang in dem Raum neben dem Aufzug wurde getarnt, indem eine Wand mit eingelassener Tapetentür vorgesetzt wurde. Diesen Raum übernahm Krausinger als Dienstzimmer. Die vierte Tiefetage erhielt ein eigenes Luftzirkulationssystem und ebenfalls ein separates Stromnetz.

Nachdem man den Beton eine Mindestzeit lang hatte nachtrocknen lassen, wurde die neue, vierte Tiefetage, unter Einsatz nur der Kräfte, die bereits eingeweiht waren oder zukünftig mit dem "Projekt Marsschwert" zu tun haben sollten, bezogen.

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Es war Ende Januar 1945 geworden. In der Zwischenzeit war viel geschehen. Von oben wurde gedrängt wegen der Strahlenwaffe "Zeus-strahl" und der neuen Wunderwaffe "Marsschwert". "Die Waffen hätten gestern schon einsatzbereit sein sollen", sagte nach einem solchen Anruf Holts Krausinger verärgert zu Danzmann.

"Wir konnten unter den Bedingungen des Baus nun mal nicht in dem Tempo vorankommen, wie das früher möglich war. Das müssen die doch begreifen", meinte Danzmann.

Problematisch war es gewesen, die Gefangenen aus dem Med.-Punkt in eine andere Umgebung zu bringen. Krausinger präzisierte gemeinsam mit Schubert die bereits mit Holt abgesprochene Taktik, wie man sie, ohne daß sie mentalen Widerstand zu leisten in der Lage sein würden, von dort wegschaffen konnte. Hauptsturmführer Schubert hatte diese Taktik umzusetzen. Es wurden vier Mann von der Wachmannschaft und Dr. Knaus eingeweiht. Allen war befohlen worden, bei den einzelnen Stufen der Aktion ganz gezielt an etwas Unverfängliches zu denken, sobald sie in die Nähe der Gefangenen kämen. Die Tätigkeiten, die sie auszuüben hatten, sollten sie sich gedanklich genau eingeprägt haben, so daß sie, ohne darüber nachzudenken, rein mechanisch die notwendigen Schritte durchführen konnten und nicht durch ihre Gedanken ihre Absichten ver-rieten. Krausinger hoffte, daß die Fähigkeit der Gefangenen zum Gedan-kenlesen nur aktuell Gedachtes betraf und nicht den ganzen Gedan-kenspeicher der Menschen, die in ihre Nähe kamen. Beim ersten Schritt klappte alles. Der im Zimmer Postierte hatte die Tür des Raumes, in dem die Gefangenen lagen, kurz geöffnet und sofort an die duftende Weih-nachtsgans mit würzigem Rotkraut und rohen Thüringer Kartoffelklößen gedacht, die er bei seiner Großmutter immer zum Fest zu essen bekom-men hatte.

Vor der Tür standen die Wachtposten, von denen einer einen Fuchs-schwanz in der Hand hielt, während der andere durch den Türspalt die beiden Gefangenen fixierte, seine Waffe fest umfaßt und vor seinem gei-stigen Auge eine Schachpartie ablaufen lassend. Er begann mit einem Damengambit und setzte die Partie, die eigenen und die gegnerischen Züge ausführend, fort. Der Mann mit der Säge sah seine Kinder vor sich und freute sich darauf, sie wiederzusehen. Er kniete sich schnell hin und sägte rasch ein kleines, aber ausreichendes Stück der Tür schräg weg. Der vierte Mann, der mit der Waffe im Anschlag das Vorgehen der beiden vor der Tür sicherte, dachte an einen früheren Urlaub in den Alpen. Dann nahmen alle vier Posten, sowohl der innen, als auch die Drei vor der Tür ihre übliche Position ein. Sie dachten weiter an das gewählte Thema und kamen allmählich wieder zu den Gedanken zurück, die sie sonst den Tag

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über bei ihren Wachdiensten bewegten. Es gab nur ein Tabu: Gedanken über den Sinn dessen, was sie gerade getan hatten.

Am Nachmittag begann Schritt zwei der Aktion. Es war die Zeit, zu der die Gefangenen die Augen immer schlossen und vermutlich eine Art Mit-tagsschlaf hielten. Der innere Wachtposten schloß die Tür auf und kam heraus. Alle vier Mann dachten wieder intensiv an ihre Themen und zogen Gasmasken über. Einer ging zum gegenüberliegenden Raum, aus dem er gemeinsam mit Dr. Knaus, der ebenfalls eine Gasmaske trug, eine große Gasflasche auf einem zweirädrigen Gestell herausrollte, an der sich ein längerer Schlauch befand. Dr. Knaus dachte konzentriert daran, wie er an der Uni Leipzig im Hörsaal des Medizinisch-Poliklinischen Institutes in der Nähe des Petersteinweges Vorlesungen bei Professor Schweiners gehört hatte und wie er mit seinen Kommilitonen in der obersten Reihe sitzend, den Rausch des Kommers vom Vorabend in "Auerbachs Keller" ausgeschlafen hatte.

Einer der Sturmmänner schob den Schlauch an der Stelle wo die Ecke der Tür abgesägt worden war soweit es ging in den Raum hinein, eifrig darauf bedacht, daß die Schlauchöffnung zu den Gefangenen gerichtet blieb. Gleichzeitig dichteten die anderen beiden mit bereitgelegten Decken Türspalte ab. Knaus drehte die Flasche auf und ließ das Distick-stoffmonoxid in den Raum. Krausinger hatte ihm eine mögliche Verset-zung an die Ostfront angedeutet, falls den Gefangenen bei der Aktion etwas passieren würde. Knaus hatte von Krausinger noch niemals eine Drohung gehört. Diese versteckte Drohung, nahm er ernst, da er wußte, daß die Aktion vom Gruppenführer persönlich angeordnet worden war. Er wußte nicht, wieviel von dem Lachgas die Wesen vertragen würden. Gleichzeitig mußte die Dosis aber so stark sein, daß sie bei ihrer Verle-gung keinen Widerstand leisten konnten.

Er spürte den kalten Schweiß unter seiner Maske laufen. Er sah bereits nichts mehr. Die Scheiben waren blind geworden, so aufgeregt war er. Das Gas rauschte und rauschte in den Raum. Das müßte reichen, dachte er und gab ein Zeichen für die Wachen, nachzusehen. Es hatte gereicht. Die beiden rührten sich nicht. Aber sie lebten. Rasch wurden sie auf Tra-gen gepackt und gefesselt, mit Decken getarnt und über den Platz zum Gebäude Nr. 3, und dann hinunter in einen Raum der vierten Tiefetage gebracht. Das war Schritt drei der Aktion. Auch er verlief erfolgreich. Krausinger war zufrieden mit dem Ergebnis.

Zur Bewachung der Gefangenen wurde eine ständige Wachmannschaft bestimmt, welche rund um die Uhr im Dienst sein mußte. Es handelte sich um die Patrouille, welche die Lichtung, auf der die Scheibe gefunden wurde, abgesichert hatte. Nur ein einziger Mann aus der Gruppe,

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Unterscharführer Bergwald, hatte direkten Kontakt mit den Gefangenen. Bergwald bewachte und versorgte sie und schlief auch in einem Raum in ihrer unmittelbaren Nähe. Er bewachte auch den Aufzugsschacht und die Tür zur Wendeltreppe. Je ein weiterer Posten bezogen Position oberir-disch am Aufzug und vor Krausingers Dienstzimmer in dem sich hinter der Tapetentür der Zugang zur Wendeltreppe befand. Alle Posten waren durch Feldtelefone mit dem Hauptscharführer verbunden, der in einer Wachstube im Erdgeschoß, rechts neben dem Hauseingang saß. Außer Bergwald wurden die Posten alle paar Stunden abgelöst.

So war der Zugang zur vierten Tiefetage auf das Schärfste gesichert. Die schwerbewaffneten Posten hatten den Befehl erhalten, jeden zu erschießen, der nicht zu einer namentlich benannten kleinen Gruppe von Forschern gehörte und ohne in Begleitung Holts oder Krausingers zu sein, in die vierte Tiefetage zu gelangen suchte. Selbst Hauptsturmführer Schu-bert war es nicht gestattet, diesen Bereich ohne Begleitung durch einen seiner beiden Vorgesetzten zu betreten.

Krausinger versuchte mehrfach mit den Gefangenen in Kontakt zu tre-ten, als sie wieder ansprechbar waren, aber sie reagierten nicht. Er werte-te dieses Verhalten als eine dem menschlichen Beleidigtsein vergleichba-re Reaktion auf die Umlegung in die Tiefetage unter Anwendung des Tricks mit dem Lachgas.

Die Analyse der Scheibe zog sich ohne erkennbare Fortschritte hin. Die damit Beauftragten stellten in den neun Wochen seit ihrer Sicherstellung lediglich fest, daß das Metall, welches die Außenhaut der sehr leichten Scheibe bildete, nicht dicker als Staniolpapier sein konnte und daß es nicht möglich war, Kerben oder Kratzer darauf zu hinterlassen.

In einem sich wohl zufällig öffnenden Fach in der innenverkleidung fand man drei diskusförmige kleine Scheiben von etwa 30 cm Durchmesser. Dr. Schulze erinnerten diese Scheiben an eine Geschichte, die er von seinem Bruder, einem Kampfflieger, gehört hatte. Der hatte ihm erzählt, daß er solche kleinen Scheiben im Luftkampf über England zwischen den Flugzeugen umherschwirren sah. Die deutschen Flieger hielten das für Störmanöver der Engländer. Die Scheiben kamen zwar bedrohlich nahe, griffen aber niemals wirklich an.

Krausinger wurde durch diese Information daran erinnert, daß er bereits davon gehört hatte. Er wußte, daß die Luftwaffe die Angelegenheit unter-suchte. In einem "Projekt Uranus" wurde unter Leitung von Professor Kamper versucht herauszubekommen, ob das eine neue Waffe sei. Daran erinnert, glaubte er nun zunächst, daß die Gefangenen vielleicht doch von den Engländern gekommen seien. Jedoch verwarf er diesen Gedanken schnell wieder. Die kleinen Scheiben jedenfalls ließen sich nicht öff-

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nen und nicht zerstören. Als sie eine davon aufsprengen wollten, ver-nichtete sie sich selbst. Sie zerfiel zischend und hinterließ zum Erstaunen und Erschrecken aller Beteiligten nicht einmal Asche.

Sichtbare Bewaffnung wurde in der Scheibe nicht entdeckt, auch keine verdeckte. Krausinger und seine Leute konnten nicht glauben, daß die Scheibe unbewaffnet sein sollte. Aber sie fanden nichts, das auf Bewaff-nung hingedeutet hätte.

Was die unter der durchsichtigen kleinen Kuppel befindliche vermeint-liche Kraftstation betraf, so waren sie nicht klüger geworden, als sie bereits vor Wochen waren, als Danzmann darauf getippt hatte, daß es sich um einen Antigravitationsantrieb handeln könne. Eine Vermutung eben, mehr nicht.

Krausinger versuchte jeden Tag erneut, mit den Gefangenen zu kom-munizieren. Er sprach sie direkt an oder formulierte gedanklich entspre-chende Fragen zu Antrieb, Bewaffnung und anderen Details. Sie aber ant-worteten nicht. Erst etwa zehn Tage nach der Lachgasaktion hörte er wie-der die tiefe, ruhige Stimme in seinem Kopf: "Unser Wissen geben wir nur einer friedlichen Menschheit. Gib uns frei."

Sie antworten, sie antworten! Krausinger war erleichtert und frohlockte. Es ging endlich voran mit der Kommunikation. "Ich verstehe das. Aber das Deutsche Reich spricht für die Völker der Welt", sagte er laut und setzte fort: "Wir schaffen den Frieden der Welt. Ihr könnt dabei helfen. Vertraut uns Euer Wissen an!"

"Ihr sprecht nicht für die Menschheit. Ihr seid nur einer ihrer Teile. Das universale Wissen kann nur eine friedliche Menschheit empfangen - in ihrer Gesamtheit."

Alle Überredungsversuche waren umsonst. Sie antworteten nicht. Dann kam der Tag, als entdeckt wurde, daß sich die Scheibe wie eine Apfelsine in Segmente zerlegen ließ. Nun war es so weit, daß sie nach unten transportiert werden konnte.

Als Anfang März noch immer kein durchgreifender Erfolg zu vermelden war, erschien Holt zu einem seiner seltenen Besuche. Er begab sich, geführt von Krausinger und gefolgt von Danzmann, Schubert und seinem Adjutanten nach unten.

Dort erwartete sie Unterscharführer Bergwald, der sie zu den Gefange-nen begleitete. Sie betraten den Raum, in dem die Gefangenen an den Handgelenken gefesselt und an die Wand gekettet auf den Pritschen

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lagen. Sie schauten den Ankömmlingen ohne sichtliche Regung entge-gen.

Holt sprach sie an: "Ich bin Gruppenführer Holt, Leiter der 'Dienststelle Forst'. Ich erwarte von Ihnen, daß Sie kooperativ sind und garantiere Ihnen dafür eine faire Behandlung."

Krausinger merkte, daß es Holt ungeheuer schwer fiel, mit diesen "Kreaturen", wie er sie gerade noch auf dem Weg nach unten bezeichnet hatte, wie mit Verhandlungspartnern zu sprechen. Und Holt erwartete eine Reaktion auf seine Worte. Das war auch klar. Jedoch es tat sich nichts.

"Wenn Sie kooperativ sind und wir mit Ihrer Hilfe die Feinde des Rei-ches vernichten können, dann garantiere ich Ihnen ein Gespräch mit unserem ..."

Die tiefe, ruhige Stimme vernahmen alle Anwesenden in ihren Köpfen: "Euer Führer ist nicht der Führer der Welt. Eine einige, friedliche Welt kann uns ihre Vertreter als Verhandlungspartner senden. Gebt uns frei."

Holt wurde rot vor Zorn. Sie hatten seine Rede bereits gekannt, bevor er die Worte ausgesprochen hatte und sie hielten den Führer für inkompe-tent! Wütend brüllte er: "Ich werde Euch Bastarde vernichten lassen, wenn Ihr nicht bald redet!"

Plötzlich hörten die Anwesenden erneut die Stimme in ihren Köpfen: "Euere Absichten sind gefährlich und wahnsinnig. Ihr schadet Euch selbst und allen Menschen dieses Planeten. - Gebt uns frei."

Wutschnaubend drohte Holt, die Gefangenen foltern zu lassen. Er war außer sich. Es gelang Krausinger nur mit großer Mühe und viel Bered-samkeit, seinen Vorgesetzten zu beruhigen und ihn um weitere Zeit zu bitten, um die Gefangenen zur Mitarbeit zu bewegen. Schließlich stimmte Holt zu und fuhr zurück nach Berlin.

Krausinger war genauso wütend auf die Gefangenen, wie Holt. Daß er sich dafür eingesetzt hatte, ihr Leben und ihre Gesundheit zu schonen, hatte keinen humanitären Grund. Er hatte vielmehr drei Tage zuvor eine Holt gegenüber wohlweislich nicht erwähnte Entdeckung gemacht, die ihn hoffen ließ, daß er doch noch und zwar sehr bald an ihr Wissen her-ankommen würde. Folgendes war geschehen: Drei Tage zuvor war er, entgegen seiner Gewohnheit, nicht mit dem Aufzug gefahren, sondern über die Wendeltreppe nach unten gestiegen, um die Gefangenen erneut zu befragen. Unten angekommen, durchquerte er den Vorraum und betrat den Gang. Plötzlich hörte er in seinem Kopf, erst schwach, dann stärker werdend, diese Stimme, die er schon kannte. Als er kurz vor dem Raum angelangt war, in dem die Gefangenen auf ihren Pritschen an die Wand gekettet lagen, hörte er - nun deutlich -"... schaffen ein Kraftfeld an belie-biger Stelle unseres Raumgleiters und schalten es ab, wenn wir..."

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Krausinger war um die Ecke getreten und sah, da die Tür weit geöffnet war, daß Bergwald auf einem Stuhl saß und die beiden Gefangenen anschaute. Gerade hatte er verstehend genickt. Die Stimme war in dem Moment abgebrochen, als er um die Ecke trat. Mit dem sprecht Ihr also, dachte er empört.

Bergwald, der gesehen hatte, daß die großen Augen der Gefangenen an ihm vorbei zur Tür blickten, wandte sich um. Er sprang auf. Völlig ver-dattert erstattete er Meldung: "Standa ... Standartenfüh ... Standartenfüh-rer, Unterscharführer Bergwald bei der, ... äh bei der Bewachung der Gefangenen. Keine ... keine besonderen Vorkommnisse!"

Krausinger herrschte Bergwald an: "Was haben Sie mit denen bespro-chen?" Er hätte sich aber im selben Moment auf die Zunge beißen kön-nen. Besser wäre es gewesen, sich nichts anmerken zu lassen, dachte er.

Bergwald zuckte zusammen und stotterte: "Ni ... nichts, Standa ... Stan-dartenfüh ... hab' sie nur beobachtet, wirklich nur beobachtet..."

Du lügst. Krausinger ließ seinen Gedanken unausgesprochen. Jetzt fiel ihm auch ein, daß er Bergwald bereits zweimal in der Wachstube sitzen sah, etwas in ein Heft schreibend, welches er aber jedesmal zugeklappt hatte, als er ihn erblickte. Was mochte der da wohl notiert haben? Sollte der etwa das Gehörte niederschreiben? Plötzlich erinnerte er sich daran, daß die Gefangenen Gedanken lesen konnten. Rasch sagte er: "Folgen Sie mir, ich habe mit Ihnen zu reden!"

Sie fuhren mit dem Aufzug nach oben. Dort angekommen begab sich Krausinger, Bergwald im Gefolge, dem die Augen schmerzten, weil er seit Wochen kein Tageslicht mehr erblickt hatte, in einen Beratungsraum im Erdgeschoß. Von dort aus rief er Schubert an und hieß ihn zu kommen.

Nachdem Schubert Platz genommen hatte, sagte Krausinger: "Stellen Sie sich vor, Hauptsturmführer, dieser Unterscharführer hat es geschafft, mit den Gefangenen zu kommunizieren."

"Was? Sie haben Befehl, die zu bewachen, nicht mit ihnen zu reden!" herrschte Schubert Bergwald an.

"Lassen Sie mal, Hauptsturmführer, ich finde das gar nicht so schlecht", sagte Krausinger scheinheilig. Er hatte einen Plan. "Ich gehe davon aus, daß Unterscharführer Bergwald durch seine ruhige, umgängliche Art, das Vertrauen der Gefangenen erworben hat. Deshalb sprechen, das heißt, kommunizieren sie mit ihm. - Stimmts?"

Bergwald, der in Erwartung einer möglichen Bestrafung stramm stand, schien erleichtert: "Jawohl, Standartenführer. Sie mögen mich - irgend-wie..."

Krausinger warf Schubert einen Blick zu, der besagen sollte: Halten Sie sich jetzt raus. Dann wandte er sich wieder Bergwald zu und bemühte

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sich um einen freundlichen Tonfall: "Nehmen Sie Platz, Unterscharführer. Worüber haben Sie denn mit den Beiden geredet?"

"Ich spreche ja nicht mit ihnen. Aber die bedanken sich, daß ich sie nicht schlage. Ich wäre ein guter Mensch, haben die gesagt - äh, das heißt, habe ich gehört."

"So so. - Ja, und wie fing das denn an? Wann haben die das erste mal mit Ihnen gesprochen?"

"Ja, die sprechen ja eigentlich auch nicht. Das höre ich ja alles in mei-nem Kopf. - Das ist jetzt wohl schon über eine Woche her, daß sie mit mir geredet... äh ich meine, daß sie in meinen Kopf gesprochen haben. Das heißt einer, ich glaube, einer von den beiden spricht immer nur."

"Aha. Was haben die denn als erstes gesagt?" "Ja, ich glaube: 'Mensch, du bist gut. Andere sind böse'." Schubert fuhr Bergwald empört an: "Was?! Und Sie haben es zugelas-

sen, daß die Ihre Vorgesetzten beleidigen?" "Hauptsturmführer, lassen Sie mal", griff Krausinger ein, der seinen Plan

von Schubert gefährdet sah. "Was haben die denn nun alles erzählt?" Er nickte Bergwald freundlich zu.

"Eigentlich nichts Besonderes. Eben nur, daß sie frei sein möchten und daß sie der Erde Frieden bringen wollen."

Der hat mehr erfahren, aber er will offensichtlich nichts verraten, dachte Krausinger. Er schaute überdeutlich auf seine Uhr und sagte an Schubert gewandt: "Machen Sie mal weiter. Ich hatte ganz vergessen, daß ich etwas Wichtiges erledigen muß. Gruppenführer Holt erwartet einen Anruf von mir. Bin gleich zurück."

Krausinger eilte in sein Arbeitszimmer und lief über die Wendeltreppe nach unten. Mit dem Aufzug zu fahren wäre fraglos bequemer und schneller gewesen. Der aber war im ganzen Haus zu hören. Bergwald hätte dann vermuten können, daß er nach unten fuhr und das wollte er vermeiden. Unten angekommen lief er eiligst in die Wachstube, die für Bergwald auch Unterkunft war.

Er sah sich um. Geradeaus stand ein kleiner Tisch, an dem Bergwald essen mußte und an dem er ihn auch hatte schreiben sehen. An dem Tisch stand ein Stuhl. An der rechten Wand befand sich ein Militärspind. Links stand ein Feldbett.

Zuerst untersuchte er das Feldbett. Und er hatte Glück. An dessen Unterseite fand er, zwischen die Stahlfedern geklemmt, ein Oktavheft, welches sich als ein Tagebuch erwies.

Aufgeregt blätterte er darin. Es verschlug ihm fast die Sprache. Da stan-den tatsächlich die Geheimnisse, die er von den Gefangenen erfahren wollte. Er schaute auf das Datum der ersten Eintragung. Es war der 9. Februar 1945. Offensichtlich hatte Bergwald bereits in den ersten Tagen 130

seiner Stationierung in der untersten Etage begonnen, das Tagebuch zu schreiben.

Krausinger las die erste Eintragung: "Seit Freitag bewache ich nun hier in der Tiefe allein diese seltsamen Kleinen. Sie tun mir sehr leid. Sie sind doch so schmächtig und hilflos und wurden dennoch an die Wand gekettet. Eigentlich sollte ich Angst haben. So allein mit denen hier unten. Die haben ja unglaubliche Macht. Selbst der Gruppenführer konnte sich nicht dagegen wehren, wie mir meine Kameraden gesagt haben. Und der ist ja immerhin ein General. Aber sie flößen mir Ruhe ein. Und ich fühle überhaupt keine Angst. Obwohl sie doch auch so ganz anders sind, als wir. Ich setze mich an den Eingang und schaue sie an. Ich muß es ein-fach tun. Ob sie es so wollen? Sie schauen wortlos mit ihren großen Augen zu mir. Sie sehen mit ihren großen Köpfen und ihren kleinen Mündern aus wie Babys. Wie seltsame Babys, aber eben wie Babys, die man streicheln möchte. Aber sie sind eben doch keine kleinen Kinder. Sie sind so erwachsen wie ich. Vielleicht sind sie sogar wesentlich älter als ich es bin? Ich gehe auch keinen Schritt weiter hinein, wenn ich nicht muß. Manchmal denke ich kurz daß ich vorsichtig sein muß. Gleich darauf habe ich das Gefühl unendlicher Gelassenheit. Sie beruhigen mich mit ihren großen dunklen Augen. Einfach so. Ich erkenne keine Pupillen in ihren Augen, die sehr groß und sehr schräg gestellt sind. ja, sie beruhigen mich. Ich vergesse, wenn ich bei ihnen sitze, den sinnlosen Krieg dort oben. Vergesse, daß der Rest meiner ausgebombten Familie irgendwo im brennenden Berlin in einem Keller sitzt, meine Frau, meine Kinder Paulchen und Püppchen. Meine Eltern sind bereits umgekommen in einer dieser furchtbaren Bombennächte. Gebe Gott, daß ich meine Frau und die Kinder wiedersehe! Bisher haben die beiden Wesen noch nichts zu sich genommen. Ich habe ihnen das Essen vorgesetzt, das aus der Mannschaftskantine gebracht wurde. Sie haben es nicht angerührt. Vielleicht sind sie im Hungerstreik? Hoffentlich verhungern sie nicht. Ich bin verantwortlich für sie. Habe es gemeldet. Dr. Knaus hat sie sich angesehen. Er meinte, noch drei Tage, dann müßten sie zwangsernährt werden. Hoffentlich wird das nicht nötig. Es soll ihnen niemand weh tun."

Krausinger überblätterte einige Seiten und las da und dort einige Zeilen. Er wollte sich schnellstens einen Überblick verschaffen. Bergwald könnte mißtrauisch werden, wenn er zu lange weg bliebe. Sein Blick fiel auf die Worte "... erklärten mir ..." Halt was war das? Es war die Aufzeichnung vom 12. Februar.

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"Ich bringe den Beiden jetzt nur alle vier Tage etwas Wasser. Anderes wollen sie nicht. Sie mögen zwar auch frischen Salat. Aber woher neh-men? Sie erklärten mir, daß sie einen im Unterschied zu uns Erdenmen-schen äußerst geringen Grundumsatz haben. Sie benötigen nur drei Kalorien am Tage, um die Funktionsabläufe ihrer Organe zu garantieren. Und um aktiv handeln zu können, benötigen sie ganze 10 Kalorien! Unter Umständen können sie sogar über längere Zeit hinweg von den kleinen Fettdepots in ihren gewölbten Bäuchen zehren. Sie haben, so sagen sie, einen fast vollständig geschlossenen, nahezu perfekten Stoff-wechselkreislauf. Deshalb haben sie so lange Zeit nichts zu sich genom-men. Sie dürfen also auf keinen Fall zwangsweise ernährt werden. Das würde ihnen sehr schaden. Sie könnten sterben. Ich werde dem Doktor sagen, sie würden jetzt essen. Ich muß dann eben alles selbst aufessen, damit es nicht auffällt."

Schnell blätterte er weiter, gespannt darauf, etwas wirklich Wichtiges zu entdecken. Dann las er: "Heute erzählten sie mir von ihrem Heimatplaneten. Er liegt im Sternbild Epsilon Eridanus. Ich weiß nicht, ob ich das richtig verstanden und richtig geschrieben habe. Ich habe noch nie davon gehört. Sie sagten mir, ihr Planet drehe sich mit anderen Planeten um ein Doppelgestirn. Sie haben also zwei Sonnen, nicht wie wir nur eine. Deshalb sei es auch sehr heiß bei ihnen, heißer als an unserem Äquator. Dort gibt es fast keine Vegetation mehr. Daran sind ihre Vorfahren schuld. Die haben Kriege geführt und Wälder gerodet, gewaltige Fabrikkomplexe errichtet und Riesenmengen Dünger in die Erde gebracht, so daß sie ihren Nach-kommen schon vor langer Zeit die Natur zerstört haben. Früher sei auch ihr Planet grün gewesen. Heute sei er mit unseren Steppen und Wüsten vergleichbar. Sie leben dort unter der Erde. Sie haben die Raumfahrt entwickelt, um lebensfreundlichere Planeten zu suchen. Sie meinen, daß wir Menschen glücklich sein könnten, daß wir auf dem 'blauen Planeten' leben. Unsere Erde sei wie eine fruchtbare Oase in den unendlichen Weiten des Alls. Es gebe dort zwar auch Planeten, auf denen hoch-entwickeltes Leben existiere, aber viele dieser Planeten ähnelten Nord-afrika und der arabischen Halbinsel."

Er hatte eiligst zwei, drei Seiten umgeblättert und las dann erneut einen Absatz: "Heute baten sie mich erneut, sie freizulassen. Sie sagten, sie wollten zu ihren Brüdern und Schwestern. Ich solle ihnen helfen, zu fliehen. Ich sagte ihnen, daß ich das nicht kann und nicht darf, weil ich sonst erschossen werde. Sie antworteten, sie würden mich schützen und mitnehmen auf ihren Planeten. Wie gern würde ich ihnen helfen. Aber ich

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habe Familie, die mich braucht. Ich sagte ihnen, ich könne nicht mit-kommen, denn ich würde an Heimweh sterben. Das Foto mit meiner Frau und den Kindern fanden sie schön."

Ab und zu blieb sein Blick an der einen oder anderen Stelle hängen und er las zwei, drei Sätze, um dann erneut weiterzublättern. Eine der Seiten hatte er bereits umgeblättert. Doch gleich darauf zuckte er wie elektrisiert zusammen. Was hatte da gestanden? Rasch blätterte er zurück: "Gravitationswandler". Tatsächlich, da stand: Gravitationswandler. Unter dem Datum vom 14. Februar 1945 las er: "Auf meine wiederholten Fragen danach, wie ihr Flugzeug ohne Flügel denn angetrieben werde, haben mir die Kleinen geantwortet. 'Paulchen', wie ich den Größeren nach meinem Sohn nenne, antwortete (ich vermute einfach, daß er es ist, dessen Stimme ich immer in meinem Kopf hörte), mein Informationspool enthalte nur geringes Wissen physikalischer Art. Dabei war ich immer so stolz auf meinen Zweier in Physik! Und woher er das wohl weiß? Eine hellere Stimme, es konnte nur die des kleineren von den Beiden sein, den ich wie meine kleine Tochter 'Püppchen' nenne, antwortete mir, der Antrieb erfolge über einen Gravitationswandler, der auf der Basis eines Elementes arbeite, das auf unserer Erde nicht existiere. Wie das genau funktioniert, davon habe ich keine Ahnung. Sie haben zwar versucht, mir das zu erklären, aber um es zu verstehen, müßte ich wahrscheinlich so ein Wissen haben, wie unsere Professoren, oben in der Forschung."

Zutiefst verärgert, weil er sich genauere Angaben erhofft hatte und weil er wütend darüber war, daß die Gefangenen einem Laien, der sie sowieso nicht verstehen konnte, etwas erzählten, ihn als einen kompetenten Gesprächspartner aber mieden, blätterte Krausinger weiter. Unter dem Datum vom 1 7. Februar stand geschrieben: "Die Kleinen können im Vergleich zu uns Menschen sehr alt werden. Sie sagten mir, sie würden etwa 700 Erdenjahre alt. Das erreichen sie dadurch, daß sie längere Pausen einlegten und dabei ihre Körpertempe-ratur erheblich senken. Sie könnten Jahrzehnte hintereinander nur schlafen, um Energie zu sparen oder neue Kräfte zu sammeln. Sie erklär-ten mir, daß sei vergleichbar mit den Vegetationspausen der Pflanzen im Winter oder dem Winterschlaf mancher Tiere auf der Erde. Aber eben unvergleichlich länger. So könnten sie bei Notwendigkeit bis zu einem halben Jahrhundert schlafend überleben. Das sei auch von großem Vorteil bei längeren Raumreisen."

Das Unglaubliche, was er da las, begann Krausinger an seinem Ver-stand zweifeln zu lassen. Er hatte solches zwar für möglich gehalten, aber nun damit konfrontiert, immer noch die Möglichkeit einer britischen

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Wunderwaffe und genetisch gezüchteter Piloten im Hinterkopf als irdische Erklärung des Phänomens, erregte ihn das Gelesene auf das Heftigste. Hastig blätterte er weiter. "25. Februar 1945: Paulchen und Püppchen haben mich erneut aufgefordert, ihnen die Ketten abzunehmen und sie fliehen zu lassen. Leider kann ich das nicht tun. Ich denke mir aber, daß sie sicher wieder nach Hause fliegen dürfen, wenn sie uns geholfen haben, solche runden Flugzeuge ohne Flügel zu bauen, wie das, mit dem sie abgestürzt sind. Sie glauben mir das aber nicht. Sie sagen, ich sei ein guter Mensch. Meine Kameraden und Anführer seien keine guten Menschen. Es sei gefährlich für die Menschheit, wenn ihr Fluggerät von uns als Waffe eingesetzt werden würde."

Er legte das Tagebuch in das Versteck zurück. Jetzt konnte er nicht wei-terlesen. Auf dem Weg nach oben versuchte er, aufgewühlt wie er inner-lich war, seine Fassung zurückzugewinnen, denn Bergwald sollte nichts an ihm merken, was ihm eine Warnung hätte sein können. Oben ange-kommen begab er sich sofort wieder in den Raum in welchem er Schubert und Bergwald zurückgelassen hatte.

In der Zwischenzeit hatte Schubert Bergwald weiter verhört. Bergwald war aber bei dem geblieben, was er vor Krausingers Weggehen bereits geäußert hatte. Schubert hatte ihm mit Bestrafung gedroht. Trotzdem war Bergwald nicht dazu zu bewegen gewesen, mehr zu sagen.

Als Krausinger das Zimmer betrat, sprang Bergwald auf und nahm Hal-tung an. Auch Schubert erhob sich. Krausinger winkte ab und sagte: "Danke, nehmen Sie Platz." Er sah auf seine Uhr und meinte, sich eben-falls setzend: "Das Gespräch mit dem Gruppenführer hat länger gedauert, als ich dachte. Wie weit sind Sie?"

"Der Unterscharführer behauptet, daß die Gefangenen ihm nichts weiter gesagt hätten, Standartenführer."

Krausinger nickte und sah Bergwald an: "Schade. Ich hatte gedacht, Ihnen sei es wirklich gelungen, in eine tiefergehende Kommunikation zu gelangen. Das hätte uns sehr helfen können. - Aber was nicht ist, kann ja durchaus noch werden. Ich erwarte von Ihnen, daß Sie gezielt die Kom-munikation ausbauen. Uns interessiert alles Technische im Zusammen-hang mit dieser Scheibe. Fragen Sie sie nach der Antriebsart, Bauweise, Materialzusammensetzung, Materialeigenschaften und so weiter. Sollten Sie solches herausbekommen und mir berichten können, dann garantiere ich Ihnen ein paar Tage Sonderurlaub und Beförderung. - Na, ist das was?"Manches von dem weiß ich schon. Ich werde es Euch aber nicht sagen. Ich käme mir vor, wie ein Verräter. - Was denke ich da, schalt sich

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Bergwald plötzlich. Es sind doch Feinde des Reiches, die Kleinen. Was haben die mit mir gemacht? Ich schütze sie ja schon so, wie ich meine eigenen Kinder schützen würde! Als er Krausinger von Beförderung und Urlaub reden hörte, setzte sich das Wort Sonderurlaub in seinem Kopf fest. Sonderurlaub. Wie lange habe ich meine Frau und die Kinder schon nicht mehr gesehen? Und wer weiß, was die Zukunft bringt, wie der Krieg ausgeht und ob ich sie überhaupt noch einmal wiedersehen werde? Er war schon drauf und dran zu bekennen, daß er bereits mehr wisse, auch über technische Dinge, als er bisher zugegeben habe, denn der Sonder-urlaub reizte ihn sehr. Aber irgend etwas hielt ihn zurück. Er konnte es nicht sagen. So nickte er nur: "Jawohl, Standartenführer..., zu Befehl!"

"Sie können gehen, Bergwald", sagte Krausinger "... und sobald Sie etwas erfahren haben, rufen Sie mich an!"

"Zu Befehl!" Bergwald hatte sich erhoben, Haltung angenommen und verabschiedete sich: "Standartenführer, Hauptsturmführer, Heil Hitler!" Dann verließ er den Raum und begab sich mit dem Aufzug wieder ganz nach unten.

Als Bergwald draußen war, sagte Schubert: "Der Kerl lügt. Ich fresse einen Besen, wenn der Kerl nicht lügt. Ich werde ihn mir vornehmen -oder besser, ich werde ihn dem SD übergeben!"

"Nichts da", fuhr ihn Krausinger sofort an: "Sie werden das gefälligst las-sen. Ich selbst werde mich um den Mann kümmern. Auf meine Art. Dann erfahre ich schon, was ich wissen will. Lassen Sie ihn also in Ruhe."

Krausinger hatte nicht die Absicht, Schubert etwas von dem Tagebuch zu erzählen. Er brauchte Bergwald unversehrt dort unten und fleißig Tagebuch führend. Er würde halt auf schriftlichem Wege erfahren, was er an Informationen brauchte. Er mußte nur einen Weg finden, wie er immer unbemerkt an das Tagebuch gelangen konnte.

Das war also vor drei Tagen gewesen. Seither hatte sich Bergwald nicht bei ihm gemeldet.

Die Arbeiten zur Entwicklung der Strahlenwaffe wurden fortgeführt. Die Analyse der Scheibe hatte zwar einige Neuigkeiten gebracht, aber nennenswerte Erfolge waren noch nicht erreicht worden. Fest stand nun, daß die Scheibe ausgestattet war mit einem integrierten optischen Weit-winkelsystem, einem kryptischen Navigationssystem und einem Kommu-nikationssystem mit Stimmensynthesizer. Was den Antrieb, die Ingangset-zung und das Manövrieren betraf, war der Erkenntnisstand der Gleiche, wie Wochen zuvor. Die Gefangenen redeten nicht mit Krausinger und

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angeblich auch nicht mit Bergwald, denn der berichtete nichts und behauptete bei einer erneuten Befragung, daß sich die Gefangenen nun völlig verschlossen hätten und auch nicht mehr mit ihm kommunizierten.

Krausinger hatte zweimal die Gelegenheit genutzt, in Bergwalds Tage-buch zu schauen. Er hatte Dr. Knaus angewiesen, sich vor seinen Besu-chen bei den Gefangenen stets bei ihm zu melden. So konnte er immer dann, wenn sich Bergwald mit dem Arzt im Raum der gefangenen Zwerge befand, heimlich schnell in dessen Wachstube gehen und das Tagebuch kontrollieren. Leider mußte er jedesmal feststellen, daß es offensichtlich nicht mehr geführt wurde. Bis auf eine Eintragung, die er beim ersten Lesen des Tagebuches nach der Befragung Bergwalds, entdeckt hatte. Unter dem Datum "2. März 1945" stand dort: "Heute haben mir die Kleinen etwas geschenkt. Sie sagten, daß sie das nur Menschen schenken würden, denen sie vertrauen könnten und mit denen sie zusammenarbeiten möchten, weil die Lebenszeit der Menschen im Verhältnis zu der ihrigen zu kurz sei. Das hätten sie seit ewigen Zeiten so gemacht mit ihren Freunden unter den Menschen. Schon Methusalem sei durch ihre Vorfahren in den Genuß gekommen. Eine reicht für ein halbes Jahrhundert, sagten sie mir. Ich will sie aber noch nicht nehmen. Das möchte ich nur zusammen mit meiner Frau und den Kindern machen. Schade, daß ich meinen alten Eltern nicht mehr damit helfen kann."

Da er in großer Eile gewesen war und da er fixiert darauf war, techni-sche Details zu lesen, hatte Krausinger die Tragweite des Gelesenen in keiner Weise erfaßt. Jedenfalls waren weitere Eintragungen nicht erfolgt. Ob Bergwald wohl mitbekommen hatte, daß das Tagebuch hinter seinem Rücken gelesen worden war?

Krausinger hatte auch kaum Zeit und Gelegenheit, sich um das Tage-buch zu kümmern, da die anderen Arbeiten ihn voll in Anspruch nahmen. So kam es, daß sein Vorgesetzter eines Tages wieder seinen Besuch ankündigte und er wußte, daß er ihm keinen entscheidenden Fortschritt präsentieren konnte.

Holt erschien am frühen Nachmittag des 12. März und Krausinger, der ihn vor dem Stabsgebäude gemeinsam mit Schubert empfangen hatte, folgte ihm in sein Dienstzimmer. Holt hieß ihn Platz nehmen und machte es sich selbst in seinem Sessel bequem, nachdem er seinen schweren schwarzen Ledermantel an den Kleiderständer gehängt und seine Uni-formmütze in einen Sessel geworfen hatte. Während er an dem Spiegel vorüber ging, der unweit der Garderobe an der Wand befestigt war, hatte er sein pomadisiertes und streng gescheiteltes blondes Haar zurechtge-strichen. Nun sitzend, sagte er in Stimme und Tonfall, als wolle er eine

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Siegesmeldung im Großdeutschen Rundfunk verkünden: "Standartenfüh-rer, der Führer persönlich hat gestern, am 11. März 1945, in Schloß Frei-enwalde an der Oder, vor Frontoffizieren den baldigen Einsatz neuer, kriegsentscheidender Waffen angekündigt. Er hat dort wörtlich gesagt: 'Jeder Tag und jede Stunde sind kostbar, um die fürchterlichen Waffen fer-tigzustellen, welche die Wende bringen'."

Holt machte eine Pause, um die Wirkung dieser Worte auf Krausinger zu beobachten. Der hatte bereits erfaßt, daß da weiterer Termindruck erzeugt werden sollte. Dann sprach Holt weiter: "Was der Führer da ansprach, vor den Offizieren an der Front, die sehnlichst Hilfe erwarten, das war Ihre Waffe, Standartenführer! Er ist offensichtlich von den Ver-sprechungen ausgegangen, die ihm Heinrich Himmler gemacht hat, der wiederum sich auf uns verläßt. - Wir stehen also ganz extrem in der Ver-antwortung!" Er starrte Krausinger erwartungsvoll an. Da der den Ball nicht aufnahm, der ihm zugespielt worden war, forderte er ihn, die Verär-gerung kaum verbergend, auf, über den neuesten Stand der Dinge Bericht zu erstatten.

Krausinger betonte die Fortschritte, die hinsichtlich der Strahlenwaffe erreicht worden waren. Holt drängte zur Eile, sie sollte unbedingt schnellstens einsatzbereit gemacht werden. Dann wollte er wissen, wie der Fortgang bei der Scheibe sei, die ja als Träger für die Strahlenwaffe ausersehen worden war.

Krausinger erläuterte ihm seine Vermutung, daß es sich bei dem Antrieb um einen Antigravitationsantrieb handele, daß aber das dafür benötigte Antriebsmaterial wahrscheinlich auf der Erde nicht zu finden sei. Deshalb sei es notwendig, nach einem Substitut zu suchen. Ein solches als Substi-tut geeignetes chemisches Element werde aber mit Sicherheit eines sein, das sehr selten auf dieser Erde vorkomme.

"Sagen Sie mir, um welchen Stoff es sich handelt. Wir werden ihn besorgen. Und wenn er sich im letzten Winkel der Erde befindet. Unsere Einsatzgruppen sind bereit!" Holt wischte Krausingers Bedenken mit einer Handbewegung beiseite.

Krausinger sah Holt zweifelnd an: "Wer soll denn das holen? Da benötigt man auch Spezialisten dazu, ... Geologen und Ingenieure."

"Wissen Sie, Standartenführer, unsere Leute haben den Duce befreit. Da werden die doch wohl ein paar Klumpen Erz besorgen können. - Wir setzen Otto Skorzceny darauf an. Und Geologen, Ingenieure und solche Leute, die ordnen wir seiner Einsatzgruppe zu."

Krausinger ärgerte die Forschheit Holts, denn sie setzte ihn erneut unter Druck, da er ja das mögliche Substitut noch nicht bestimmen konnte: "Gut, wenn Sie meinen, daß das kein Problem darstellt, dann werden wir

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diese Unterstützung durch eine Einsatzgruppe gern in Anspruch nehmen - sobald wir wissen, welches Metall wir brauchen."

Holt stutzte, dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck mehr und mehr in Richtung Wut. "Was? Sie wissen das noch nicht? Ja wieviel Zeit brauchen Sie denn noch, zum Teufel?!" Vor Empörung traten ihm die Augen aus den Höhlen.

"Hören Sie Gruppenführer, Forschung braucht Zeit. Wir arbeiten auf Hochtouren. Glauben Sie denn wir faulenzen hier? Ich komme ja höch-stens noch vier, fünf Stunden täglich ins Bett." Krausinger war ebenfalls wütend und hielt sich nur mühsam im Zaum. Er dachte voller unterdrückter Wut daran, wie Holt es sich wahrscheinlich in Berlin gut gehen ließ. Der hatte doch unter Bombenalarm kaum zu leiden. Sicher saß der in einem Luxusbunker voller Weiber und Champagner. "Wenn sich neues Wissen so leicht offenbaren würde, wie Sie es gern hätten, dann brauchten wir keine Wissenschaft mehr."

"Zum Teufel noch mal, aber auch! Sie müssen doch nicht alles neu erfinden, was bereits erfunden ist, Standartenführer! Befragen Sie doch einfach die Gefangenen, welches Element noch in Frage kommen würde, außer diesem dämlichen Element, das nicht von dieser Erde sein soll, wie Sie sagen!" Holt war außer sich.

"Wir arbeiten fieberhaft daran, Gruppenführer. Um Informationen von den Gefangenen zu bekommen, sind wir auf deren Kooperationsbereit-schaft angewiesen. Aber leider haben wir sie noch nicht so weit."

"Was?! Sie haben die noch nicht so weit? - Darauf können wir keine Rücksicht nehmen. Wir ..." Holt brach ab, überlegte einen winzigen Moment lang und redete dann, sich zur Ruhe zwingend, weiter: "Ich glaube, ich muß Sie einweihen in etwas, was sie wissen sollten, um die Dringlichkeit des Problems noch deutlicher zu erkennen. Heinrich Himmler hat Probleme. Er hat mich ins Vertrauen gezogen. Sie wissen ja, daß er als Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Weichsel etwas glücklos war. An der Ungarnfront haben die Verbände der Waffen-SS ihre Kampfmoral eingebüßt. Es wird das Gerücht verbreitet, hohe SS-Führer würden in Italien den Alliierten einen Waffenstillstand anbieten wollen. Es gibt Neider und Feinde Heinrichs in Berlin, die ihn beim Führer auf jede Weise miesmachen. Es geht ihm nun verständlicherweise gesundheitlich nicht sehr gut, zur Zeit. Deshalb hat er sein Hauptquartier im Lazarett in Hohenlychen aufgeschlagen. Um seine Position beim Führer zu stärken, ist er Ende letzten Monats zu ihm gefahren und hat ihm in meinem Beisein berichtet, daß wir dabei sind, eine Waffe zu entwickeln, gegen welche die V1 und die V2 geradezu wie Kinderspielzeug wirken müssen." Holt hatte zuletzt immer leiser gesprochen und machte nun eine Pause.

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Krausinger dabei anschauend, als sei dieser seine letzte Hoffnung, sprach er langsam und leise weiter: "Heinrich versprach, daß diese Wunderwaffe am 20. April, als Geschenk der SS zum Führergeburtstag zum Feind-einsatz fliegen wird. - Verstehen Sie nun, wie ungeheuer wichtig die Beschleunigung des Vorhabens ist?" Mit beschwörender Stimme hatte Holt die letzten Worte gesprochen und ihn ebenso angesehen.

Beinahe tat er ihm leid, der Gruppenführer. "Wir wollen doch nichts anderes als Sie und der Reichsführer, glauben Sie mir doch, Gruppenfüh-rer. Aber bis dahin werden wir nicht einmal einen Prototypen nachgebaut haben, geschweige denn ein Geschwader einsetzen können!"

"Scheiß auf ein Geschwader! Es muß eine Waffe fliegen, am 20. April! Und wenn es nur diese eine Scheibe mit Ihrer Strahlenwaffe ist. Ist mir ganz egal. Wir können unser Versprechen nicht brechen!" Holt war plötz-lich gar nicht mehr leise und hilfeheischend. "Pressen Sie alles aus den Gefangenen heraus. Jetzt hilft nur noch blanke Gewalt. Ich habe Ihnen das bereits mehrfach gesagt! Ich glaube fast, daß Sie in dieser Frage Ihrer Aufgabe nicht gewachsen sind. Ich gebe Ihnen noch vier Wochen - noch ganze vier Wochen Zeit, dann möchte ich Ergebnisse sehen. Sonst werde ich die Gefangenen abholen und von Spezialisten befragen lassen müs-sen!" Danach war Holt wieder davongefahren.

Auch in den folgenden vier Wochen kam man in Waldheide nicht recht voran. Und die Gefangenen redeten nach wie vor nicht. Aber Krausinger wollte Zeit gewinnen. Deshalb informierte er Holt am 13. April 1945 telefonisch über angeblich erzielte Fortschritte bei der Befragung der Gefangenen. Er wisse jetzt, wo auf der Erde ein Substitut für das benötig-te Element zu finden sei, daß er Epsilonianum nannte. Es gebe dies nur an einer einzigen Stelle, hätten ihm die Gefangenen versichert, und zwar auf dem Boden der Antarktis, in einem eisfreien Gebirge an ihrem nordöstlichen Rand. Er habe nach den Angaben der Gefangenen eine Karte gezeichnet.

Holt ließ die Karte abholen und ordnete die Aufstellung einer Einsatz-gruppe mit dem Decknamen "Expedition Neuschwabenland II" an, welche das Substitut aus der Antarktis holen sollte. Gleichzeitig erhielt Krausinger den Auftrag, dennoch verstärkt nach anderen Möglichkeiten zu suchen, die Scheibe flug- und kampfbereit zu machen, denn man habe eigentlich gar nicht mehr genügend Zeit, um auf das Resultat der Suche nach dem Ersatz für Epsilonianum zu warten.

Krausinger bestätigte, daß dies unter Volldampf geschehe und er täglich einen Durchbruch zu endgültigen Ergebnissen erwarte.

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Der neunzehnte April 1945 war der Tag, an dem Krausinger der folgen-schwere Anruf Holts erreichte. Dieser Anruf leitete ein Blutbad ein. Es war Nachmittag und er befand sich gerade im technischen Labor im ersten Tiefgeschoß, als ihm einer seiner Offiziere den Hörer reichte. Mit der linken Hand die Sprechmuschel zuhaltend und mit dem rechten Zei-gefinger auf den Telefonhörer deutend, flüsterte er: "Der Chef!"

"Holt hier", sagte der Anrufer und unterstellte sofort: "Die Scheibe ist flugbereit und trägt die einsatzbereite Strahlenwaffe!?"

"Nein, leider nicht, Gruppenführer, äh das heißt Obergruppenführer", Holt war - im Vorgriff auf die erwartete Wunderwaffe - befördert worden, wie Krausinger erfahren hatte. "Ach, übrigens meinen herzlichen Glück-wunsch zur Beförderung", fügte er schnell hinzu.

"Lenken Sie nicht ab. Was heißt leider nicht? Meine Geduld ist am Ende! Ich habe Sie gewähren lassen. Habe Ihre Schützlinge geschont. Alles umsonst. Jetzt gibt es keine Schonzeit mehr für diese Kreaturen! Obersturmführer Pluntke wurde gerade von mir angewiesen, die Gefan-genen einer Sonderbehandlung zu unterziehen."

"Das können Sie doch nicht machen, Obergruppenführer", rief Krausin-ger erregt, denn er gedachte immer noch, irgendwann weitere Informa-tionen der Gefangenen auf die indirekte Art aus Bergwalds Tagebuch ent-nehmen zu können.

"Überlegen Sie doch mal, für wen Sie sich da einsetzen, Standartenfüh-rer!" schrie Holt am anderen Ende der Leitung empört in die Sprechmu-schel. "Da sind schon andere Leute mit großen Verdiensten wegen ras-senfremder Kontakte bestraft worden. Bedenken Sie: Wir befinden uns im Endkampf mit den Feinden des Reiches! Da können wir kein Federlesens mehr machen. Wir brauchen diese Wunderwaffe! Pluntke wird denen das Geheimnis entreißen! Da können Sie sicher sein, und wenn die Kreaturen dabei drauf gehen!" Holt hatte den Hörer auf die Gabel geknallt.

Krausinger eilte zum Aufzug. Das durfte nicht sein. Die Gefangenen würden niemals etwas verraten, sie würden eher sterben, das war ihm klar. Aber sie mußten leben, denn nur wenn sie es selbst wollten, würden sie das Geheimnis des Antriebs lüften. Schließlich hatten sie ja Bergwald schon eine Menge erzählt.

Der Fahrstuhl kam gerade von oben und hielt. Die Tür öffnete sich: Obersturmführer Pluntke, der SD-Chef des "Forst-Objektes" und ein wei-terer SD-Mann, ein vierschrötiger Bulle, namens "Max", standen im Auf-zug. Pluntke trug eine schwere Nilpferdlederpeitsche in der rechten Hand. Beide waren bewaffnet. Sie grüßten: "Heil Hitler, Standartenführer." Pluntke setzte hinzu: "Zu Ihnen wollten wir gerade."

"Was wollen Sie denn, Pluntke?"

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"Sonderbehandlung für die Gefangenen, Standartenführer. Befehl vom Obergruppenführer. Sie führen uns hin, hat er gesagt", antwortete Plunt-ke, ein Mittdreißiger von etwa 1,80 Metern, verfettet und arrogant, mit einer Narbe quer über die Stirn. "Max", eher ein Riese, als ein Mensch, grinste, wohl aus Vorfreude auf das sadistische Vergnügen, das ihn erwar-tete.

Krausinger war in den Fahrstuhl getreten, der sich hinter ihm schloß. "Wie kommen Sie dazu? Sie werden die Gefangenen nicht anrühren. Ich befehle es Ihnen!" Er legte seine ganze Autorität in diese Worte.

Jetzt aber grinste auch Pluntke: "Sie können dem SD überhaupt nichts befehlen. Ich habe meine Anweisungen, wie gesagt, vom Obergruppen-führer persönlich."

Sie waren im vierten Tiefgeschoß angekommen. Bergwald öffnete und machte Meldung: "Unterscharführer Bergwald im Dienst. Keine besonde-ren Vorkommnisse."

Krausinger nickte und wies ihn mit unterdrückter Stimme an: "Schnell, schließen Sie die Tür zu den Gefangenen!"

Bergwald sah ihn verständnislos an, er erfaßte nicht, was da vor sich ging. Pluntke und "Max" drängten sich schnell vorbei, bevor Bergwald Krausingers Weisung befolgen konnte.

"Jetzt werden Sie gleich sehen, wie schnell die Vögelchen zwitschern und Ihnen helfen werden, die Wunderwaffe in Gang zu setzen, Standartenführer" rief Pluntke und rannte in den Gang. Er riß die Tür zur Wachstube auf und warf einen Blick hinein. "Weiter" rief er seinem Begleiter zu und lief zur nächsten Tür. Ein Blick und er wußte, daß er richtig war. Schnell warf er eine Gasgranate hinein. Offensichtlich Tränengas. Hastig zog er sich eine mitgebrachte Gasmaske über das Gesicht. "Max" tat desgleichen. Während er die Maske überzog, wies Pluntke an: "Brechen Sie dem dort die Knochen, Max. Ich nehme mir den anderen mit der Peitsche vor!"

Krausinger und Bergwald waren schockiert und wie gelähmt. Krausinger rieb sich die Augen und hielt sich dann die Nase zu. Das Gas strömte aus dem Raum auch auf den Gang. Bergwald verschwand in der Wachstube.

"Hören Sie auf. Ich befehle es Ihnen!" rief Krausinger, nun ebenfalls den Gefangenenraum betretend und dabei nach Luft ringend. Pluntke machte eine wütende Armbewegung in Richtung Krausingers. "Max", der bullige SD-Mann holte mit seinem rechten Bein, das einen schweren Stiefel trug, aus. Er zielte gegen das kleine Bein des rechts liegenden feingliedrig gebauten Gefangenen, um es zu zerschmettern. Die beiden Gefangenen, denen sich die großen Augen bereits aufgrund der Wirkung des Gases verdrehten, schauten an den beiden Angreifern vorbei in Richtung Tür.

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Krausinger zitterte vor Erregung. Dieser Dreckskerl wollte ihn um seine bald erwarteten Resultate bringen. Er entsicherte seine Waffe und zielte auf Pluntke, während er sich mit der linken Hand die Nase zuhielt. Er wollte laut schreien: Schluß jetzt! Aber es kam nur ein Krächzen heraus und er mußte verstärkt nach Luft ringen. Seine Augen tränten äußerst stark. In dem Moment krachte ein Schuß. Der massige "Max" brach in die Knie und kippte dann vornüber. Krausinger wandte den Oberkörper und sah Bergwald mit einer Gasmaske vorm Gesicht in der Tür stehen, die Pistole, aus der er den Schuß abgegeben hatte, in der kraftlos nach unten hängenden Hand. Die Augengläser der Maske wurden blind. Hatte er Tränen in den Augen?

Im gleichen Moment hallten Schüsse durch den Raum. Krausinger wandte sich, noch immer die Nase zuhaltend und die Augen zusammen-kneifend, den Gefangenen und Pluntke zu, der das ganze Magazin auf Bergwald abfeuerte. Er horte hinter sich Bergwald stöhnen und zusam-menbrechen, ohne selbst noch einmal zu schießen. Das erledigte er. Eine Kugel aus seiner Waffe traf Pluntke in die Brust. Der kippte, die Augen vor Überraschung weit aufreißend, vornüber und rührte sich nicht mehr.

Krausinger drehte sich um und beugte sich zu Bergwald hinunter, der tödlich getroffen worden war. Plötzlich hörte er hinter sich das röchelnde und gluckernde Geräusch, das entsteht, wenn jemand unter einer Gas-maske nach Luft ringt. Blitzschnell wandte er sich im Hocken um und richtete die Waffe schräg nach oben.

Drei Schritte von ihm entfernt stand "Max". Sein Anblick war erschreckend. Der bullige Kerl hatte, sich mühsam auf den Beinen hal-tend, die Arme ausgebreitet, wohl in der Absicht, ihn zu würgen. Die Gasmaske verlieh ihm ein unheimliches Aussehen und die Gläser der Maske waren blutverschmiert. Max röchelte unter der Maske, machte einen weiteren Schritt in Krausingers Richtung und öffnete und schloß dabei immer wieder seine stark behaarten mächtigen Pranken.

Der Anblick war so grausig und die in wenigen Sekunden vor sich ge-gangene große Abschlachterei war so erschreckend gewesen, daß Krau-singer unfähig war, seinen Zeigefinger durchzudrücken und auf Max zu schießen. Er war einen Moment lang gelähmt vor Schreck. Würde er jetzt sterben?

Als "Max" im nächsten Moment zu fallen begann, fand er doch noch die Kraft, sich blitzschnell zur Seite zu rollen, um von dem Fleischberg nicht erdrückt zu werden. Nur kurz verschnaufte er. Dann sah er sich um. Innerhalb nur weniger Minuten hatte hier ein Blutbad stattgefunden. Drei Tote! Und wieder, wie schon einmal in seinem Leben hatte er, der von sich meinte, ein friedlicher Mensch zu sein, einen Menschen getötet.

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Das Gas hatte bereits begonnen, sich zu verflüchtigen. Mühsam erhob er sich, betrat den Gang und stellte das Luftzirkulationssystem auf die höchste Stufe. Hinter sich hörte er die Ketten klirren. Die Gefangenen lebten also. Aber waren sie auch wirklich unverletzt? Er drehte sich um und sah, daß ihn beide mit ihren großen Augen betrachteten.

Er brauchte sich jetzt nicht mehr die Nase zuzuhalten, konnte wieder atmen. Nur im Hals kratzte das widerliche Gas noch immer und die Augen schmerzten ihn. Er hob seine Brille auf, die auf den Fußboden gefallen war. Sie war zum Glück unbeschädigt. Dann rieb er sich noch einmal die Augen, setzte die Brille auf und trat näher an die Pritschen heran, auf denen die Gefangenen lagen. Sie schienen tatsächlich unverletzt zu sein. "Max" war ja auch durch Bergwalds Schuß nicht mehr dazu gekommen, zuzutreten. Krausingers Blick konnte sich den großen dunklen Augen nicht entziehen. Er vernahm die ihm bekannte dunkle Stimme in seinem Kopf: "Ihr seid Barbaren. Ihr seid noch nicht reif für unseren Besuch. Wir müssen weiter warten. Bis Ihr gelernt habt, friedlich zu sein. - Lange warten. Wir werden jetzt schlafen. - Lange schlafen."

Er wollte nicht glauben was er gerade gehört hatte. Aber als beide Gefangenen ihre Augen schlossen, hatte er die größten Befürchtungen. Wollten die das etwa wahrmachen? Lange, sehr lange schlafen? Schnell wollte er sie noch überreden, ihnen Versprechungen machen, wollte sie bitten, munter zu bleiben und mit ihm zusammenzuarbeiten, jetzt, da er ihnen das Leben gerettet hatte. Aber ein Gedanke wurde immer stärker: Schlafen? Lange schlafen? Wie lange schlafen? Die Stimme antwortete bereits: "Fünfzig Erdenjahre." Sie klang bereits sehr müde und war schwächer geworden.

Fünfzig Erdenjahre? Das ist ja Wahnsinn! Dann hat ja alles keinen Sinn! Dann würde er ja nie etwas von denen erfahren! Er rief: "Halt. Machen Sie so etwas nicht! Sie sollten ..." Seine Stimme erstarb. Er sah, daß es keinen Zweck hatte, weiter zu reden. Die beiden Gefangenen hatten sich lang ausgestreckt, die Augen geschlossen und verfielen zusehends in eine Art Starre. Stumm und hilflos stand er vor ihren Pritschen und starrte sie an. Aus der Traum, von denen wichtige Informationen zu bekommen. Was hatten sie gesagt? Fünfzig Jahre? Dann würde er ja auch bereits von den Würmern zerfressen sein. Immerhin war er ja jetzt bereits zweiund-vierzig Jahre alt.

Es drehte sich in seinem Kopf. Er setzte sich auf die Kante einer der Pritschen. Seine Schultern hingen kraftlos herab. Doch er registrierte die herumliegenden Leichen und das viele Blut und wurde in die Realität zurückgerufen. Ich muß einen klaren Kopf bekommen, sagte er sich. Um Gottes Willen - wenn das hier jemand sieht! Wie soll ich denn dieses

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Blutbad erklären? - Ich könnte behaupten, daß Bergwald die beiden anderen erschossen hat und ich dann Bergwald. Ja, das ginge. Aber was wäre, wenn die eine richtige Untersuchung durchführen würden? Wenn die Waffen untersucht werden würden, die Projektile in den Leichen und so weiter? Dann komme ich wohlmöglich vor ein Erschießungskommando des SD! - Was ist zu tun? Wenn Holt erfährt, daß Pluntke tot ist, dann schickt der doch neue SD-Leute welche die Gefangenen munterprügeln sollen. - Aber was mache ich mir eigentlich noch Gedanken über die Gefangenen? Die können mir doch nun wirklich egal sein. Und ob das Reich überhaupt noch zu retten wäre, wenn wir die Scheibe einsatzbereit hätten? Er glaubte es nicht, zumal die Strahlenwaffe noch nicht fertig war. Und selbst die geschönten Frontberichte besagten, daß der Feind täglich schneller voran kam. - Die Waffe in Serie herzustellen war kaum noch machbar. Wo sollte das auch geschehen? Das Reichsterritorium wurde immer kleiner und mögliche Produktionsstandorte wurden immer weniger.

Plötzlich wurde ihm klar, was zu machen war: Irgendwie hatte sich ein Gedanke vor sein geistiges Auge geschoben und war immer stärker und deutlicher geworden, bis er wußte, was das bedeutete, dieses Wort "Methusalemkapsel", das er im Tagebuch Bergwalds gelesen hatte. Er sprang auf, lief zu Bergwalds Leiche und durchwühlte deren Taschen. Leichenfledderei! Auch das noch, ging es ihm durch den Kopf, während er fieberhaft weiter suchte. Dann fand er im blutigen ledernen Brustbeutel des Toten die kleine flache Dose mit den Kapseln. Mit zitternden Händen öffnete er sie. Vor Aufregung fuhr er sich durch sein stoppliges Haar. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. Sechs kleine längliche Kapseln, rötlich schimmernd, lagen in der Dose. Eilig griff er nach einer von ihnen und hätte dabei beinahe den gesamten Inhalt der Dose ausgeschüttet. Eine der Kapseln fiel auf den Betonfußboden. Er hob sie auf, pustete den Staub ab, rieb sie zwischen den Fingern, um einigermaßen sicher zu sein, daß sie sauber war und versuchte mühsam, sie mit trockenem Mund zu schlucken.

Die kleine Dose war ein Vermögen wert. Sie war ein Schatz, für den Könige die Hälfte ihres Reiches gegeben hätten. Wie hatte es in Berg-walds Tagebuch geheißen? Fünfzig Jahre würde eine solche Kapsel vor-halten. Feiung gegen Krankheiten und Alterungsprozesse. Jetzt stellte sich doch die Situation ganz anders dar! - Jetzt relativierte sich doch sein Alter. Nun gab es ja ganz neue Perspektiven! Er würde in vielen Jahren die Gefangenen und deren Wissen für seine Zwecke nutzen können. In einer Zeit, zu der gewöhnliche Sterbliche, wie Holt schon längst nicht mehr unter den Lebenden weilen würden.

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Die Kapsel hatte er noch einen Moment in seiner Speiseröhre gefühlt. Es drückte etwas. Alle Versuche, mit Speichel nachzuspülen, hatten nichts genutzt. Sie war nicht weiter gerutscht. Dann war ihm eingefallen, daß in der Wachstube vielleicht etwas Trinkbares sein würde. Und tatsächlich. Er fand dort einen Rest kalten Tee in einem Blechbecher, den er rasch austrank. Die Kapsel rutschte in den Magen hinunter. Nun fing er an, sich bereits als nicht mehr zu den gewöhnlichen Sterblichen gehörend zu zählen. Er begann sich ein neues Lebensziel zu geben. Das war grob terminiert in fünfzig Jahren, wenn die Gefangenen ihren Dorn-röschenschlaf beendet haben würden. Ein Mann dessen Welt in Schutt und Asche zerfiel, dessen Werte Makulatur wurden, begann sich, um dem Wahnsinn zu entgehen, ein neues Ziel zu geben.

Ich werde beinahe unsterblich sein! Ich besitze Kapseln für 300 Jahre Lebensverlängerung. Ich werde sie alle überleben. Alle! Vorausgesetzt natürlich, daß ich nicht getötet werde. - Ich muß vorsichtig sein, daß ich nicht noch falle, für den Führer. Was heißt Führer. Der hat doch Fehler gemacht, schwere Fehler. Fehler, die niemals hätten passieren dürfen! -Aber schließlich war er ja nur ein einfacher Mann. Von ihm hat man nicht mehr erwarten können. - Das mußte ja schiefgehen. Er grübelte weiter. Dabei galt doch der Führer immer als genial. Was heißt genial? Er wird niemals so genial sein, wie ich es bin. Das heißt, ich bin es, der die Ziele, die er nicht erreichen konnte, erreichen wird. Was heißt überhaupt seine Ziele? Meine Ziele werde ich verfolgen und erreichen mit Hilfe dieser Kapseln und mit Hilfe dessen, was ich hier unten versteckt habe. Dagegen werden die Ziele des Führers relativ unbedeutend sein. Und was hat er überhaupt erreicht? Nichts. Der Feind steht auf deutschem Boden! - Ich jedenfalls werde die ganze Welt beherrschen!

Er hielt sich nicht lange bei diesen Phantasien auf, sondern faßte recht schnell klare Gedanken. Jetzt mußte er die Gefangenen schützen. Er wußte, daß er das was hier geschehen war, vertuschen mußte: Drei Tote, zwei Scheintote und er als einziger Überlebender! Holt durfte es nicht erfahren. Auch kein anderer durfte es erfahren. Er mußte die Leichen ver-stecken, dafür sorgen, daß niemand nach unten kam und Zeit gewinnen. In wenigen Tagen könnte bei dem Tempo, mit dem der Feind vorrückte, die Front dieses Gebiet erreicht haben. Vorher mußte er dafür sorgen, daß die Russen oder die westlichen Alliierten hier nichts mehr fanden. Die Zugänge zum vierten Tiefgeschoß galt es zu tarnen. Als erstes mußte er aber die Spuren beseitigen, denn es könnte passieren, daß Holt selbst überraschend nach Waldheide käme und die Gefangenen sehen wollte.

Jetzt mußte er unbedingt sein Leben vor einem SS-Erschießungskom-mando schützen und er mußte die Kapseln, das Tagebuch und die Gefan-

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genen, die ihm in einigen Jahrzehnten zu Diensten sein sollten, mit all ihrem Wissen, sichern. Diese Schätze und die Gefangenen würden Garanten seiner zukünftigen unumschränckten und weltumspannenden Macht sein. Das sollte die fixe Idee werden, die Krausingers gesamtes weiteres Leben bestimmen würde. Und er bildete sich ein, daß er den Dank der Zwerge verdient habe, weil er ihnen, wie er meinte, das Leben gerettet habe.

Er überlegte, ob es Zeugen dafür gab, daß er mit Pluntke und "Max" nach unten gefahren war. Der einzige Zeuge war Bergwald, und der war ebenfalls tot. Mühsam räumte er die Leichen aus dem Raum, was ihm bei "Max" beinahe übermenschliche Anstrengung abforderte, viel Energie kostete und besonders lange dauerte. Er zerrte die Leichen in einen lee-ren Raum am Ende des Ganges, warf auch seinen blutigen Laborkittel und die Uniformmützen der Toten sowie ihre Waffen hinein und verschloß den Raum. Den Schlüssel versteckte er unter der Matratze von Bergwalds Feldbett. Das dort bis dahin ebenfalls versteckte Tagebuch nahm er an sich. Dann beseitigte er die Blutspuren in dem Raum, in dem das Gemetzel stattgefunden hatte, so gut es ging, sah noch einmal nach den Gefangenen und schloß dann auch deren Zelle ab. Anschließend verschloß er die Hauptschleuse zur vierten Tiefetage. Er setzte den Auf-zug in Bewegung und fuhr bis ganz nach oben. Am Ausgang begegnete er zwei Forschern und einem Mannschaftsdienstgrad vom Hilfszug, die mit dem Aufzug nach unten fahren wollten, in eine der drei ersten unterirdi-schen Etagen. Sie würden glauben, daß er auch von dort kam.

In seinem Arbeitszimmer angekommen sank er in erschöpft in den Ses-sel. Jetzt mußte er dafür sorgen, daß niemand mehr an die Gefangenen und an die Scheibe herankam und daß keiner die Leichen fand. Es war ein Glück, daß das Ganze in der Mittagspause stattgefunden hatte. So hatte niemand von denen, die sonst an der Scheibe arbeiteten, etwas mit-bekommen, denn sie befanden sich zu der Zeit alle oben im Speisesaal. Was war aber, wenn sie wieder nach unten fuhren? Sie würden zwar nicht merken, was da vorgefallen war, denn die Leichen und die Gefangenen konnten sie nicht sehen. Aber vielleicht würde ihnen auffallen, daß Bergwald nicht mehr zu sehen war? Möglicherweise würden sie ihn bald vermissen und nach ihm fragen? Auch der Anführer der Wachmannschaft im Haus, war eine Gefahr, denn der würde sicher immer wieder telefonisch die Verbindung zu Bergwald suchen. Was tun?

Als erstes rief er den Hauptscharführer an und befahl ihm, keinen Kon-takt mehr zu Bergwald aufzunehmen, bis er persönlich diesen Befehl auf-hebe. Dann befahl er Schulze und Danzmann, die Arbeit an ihren For-schungsprojekten zu intensivieren. Er könne sich in der nächsten Zeit

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nicht daran beteiligen. So hatte er erst einmal den Rücken frei. Jetzt mußte er Nachfragen nach Pluntke und "Max" abwehren, falls solche kommen sollten. Heimlich hörte er Radio London, um die Frontlage zu erkunden. Was er erfuhr, bestätigte ihm, daß er nicht mehr viel Zeit hatte zu fliehen, wenn er nicht von den Alliierten gefangengenommen werden wollte. Diese stießen gegen den Widerstand der Heeresgruppe Nordwest unter Generalfeldmarschall Busch auf Magdeburg und auf Schwerin vor. Von Osten her stießen russische Armeen durch die Fronten der Heeres-gruppe Weichsel und näherten sich der Linie Stralsund - Waren. Eine Ver-lagerung der "Dienststelle Forst" war nie ins Auge gefaßt worden. Wohin auch? Die Ereignisse überschlugen sich ja. Der Feind stieß überall mit wachsender Geschwindigkeit vor. Es war nichts mehr zu retten. Jetzt, wo sich zeigte, daß auch die letzten Wunderwaffen nicht rechtzeitig einsatz-bereit sein würden, wurde das immer deutlicher.

Krausinger formulierte gedanklich sein Ziel: Jetzt gilt es zu überleben und das zu retten, was es hier an Außergewöhnlichem gibt. Wenn das Reich jetzt kapitulieren müßte, dann würde Deutschland mit ihm an der Spitze eines Tages Revanche nehmen. Und mit Hilfe der Scheibe und der Strahlenwaffe würde er die Weltherrschaft erlangen.

Der Nachmittag und auch der Abend vergingen, ohne daß Holt ange-rufen oder jemand nach Pluntke gefragt hätte. Aber Krausinger verbrachte trotzdem die folgende Nacht schlaflos.

Am nächsten Vormittag, es war der 20. April 1945, rief gegen 11.00 Uhr Holt an. "Standartenführer, hier Holt. Ich kriege den Pluntke nicht an den Apparat! Wo ist der Kerl nur?"

Krausinger erstarrte. Es war so weit. Jetzt würden die Nachforschungen beginnen. Jetzt wurde die Zeit knapp für ihn.

"Sie müssen die Scheibe flugbereit machen. Ich komme morgen mit Fegelein. Der Führer will in Berlin ausharren, bis zum Endsieg."

Krausinger hatte seinen Schock noch nicht ganz überwunden. "Hören Sie mich Standartenführer?" "Ich ... ich verstehe Sie kaum, Obergruppenführer", schrie Krausinger in

den Apparat, "... die Verbindung ist so schlecht!" "Scheibe startbereit machen! Komme morgen mit Fegelein zu Ihnen!"

schrie nun seinerseits Holt am anderen Ende der Leitung. "Ich verstehe Sie nicht - sprechen Sie lauter", brüllte Krausinger in sei-

nen Hörer und legte ihn vor sich auf den Schreibtisch, ohne weiter auf Holts Schreien zu achten. Der mußte doch wahnsinnig geworden sein.

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Der wußte doch ganz genau, daß die Scheibe nicht geflogen werden konnte. Oder glaubte der, daß es Pluntke mit Brachialgewalt gelungen sei, die Gefangenen zum Reden zu bringen? Und er will den Obergrup-penführer Fegelein, der so etwas wie der Schwager des Führers war, mit-bringen? Die allgemeine Absetzbewegung scheint ja in vollem Gange zu sein! - Was muß ich jetzt tun?

Schlagartig wurde er ruhig und begann systematisch sein weiteres Vor-gehen zu bedenken: Er hatte wieder Radio London gehört und wußte, wie die Frontlage war. Eine Evakuierung des Objektes würde den anderen einleuchten. Er mußte die Führungsoffiziere zusammenrufen und die schnelle Evakuierung, welche er als letzte Möglichkeit betrachtete, um aus der vertrackten Lage herauszukommen, ohne durch die eigenen Leute den Hals zu verlieren, als Weisung von oben ausgeben. Darauf wartete doch ohnehin schon jeder. Traute sich nur keiner das auszusprechen, denn 'Durchhalten' so lautete ja überall die Parole. Die Wachmannschaft mußte das Objekt sprengen und zwar so, daß unten nichts gefährdet wurde und er selbst zu einem späteren Zeitpunkt wieder in die vierte Tiefetage gelangen konnte. Kapseln und Tagebuch mußten natürlich an einem anderen Ort versteckt werden, so daß er bei Bedarf leicht herankommen würde, sie dennoch sicher versteckt waren. Dann absetzen in Richtung Westen. Nur nicht den Russen in die Hände fallen! Und so handelte er dann auch.

Recht schnell waren alle von ihm Angerufenen erschienen, bis auf Hauptsturmführer Schubert. Der Stabschef war nirgendwo zu finden. Krausinger legte in wenigen Sätzen dar, was er vorhatte: "Ich habe Sie kommen lassen, weil in diesen schicksalsschweren Stunden für das deut-sche Volk auch für uns wichtige Entscheidungen gefällt werden müssen. Meine Herren, Kameraden, sprechen wir offen: Das Kriegsglück liegt im Moment auf der Seite unserer Feinde. Der Feind ist zu übermächtig. Wir müssen für den Endsieg neue Kräfte sammeln und den entscheidenden Vergeltungsschlag führen, wenn unsere Wunderwaffen fertig sind. Hier können wir das nicht mehr vorbereiten, die Fronten nähern sich zu schnell. In weiser Voraussicht und in Zwiesprache mit der Vorsehung hat unser von uns allen geliebter Führer deshalb mit der Alpenfestung die Voraussetzung für den endgültigen Sieg über die Feinde des Reiches geschaffen."

Erleichtertes Aufatmen derer, die siegessichere Durchhalteparolen und ein Aushalten und Kämpfen bis zum letzten Blutstropfen in Waldheide befürchtet hatten.

"Den Russen dürfen wir auf gar keinen Fall in die Hände fallen", fuhr Krausinger fort. "Wir wenden uns nach Süden. Ziel ist die Alpenfestung.

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Das Objekt wird gesprengt, entsprechend dem Führerbefehl vom 19. März. Und meine Herren, egal was passiert, 'Projekt Marsschwert1 muß absolut geheim bleiben. Das ist unsere Lebensversicherung. Sie verste-hen? - Das gilt natürlich gleichermaßen für das 'Projekt Zeusstrahl'." Alle Anwesenden nickten zustimmend.

"Lassen Sie die wichtigsten Dokumente aufladen", wandte sich Krausin-ger an Danzmann. "Sie sind dafür verantwortlich Obersturmbannführer." Er blickte wieder in die Runde: "Abmarsch in einer Stunde. Uhrenver-gleich: Es ist jetzt genau Einuhrfünfzig, Punkt Zweiuhrfünfzig verlassen wir das Gelände."

"Uniform oder Zivil?" fragte einer der Offiziere. "Wir gehen in Fliegeruniformen auf die Reise", antwortete ihm Krausin-

ger und ergänzte "... die hat Schubert auf meine Anweisung hin bereits besorgen lassen. Sie erhalten alle Uniformen entsprechend Ihrer Dienst-grade."

"Wie wird denn der SD darauf reagieren?" fragte unsicher Professor Danzmann.

"Pluntke hat sich mit seinen Leuten bereits abgesetzt", antwortete Krau-singer. An alle gewandt sagte er abschließend: "Ihre neuen Uniformen holen Sie sich sofort in der Kammer. Packen Sie höchstens einen Koffer mit persönlichen Sachen. Wir haben kaum noch Sprit für die Fahrzeuge, wenig Platz und keine Zeit. Alles muß sehr schnell gehen!"

In der nächsten Stunde herrschte hektische Betriebsamkeit im gesamten Objekt. Die Fahrzeuge wurden beladen und die Leute kleideten sich als Flieger ein. Krausinger selbst hatte noch einiges zu erledigen. Aus Bergwalds Sturmgepäck hatte er sich den kleinen Feldspaten geholt. Er steckte ihn unter seinem Uniformrock in den Hosenbund. Dann nahm er eine flache Stahlkassette aus seinem Schreibtisch, in der sich die Dose mit den Kapseln und das Tagebuch Bergwalds befanden. Er wollte auf keinen Fall das Risiko eingehen, diese wertvollen Dinge auf der Flucht zu verlieren oder bei einer Gefangennahme abgenommen zu bekommen. Wenn er sein Ziel erreichen und den fernen Termin wahrnehmen wollte, dann brauchte er die Kapseln. Er war jetzt Zweiundvierzig. Das würde er dank der Kapsel, die er bereits zu sich genommen hatte, noch fünf Jahrzehnte lang bleiben. Dann würde sich der normale Alterungsprozeß fortsetzen. Aber er wollte seine Macht, die er dann haben würde, noch lange ausleben und nicht nur ein paar Jahrzehnte. Nein. Das ihm bevorstehende beinahe endlose Warten sollte ihn dann aber auch sehr lange entschädigen! Er verließ sein Arbeitszimmer und begab sich auf das Gelände hinter dem Haus. Er lief auf dem schmalen Waldweg, den er oft mit Professor Danzmann entlanggeschlendert war. Sie hatten diese Spaziergänge an frischer

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Waldluft immer genossen, zumal sie oft in den Labors der Tiefetagen bei nicht immer der frischesten Luft und bei künstlichem Licht arbeiten muß-ten.

Diesmal ging er allein. Der Posten auf Wachturm B, von wo aus man den größeren Teil dieses Weges einsehen konnte, schaute nur kurz in seine Richtung, grüßte und drehte sich zur anderen Seite. Nach wenigen Minuten war Krausinger in den Bereich gelangt, der vom Turm aus nicht eingesehen werden konnte. Der Weg verlief hier durch ein Stück Wald. Bald darauf war er an der alten Buche angelangt. Sie war ein sehr impo-santer Baum mit einer riesigen Krone aus einem dichten Astgewirr, die von einem mächtigen Stamm getragen wurde. Danzmann und er hatten geschätzt, daß dieser Baum mindestens 500 Jahre auf dem Buckel hatte. Trotzdem war außer einem einst vermutlich von einem Blitz abgespalte-nen Seitenast, von dem nur noch der Ansatz zu sehen war, dieser Baum noch voller Vitalität.

Danzmann, der fast zwanzig Jahre älter war als er, hatte einmal gefragt, warum denn die Menschen nicht einmal hundert Jahre alt würden. Und dann hatte er bedauernd hinzugefügt. "Oft werden wir Menschen doch gerade auf dem Höhepunkt unserer Schaffenskraft hinweggerafft. Da soll-te doch einmal geforscht werden. Methusalem hat es doch auch geschafft, älter zu werden." Und er, Krausinger, hatte gelacht und geantwortet: "Ja, das täte mich auch interessieren, Forschungen zur Verlängerung des Lebens. Aber wir sind keine Biologen. Schuster, bleib bei deinem Leisten. Wir haben unsere Forschungsgegenstände. Sollen sich die Herren von der Biologischen Fakultät damit beschäftigen."

Er stand nun vor der Bank, die er unter der Buche hatte aufstellen lassen und auf der er oft gemeinsam mit Danzmann gesessen hatte. Sie hatten meist über ihr Hauptthema geredet, die waffentechnische Forschung. Dieser Baum hatte viel über Atomwaffen, über Raketen, über Radar und sogar über Infrarot gehört, alles Dinge, die theoretische Gegenstände ihrer Forschungen oder bereits im Erprobungsstadium befindlich waren. Von der Scheibe wurde unter seiner Krone allerdings nie geredet, denn seit dem Spätherbst hatten sie noch nicht wieder hier gesessen. Es war zu kalt dafür gewesen.

Jetzt ging er um den Baum herum und suchte an dessen Fuße, zwischen den sich teilweise sehr deutlich oberirdisch entlangziehenden Wurzeln, nach einem Versteck für seine Schätze. An verschiedenen Stellen versuchte er, mit dem Feldspaten in die Erde zu kommen. Das gelang ihm nicht. Der Boden war zu hart und total verwurzelt. Schnell verwischte er die Spuren. Dann schaute er sich um und betrachtete die Umgebung. Schließlich glaubte er unter einem Strauch, wenige Meter vom Baum-

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stamm entfernt, den idealen Platz gefunden zu haben. Er vergrub die Kas-sette. Das war an dieser Stelle nicht besonders schwer. Es war Sandbo-den, ohne viel Wurzelwerk. Bald war er etwa achtzig Zentimeter tief in den Boden eingedrungen. Das hielt er für ausreichend. Er legte die Kassette hinein und füllte das Loch wieder. Zu guter letzt beseitigte er die Spuren, so gut es ging und tarnte die Stelle mit dem Laub des vergangenen Jahres, das unter den kahlen Zweigen des Strauches lag. Danach prägte er sich die Lage des Verstecks noch einmal gut ein. Er merkte sich die Himmelsrichtung, die Schrittentfernung vom Stamm und auf welcher Seite von dem Versteck aus gesehen sich die Stelle des Baumes befand, an welcher der große Ast einst gesessen hatte.

Die ganze Aktion hatte etwa fünfzehn Minuten gedauert. Nach weiteren fünf Minuten hatte er sein Dienstzimmer wieder erreicht. Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch, zog den Telefonapparat zu sich heran und wählte Schuberts Nummer. Auch diesmal meldete sich niemand. Dann rief er im Wachlokal an. Ein Untersturmführer Heise meldete sich. Krausinger hieß Heise sich sofort in seinem Dienstzimmer zu melden. Er informierte den Untersturmführer über den angeblichen Evakuierungsbefehl von oben, ernannte ihn zum Führer der Nachhut, die als letzte das Objekt verlassen sollte. Er befahl ihm, Schubert, falls dieser wieder auftauchen werde, festzunehmen und wegen unerlaubter Entfernung von der Truppe standrechtlich zu erschießen. Dann legte er fest: "Ihre wichtigste Aufgabe, die Sie unverzüglich lösen: Sprengung des Objektes in x + 45 Minuten. Sie sprengen die Gebäude und garantieren, daß im Gebäude Nr. 3 der Turm des Aufzuges zerstört und der Zugang im Treppenhaus zu den Tiefetagen verschüttet wird. In der ersten Tiefetage sprengen Sie dazu das Treppenhaus. Tiefer hinunter gehen Sie auf keinen Fall! Sofort nach der Sprengung begeben Sie sich mit der Wachmannschaft nach Wismar und melden sich zur Verteidigung der Stadt. Und denken Sie daran: Sie sind Luftwaffenleutnant aus dem Fliegergenesungsheim Greventorf. Schärfen Sie auch Ihren Männern ein: Niemand gibt sich als SS-Mann zu erkennen. Niemand weiß etwas davon, was wir hier wirklich gemacht haben! Uhrenvergleich: 14.20 Uhr."

"Zu Befehl. Heil Hitler, Standartenführer". Heise beeilte sich zu erledi-gen, was ihm befohlen worden war.

Krausinger packte, als er wieder allein war, einen Koffer mit persönli-chen Sachen. Dann zog er die schwarze Jacke mit den vier Silberknöpfen, den drei parallelen geflochtenen Silberstreifen mit den zwei Sternen als Schulterstücken und der rot-weiß-schwarzen Hakenkreuzbinde am linken Arm aus.

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Da lag sie nun, die Uniformjacke, mit dem großen silbernen V, dem Zeichen der "alten Kämpfer" und der Armbinde mit der Aufschrift "FHA" was für "Führungshauptamt" stand, zu dem das geheime Rüstungsamt gehörte. Er zog auch die restlichen Uniformteile aus und ließ alles einfach auf den Boden fallen. Sein Bursche würde die Uniformteile auf den Berg SS-Uniformen werfen, der vorn an der Wache verbrannt werden sollte. Innerhalb weniger Minuten hatte er eine Metamorphose vom SS-Standartenführer zum Oberst der Luftwaffe durchgemacht. Er schaute sich noch einmal kurz um und verließ dann sein Dienstzimmer. Draußen gab er seinen Koffer dem Fahrer eines Kübelwagens, der ihn verstaute. Dann löste er Danzmann, der ihn der Fliegeruniform wegen angrinste, bei der Überwachung der Vorbereitungen zum Abmarsch ab und schickte ihn, seine Sachen zu packen. Zehn Minuten später ließ er aufsitzen.

Der Gedanke, den Engländern möglicherweise die gesamten For-schungsergebnisse und das Personal übergeben zu müssen, war ihm ein Graus. Es war ihm ziemlich klar, daß es ein vergebliches Bemühen sein würde, die Alpenfestung zu erreichen. In seinem tiefsten Inneren war sein wirkliches Ziel, erst einmal weg von Waldheide und möglichst viele Spuren verwischen. Und wenn er auf dem Weg viel Personal verlieren würde, so käme das seinen Zielen nur entgegen, so wenige Zeugen des Waldheider Geheimnisses zu haben, wie überhaupt möglich war. Seinen versammelten Offizieren sagte er: "Es ist unwahrscheinlich, daß wir es unbeschadet schaffen werden, in einer großen Kolonne bis zur Alpenfe-stung zu gelangen. Der Weg dahin ist dafür zu weit und die Wahrschein-lichkeit feindlicher Luftangriffe zu groß. Deshalb werden wir in mehreren kleinen Kolonnen vorstoßen." Er teilte die Kolonnen ein und benannte deren Führer. In einer vierten, kleineren Kolonne, faßte er alle die zusam-men, die mit ihm fahren würden. Das waren alle die Personen, die mehr oder weniger gut Bescheid wußten über die Strahlenwaffe, über die Scheibe oder sogar über die Existenz der seltsamen Gefangenen. Weil zu wenige Fahrzeuge vorhanden waren, mußte ein Teil der Leute marschie-ren. Das medizinische Personal und die Wachmannschaften wurden auf-geteilt auf die Kolonnen.

Die ersten drei Kolonnen verließen pünktlich das Objekt. Krausingers kleine Kolonne selbst würde dreißig Minuten später folgen. Dazu gehörten Professor Danzmann, Dr. Schulze, Dr. Graupe, der Arzt Dr. Knaus und der Sanitäter, der die Gefangenen betreut hatte sowie Krausingers Bursche. Außerdem gehörten sämtliche Forscher und Techniker, die an den beiden neuen Geheimprojekten mitgearbeitet hatten dazu sowie die Wachmannschaft, welche die vierte Tiefetage abgesichert hatte und mit Scheibe und Gefangenen in Kontakt gewesen war. Krausinger hatte dem

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Hauptscharführer Bergwalds Verschwinden damit erklärt, daß dieser zusammen mit den SD-Leuten und den beiden Gefangenen nach Berlin unterwegs sei.

Die Wachmannschaft hatte die Sprengladungen scharf gemacht, die bereits seit Tagen entsprechend dem für das gesamte Reichsgebiet geltenden Führerbefehl "Verbrannte Erde", vorbereitet worden waren. Untersturmführer Heise hatte die Hände am Griff der Induktionsmaschine, bei der alle Kabel zusammenliefen. Jetzt schaute er noch einmal auf seine Uhr, wartete einen Moment und drückte dann den Auslöser nieder. Eine gewaltige Detonation erschütterte das Objekt.

Krausinger hatte seine Kolonne vor das Tor fahren und auf dem Wald-weg halten lassen. Aus dieser sicheren Entfernung beobachtete er nun, wie das Gebäude mit dem Eingang in die Tiefgeschosse und dem Aufzug in sich zusammenfiel. Er nahm es mit Befriedigung zur Kenntnis. Erst jetzt, als er hundertprozentig sicher war, daß der Eingang zu dem Geheimnis in der Tiefe des Objektes verschüttet war, gab er den Befehl zum Aufbruch. Seine Kolonne setzte sich in Bewegung. An die Spitze hatte sich seinem Befehl gemäß ein Beiwagenkrad mit Maschinengewehr und zwei Männern der Wachmannschaft in Uniformen von Luftwaffengefreiten gesetzt. Ihnen folgte der Kübelwagen, in dem Krausinger Platz genommen hatte. Außer ihm, seinem Burschen und dem Fahrer saßen noch Danzmann und Dr. Knaus im Wagen. Das Gepäck aller Insassen war ebenfalls vom Fahrer verstaut worden. Es war eng und unbequem.

Hinter ihnen folgte ein weiterer Kübel. Er wurde gesteuert von dem Fahrer des verschwundenen Stabschefs Schubert. In dem Wagen saßen Dr. Schulze, der Strahlenforscher Dr. Schwades und Dr. Graupe. Diesem Kübelwagen folgten zwei Lastkraftwagen, die beladen waren mit Kisten und Kartons voller Ordner und Mappen, in denen sich Forschungs-berichte, Laborprotokolle, Statistiken, Analysen, Berechnungen und anderes, der wichtigste Teil des Informationsfundus der "Dienststelle Forst", befanden. Die Kolonne wurde abgeschlossen durch einen Last-kraftwagen, auf dem dichtgedrängt etwa dreißig Mann saßen, Techniker und Forscher, die zum "Projekt Marsschwert" oder zum "Projekt Zeus-strahl" gehörten oder irgendwann einmal Kontakt dazu hatten. Diese Leute wollte Krausinger unbedingt unter Kontrolle behalten.

Die Kolonne fuhr über die Chaussee in Richtung Süden. Unterwegs begegneten ihnen Zivilisten, einzelne Soldaten und zwei Schützen-panzerwagen, die aus einer Seitenstraße kamen und vor ihnen, ebenfalls in Richtung Süden fuhren. Bald waren sie so weit aufgefahren, daß es schien, als gehörten diese Panzerwagen zu ihrer Kolonne.

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Sie mochten etwa 45 Minuten lang unterwegs gewesen sein, da plötz-lich schauten alle nach oben und lauschten. Sie hatten es fast gleichzeitig vernommen: Flugzeuggeräusche! Dr. Knaus sah sie als erster. "Dort, dort", schrie er aufgeregt und wies mit ausgestreckter Hand nach oben.

Der erste der nicht weit vor ihnen fahrenden Schützenpanzerwagen geriet plötzlich nach rechts von der Straße. Der Zweite erwischte ihn noch hinten links, schleuderte ihn herum, brachte ihn zum umkippen, blieb aber selbst stehen. Das Beiwagenkrad von Krausingers Kolonne wollte ausweichen und raste in den Wald, gegen einen Baum. Sein MG knatterte. Der Schütze schien sich am Abzugshebel verkrampft zu haben, als er starb. Dann erst richteten die Bord-MGs der Tiefflieger ein Blutbad unter Krausingers "Fliegern" an. Der erste Lastkraftwagen stieß auf den vor ihm fahrenden zweiten Kübel und drückte ihn gegen den ersten, in dem auch Krausinger saß. Sein Kübel wurde nach links aus der Spur gedrückt. Der zweite Kübel geriet gegen den hinteren Schützenpanzerwagen und explodierte.

Alles war in Sekundenschnelle vor sich gegangen. Die Tiefflieger zogen eine Schleife und griffen erneut an.

Krausingers Fahrer lag zusammengesunken über dem Lenkrad. Viel-leicht nur bewußtlos, vielleicht getroffen? Er hatte keine Zeit, sich um ihn zu kümmern. Danzmann schrie ganz fürchterlich neben ihm und hielt sich sein Bein, an dem aber nichts zu sehen war. Raus hier, nur raus und in den Wald, dachte er. Er zerrte Danzmann hoch und versuchte, sich mit ihm aus dem Wagen fallen zu lassen. In dem Moment erwischte sie die nächste Salve aus einem Bord-MG. Er verspürte einen stechenden Schmerz in der linken Hüfte. Grell blitzte es vor seinen Augen auf. Sein Kopf fühlte sich siedend heiß an. Dann verlor er das Bewußtsein.

Nach einer Weile kam er wieder zu sich. Wie lange er da bewußtlos gelegen hatte, wußte er nicht. Die Feindflieger waren weg. Es waren keine Flugzeuggeräusche mehr zu hören. Aber er hörte Schreie, Stöhnen, Wimmern. Und er sah über sich den Himmel, zu dem schwarze Rauch-schwaden emporzogen.

Er hob Kopf und Oberkörper etwas an und sah an sich herunter. Da war noch alles dran, bis hinunter zu den Füßen. Er bewegte die Hände und die Arme, dann die Füße und Beine. Es schien auch alles funktionsfähig zu sein. Glück gehabt. Aber dieser Schmerz in der Hüfte! Was war denn das? Er hatte sich wieder zurückfallen lassen und tastete mit der rechten Hand an der linken Hüfte entlang. Er wagte es nicht hinzuschauen, denn er befürchtete eine größere Wunde zu sehen. Er verspürte plötzlich einen starken Schmerz. Er war mit der Hand in eine offene Wunde geraten. Jetzt riß er sich zusammen und schaute nach. Verdammt! Die Uniformhose war aufgerissen und blutig. Und seine Hand war voller Blut. 154

Nur eine Fleischwunde? Vielleicht ist der Knochen gebrochen? Ver-dammte Scheiße! Ein Hüftknochenbruch! Jetzt dämmerte es ihm, was geschehen war. Seine Pistolentasche, an der linken Seite über dem Hütt-knochen hängend, hatte einen Querschläger aufgehalten. Glück im Unglück! Aber die Waffe war mit Gewalt gegen den Hüftknochen geschlagen, hatte die Hüfte aufgerissen und den Knochen, vielleicht das ganze Gelenk lädiert.

Ganz in seiner Nähe stöhnte jemand. Über sich sah er weiterhin Rauchschwaden ziehen. Es roch verdammt brenzlig. So schnell es ging nahm er das Verbandspäckchen aus seiner Uniformjacke, riß es auf und drückte es mit dem keimfreien Teil auf die Wunde. Er stöhnte vor Schmerz. Dann richtete er sich mühsam auf. Wo ist der Doktor, dachte er. Im nächsten Moment sah er ihn. Das heißt das, was einmal Dr. Knaus gewesen war, lag mit von Kugeln zerfetztem Oberkörper auf dem Rück-sitz. Eine Maschinengewehrsalve mußte ihn voll erwischt haben.

Rechts neben dem Kübelwagen lag Danzmann und bewegte sich. Der war es also, der gestöhnt hatte. Krausinger beugte sich zum Sanikasten und entnahm ihm eine Mullbinde. Er nahm sein Koppel ab, öffnete unter Schmerzen seine Hose, ließ sie etwas herab und versorgte seine Wunde mit einer neuen Kompresse. Dann wickelte er drei Verbandspäckchen um den Unterleib. Nachdem er mühsam die Hose wieder hochgezogen und sein Koppel gegürtet hatte, prüfte er, ob er würde gehen können. Es ging zwar nicht schmerzlos, aber es ging. Wahrscheinlich ist es kein Bruch, sondern nur eine starke Prellung, verbunden mit einer Fleischwunde, dachte er. Dann sah er sich um. Ein Bild des Grauens bot sich ihm. Eine Schlachtfeldszene, wie sie die großdeutschen Heldenmaler immer dargestellt hatten, wobei aber die Opfer stets Uniformen des Feindes getragen hatten. Überall Tote und Schwerverletzte. Rauchende Fahrzeugtrümmer. Auch sein Offiziersbursche war tödlich getroffen wor-den.

Vorn bei den Schützenpanzern bemerkte er Soldaten. Die gehörten nicht zu seiner Einheit. Er sah keinen Überlebenden aus den Kübelwagen und auch keinen von den Besatzungen der Lastwagen. Das erfüllte ihn mit einer gewissen Zufriedenheit: Die Zahl der Zeugen war bereits kleiner geworden.

Er hinkte langsam an den beiden LKW vorbei, deren Ladung vor sich hin schmorte. Mit innerer Befriedigung sah er, daß die Tiefflieger bei der Vernichtung der Forschungsberichte ganze Arbeit geleistet hatten. Er brauchte sie nicht mehr. Er hatte ja schließlich seinen Kopf. Und sie konnten nun Unbefugten nicht mehr in die Hände fallen. Dann sah er den letzten Lastkraftwagen, auf dem die Forscher und Techniker gesessen

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hatten. Auf der Ladefläche fand er nur noch einen blutenden Fleischberg vor. Er vernahm Stöhnen. Schnell wandte er sich ab. Er hatte kein Laza-rett. Um Verletzte konnte er sich nicht kümmern.

Krausinger sah sich um. Nirgendwo sonst einer der überlebt hatte. Und wenn, dann waren die im Wald verschwunden. Verschwunden? Das war nicht gut! Er drehte sich wieder um und schaute auf die Ladefläche. Rasch versuchte er die Leichen bzw. Schwerverletzten auf der Ladefläche zu zählen. Es waren mindestens zwanzig. Die im Führerhaus des Last-kraftwagens waren alle tot, wie er danach feststellte. Plötzlich hörte er in seinem Rücken rufen "Standartenführer!" Er drehte sich um. Aus dem Wald kamen zwei Mann auf ihn zu. Es waren zwei junge Männer, Feld-webel in Uniformen der Luftwaffe. Er kannte sie. Es waren Techniker, die vom Projekt Strahlenwaffe Kenntnis hatten. Sie schienen unverletzt zu sein.

"Oberst, nicht Standartenführer", schnauzte er sie mit unterdrückter Stimme an, denn er wollte vermeiden, daß die fremden Landser vorne am Schützenpanzer etwas mitbekamen.

"Jawohl, Stan ... Äh, Herr Oberst", stammelte der eine. Der andere stand stumm daneben.

"Suchen Sie nach weiteren Überlebenden, schnell!" sagte Krausinger. Dann humpelte er mühsam wieder nach vorn zum Kübelwagen. Da lag Danzmann auf seinem Gesicht und stöhnte noch immer. Er beugte sich nieder und versuchte ihn umzudrehen. Seine Hüfte schmerzte, so sehr strengte er sich an, aber es gelang ihm dennoch nicht, den Körper des dicken Danzmann zu wenden. Mit schmerzverzerrtem Gesicht richtete er sich mühsam auf und schaute sich um. Vorn an dem Schützenpanzer-wagen waren zwei Landser zu sehen, die einem Feldwebel das verletzte Bein zu schienen versuchten. "Kommen Sie mal her", rief er,"... einer von Ihnen". Er richtete sich voll auf, damit die Panzergrenadiere die Insignien seines hohen Ranges erkennen konnten.

Ein Gefreiter kam sofort zu ihm, stand stramm und meldete: "Herr Oberst, Gefreiter Machtinnsonn zur Stelle."

"Helfen Sie mir, den Oberstleutnant aufzurichten." Zuerst drehten sie Danzmann auf den Rücken. Der schien überhaupt

nicht verletzt zu sein. Eine Wunde war jedenfalls nicht zu sehen. Aber er lag völlig kraftlos da. Er blickte abwesend zum Himmel und wimmerte, stöhnte und versuchte etwas zu sagen. Er stammelte aber nur Unver-ständliches. Krausinger sprach ihn an. Auch der Gefreite sprach ihn an. Danzmann brachte kein vernünftiges Wort zustande, das als Antwort angesehen werden konnte. Man sah, daß Danzmann sich übergeben hatte und daß er sabberte.

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"Der hat einen Schlaganfall gehabt...", sagte eine Stimme hinter ihnen. Krausinger wandte sich halb zur Seite. Da stand ein Mann mittleren Alters in der Uniform eines Fliegerhauptmanns. Es war einer der Mitarbeiter am "Projekt Zeusstrahl". Hauptsturmführer Schramm gehörte zu den For-schern, die Krausinger nicht mochte. Schramm war in seinen Augen ein Besserwisser, der darauf aus gewesen war, Karriere zu machen und ihn eines Tages in der Führungsfunktion zu beerben.

"Woher wollen Sie das wissen, Hauptmann? Sind Sie etwa Arzt?" fragte er bissig.

"Nein, aber ich habe das erlebt, bei meinem Vater. Die gleichen Symp-tome", antwortete Schramm.

Krausinger sprach Danzmann erneut an und schüttelte ihn an der Schulter.

"Der hört Sie vielleicht. Aber der kann nicht mehr sprechen. Völlig zwecklos", sagte Schramm unehrerbietig.

Danzmann, du armes Schwein, dachte Krausinger. Sprechen kannst du nicht mehr ... In dem Moment wurde ihm klar, daß diese Tatsache so schlecht nicht war, im Gegenteil, das war sogar gut für seine eigene Sicherheit und für die Wahrung des Geheimnisses von Waldheide. Er war erleichtert.

"Der Spähpanzer ist wieder flott ..." rief jemand. Erst jetzt bemerkte Krausinger, daß die Gruppe vor ihnen einen vierten Überlebenden hatte. Es war offensichtlich der Fahrer, der eine Reparatur vorgenommen hatte. Der am Bein verletzte Feldwebel kam humpelnd auf ihn zu: "Herr Oberst, fahren Sie mit uns. Wir haben Platz. Die Toten haben wir rausgeschafft. Wir müssen schnellstens weiter. Die Russen stehen schon bei Malchin und die ersten Stoßtrupps vom Iwan haben die ohnehin löchrige Front durchbrochen. Außerdem können wir vor weiteren Luftangriffen nicht sicher sein. Ich habe keine Lust, mich noch mal aufs Korn nehmen zu lassen. Wenn Sie als Flieger ja wenigstens noch den Luftraum verteidigen könnten."

"Ach was", sagte Krausinger "... wir gehören nur zum Bodenpersonal. Ich wollte, ich könnte fliegen, denn dann hätten wir es denen heimge-zahlt!"

Zwei Panzergrenadiere hievten Danzmann in den Spähpanzer. Sie setzten sich dazu. Krausinger stieg, das Angebot des Feldwebels, mit nach vorn zu kommen ausschlagend, ebenfalls dazu, denn er fühlte sich hinten sicherer. An Schramm gewandt wies er an: "Da sind noch zwei Feldwebel. Lassen Sie den letzten Lastwagen fahrbereit machen, werfen Sie die Leichen runter und sammeln Sie die Reste der Truppe ein. Dann folgen Sie uns."

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"Wird gemacht", antwortete Schramm, der noch unsoldatischer war als alle anderen Forschungsoffiziere der "Dienststelle Forst".

Der Spähpanzer fuhr los. Als er vorsichtig um den umgestürzten Späh-panzer herumgefahren war, beschleunigte er sein Tempo. Krausinger sah sich an, was da auf dem Boden des Schützenpanzers lag, in der Uniform eines Oberstleutnants der Flieger, unfähig zu sprechen, lallend und wim-mernd, wie ein Säugling oder ein Betrunkener. Das war nun vor ganz kur-zer Zeit noch der Obersturmbannführer der SS, Professor Dr. Hans-Her-mann Danzmann gewesen. Eine einst imposante Erscheinung. Eine Leuchte der Wissenschaft. Eine der Hoffnungen des Reichsführers. Mit-konstrukteur einer der gefährlichsten Waffen der Welt. Danzmann, Danz-mann, statt als Held auf dem Felde der Ehre zu fallen, stirbst du wie ein alter Sabbergreis. Krausinger duzte Danzmann in Gedanken, obwohl sie stets per Sie gewesen waren.

Der Panzerwagen fuhr verhältnismäßig schnell. Er mußte mehrfach stoppen. Krausinger schaute aus einer der Luken und sah, daß die Straße, auf der sie seit einiger Zeit fuhren, voller Flüchtlinge war. Er dachte daran, wo sich wohl die anderen Kolonnen befanden. Aber es war nur ein flüchtiger Gedanke. Ihm war, spätestens nachdem seine eigene Kolonne bereits nach nicht einmal einer Stunde Fahrt vom Feind völlig aufgerieben worden war, längst klar geworden, daß keiner seiner Leute die Alpenfestung je erreichen würde.

Er überlegte. Wer waren die überlebenden Zeugen der Projekte "Mars-schwert" und "Zeusstrahl"? Wer wußte nicht nur vom Hörensagen, also gerüchteweise, sondern tatsächlich von diesen Waffen? Da waren zunächst einmal der Führer selbst, der von Himmler die Wunderwaffe versprochen bekommen hatte: Gefahr Nr. 1. Aber der wußte nichts Kon-kretes. Da war der Reichsführer SS, sein Vorgesetzter, der ja die Strahlen-waffe in Auftrag gegeben hatte und der von Holt wußte, daß an einer wei-teren Wunderwaffe gearbeitet wurde: Gefahr Nr. 2. Dann war da Martin Bormann, Leiter der Reichskanzlei der NSDAP und Sekretär Hitlers, der wahrscheinlich dabei war, als Himmler und Holt den Führer über die Wunderwaffen informiert hatten: Gefahr Nr. 3. Dann war da Obergrup-penführer Fegelein, den Holt offensichtlich über die Scheibe informiert hatte, denn er wollte ja mit ihm nach Waldheide kommen, um mit der Scheibe zu fliehen: Gefahr Nr. 4. Dann war da Holt selbst: Gefahr Nr. 5. Wenn einer dieser Leute in Gefangenschaft geriete, wäre es denkbar, daß er über Waldheide und die Wunderwaffen reden würde. Vielleicht nur unter Zwang. Aber er konnte nicht sicher sein, daß sie alle schweigen würden. Er konnte es nur hoffen. Wer war sonst noch von den Zeugen am Leben? Da war auch noch Hauptsturmführer Schubert, der Stabschef der

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"Dienststelle Forst" Gefahr Nr. 6. Dem, ja und besonders Holt, traute Krausinger es zu, daß sie das Geheimnis von Waldheide verraten würden, um ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Die hatten ja auch keinerlei Absichten mehr mit Waldheide. Sie hatten keine solch eminent wichtige Mission, kein solches Ziel, wie er. Keiner von denen hatte einen solch fernen aber sich mit Sicherheit lohnenden Termin wahrzunehmen, wie er selbst.

Ja, dann waren da noch die Überlebenden seiner Kolonne. Der Haupt-sturmführer Schramm und die beiden Feldwebel, vielleicht noch ein paar Leute, die überlebt hatten und ihm mit dem LKW folgen würden. Das sind weitere Gefahrenpunkte. Hoffentlich überleben sie den Krieg nicht. Und schließlich ist da noch Danzmann. Sollte der überhaupt die nächsten Tage überleben, dann würde der vermutlich nie wieder sprechen können. Aber konnte man da sicher sein? Und selbst wenn, vielleicht würde der einfach alles aufschreiben? - Vielleicht ließ sich ja hier noch etwas Schicksal spielen?

Der Panzerwagen kam jetzt nur noch langsam voran. Plötzlich hielt er an. "Alle Mann raus, Hindernisse wegräumen, wir kommen sonst nicht weiter!" ließ sich der Feldwebel hören. Die beiden Landser sprangen aus dem Fahrzeug und gingen nach vorn. Krausinger erhob sich mühsam und schloß die Ausstiegsluke, dann setzte er sich wieder auf die Bank, vor der Danzmann lag. Er hatte einen Entschluß gefaßt. Danzmann, Danzmann, wenn du redest, dachte er. Nein, das durfte nicht sein. Er beugte sich hin-unter. Es fiel ihm schwer und seine Hüftwunde schmerzte ihn. Er mußte sein linkes Bein steif nach der Seite Wegstrecken. Schnell öffnete er Danz-manns Uniformkragen. Der sah ihn mit getrübtem Blick an und lallte Unverständliches. Er umfaßte Danzmanns Kehle und drückte mit aller Kraft zu. Dabei schaute er zur Ausstiegsluke des Panzerwagens, weil er Danzmanns Gesicht nicht sehen wollte und um rechtzeitig zu merken, wenn jemand die Luke öffnete. Danzmann röchelte und versuchte reflex-artig, Krausingers Hände wegzudrücken. Aber er war zu schwach. Nach kurzer Zeit erschlaffte sein Körper. jetzt sah Krausinger wieder hin. Danz-mann sah nicht gut aus, mit den aus den Höhlen getretenen Augen, der aus dem Mund hängenden Zunge und der bläulich-roten Haut. Er schloß eilig den Uniformkragen der Leiche, drückte die herausgetretenen Augen in ihre Höhlen, zog die Lider darüber und schob die Zunge in den Mund zurück. Schnell drückte er Danzmann die Kiefer zusammen. Dabei sagte er, wie um sich zu entschuldigen, leise zu Danzmanns Leiche: "So hätten Sie doch auch nicht weiterleben wollen, Danzmann. - Es war meine Pflicht, einem Kameraden gegenüber." Zufrieden und erleichtert blickte er auf die Leiche: Ein Hauptzeuge weniger.

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Er hatte sich gerade wieder auf die Bank gesetzt, da kamen die Landser zurück. "Es geht weiter, Herr Oberst", sagte der eine. Der andere nickte in Richtung Danzmanns und fragte: "Wie geht es denn dem Oberstleutnant?"

"Ich glaube, der will nicht mehr mit uns reisen, schaffen Sie ihn raus", antwortete Krausinger mit belegter Zunge. Die Landser vermuteten sofort: Der Oberstleutnant war seinen Verletzungen erlegen. Sie trugen die schwere Leiche hinaus und legten sie neben der Straße ab. Krausinger hatte vorher Danzmanns Papiere und seine Erkennungsmarke an sich genommen, die er später in einen Fluß warf. Die Fahrt ging weiter.

Sie mochten noch zwei Stunden gefahren sein, als dem Schützenpan-zer der Sprit ausging. Es war kurz vor Schwerin.

Krausinger übernachtete in einem Bauernhaus und ließ sich am näch-sten Tag auf einem Pferdefuhrwerk nach Schwerin bringen. Wo die Land-ser geblieben waren, interessierte ihn nicht.

Es gelang ihm, mit einem Militärzug bis nach Brandenburg zu kommen. Hier schloß er sich einer Einheit an, die sich zur Verteidigung Berlins auf-machte, weil er vorhatte, in Berlin unterzutauchen. In diesem bunt zusammengewürfelten Haufen bekam der "Fliegeroberst" Krausinger einen LKW voller Soldaten unterstellt, was er nicht vermeiden konnte. In Potsdam erhielt der Mannschaftswagen, in dessen Führerhaus er Platz gefunden hatte, einen Treffer.

Die überlebenden Soldaten suchten in den Häusern an der Straße Schutz. Sich verstärkender Artilleriebeschuß und russische Tiefflieger ließen Krausinger, der seiner Verletzung wegen nicht so schnell gewesen war, keine Zeit, eine der Ruinen zu erreichen. Er ließ sich in einen Bom-bentrichter gleich neben dem Transporter fallen.

In dem Trichter lag die Leiche eines Luftwaffenunteroffiziers. Vermutlich ein Granatsplitter hatte ihm den Hirnschädel aufgerissen. Es sah grausig aus dieses blutige Gesicht, über das Hirnteile hinuntergelaufen waren. Krausinger übergab sich. Aber er würgte nur die blanke grünlichgelbe Galle heraus. Sein Magen war leer. Er hatte schon zwei Tage lang keinen Proviant mehr gehabt, außer Scho-Ka-Kola. Und die hatte sich im Darm festgesetzt. Er konnte die Leiche nicht ansehen. Er rang mit sich. Überleben oder sterben, nur weil er sich nicht überwinden konnte? Nein! Er gab sich einen Ruck, drehte sich wieder zu dem Gefallenen um, stellte zufrieden fest, daß der etwa seine Statur hatte und begann ihm die Uni-form auszuziehen. Er entledigte sich seiner Offiziersunifom und zog die des Unteroffiziers an. Sein SS-Soldbuch und das gefälschte Fliegersold-buch als Luftwaffenoberst warf er in ein Feuer, das neben dem Bomben-trichter loderte. Schließlich kroch er mühsam, die Schmerzen unter-

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drückend mit zusammengebissenen Zähnen aus dem Trichter heraus und suchte im Eingang eines schwer beschädigten, aber noch nicht zusam-mengestürzten Hauses Unterschlupf. Dort blieb er den Rest des Tages und in der folgenden Nacht, zitternd vor Kälte, erschöpft, hungrig und durstig, hocken. Gleich ihm hatten Zivilisten und andere Landser in dem Hauseingang Deckung gesucht. Er erkannte unter ihnen keinen von den Soldaten, die auf seinem Lastkraftwagen gesessen hatten.

Bei jedem Granateinschlag in der Nähe zuckten die Menschen zusam-men. Jeder befürchtete, daß das Haus einstürzen würde. Erst am Morgen des 30. April 1945, an dem Tag, an dem Hitler nachmittags um 15.30 Uhr, wie es in den Meldungen des Reichsrundfunks hieß: "... bis zum letzten Atemzug gegen den Bolschewismus kämpfend gefallen ..." sein sollte, unternahm Krausinger den Versuch, weiter in Richtung Berlin zu kommen.

Auf seinem Weg kamen ihm zwei Feldgendarmen entgegen. Schlagar-tig fiel ihm ein, daß er ja keinerlei Papiere bei sich trug. Die könnten ihn glatt als Deserteur an die Wand stellen. Was tun? Er entschloß sich, in die Offensive zu gehen. "Herr Feldwebel", sprach er den Dienstgradhöheren an und versuchte Haltung anzunehmen, "Unteroffizier Letticher, Trans-portgeschwader Germania. Komme gerade aus dem Lazarett." Bei den letzten Worten wies er auf seinen Verband um Hüfte und Bauch unter der offenen Uniformjacke, sich auf einen kurz zuvor gefundenen Krückstock stützend. "Wo kann ich mich in die kämpfende Truppe einreihen?" fuhr er fort.

Der Feldwebel und der Unteroffizier sahen ihn verdutzt von oben bis unten an: "Was wollen Sie denn noch kämpfen? Sie Häufchen Elend?" fragte der Feldwebel. Dann wies er in die Richtung aus der sie gekommen waren: "Die Volkssturmkompanie am Kanal, braucht Verstärkung. Dort vorn gibt es schwere Verluste, Unteroffizier."

"Jawohl Feldwebel. Heil Hitler", sagte Krausinger und versuchte die Hacken zusammenzuknallen. Die beiden Feldgendarmen sahen sich wortlos an, antworteten nicht und setzten ihren Weg in das Hinterland fort.

Krausinger dagegen bewegte sich weiter in Richtung der Brücke. Wenn er nicht befürchtete von den Feldgendarmen beobachtet zu werden, dann hätte er sich schon längst in eines der Häuser verdrückt. Aber er wollte nicht noch zu guter letzt an die Wand gestellt werden.

Plötzlich kamen sie von der Seite auf ihn zu: Drei Russen mit Maschi-nenpistolen in dicken Wintermänteln. Zwei hatten Käppis auf den Köpfen, einer trug einen Stahlhelm. Ein dicker Russe, mit einer Zigarette im Mundwinkel rief triumphierend: "Gittler kapputt! Gittler kapputt!" Ein

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junger Soldat mit mongolischen Gesichtszügen schrie: "Ruki werch!" und hielt ihm den Lauf seiner Maschinenpistole entgegen. Krausinger hob die Hände über den Kopf. Was blieb ihm anderes übrig?

Von vorn, aus Richtung der Brücke, kam jetzt eine große Gruppe von Volkssturmleuten, alle mit erhobenen Händen und bewacht von wenigen Russen. Rechts und links der Straße verließen weitere Wehrmachtsan-gehörige, Volkssturmleute und Hitlerjungen die Ruinen und ergaben sich. Darunter war ein Mann in der Uniform eines Rottenführers der SS. Einer der Russen schlug ihm den Kolben der Maschinenpistole in das Genick. Er brach zusammen. Ein russischer Offizier trat an den Liegenden heran und jagte ihm aus kurzer Entfernung eine Kugel durch den Kopf. Einige der anderen Gefangenen schauten weg.

Der Offizier schrie in gebrochenem Deutsch: "Hinsehen! Das Faschist! Schlechtes Deutschmann. Gittler tottt!" Dann schoß er mehrmals in die Luft, schob ein neues Magazin in die Waffe und entfernte sich.

Krausinger hatte vor Schreck fast das Herz stillgestanden. Wenn die schon mit Mannschaftsdienstgraden kurzen Prozeß machten, was würde dann erst ihm geschehen, wenn die mitbekämen, daß er ein hochrangiger SS-Führer war?

Die ringsum mit erhobenen Händen stehenden und in ihr Schicksal ergebenen Landser waren wie Krausinger ausgehungert, geschwächt und viele von ihnen auch verwundet. In den Augen stand ihnen die blanke Angst geschrieben, erschossen zu werden. Zugleich hofften sie, daß der Krieg für sie zu Ende sein würde und waren froh, überlebt zu haben.

Krausinger verfluchte die Tatsache, daß er nach seinem langen Marsch zu guter letzt doch noch in russische Gefangenschaft geraten war.

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Kapitel III

Kassel, Mai 1995. Von Michael hatte ich erfahren, worin das wirkliche Geheimnis von Waldheide bestand. Es gab dort ein außerirdisches Flug-objekt. Unfaßbar und kaum zu glauben! Als ich in seiner Wohnung das Tagebuch gelesen, was heißt gelesen, im Schnelldurchgang überflogen hatte, war ich, weil ich das Ganze für rein esoterisch und nicht rational hielt, ehrlich gesagt sehr ungerecht zu ihm gewesen. Ich hatte gedacht: Ein Spinner. Ich war äußerst skeptisch und wollte einfach nicht glauben, was er mir erzählte und mich lesen ließ. War es aus Selbstschutz, weil mir die Dimension des Ganzen zu gewaltig erschien? Oder war es nur der unbewußte Versuch, zu vermeiden, daß ich schließlich noch selber irgendwann von Dritten als ein Spinner betrachtet werden würde?

Um meine Zweifel zu zerstreuen, gab mir Michael die Kopie des Tage-buches mit, damit ich es noch einmal in Ruhe lesen konnte. Und das tat ich dann auch, natürlich vorsichtshalber nicht in meiner, sondern in Mei-kes Wohnung. Ich schüttelte beim erneuten, nun sehr sorgfältigen Lesen vor Überraschung immer wieder den Kopf. Dann dachte ich lange über das Gelesene nach. Es mußte etwas dran sein an diesem Tagebuch, denn Michael behauptete ja auch, mit eigenen Augen diese Scheibe gesehen zu haben. Weshalb sollte er mich belügen? Was hätte er davon? Nun verstand ich auch die Aktivitäten von Quader und seinen Leuten, die offensichtlich darauf gerichtet waren, diese Angelegenheit unbedingt geheimzuhalten.

Ich wollte aber nicht lediglich glauben, sondern ich wollte wissen. Und dazu müßte ich das, was hinter dem Geheimnis von Waldheide steckte, mit eigenen Augen sehen und mit eigenen Händen anfassen können. Auch darüber wollte ich mit Michael sprechen. Und das geschah schon am Abend des folgenden Tages. Ich war wieder zu ihm nach Baunatal gefahren, und zwar auf Umwegen. Ich wollte unbedingt vermeiden, daß ich in meinem Gefolge unbeabsichtigt Quaders Leute zu ihm führte, die auch ihn suchten.

"Na, was hältst du nun von dem Tagebuch, nachdem du es noch einmal in Ruhe gelesen hast? Bist du immer noch so skeptisch?" empfing mich Michael.

"Also ehrlich gesagt, wirklich glauben kann ich das nur, wenn ich es mit eigenen Augen gesehen habe."

Michael starrte mich irritiert an. "Mit eigenen Augen sehen? Wie stellst du dir denn das vor? Ich bin froh, daß ich dort unbeschadet rausgekom-men bin! Und du hast mir doch auch selbst erzählt, daß du, als du vor

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kurzem in Waldheide gewesen bist, im Wald schwerbewaffnete Russen gesehen hast. Und außerdem: Die haben das dort so gesichert, daß du nicht nach unten gelangen kannst, wenn dir keiner von innen öffnet. -Und das wird niemand für dich tun. Glaub mir das."

"Ja, ja, das glaube ich dir schon. Aber ich muß das einfach selbst sehen, versteh doch nur! - Und Fotos brauche ich natürlich auch, wenn ich eine große Story für eine Zeitschrift mache und vielleicht sogar einen Fernsehbericht."

"Die Medien?" Michael betrachtete mich, als hätte ich etwas ganz Unmögliches geäußert. "Schlag dir das besser aus dem Kopf. Wir sollten froh sein, daß uns Quaders Leute noch nicht erwischt haben. Du weißt ja jetzt, wie brisant das ist, was die vorhaben. Schließlich bin ich nicht ohne Grund untergetaucht, als ich dort ausgestiegen bin."

Irgendwie hatte er recht, fand ich. Aber zugleich reizte es mich sehr, das Unglaubliche selbst zu sehen. "Na gut, du hast vielleicht recht. Stellen wir das erst mal zurück. Vielleicht kannst du mir ja noch ein paar Fragen beantworten, die ich nach der Lektüre des Tagebuches habe. Du hast doch sicher auch gelesen, daß da von Lebensverlängerungskapseln die Rede ist."

"Ja, ... stimmt." "Du hattest mir den Krausinger als Mittvierziger beschrieben, mein

Senior tat das in seinem Brief übrigens auch. Aber hast du in der Akte gelesen, wann der geboren sein soll?"

"Nein, darauf habe ich ehrlich gesagt, nicht geachtet." "Na dann halt dich mal fest: 1903!" "1903?" Michael schien nachzurechnen. Er blickte mich ungläubig an.

"Dann wäre der ja, als ich ihn 1992 das letzte mal gesehen habe, bereits 89 Jahre alt gewesen. Ein alter Mann! Das kann doch nicht... Nein, nein, niemals! - Ach, meinst du, der hat..., der hat diese Kapseln, von denen in dem Tagebuch die Rede ist, an sich gebracht?"

"Ja, anders kann es doch nicht sein." "Also das würde natürlich alles erklären" meinte Michael nachdenklich

und starrte eine ganze Weile wortlos vor sich hin. Er mußte offensichtlich diese Information erst einmal verarbeiten und ich konnte mir vorstellen, daß er im Moment das Gesicht dieses Mannes vor seinem inneren Auge sah, eines Mannes, der doppelt so alt war, als er immer von ihm geglaubt hatte.

"Irgendwie unwirklich das Ganze, nicht?" Ich wurde mir wieder des Phantastischen bewußt, worüber wir uns unterhielten, das aber offen-sichtlich reale Hintergründe besaß.

Ich hatte die Stille gestört und Michael wieder in die Realität zurückge-

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rufen. Er nickte: "Wenn ich das alles nicht selbst gesehen hätte und mei-netwegen du mir das lediglich erzählt hättest, ich würde, ehrlich gesagt, genauso zweifeln, wie du."

Warenthin, März 1977. General Keter wußte, daß sein 65. Geburtstag im Jahre 1978 wegen seiner möglichen Versetzung in den Ruhestand ein großes Problem mit sich bringen könnte. Was sollte dann mit Krausinger werden? Bisher hatte er das Geheimnis von dessen wahrer Identität weit-gehend bewahrt. Es gab kaum Mitwisser. Die Legende, daß Krausinger einst ein Waffenforscher der Wehrmacht gewesen sei, kannten einige Ein-geweihte und glaubten sie auch. Die meisten Mitarbeiter wußten selbst davon nichts, sie hielten ihn sicher für einen Mann, der schon aufgrund seines scheinbaren Alters erst zu DDR-Zeiten Forscher geworden war. Wie würde aber sein möglicher Nachfolger reagieren? Und wenn die Weltöffentlichkeit auf irgend eine Weise erführe, daß im MfS lange Jahre ein seit 1945 gesuchter hoher SS-Offizier tätig war, der an Nazi-"Wunder-waffen" mitgewirkt hatte, dann wäre doch der Teufel los! Er selbst hatte diesen Mann dem "Großen Bruder" und den Westalliierten vorenthalten. Das könnte zu schweren Vorwürfen gegen die Regierung der DDR und gegen das MfS und damit zu sehr unangenehmen Konsequenzen für ihn führen. Zwar wäre er dann bereits im Ruhestand, aber gerade das mochte seinem Minister möglicherweise ein Grund sein, ihn als Bauernopfer hinter schwedische Gardinen zu schicken. Was sollte er tun?

Er hatte über die Jahre zu Krausinger ein besonderes Verhältnis ent-wickelt. War es die Faszination, eine Größe der Naturwissenschaften am Tisch zu haben? Es bestand, so meinte er, keinesfalls das Verhältnis eines Mächtigen, der er ja war, gegenüber einem Ohnmächtigen, der Krausinger in seiner Quasi-Gefangenschaft immer bleiben mußte. Es war auch nicht unbedingt das Verhältnis eines Vorgesetzten gegenüber seinem Untergebenen. Seit seine Frau 1970 verstorben war, hatte er, der er kinderlos war, zunehmend seine freie Zeit mit Krausinger verbracht. So hatte sich, wie er meinte, ein eher freundschaftliches Verhältnis seinerseits entwickelt, wenn Krausinger auch nach wie vor eine gewisse Distanziertheit nicht ablegte, was ihn ärgerte. Eines war aber klar: Es mußte etwas geschehen und zwar noch bevor er in den Ruhestand treten würde.

Im Moment war der Professor jedenfalls ein großer Aktivposten in der WVA bei der Entwicklung von Waffen und Observationstechnik, die im Inland, für den Einsatz an der unsichtbaren Front in der BRD, sowie für den geheimen Waffenexport in das Ausland benötigt wurden. Und Krau-singers theoretische Arbeiten zur Raketentechnik, welche dieser mehr hobbymäßig betrieb, waren auch nicht ohne.

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Keter hatte immer auch den Ehrgeiz gehabt, seine Forscher an Groß-waffen und Fluggeräte anzusetzen. Und das auch noch zu Zeiten, als durch das COMECON längst festgelegt worden war, daß im Zuge der Arbeitsteilung zwischen den Mitgliedsländern die UdSSR allein für Großwaffen und Flugzeuge verantwortlich sein sollte. Allerdings hatte sich gezeigt, daß die Russen nicht "nein" sagten und gern die Hand aufhielten, wenn ihnen diese Gebiete betreffende Forschungsergebnisse überlassen wurden.

Er war kein großer Freund der Russen. Das konnte ihm wahrhaftig kei-ner verübeln nach den bitteren Erfahrungen, die er in den Dreißiger Jah-ren während seiner Emigration in der Sowjetunion machen mußte, weil er Offizier im Stab des bei Stalin in Ungnade gefallenen Marschalls Tuch-atschewski gewesen war. Er zeigte das selbstverständlich nie offen. Was ihn aber ärgerte, das war die Tatsache, daß er nicht verhindern konnte, daß die Forschungsresultate seiner WVA nach Moskau weitergereicht wurden. Das geschah weiter oben, im Ministerium und nannte sich "Bündnisleistungen". Auf diese Weise fanden sicher auch eine Reihe von Erfindungen Krausingers Eingang in die sowjetische Raketentechnologie. Wenn in Baikonur eine Rakete startete, so war darin oft auch, davon war er überzeugt, der Schöpfergeist Krausingers geronnen. Er hielt es für einen Treppenwitz der Geschichte, daß Krausinger, dem es erspart geblieben war, zu den Russen zu müssen, um ihnen bei der Atombombe und bei anderen Projekten zu helfen, ihnen zuarbeitete, ohne es zu ahnen. Sicher war es auch besser so. Vielleicht würde sich dieses Wissen sonst negativ auf sein Engagement und seine Kreativität auswirken?

Das war allerdings ein gewaltiger Irrtum. Krausinger war es durchaus klar, daß seine Forschungsergebnisse nicht in Keters Schreibtisch verfau-len würden. Und er rechnete auch damit, daß die Russen Zugriff darauf haben würden, schließlich baute man in der DDR keine Raketen. Was ihn bei seiner Vermutung über den Weg seiner Forschungsresultate allerdings nicht wenig ärgerte, das war der Gedanke daran, daß seine For-schungsergebnisse irgendwelchen im Vergleich mit ihm zweit- oder dritt-rangigen Wissenschaftlern zugeschrieben wurden - und Russen noch dazu.

Er war schon ehrgeizig, nach wie vor, das gestand er sich ein. Dieser Ehrgeiz war aber auch das einzige große Gefühl, das er sich leistete, unter den besonderen Bedingungen unter denen er lebte. Forscherische Betätigung war für ihn auch zu einer erotischen Ersatzhandlung geworden und forscherischer Erfolg zu einer Art geistigem Orgasmus. Er berauschte sich an seinen Erfolgen. Leider fehlte der letzte Kick. Die Öffentlichkeit, die Medien, die ihn als Erfinder feierten, Interviews, viel-

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leicht gar der Nobelpreis? Er schwor es seinem Ego: Wenn er seinen Ter-min gehabt haben würde, dann würde er aller Welt seine Verdienste ver-künden.

Krausinger dachte seinerseits über den General nach. Er wußte, daß er seine Ziele niemals völlig allein würde erreichen können. Freilich hatte er nicht vor, an der Macht, die ihm sein ferner Termin bringen würde, irgend jemanden wirklich zu beteiligen. Aber er würde auf Erfüllungsgehilfen nicht verzichten können. Und er brauchte auch charismatische Persön-lichkeiten, welche Teilverantwortung übernehmen konnten. Das mußten Menschen sein, die selbst bereits eine gewisse Macht und Einfluß auf andere besaßen, denn ihm kam im Moment keines dieser Attribute zu. Keter schien ihm - auch mangels Auswahlmöglichkeiten - der geeignete Mann zu sein, der auch kraft Amtes die benötigten Hiwis stellen konnte. Er brauchte also General Keter. Da sein nächstes Zwischenziel darin bestand, an den Ort des Geschehens Waldheide zu gelangen, und zwar ganz offiziell, mußte er Keter wohl oder übel irgendwann einmal in sein Geheimnis einweihen.

Gut, er hätte sicher auch fliehen und sich in der Nähe von Waldheide aufhalten können. Mit diesem Gedanken hatte er bereits gespielt. Aber dagegen sprachen, so meinte er, mehrere Gründe: Er kannte sich "da draußen" nach all den Jahren der Isolation nicht mehr aus. Er hatte kei-nerlei Kontakte und Anlaufpunkte. Er konnte im Ernstfall nicht einmal mehr in den Westen verschwinden, weil es ja inzwischen in Berlin die Mauer und entlang der gesamten Westgrenze ausgebaute Stacheldraht-und Minengürtel gab. Sie würden ihn jagen und wenn sie ihn dann haben würden wäre ihm Gefängnis sicher, vielleicht sogar die Übergabe an die Russen und der Weg nach Sibirien.

Schließlich brauchte er die erwähnten Hilfswilligen. Und das mußten möglichst Leute sein, die er kannte, die er selbst über Jahre beobachtet hatte. Und dies ging nirgendwo besser als bei Keter. - Nein, mit einer Flucht war also nichts zu gewinnen, eher alles zu verlieren. Er hatte in Keters Versuchsanstalt günstige Bedingungen. In jeder Hinsicht. Er brauchte sich nicht um sein leibliches Wohl zu kümmern. Dafür war gesorgt. Er würde die langen Jahre des Wartens auf seinen Termin bequem und ohne die beständige Furcht, entdeckt zu werden, verbringen. Er konnte langfristig seine zukünftigen Helfer aussuchen.

Jahrelang hatte er die Psyche des Generals studiert, dessen Motive, Ziele und Probleme kennengelernt. Er glaubte, daß es ihm gelingen werde, Keter zu seinem Helfer zu machen. Mehrmals wollte er ihn ein-weihen in einen Teil seines Geheimnisses, das er nun bereits dreißig Jahre lang gewahrt hatte. Aber jedesmal ließ er die Gelegenheiten vorüberge-

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hen und redete sich ein, er habe ja noch so viel Zeit. Dann allerdings kam mit Keters Geburtstag im April 1977 der Tag, an dem ihm schlagartig bewußt wurde, daß "sein General", der ihm in fernen Tagen als Anführer seiner Helfer zur Seite stehen sollte, bereits den Vierundsechzigsten feier-te. Keter war über die Jahre ihres gemeinsamen Wirkens, deren es nun auch bereits über zwanzig waren, verdammt schnell älter geworden, meinte er im Stillen. Während er selbst jetzt kalendarisch ein gut Siebzig-jähriger, biologisch aber erst Anfang Vierzig war, war Keter kalendarisch, wie biologisch bereits Vierundsechzig. Keter war zwar ein äußerst agiler, körperlich wie geistig in guter Form befindlicher Mann, aber er brauchte ihn zu seinem Termin in fast zwanzig Jahren in eben dieser Form und nicht als Tattergreis. Es wurde ihm klar, daß es nun an der Zeit für ihn war, Keter gegenüber Schicksal zu spielen. Schweren Herzens entschied er sich dafür, sich von einer seiner Kapseln zu trennen. Es mußte sein.

An einem der nächsten gemeinsamen Abende, in diesem Falle turnus-mäßig in seinen Räumen, nutzte er Keters Gang zur Toilette, um eine Kapsel in dem Wasser aufzulösen, das Keter immer zwischen dem Wodka zu sich nahm. Und der stürzte auch gleich, nachdem er sich wieder gesetzt hatte, die siebenten 100-Gramm Wodka in sich hinein und trank anschließend das Glas leer, in dem Krausinger das Lebenselixier aufgelöst hatte.

Das mit Spannung beobachtend und ein Gefühl der Erleichterung ver-spürend, war sich Krausinger nun sicher, daß Keter auch in den kommen-den Jahren einigermaßen fit bleiben und zur Stelle sein würde, wenn er ihn eines Tages brauchte. Einweihen könnte er ihn ja später. Das hat noch Zeit, dachte er. Köstlich amüsierte er sich bei dem Gedanken, daß es wohl einmalig in der Weltgeschichte sein dürfte, daß ein Gefangener aus freien Stücken und heimlich dafür sorgte, daß sein Kerkermeister möglichst lange lebte.

In den folgenden Jahren beobachtete er voller Zufriedenheit, daß Keter nicht weiter alterte, gerade so wie er es beabsichtigt hatte.

Warenthin, Mai 1979. Der nach Keter mächtigste Mann der WVA, sein Stellvertreter für politische Arbeit, Oberstleutnant Mel Hermann Quader, saß in seinem Dienstzimmer und las einen Bericht. Er war Ende Vierzig, etwa 1,70 m groß, damit kleiner als Keter und auch nicht ganz so kräftig gebaut, wie dieser. Er hatte bereits völlig graue Haare. Seine wäßrigen blaugrauen Augen huschten stets mißtrauisch umher. Ein nervöses Schul-terzucken konnte er nicht ablegen.

Von den Genossen, mit denen er sich duzte, wurde er Hermann genannt. Keiner konnte mit dem Namen Mel etwas anfangen. Es klang

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ihnen nicht wie ein Name. Quader aber war sein Leben lang stolz darauf gewesen, daß seine Eltern ihn so genannt hatten. Mel stand für die Anfangsbuchstaben von Marx, Engels und Lenin. Eine Zeitlang, als Jugendlicher in der UdSSR, hatte er sich Mels genannt, um die Abkürzung für Stalin auch in seinem Namen tragen zu können. Aber als er in die DDR gekommen war, hatte er darauf verzichtet.

Über dem Schreibtisch, im Rücken Quaders, hing ein großes Bild des Generalsekretärs des ZK der SED. Es war ein Druck, mit einer Glasschei-be davor und silberfarben gerahmt. In der rechten Ecke des Raumes stan-den in einem Fahnenständer, die rote Fahne der Arbeiterklasse, die blaue Fahne der Freien Deutschen Jugend, die Fahne der DDR mit dem Emblem aus Hammer, Zirkel und Ährenkranz sowie natürlich ein Banner des MfS und eine sowjetische Staatsflagge. An der rechten Wand befan-den sich halbhohe Anrichten, auf denen neben Büsten von Marx, Engels und Lenin Stapel von Broschüren, Materialien zum Parteilehrjahr, lagen. In der Mitte darüber hing das Bild des Mannes, der für die WVA der höchste Vorgesetzte war. Es war ein Bild des Ministers für Staatssicherheit.

Vor dem Schreibtisch stand ein größerer Beratungstisch mit Stühlen zu beiden Seiten. An der linken Wand befanden sich Schränke und Vitrinen in denen Urkunden und Pokale zu sehen waren. Dort standen auch Rei-hen von Büchern in Kunstledereinbänden, braune und blaue, die "Klassi-ker" des Marxismus-Leninismus, Marx, Engels und Lenin hatten viel geschrieben.

Quader zuckte nervös mit den Schultern. Was sollte nun wieder diese Störung? Das Telefon auf seinem Schreibtisch schrillte erneut. Er langte nach dem Hörer: "Quaderr!?" Er rollte das R ganz enorm. Daran hatten sich die meisten Mitarbeiter bereits gewöhnt. Worüber sich aber viele immer wieder hinter seinem Rücken lustig machten, das war sein schlechtes Deutsch, von dem man nicht wußte, ob er es absichtlich bei-behielt, um sich interessant zu machen oder ob er einfach Probleme hatte, es richtig zu erlernen. Immerhin wußten einige, daß er bereits seit fünfundzwanzig Jahren in der DDR lebte. Zeit genug also, um vernünftig seine Muttersprache zu erlernen.

Es war in der Tat so gewesen, daß er in den ersten Jahren Mühe hatte, richtig Deutsch zu lernen. Sogar seiner russischen Frau Ludmilla war es leichter gefallen. Quader vergaß die Pronomen oder sparte sie sich meist. Dann und wann vernachlässigte er auch den richtigen Satzbau. Ganz schlimm aber wurde es immer dann, wenn er erregt war. Dann zuckte er nicht mehr nur mit den Schultern, was ja bei ihm bereits permanent geschah, sondern sprach auch ein Kauderwelsch, daß manchem seiner Zuhörer die Ohren weh taten.

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Wortlos hörte Quader zu. Sein Gesichtsausdruck war ernst. Er sagte kurz "danke" und legte auf. Dann schaute er still vor sich hin. Vor seinem geistigen Auge sah er General Keter, seinen Vorgesetzten. Langsam begann sich seine Miene zu verändern. Immer mehr setzte sich ein tri-umphierendes Grinsen durch. Er zog den Apparat zu sich heran und wählte, mit den Schultern zuckend, die Nummer Keters. Am anderen Ende der Leitung wurde abgehoben. "Ich ganz drringend muß sprrechen dich, Frritz ... Nein, die Zeit hat es sich keine. Ich ja sagte berreits, ganz drringend." Er legte auf, griff nach seiner Uniformmütze, die er auf dem Schreibtisch abgelegt hatte, und verließ den Raum.

Keter hatte nach Quaders Anruf nachdenklich vor sich hin geschaut. Er fragte sich, was es wohl sei, daß Quader es so dringend machte. Quader war ein Mann, mit dem er aus der Sache heraus eng zusammenarbeiten mußte, den er aber nicht unbedingt mochte. Er war sein Politstellvertreter und damit zugleich der Parteisekretär der WVA. Als "Parteiarbeiter", wie er sich nannte, nahm er sich nach Keters Meinung sehr wichtig und glaubte, seine Nase überall und in alles hineinstecken zu müssen. Jetzt, ohnehin von seiner augenblicklichen Arbeit abgelenkt und Quaders Kommen erwartend, dachte er über ihn nach. Als Quaders Eltern während des Krieges als kommunistische Kundschafter mit dem Partisanennamen Qua-der hinter den deutschen Linien eingesetzt waren, wuchs der Sohn in einem Kinderheim der Kommunistischen Internationale bei Moskau auf. In den Jahren 1948-1953 diente er als Politkommissar in der Sowjetarmee. Dann folgte er seinen Eltern, die nun ihren richtigen Namen Schubertson wieder trugen, in die DDR. Er aber behielt den Namen Quader. Vielleicht, weil er sich daran gewöhnt hatte. Mel Hermann wurde Mitarbeiter im MfS. 1978 war er dann als Oberstleutnant in die WVA gekommen. Alle hier nannten ihn offen oder hinter seinem Rücken, nur den "Kommissar". Quader hatte geweint, als Stalin 1953 gestorben war. Und er hatte den Fehler gemacht, diese Tatsache Keter gegenüber bei einer feucht-fröhli-chen Wodkarunde zu erwähnen. Seitdem war ihm Quader suspekt. Keter dachte bei sich: Der Kerl mußte den Gulag nicht kennenlernen. Er, Keter, hatte jedenfalls bei Stalins Tod ein Gefühl der Befreiung und Genugtuung verspürt. Er hatte Quader schon nach wenigen Wochen im Verdacht gehabt, Offizier des KGB zu sein. Zwar wurden ohnehin alle wichtigen Ergebnisse der WVA über die Zentrale in Berlin an das KGB weitergege-ben. Aber Quader schien den kürzeren und direkteren Weg zu wählen. Er hatte zwar keine Beweise dafür, aber ein untrügliches Gefühl. Leider mußte er mit dieser falschen Schlange, die man ihm da in das Nest gesetzt hatte, zusammenarbeiten. Einen Politstellvertreter bekam ein Kommandeur immer zugeordnet, er konnte ihn sich nicht aussuchen.

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Es klopfte. Bevor Keter reagieren konnte, trat der Kommissar ein. Er wartete nie auf eine Aufforderung zum Eintreten. Er machte es immer so. Er war praktisch der Erste Stellvertreter Keters, noch vor dem Stabschef und ebenfalls vor dem Forschungsleiter. Seine Bedeutung ergab sich kraft Amtes, weil die Partei nun einmal führte. Und das zeigte er auch stets und überall.

Keter erhob sich und bot Quader einen Sessel an. Es war zu spät. Qua-der saß bereits. Auch Keter nahm in einem der breiten und bequemen Sessel Platz, die um den Couchtisch standen. "Was kann ich für dich tun, Hermann? Was ist denn so dringend? Soll ich wieder ein Referat im Par-teilehrjahr halten? - Es muß ja etwas außerordentlich Wichtiges sein." Keter hatte ziemlich ironisch gesprochen. Nun lachte er und zwinkerte Quader zu, um dem Spott die Schärfe zu nehmen.

"Ich durrchaus errnstes Problem muß besprrechen mit dirr, Frritz", erwi-derte Quader völlig humorlos und ohne auf Keters Fragen zu antworten.

Die Humorlosen hielt Keter schon immer für die Gefährlichsten. Jetzt sah er Quader gespielt erwartungsvoll an. Was sollte es schon sein? Wahrscheinlich hatte wieder einmal einer von der Wachmannschaft im Kartoffelkeller eine der Küchenfrauen gevögelt. Alles schon dagewesen. Und Quader machte doch bei jeder kleinen Verfehlung gleich einen Wind mit seinem kurzen Hemd, als sei der Weltsozialismus gefährdet, in einem moralischen Sumpf unterzugehen. War doch klar daß die Jungs von der Wache mit ihren zwanzig oder fünfundzwanzig Jahren voll im Saft standen. Und wenn die jungen Frauen in der Küche Gefallen daran fanden - warum nicht? War doch dann von beiden Seiten gewollt und tat niemandem weh. Keter hielt alle diese Dinge für unwesentlich genug, als daß man deswegen Aussprachen führen mußte.

"Frritz, du Geheimnisse hast vorr Parrtei!" Achtung! Das kam ja aus einer ganz anderen Ecke, als er geglaubt

hatte. Blitzartig wurde Keter hellhörig und alle seine Sinne schärften sich. Hatte er das richtig verstanden? Seine Miene wurde gespannt. Seine Augen verengten sich. Er saß nun nicht mehr da, wie ein ganz Großer, dem Verfehlungen der Kleinen da unten zur Bewertung und Entscheidung vorgetragen werden. Nein, hier ging es jetzt offensichtlich um einen Angriff gegen ihn selbst! Er war im Visier und hatte sich zu rechtfertigen. Darauf lief es doch wohl hinaus. Außer dem Kommissar würde sich so etwas niemand in seinem Machtbereich wagen. "Wie meinst du das, Hermann?" fragte er mit vor Wut unterdrückter Stimme.

"So wie ich gesagt das. Du mich schon rrichtig verrstanden. Du nicht genigend ehrrlich gegeniberr von Parrtei."

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"Das ist ja wohl nun die Höhe! Das hat mir noch keiner gesagt. Ich soll die Partei belügen? So eine Unverschämtheit! Das verbitte ich mir. Selbst von dir, brauche ich mir das nicht anzuhören!"

Quader ließ sich nicht beirren. Er zuckte zwar nervös mit den Schultern. Aber er hatte sich in der Gewalt: "Frritz, aufrregen du dirr iberrhaupt nicht brrauchst. Ich nurr sage: Doktorr Letticherr."

Keter zuckte zusammen. "Dr. Letticher?? - Unser Professor? Ja, was soll denn mit dem sein?"

"Du mirr gesagt, als ich kam in WVA, dieserr Mann sich sei alterr Waf-fenexperrte von Wehrrmacht. Und nach Krrieg err warr sich als ein Phisi-kerr an Humboldt-Univerrsität..."

"Ja. Richtig. Und?" "Ich nicht konnt..., wie sagt man, ... bestätigt finden das." "Ja, was denn? Du traust mir nicht? Du schnüffelst hinter meinem

Rücken herum? Das ist ja ... das ist ja ... eine Frechheit ohnegleichen sowas!" Keter wurde vor Erregung immer lauter. Von diesem quasirussi-schen Stalinisten mußte er sich nun bespitzeln lassen. Verdammt noch mal. Immerhin war er hier der Kommandeur und nicht Quader.

"Parrtei sich niemals nicht schniffelt, Towarrischtsch Keterr." Quader wurde jetzt ganz offiziell. "Parrtei alles muß wissen. Parrtei fihrrt!"

Quaders überheblicher und selbstgefälliger Ton, brachte Keter erst recht in Rage. "Paß mal auf, mein lieber Hermann. Jetzt will ich dir mal etwas sagen! Du identifizierst dich für meinen Geschmack etwas zu sehr mit der Partei!"

Quader riß die Augen auf. Hatte er richtig gehört? Was hatte Keter gesagt? Saß da etwa ein der Partei Abtrünniger, ein Renegat?

Keter redete weiter: "Du tust doch geradezu so, als seist du die Partei! Du versteigst dich, Hermann. Komm herunter von deiner Wolke der Herrlichkeit. Du bist genau nur ein kleiner Teil der Partei wie ich es bin. Nicht mehr! Wenn du also irgend etwas, was du glaubst wissen zu müs-sen, nicht weißt, dann heißt das noch lange nicht, daß es die Partei nicht weiß!"

"Was sagen du da? Ich doch wohl hierr immerrhin das Parrteisekrretär. Ich verrtreten hierr Parrteifihrrung. Vergiß nicht das!" Quaders Erregung war deutlich zu bemerken. Er zuckte verstärkt mit den Schultern und zwinkerte extrem nervös mit den Augen.

Keter hatte sich bereits an Quaders Kauderwelsch gewöhnt. Er verstand ihn, jedenfalls akustisch. "Hermann, nun tu mal nicht so unbedarft. Du kennst doch ganz genau unser ehernes Prinzip, das jeder, ich sage jeder Genosse unseres Ministeriums genau so viel wissen darf, wie er zur Erfül-lung seiner Aufgaben benötigt. Das heißt im Klartext: Wenn du über

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irgend etwas bei uns in der Dienststelle nicht Bescheid weißt, dann ist das sicher etwas, worüber du nichts zu wissen brauchst!"

Quader klappte der Unterkiefer herunter. Er war total perplex. Und das ihm, dem Parteisekretär. Er raffte sich zu einer Erwiderung auf: "Wieso? Ich habe doch hierr auch Verrantworrtung firr Kaderr. Mindest so sehrr wie du!"

Keter wollte einen Streit vermeiden. Quader würde sich vielleicht ganz oben beim Sekretär der Parteiorganisation des Ministeriums beschweren. Das aber könnte fatale Folgen haben, weil schlafende Hunde geweckt werden würden. So dämpfte er seinen aggressiven Ton und erwiderte: "Hermann, es hat wirklich keinen Sinn, daß wir uns streiten. Der Kom-mandeur und sein Politstellvertreter müssen zusammenarbeiten. Deshalb bitte ich dich, sage mir, was ist dein Problem?"

Quader ließ sich beruhigen, weil er Keters Einlenken als Sieg für sich verbuchte: "Dieserr Letticherr mirr kam nicht geheuer vorr. Ich nicht weiß warrum. Aberr warr es nu mal. Ist sich ja auch nicht Genosse in Parrtei! Habe nachprrifen lassen in Berrlin, ob dieserr Mann warr sich wirrklich Waffenexperrte von Wehrrmacht."

Keter hörte mit erneut wachsender Wut, was Quader von sich gab. Seine Zornesader schwoll an. Sein Kopf wurde knallrot vor innerer Erre-gung.

Quader sprach weiter. Er bemerkte nicht, was in Keter vor sich ging. Er war zu sehr mit sich und seinem kleinen Triumph über seinen Vorgesetz-ten beschäftigt. "Und stell dirr vorr, Frritz: Wurrde findig man. Solcher Mensch Doktorr Letticherr, es geben iberrhaupt nicht! Das wohl sehrr merrkwirrdig - oderr? Und du nicht wissen solltest? Das ich dirr nicht glauben. Das heißen, du etwas hast vorr Parrt ... äh, ich meinen, vorr mirr, deine Parrteisekrretärr, verheimlicht!"

"Nur gut für dich, daß du dich im letzten Moment korrigiert hast", polterte Keter los, als Quader geendet hatte. "Du als Parteisekretär weißt nicht über die ganze Angelegenheit Letticher Bescheid. Das stimmt. Die Partei aber schon! Unser Minister gehört ja, wie du weißt, dem Politbüro an. Und es war der Minister persönlich, der mir vor Jahren befohlen hat, niemanden weiter einzuweihen. - Das gilt noch heute!"

Keter machte eine Pause, um seine Worte auf Quader wirken zu lassen und setzte dann, die Stimme senkend und dennoch mit Nachdruck spre-chend, fort: "Rühr also bitte nicht wieder an diesem Thema. Es könnte dir sonst auf die Füße fallen!" Keter fand im Stillen, daß er nicht einmal wirk-lich gelogen hatte. Er hatte nur von einem Befehl des Ministers gespro-chen. Daß das nicht der gegenwärtige Spitzenmann des Ministeriums war, wußte Quader ja nicht. Er setzte hinzu: "Und auch das KGB solltest du nicht deswegen ansprechen."

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"Die KGB? Wie du kommen auf...?" "Ja, das KGB. Du brauchst mir nichts vorzumachen Hermann." Quader

fühlte sich wie ein ertappter Sünder, war aber nicht bereit, diese Verbin-dung zuzugeben. "Also Frritz! Jetzt du irrren aberr gewal..."

Keter unterbrach ihn: "Wie auch immer. Ich sage dir. Der Minister hat damals auch den Vorsitzenden des 'Komitet' informiert. Wenn jetzt einer von einer unteren Ebene, wie du, käme und über die Sache mit dem KGB spräche, könnte derjenige ganz schön unangenehm auffallen. Und er könnte zwischen die Zahnräder geraten. Meine Erfahrungen in der Lubl-janka und aus dem Gulag wünsche ich dir jedenfalls nicht!"

Quader waren die aufgezeigten möglichen gefährlichen Folgen für seine Neugier sehr unangenehm. Deshalb beeilte er sich, Keter zu beruhigen: "Ich sprrech mit niemand darriberr, Frritz. Wenn dies Sach so weit oben ist angebunden ... Du kannst verrlassen dich auf mirr. Weiß ja nun, daß Parrtei inforrmierrt, wie sich gehörrt das. Das einzig Sorrge warr. Verstehst?"

Du Blödmann, dachte Keter. Laut sagte er: "Sprich das Thema bitte nicht wieder an. Wenn ich dich in dieser Sache brauchen sollte, werde ich mir vom Genossen Minister die Zustimmung holen, dich einweihen zu dürfen."

Quader schien ihm zu glauben. Angriff erfolgreich abgeschlagen, dachte Keter. Als der Kommissar den Raum verlassen hatte, setzte er sich auf-atmend hinter seinen Schreibtisch.

Aktennotiz 24.08.1986 K. hat mir eine geradezu phantastische Mitteilung gemacht. Ich hatte richtig vermutet, daß er mir die ganzen Jahre etwas sehr Wichtiges aus seiner Vergangenheit verheimlicht hat. Die von uns in seiner Biographie festgestellte und uns nicht erklärbare Lücke nach seinem Verschwinden aus der Heeresversuchsanstalt Pee-nemünde, welche er mit einer angeblichen Leitungsfunktion im Rüstungsamt der SS begründete, ist nun endgültig geklärt. K. forschte in einem geheimen unterirdischen Waffenzentrum. Während dieser Zeit ist er an Technologie gelangt, die man als solche des 21. Jahrhunderts bezeichnen kann. Wir müssen alles unternehmen, um uns diese Technologie für den Sieg des Sozialismus in der ganzen Welt dienstbar zu machen. Keter

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Warenthin, Juli 1986. Es war im Juli 1986 als Keter ein Gespräch mit Krausinger auf das Thema Weltraumforschung brachte: "Sagen Sie, ist das nicht großartig, was da vor sich geht bei der Erforschung des Weltrau-mes?"

"Ja, was soll denn daran so großartig sein? - Es geht doch nicht recht voran, habe ich den Eindruck."

"Wieso nicht recht voran, Professor?" Keter konnte nicht verstehen, daß Krausinger so ablehnend reagierte und sich nicht genau so zu begeistern vermochte, wie er selbst. "Bedenken Sie doch einmal was in den letzten gut drei Jahrzehnten auf diesem Gebiet alles geschehen ist! 1957 der erste Sputnik, 1959 die Mondlandung von "Luna 2", 1969 der erste Mensch auf dem Erdtrabanten, 1975 das erste gemeinsame Weltraumpro-gramm von UdSSR und USA, bei dem zwei Raumschiffe im Orbit anein-andergekoppelt wurden. In den siebziger Jahren beispielsweise die Mars-sonden. Dann laufend neue Rekorde bei der Erdumrundung und beim Daueraufenthalt im All und nun in den achtziger Jahren wiederverwend-bare Raumfähren! - Das ist doch eine ungeheure Entwicklung! Warum müssen Sie denn nur immer so negativ reagieren, Professor? - Ich vermu-te fast, Sie gönnen Ihren Forscherkollegen, deren Arbeiten dies möglich gemacht haben, den Erfolg nicht."

"Also General, das ist doch wohl weit unter Ihrem Niveau! Das ist doch derart unqualifiziert, was Sie da reden. Ich hätte mehr Seriosität Ihrer Aus-sagen erwartet." Krausinger fuhr sich mit den gespreizten Fingern der rechten Hand verärgert durch sein Haar und rückte mit der Linken nervös seine Brille zurecht.

"Na, Professor, seien Sie doch um Gottes Willen nur nicht immer so humorlos! Das haben Sie doch gar nicht nötig. Sie gehören zu den geni-alsten Forschern, die ich kenne. Unter normalen Bedingungen wären Sie nobelpreisverdächtig." Keter war bemüht, aus dem Fettnäpfchen, in das er getreten war, herauszukommen.

Ja, unter normalen Bedingungen, wenn er Grundlagenforschung betrei-ben könnte und an einem richtigen Universitätsinstitut tätig wäre, dann wäre er sicher ein Anwärter auf einen Nobelpreis. Selbstgefällig lächelte Krausinger bei dem Gedanken an mögliche hohe Ehrung vor sich hin.

Keter redete weiter: "Sagen Sie doch bitte einmal konkret, Professor, was Sie eigentlich stört am erreichten Stand der Weltraumforschung. Ich möchte Ihre mir unerklärliche Skepsis einfach zu verstehen versuchen."

"Wissen Sie, General, alles was die da machen, Amerikaner wie Rus-sen, basiert doch nach wie vor auf der alten Raketentechnik mit den kon-ventionellen Antriebsarten, das heißt Flüssig- oder Festbrennstoffe. Selbst diese neuartigen Raumfähren der Amis sind nicht in der Lage, selbständig

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in den Weltraum zu fliegen. Sie können gerade mal von selbst landen, das aber auch nur, wenn eine Landebahn vorhanden ist. Dabei gibt es doch schon lange ganz andere ..." Krausinger brach ab. Fast hätte er zuviel gesagt. Er hatte sich, wie er bei sich meinte, dummerweise hinreißen lassen.

Und tatsächlich. Keter, hellhörig geworden, hakte sofort ein: "Was gibt es denn bereits für andere ...? Meinen Sie moderne Antriebssysteme?" Sein Gesicht zeigte den Ausdruck freudiger Erregung: "Professor, haben Sie etwa eine Lösung ausgebrütet? Das wäre ja ein Sprung in der Ent-wicklung der Weltraumtechnologie um Meilen nach vorn!" Er begeisterte sich: "Und, Professor, das wäre zeitlich ganz hervorragend abgepaßt von Ihnen. Wir könnten dem XI. Parteitag der SED ein Geschenk unseres Institutes auf den Tisch legen!"

"General, bleiben Sie mal auf dem Teppich. Sie haben mich mißver-standen. Wie kommen Sie denn nur auf solche Ideen? Weltraumtechno-logie? Sie wissen doch ganz genau, daß wir uns mit so etwas überhaupt nicht beschäftigen."

"Ja aber, Sie haben doch gesagt...?" "Entschuldigen Sie, General. Ich habe überhaupt nichts Derartiges

gesagt. Da haben Sie etwas gehört, was Sie gerne hören wollten. Ich glaube Projektion nennen das die Psychologen. Da die Raketentechnik aber in keiner Weise unser Gegenstand ist, brauchen Sie sich nun wirklich keine Illusionen zu machen."

Keter ließ nicht locker: "Mein lieber Professor, Sie wissen, daß ich Sie sehr schätze, alle Hochachtung vor Ihnen habe und Sie zu recht für einen genialen Forscher halte. Sehen Sie, von daher ist mein Gedanke von eben doch nur ein Lob für Ihre bisherigen Leistungen. - Und, im Übrigen glaube ich schon, daß Sie das vorhin nicht von ungefähr gesagt haben."

Ja, läßt der denn überhaupt nicht davon ab zu insistieren, dachte Krau-singer. Laut meinte er: "Danke für die Blumen, General. Aber glauben Sie mir bitte, es war ein Mißverständnis Ihrerseits. Ich meinte lediglich, daß doch schon andere Möglichkeiten hätten gefunden werden müssen, als die herkömmlichen Raketenantriebe. Nach all den Jahren! Vielleicht, ja vielleicht habe ich mich auch falsch ausgedrückt. Entschuldigen Sie bitte."

Keter vermied es, Krausinger weiter zu bedrängen. Aber er wähnte sich sicher, daß es kein Mißverständnis gewesen war. An diesem Tage gingen sie auseinander, ohne noch einmal auf das Thema zurückgekommen zu sein. In Keters Erinnerung verblaßte die Szene jedoch nicht völlig. Irgend-wann, bei Gelegenheit, wollte er darauf zurückkommen.

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Am gleichen Abend jedoch dachte Krausinger an das Gespräch zurück. Beinahe hätte er sich verraten. Auf der anderen Seite wiederum wurde es nun langsam Zeit, Keter endlich einzuweihen. Immerhin schrieb man bereits das Jahr 1986 und in weniger als zehn Jahren würden die Gefan-genen ihren Dauerschlaf beenden. - Er mußte zum Termin in Waldheide sein!

Er hatte über die vielen Jahre seines Aufenthaltes bei Keter durchaus mitbekommen, daß die Mühlen des MfS auch nicht immer schnell mahlten. Und immerhin war es ja notwendig, Waldheide in Besitz zu nehmen. Solch ein Umzug und die notwendigen Bauarbeiten würden Zeit kosten. Je mehr er sich all das vor Augen führte, was noch zu erledigen war vor dem Termin, um so mehr wurde er sich klar darüber, daß etwas geschehen mußte, und zwar bald.

Einige Wochen später hielt er Zeit und Gelegenheit für reif. Es war Ende August. Der General hatte sich wieder auf eine Partie Schach angesagt. Auf dem Schachtisch waren die Figuren bereits aufgestellt, als Keter eintraf.

Krausinger öffnete die erste Flasche "Rosenthaler Kadarka", um den Wein atmen zu lassen. Dann setzte er sich Keter gegenüber.

Der eröffnete das Spiel mit einem Königsgambit. Sie hatten einige Züge gemacht, als Keter in einem Anflug von Resignation feststellte: "Ich sehe doch schon wieder worauf das hinausläuft, Professor."

"Wieso?" Krausinger zog die Augenbrauen hoch, strich sich mit der rechten Hand durch sein Stoppelhaar und tat so, als wundere er sich über Keters Worte.

"Ich kann doch machen, was ich will, Professor. Egal wie ich eröffne, Sie sitzen mir doch sofort bedrohlich im Nacken. Es ist ja sehr nobel von Ihnen, daß Sie mir immer die weißen Steine lassen. Aber ich kann einfach nichts daraus machen. Sie sind einfach zu stark!"

"Aber General. Ich bitte Sie! Sie sind doch ein ganz passabler Schach-spieler. Was wollen Sie denn nur? Ich sehe auf dem Brett keinerlei Gefährdung Ihrer Figuren. Und außerdem: Ein Spiel ist immer erst zu Ende und Sieger und Verlierer stehen erst fest, wenn es wirklich gespielt wurde. Wir sind doch aber im Moment noch bei der Eröffnung und nicht im Endspiel."

"Sie haben aber schon wieder erkannt, wohin ich will. Sie werden mir wieder alle meine Pläne durchkreuzen. Sie werden mich vorführen, wie einen Anfänger. Ich verliere ja nur noch gegen Sie!" Jetzt klang Keter bereits richtiggehend verärgert.

Krausinger versuchte Keters Ärger zu zerstreuen: "So ist es aber doch nun wirklich nicht, General. Sie gewinnen doch auch hin und wieder und wie oft zwingen Sie mir ein Unentschieden ab!"

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"Daß ich mal gewinne, Professor, das ist ja wohl eher selten. Früher, ja früher, da habe ich viel öfter gewonnen als Sie. Haben Sie mich etwa zu Anfang öfter gewinnen lassen, als Sie bei uns anfingen? - Jetzt geht mir ein Licht auf! Sie sind ja ein Fuchs! Je sicherer Sie sich bei uns fühlten, in all den Jahren, um so härter spielten Sie gegen mich!"

Krausinger lächelte still in sich hinein. Völlig unrecht hatte der General nicht. "Ich habe viel von Ihnen gelernt, General. - Lassen Sie uns weiter-spielen. Ihr Stand ist doch gut. Ich sehe wirklich noch keinerlei Möglich-keiten für mich, Sie in Schwierigkeiten zu bringen."

"Professor, ich denke, Sie haben nur immer so getan, als seien Sie ein eher durchschnittlicher Spieler. Genau so, wie Sie ja auch andere Geheimnisse vor mir haben." Der letzte Satz war unüberhörbar vorwurfs-voll ausgesprochen worden.

Krausinger zuckte zusammen. Gefahr im Verzug. Er strich sich nervös über den Kopf und überlegte blitzschnell, was das nun heißen sollte. Dann fragte er: "Wie meinen Sie das, General? Was sollte ich für Geheimnisse vor Ihnen haben? Sie wissen doch nun wirklich alles, aber auch alles über mich. Sie haben doch damals, bevor Sie mich haben festnehmen lassen, wirklich jede Einzelheit meines bis dahin gelebten Lebens durch Ihre Spione Seite für Seite zu einem umfangreichen Dossier zusammentragen lassen. Und seit 1955 bin ich doch nun bereits unter ständiger Beobachtung hier bei Ihnen tätig. Ich weiß ja selbst bald weniger über meine eigene Person, als Sie. Wo könnte ich denn da noch ein Geheimnis vor Ihnen hüten?"

"In Ihrem Kopf, Professor, in Ihrem Kopf. Da können meine Spione, wie Sie sie nennen, leider nicht hineinschauen. Und ich auch nicht. Und wenn Sie mich so fragen, welches Geheimnis ich meine, dann will ich es Ihnen gern sagen. Sie erinnern sich doch sicher an unser Gespräch vor einigen Wochen, über die Fortschritte der Raumfahrt? Sie hatten damals eine gewisse Andeutung gemacht, wahrscheinlich ein unbedachtes Wort. Als ich mich interessiert zeigte, haben Sie von einem Mißverständnis gesprochen und zwar so nachdrücklich, daß dies allein mir schon recht merkwürdig vorkam. Allerdings hatte ich mich dann beinahe damit abge-funden. Aber ich bin sicher, Professor, Sie wissen etwas über modernste Raketenantriebe, etwas, das Sie bisher verheimlicht haben. Sie haben wahrscheinlich selbst eine Revolution in der Raketentechnologie vorbe-reitet. - Ich könnte mir denken, daß Sie ganz nahe dran sind, aber eben noch nicht völlig fertig. Und deshalb wollen Sie noch nicht darüber spre-chen. - Stimmt doch, hm? Ich habe doch recht, oder?"

Krausinger war zwar überrascht, aber Keters Aufforderung zu reden, kam ihm auch recht, denn er hatte ja ohnehin vor, ihn einzuweihen.

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"Also Sie sind wirklich ein außergewöhnlich guter Beobachter und Zuhö-rer, General, das muß ich schon sagen. - Sie haben recht. Ich habe Ihnen tatsächlich etwas verheimlicht. Ich wollte damals sagen, daß es schon seit langem Besseres gibt."

"Sehen Sie", dröhnte Keter zufrieden,"... ich habe es doch gewußt, Pro-fessor! Ich habe es gewußt. Sie haben etwas in der Schreibtischschubla-de. Es muß etwas Sensationelles sein. Sagen Sie doch endlich, was es ist!"

"Keine Angst. Ich werde Ihre Neugier befriedigen. Was ich Ihnen jetzt anvertraue, muß aber unbedingt unter uns bleiben." Krausinger sah sich im Zimmer um, blickte zur Decke, strich sich nervös durchs Haar und rückte seine Brille zurecht. Dann beugte er sich über den Tisch, Keter entgegen.

Was hat der denn für Vorstellungen? Ich weiß ja nicht genau, was es ist, wovon er sprechen wird. Aber möglicherweise muß ich andere Genossen einweihen. Da kann ich ihm doch nicht versprechen, daß das absolut niemand erfährt. In Keters Kopf arbeitete es. Der Professor würde aber nicht so geheimnisvoll tun, wenn er nicht wirklich etwas ganz Bedeutsa-mes zu sagen hätte. Und wenn er Diskretion zugesagt bekommen wollte, dann sollte er diese Zusage erst einmal erhalten. Was dann später wirklich geschehen würde war etwas ganz anderes. "Gut, Professor. Wenn die Sache so diskret behandelt werden muß, dann sage ich Ihnen zu, daß ich mich an diesen Ihren Wunsch halten werde. - Sind Sie zufrieden?"

"Wenn Sie erst wissen, worum es geht, werden Sie verstehen, daß meine Forderung mehr als gerechtfertigt ist." Krausinger hatte zuletzt die Stimme gesenkt und beugte sich wieder über den Schachtisch, so daß die Entfernung zu Keter geringer wurde. Keter kam ebenfalls mit dem Ober-körper näher.

Nun schaute Krausinger noch einmal nervös im Raum umher und sagte: "Sind Sie auch sicher, daß hier keine Abhörgeräte installiert sind?"

Keter sah Krausinger verdutzt an. Dann faßte er sich. "Wie kommen Sie denn auf die Idee, Professor? - Keine Angst. So etwas gibt es hier bei mir nicht."

"Gut. Also, Sie wollten damals vor drei Jahrzehnten, als Sie mich hatten festnehmen lassen, wissen, wohin ich gegangen war, als ich 1943 die Raketenversuchsanstalt Peenemünde verlassen hatte. Ich hatte Ihnen erklärt, ich wäre in das Rüstungsamt der SS versetzt worden, wo ich für die Raketenforschung verantwortlich gewesen sei."

"Sehen Sie, sehen Sie ich habe damals schon daran gezweifelt, an dem, was Sie mir sagten, weil ich mir nicht vorstellen konnte, daß die Nazis eine solche Forscherkapazität mit Schreibtischarbeit zuschütten würden. Aber Ihre Erklärungen waren doch ziemlich überzeugend. Und wir hatten keinerlei gegenteilige Hinweise."

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Krausinger sah sich wieder um, strich sich zum wiederholten Mal durch das Haar, senkte seine Stimme noch etwas mehr und sagte: "Ja, also in Wahrheit - in Wahrheit war ich in einem Geheimobjekt der SS verant-wortlich für die Entwicklung von möglicherweise kriegsentscheidenden Waffen."

Keter starrte Krausinger an. "Wunderwaffen?" flüsterte er. Krausinger nickte: "Wenn Sie so wollen. Ja." "Ach, das ist ja außerordentlich interessant." Keter richtete sich auf, um

sich gleich darauf wieder vorzubeugen, begierig darauf, Näheres zu erfahren.

Krausinger machte erneut eine bedeutungsvolle Pause und fragte dann: "Haben Sie schon einmal ..., haben Sie schon einmal von der 'Dienststelle Forst' gehört?"

"Was sagten Sie? Forst? Dienststelle Forst?" fragte Keter verständnislos. "Was soll denn das gewesen sein?"

"Kein Wunder, daß Sie das nicht wissen. Das war auch eines der best-gehüteten Geheimnisse im Dritten Reich! - Also, die 'Dienststelle Forst' genannte Institution stellte das geheime, meiner festen Überzeugung nach mindestens ebenbürtige Pendant zur Raketenforschung in Pee-nemünde dar."

Keter sah Krausinger gespannt an, obwohl er dessen Worte doch für etwas übertrieben hielt.

"Wir haben", setzte Krausinger fort, "... dort eine Reihe von Waffen ent-wickelt, die aller Wahrscheinlichkeit nach im Kriegsverlauf eine deutliche Wende hervorgerufen hätten, wenn genügend Zeit gewesen wäre, sie einsatzbereit zu machen und serienmäßig herzustellen. Aber das Kriegs-ende kam ihrer Erprobung und einer Serienproduktion zuvor."

"Na zum Glück aber auch!" rief Keter aus, denn er hielt es für nicht aus-denkbar, wenn es den Nazis gelungen wäre, diese Waffen herzustellen. Dann dachte er über das Gehörte weiter nach. Das hatte er allerdings nicht erwartet: Wunderwaffen. Aber ob so etwas heutzutage noch unter der Rubrik "Wunder" registriert werden könnte, schien ihm dann doch höchst zweifelhaft. Mit Sicherheit handelte es sich um verstaubte Laden-hüter, die vielleicht noch geeignet waren, für eine Ausstellung im Museum für Militärgeschichte in Potsdam. Aber immerhin. Wenn der Professor nun noch sagen würde, wo diese Dinge versteckt waren, dann könnte er dem Museum ein Geschenk machen. Nun überschüttete er Krausinger mit Fragen: "Was waren denn das für Waffen? Gibt es da noch funktions-fähige Prototypen? Wo ist denn das alles gewesen? Sagen Sie doch end-lich, wo Sie damals gearbeitet haben. Gibt es dort noch etwas zu holen und könnte man damit noch etwas anfangen?"

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"Das meiste davon ist natürlich inzwischen veraltet." räumte Krausinger ein.

Also doch, wie ich mir gedacht habe, registrierte Keter bei sich. "Einiges habe ich in den letzten Jahrzehnten bereits in meine Arbeit hier

in der WVA mit eingebracht. Zum Beispiel das Infrarotzielsuchgerät, wie Sie ja wissen. - Aber es gibt da etwas, das auch heute noch nicht überholt ist. Das mußte ich immer wieder feststellen, wenn ich Berichte über die Weltraumtechnologie gelesen, gehört oder im Fernsehen gesehen habe."

"Dann hat das also doch etwas mit der Weltraumtechnologie zu tun, wie ich vermutet hatte. Dann lag ich also doch nicht so falsch, Professor! - Aber was soll es denn nun sein? Etwas, das es bereits am Ende des Krie-ges gegeben haben soll und was immer noch besser sein soll, als alles, was es heute auf dem Gebiet gibt? Das kann ich mir einfach nicht vor-stellen!"

"Doch doch, General, glauben Sie es mir nur. Das, was wir dort hatten, das war die Technologie des nächsten Jahrtausends auf dem Gebiete des Flugwesens."

"War das etwa ein Senkrechtstarter? - Das gibt es doch aber bereits. Vielleicht ein unsichtbares Flugzeug? - Der Tarnkappenbomber, der ist doch aber auch schon da. Was war es dann aber? Sagen Sie doch end-lich, Professor!"

"General, es handelte sich um ein flügelloses Fluggerät, eine fliegende Scheibe, mit unvorstellbaren Flugeigenschaften." Krausinger sah Keter erwartungsvoll an. Er wollte dessen Überraschung sehen.

Und in der Tat. Keter war mehr als überrascht und er war sofort begei-stert: "Waaas? Das haben Sie entwickelt? Das ist ja unglaublich! Meinen Sie damit so etwas, was gelegentlich als sogenanntes UFO dargestellt wird? - Ach, sagen Sie, halten Sie es für möglich, daß das einfach nur Naziflugzeuge sind, die da in aller Welt immer mal wieder als UFOs beobachtet werden?"

"Nein, nein, es ist eher umgekehrt. Wir selbst haben es nie geschafft, so etwas wirklich zu bauen. Es gab zwar Konstruktionspläne für etwas ähn-lich aussehendes, aber damit absolut nicht Vergleichbares. Aber wir hat-ten ein UFO, ein diskusförmiges, in unseren Besitz bekommen. Wir woll-ten es nachbauen, in Serie natürlich, kamen aber nicht mehr dazu."

"Sie, Professor? Und hier in Deutschland ein UFO? Wie sind Sie denn daran gekommen?"

"Also General, Sie werden es nicht glauben, aber die stürzten eines nachts auf unserem Gelände ab."

Keter schaute Krausinger ergriffen an: "Die stürzten ab, sagen Sie. Ja, war diese Scheibe etwa bemannt?"

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"Die Scheibe war erstaunlicherweise relativ leicht notgelandet. Wir konnten die Besatzung, zwei Personen, gefangennehmen. Wir dachten erst, es wären Engländer, aber dann haben wir gemerkt, daß sie zwar humanoid waren, aber nicht von dieser Erde sein konnten."

"Sind die erschossen worden?" "Nein nein, wenn ich Ihnen sage, daß sie sogar noch leben, werden Sie

es mir nicht glauben." Krausinger hätte sich im nächsten Moment bereits die Zunge abbeißen können, aber zu spät, es war nun heraus.

Keter starrte ihn irritiert an und fragte nach einer Pause: "Wo sind die denn? Leben die hier bei uns in der DDR?" In derselben Sekunde bereits hielt er diese Frage für unsinnig, fragte sich aber gleich danach selbst: Wieso eigentlich nicht, wenn sich der Krausinger solange versteckt hat... "Die leben noch, sagen Sie? Wo sind die denn - im Westen? Hat Wernher von Braun die mit nach Amerika genommen?"

"Nein, nein, damit hatte der verehrte Kollege und Kamerad von Braun nichts zu tun. Die leben hier in einem Keller. Und bevor Sie mich fragen wo und wovon: Die schlafen und brauchen praktisch keine Nahrung zu sich zu nehmen." So jetzt war es endgültig ausgesprochen. Hatte ja nun keinen Zweck mehr, hinter den Berg zu halten nach dem Versprecher vorhin im Eifer des Gefechts.

Keter glaubte seinen Ohren nicht trauen zu dürfen. Durch seinen Kopf schwirrte: Unsinn! Hochinteressant! Unglaublich! Aber die recht unge-wöhnlichen, wenn nicht gar unglaublich zu nennenden Informationen über die außerirdischen Piloten verdrängte Keter zugunsten der sehr pragmatischen Nutzensorientierung: Was könnte man daraus machen?

"Also Professor", sagte er, nachdem er sich etwas gefaßt hatte, ".... also wenn Sie mir das nicht erzählt hätten, Sie, ein mir seit Jahrzehnten bekannter, äußerst seriöser und ernst zunehmender Mensch, eine Koryphäe als Naturwissenschaftler noch dazu, und wenn ich nicht bereits gewisse Berichte aus Moskau über ähnliche Beobachtungen gelesen hätte, ich würde, also ich würde es nicht glauben!"

Krausinger nickte verstehend. Keter redete weiter. Er sah möglichen Ruhm und Ehre auf seine WVA

und sich selbst zukommen: "Das ist ja unvorstellbar. Technologie des nächsten Jahrtausends! Und wo ist das alles versteckt? Sagen Sie, wo war Ihr geheimes Objekt, Dienststelle Wald, oder wie Sie das nannten, etwa hier im Osten?" Begierig auf Krausingers Antwort war Keter nahe daran, diesen zu rütteln, damit er ja schneller sprach. Er mußte sich sehr zurückhalten.

"Dienststelle Forst, General, Dienststelle Forst, hieß das damals. Aber ich kann Sie beruhigen. Das Objekt lag in Mecklenburg, also in Ihrem

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Zugriffsbereich. Und als ich mir dieses Gelände, Jahre nachdem ich es verlassen hatte, wieder ansah, da schien noch alles beinahe so, wie es damals zuletzt gewesen war. Ich stellte fest, daß dort eine Hundeschule der Grenzpolizei untergebracht war. Das war beruhigend für mich. Die wußten doch überhaupt nicht, über was für einen Boden sie ihre Hunde laufen ließen." Krausinger erinnerte sich daran, wie er Anfang der fünfzi-ger Jahre seine Schätze unter der alten Buche geborgen hatte und wie mühsam und gefährlich das für ihn gewesen war, aber Keter unterbrach ihn: "Wo ist das denn nun konkret?"

"Sie werden es nicht glauben, aber das ist gar nicht so weit von hier. Ich schätze, in einer Stunde wäre man mit dem Auto dort. Sagt Ihnen der Name Greventorf etwas?"

"Greventorf, Greventorf, Moment mal, liegt das nicht in der Nähe von Schwerin?"

"Also eher in der Nähe von Wismar. Aber nördlich von Schwerin. Das stimmt schon. Das Objekt befand sich in Greventorf-Waldheide. Dazu gehörte ein ziemlich großes Versuchsgelände, das als Panzer- und Infan-terieschießplatz getarnt worden war. Wir konnten auf diese Weise Neu-gierige ziemlich fernhalten."

"Ja aber, wenn da eine Hundeschule ist - meinen Sie nicht, daß Ihre Scheibe schon gefunden wurde?" Keter hielt das zwar für ziemlich unwahrscheinlich, weil er dann sicher irgendwann einmal davon gehört hätte, aber ein Rest von Zweifel veranlaßten ihn zu dieser Frage. "Meinen Sie wirklich, daß die noch da sein könnte? Vielleicht haben ja doch andere Leute von Ihrem damaligen Verein sie bereits heimlich weggeschafft oder vielleicht die Amerikaner, die sollen ja angeblich auch so etwas haben?"

"Auf keinen Fall, General. Unser Objekt war teilweise mehrere Etagen in die Tiefe gebaut worden. In der untersten Etage hatten wir die Scheibe eingelagert. Als wir das Gelände geräumt haben, habe ich persönlich die Sprengung aller Zugänge veranlaßt und auch mit eigenen Augen beob-achtet. Da konnte keiner mehr ran."

Keter nickte und schaute in Gedanken versunken vor sich hin. Krausinger sah die Notwendigkeit, ihm einen weiteren Anstoß zu geben:

"Wenn ich die Möglichkeit hätte, wieder an die Scheibe heranzukommen, dann wäre es mir sicher möglich, das Geheimnis ihres Antriebs zu lüften. Wir könnten dann bald solche Scheiben serienreif machen. Spätestens aber, wenn die Piloten 1995 wieder munter sind und mit uns zusammenarbeiten werden."

"Die werden 1995 wieder munter? Woher wissen Sie das? Und wieso sind Sie so überzeugt davon, daß uns Ihre Gefangenen helfen werden?"

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"Sie haben mir damals gesagt, daß sie erst 1995 wieder munter sein werden. Und sie werden mir helfen, weil ich ihnen das Leben gerettet habe - ist doch wohl klar!"

Keter mußte erst verarbeiten, was ihm Krausinger offenbart hatte. Das war ja geradezu phantastisch. Das würde bedeuten, daß zukünftig die neuesten wissenschaftlich-technischen Entwicklungen aus Warenthin kommen würden und nicht mehr aus Silicon Valley. Das Weltwissen würde vermutlich eine Revolutionierung erfahren, die von der WVA, von seiner WVA, ausgehen würde! Er rekelte seinen massigen Körper zufrie-den und voll innerer Begeisterung im Sessel. Er hörte vor seinem inneren Ohr bereits die Klänge der "Internationale". Sein Gesicht hatte sich, während er sich die Konsequenzen ausmalte, vor Erregung gerötet. Viel-leicht würde ihm nun bald der langersehnte Sitz im Zentralkomitee zukommen - wenigstens als Kandidat?

Er war sich klar darüber, daß es nicht leicht sein würde, das Objekt in Greventorf zu übernehmen, wieder aufzubauen und die gesamte Ver-suchsanstalt nach dort zu verlagern. Es bestand die Gefahr, daß bei einer so umfangreichen Aktion möglicherweise westliche Geheimdienste auf-merksam werden würden. Außerdem konnte es geschehen, daß der Mann an der Spitze seines Ministeriums, der nicht gerade sein Freund war, seine Nase in die Angelegenheit würde stecken wollen. Schließlich war das alles nicht für einen Apfel und ein Ei zu haben. Das würde teuer werden, sehr teuer. Geld war aber nicht mehr so leicht zu bekommen, wie in früheren Jahren. Nach einigem Überlegen kam er zu dem Schluß: Ich muß den Generalsekretär darüber in Kenntnis setzen und seine Unter-stützung gewinnen. Und an Krausinger gewandt sagte er: "Mein lieber Professor... ich muß zur Realisierung unseres Projektes die Parteiführung informieren."

Krausinger riß die Augen auf. "Ja, sind Sie denn jetzt ganz und gar ver-rückt? Hätte ich Sie doch nur nicht informiert! Das kann man doch nicht an die große Glocke hängen! - Diese Sache ist so brisant, daß ich sie nicht dadurch gefährden kann, daß Himmel und Volk davon erfahren." Krausinger sah wütend auf die Schachfiguren, machte einen Zug und sagte triumphierend: "Schach und Matt!"

Keter, den das vor wenigen Minuten noch erregt hätte, da er ja geahnt hatte, daß Krausinger auf dem Schachbrett eine solche Gemeinheit vor-bereitete, reagierte darauf nun überhaupt nicht. Er war aufgestanden und schaute auf Krausinger herab: "Seien Sie doch friedlich, Professor. Ich weiß überhaupt nicht, weshalb Sie sich so echauffieren. Wir brauchen finanzielle Mittel, Baukapazitäten und vieles mehr. Glauben Sie, ich könnte das einfach so nebenbei aus dem Ärmel zaubern? - Sie sind Wis-

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senschaftler. Sie interessieren sich nicht für die ganz alltäglichen Dinge. Die müssen aber alle geregelt sein, die tägliche Kleinarbeit muß gemacht werden, damit Sie in Ruhe forschen können. Da halten Ihnen andere den Rücken frei. Könnte es sein, daß Sie aufgrund dieser Tatsache im Elfen-beinturm leben, der Realität sehr weit entrückt?"

Krausinger wollte etwas erwidern, aber Keter ließ ihn nicht zu Worte kommen. "Und bei diesem Projekt geht es nun um noch viel wichtigere Dinge, als bei der üblichen Forschungsarbeit und ihrer materiell-techni-schen Absicherung. Hier geht es um größere Dimensionen. Und wer macht das wieder? Keter. Und Sie können forschen. Und Sie werden nach Waldheide an das Ziel Ihrer Wünsche kommen. Alles, weil ich es bewerkstelligen werde. Daß ich mir aber dabei als General, als Genosse, als sozialistischer Staatsbürger keine Privataktion leisten kann, das dürfte Ihnen doch klar gewesen sein, als Sie mich informiert haben." Keter machte eine kurze Pause. Es arbeitete in ihm. Er sah Krausinger an, der nichts erwiderte und sagte dann, heftig ausatmend: "Die Sache ist mir ein paar Nummern zu groß. Ich ... ich benötige ganz einfach die Rücken-deckung von ganz oben!"

Krausinger schüttelte wortlos den Kopf. "Jetzt brauche ich aber unbedingt einen Wodka. Möchten Sie einen

Kognak, Professor?" Keter hatte sich wieder gefaßt und versuchte nun die unangenehme Situation zu überspielen.

Krausinger schüttelte energisch den Kopf: "Nein, danke." "Na gut", sagte Keter, wohl wissend, daß nicht alles gut war, setzte sich

wieder, goß sich ein Glas voll Wodka, stürzte ihn in seine Kehle und sagte dann fast bittend: "Sie müssen mich doch auch verstehen, Professor!"

Krausinger, der inzwischen begriffen hatte, daß es sich offensichtlich nicht anders machen ließ, unternahm nun einen taktischen Rückzug. Allein hätte er es ja ohnehin nie geschafft. Das war ihm klar. "General, entschuldigen Sie, daß ich mich so echauffiert habe. Ich bin sicher, daß Sie das alles sehr umsichtig durchführen werden."

Keter war erleichtert. "Keine Ursache, Professor. Ich glaube, es wird bald eine Gelegenheit geben, alles in die Wege zu leiten. "Er dachte an seine ihm vorab bekannt gewordene Auszeichnung mit einem hohen Orden, die üblicherweise der Generalsekretär in seiner Funktion als Staatsratsvorsitzender vornehmen würde.

Wenige Tage danach hatte sich Keter bereits sachkundig gemacht, wie es um das Objekt bestellt war. Es war nach dem Kriege niemals wieder völlig aufgebaut worden. Von den Gebäuden hatte man nur das ehemalige Stabsgebäude instandgesetzt. Die anderen waren als Ruinen belassen

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worden, wegen der Kosten. Man hatte dafür mehrere Baracken aus Holz errichtet. Außerdem gab es dort Hundezwinger, Garagen und ein Heiz-haus. Die Grenztruppen nutzten das Objekt immer noch als Hundeschule und das einstige Versuchsgelände war ein Schießplatz geworden.

Krausinger atmete auf, als ihn Keter darüber informierte. Das Gebäude, in dem sich der gesprengte Zugang zur untersten Tiefetage befand, war noch immer eine Ruine. Nun konnte er relativ sicher sein, daß das Geheimnis bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht entdeckt worden war. Keter rief ihn zurück in die Realität: "Um möglichst wenige Personen ein-zubeziehen, wird Greventorf lediglich als Außenstelle geführt. Ich denke, daß dort höchstens fünfzig Personen arbeiten sollten.

Krausinger nickte: "Das reicht. - Und was haben Sie an baulichen Maß-nahmen vorgesehen?"

"Wir werden das bestehende Gebäude und die Baracken übernehmen. Das Gebäude mit dem Zugang zu den Tiefetagen werden wir wieder auf-bauen lassen. Wir müssen uns überraschen lassen, wieviel Ihre Spreng-kommandos Fünfundvierzig von den Tiefetagen übriggelassen haben. Hoffentlich ist nicht alles zerstört, sonst wären ja unsere gesamten Bemühungen umsonst. Das wäre allerdings äußerst fatal!"

Krausinger beeilte sich, Keter zu beruhigen: "Nein, nein, keine Sorge, General. Ich habe damals dafür gesorgt, daß wirklich nur die Zugänge zerstört wurden."

"Gut. Also einschließlich der dritten Tiefetage können wir alles vom Baupionierbataillon unseres Wachregiments freimachen lassen. Was die vierte Tiefetage betrifft, da müßte dann das eingeweihte Personal, mögli-cherweise von Hand, alles wieder herrichten."

Krausinger nickte zufrieden und zustimmend: "Ja, richtig. Je weniger Leute von der Existenz einer vierten Tiefetage wissen, um so besser."

Ostberlin, 06. Oktober 1986. Am Vorabend des 07. Oktober 1986, des 37. Jahrestages der DDR, wurde Keter im Gebäude des Staatsrates mit dem Karl-Marx-Orden ausgezeichnet.

Er kannte den Vorsitzenden, der die Auszeichnung vornahm, bereits seit Jahrzehnten. Er hatte ihn kennengelernt, als dieser noch der Parteiju-gendorganisation vorstand. Anläßlich einer Freiwilligenwerbeaktion unter Jugendlichen für die Aufstellung von Bereitschaften der Kasernierten Volkspolizei hatten sie gemeinsam 1955 in einer Kommission gearbeitet. Später hatte Keter immer wieder einmal Kontakt mit ihm gehabt. Das ergab sich aus der Tatsache, daß der Vorsitzende im Zentralkomitee Sekretär für Sicherheit geworden war. In den letzten zehn Jahren begeg-nete er ihm immer dann, wenn er einen hohen Orden bekam. Und als er

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zum Generalleutnant befördert wurde, da war es ebenfalls der Vorsitzen-de, dem er gegenüberstand. Der hatte ihn immer wiedererkannt. So war es auch diesmal. In der Reihe der Auszuzeichnenden bei ihm angekom-men, heftete ihm der Vorsitzende den Orden an die Brust.

"Ich diene der Deutschen Demokratischen Republik, Genosse Vorsit-zender des Staatsrates", dankte Keter, der militärische Haltung eingenom-men hatte.

Der Vorsitzende ging nicht sofort weiter zum Nächsten. Der praktisch gleichaltrige Vorsitzende meinte: "Naa, Genosse General, Sie werden aber auch nicht älter. Es ist ja erstaunlich, wie Sie sich gehalten haben."

"Danke für das Kompliment, Genosse Vorsitzender des Staatsrates", antwortete Keter und setzte hinzu: "Ich bitte Sie, Genosse Generalsekretär", er sprach ihn nun bewußt als Parteichef an, "... um ein persönliches Gespräch. Es würden mir zehn Minuten ausreichen." Er hatte absichtlich bei der benötigten Zeit tiefgestapelt, um einer Ausrede, von wegen übervoller Terminplan, zuvorzukommen.

"Für Sie, Genosse Keter, nehme ich mir die Zeit. Lassen Sie sich vom Sekretär des Nationalen Verteidigungsrates einen Termin geben." Mit die-sen Worten nickte der Vorsitzende ihm noch einmal zu und ging weiter zu seinem Nachbarn, einem General der Volkspolizei.

Am nächsten Morgen holte sich Keter fernmündlich einen Termin beim Nationalen Verteidigungsrat. Danach lehnte er sich in seiner eleganten Ledercouch im Wohnzimmer seiner Berliner Wohnung am Leninplatz zurück. Der Termin sollte am nächsten Mittwoch um 10.00 Uhr sein. Jetzt war es Freitag.

Er beschloß, solange in Berlin zu bleiben. Dann angelte er sich den Telefonapparat vom Tisch und wählte nach Warenthin durch. Er infor-mierte den Stabschef darüber, daß er erst in einigen Tagen zurückkom-men werde. Er ließ sich weiterverbinden zu Krausinger. Den Professor informierte er über den Stand der Dinge. Von dem wiederum erfuhr er, daß die neue Panzerabwehrlenkrakete, die er konstruiert hatte, ihre Erprobung auf dem Schießplatz erfolgreich bestanden hatte. Er gratulierte Krausinger: "Wenn ich Sie nicht hätte, Professor. Ich weiß wirklich nicht, wie weit wir dann vielleicht erst wären."

Zu seiner Überraschung war diesmal von Krausingers sprichwörtlicher Bescheidenheit kein Deut zu spüren. Der verwies nicht auf die Leistung des Forschungskollektivs, was er sonst immer getan hatte, wenn er gelobt worden war, sondern er sagte: "Das sind doch Kleinigkeiten für mich,

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General. Sie wissen doch, daß ich mir noch Projekte ganz anderer Größenordnung vorgenommen habe."

Keter, der feine Sensoren für bestimmte kommunikative Signale, für die Ausstrahlungen der Psyche von Menschen und für zwischenmenschliche Beziehungen besaß, registrierte dies als ein weiteres Zeichen in der Reihe sich häufender Signale für eine Persönlichkeitsveränderung Krausingers, die ihm Sorgen zu bereiten begann. Krausinger machte seit einiger Zeit, ob nun bewußt oder unbewußt, immer deutlicher, daß er der geniale Könner und auch der Mann sei, der die Dinge im Griff habe und die Wege bestimme. Das verstimmte ihn. Immerhin war er der General und Krausinger sein Untergebener, ja sogar sein Gefangener! Aber er hatte das unangenehme Gefühl, daß Krausinger mit Hilfe des neuesten Geheimprojektes das Machtverhältnis zwischen ihnen beiden umkehren wollte. Er konnte sich zwar überhaupt nicht vorstellen, wie der das bewerkstelligen wollte, aber er mußte auf der Hut sein.

Keter beendete das Gespräch freundlich und legte auf. Sobald ich wie-der oben in Warenthin bin, muß ich klarstellen, wo der Hase langläuft, dachte er. Aber im gleichen Moment fiel ihm ein, daß ihn Krausinger ja praktisch in der Hand hatte. Der konnte ihn doch aufsitzen lassen, indem er weitere Forschungs- und Entwicklungsarbeit verweigerte. Der konnte ihn auffliegen lassen, indem er in einer Art Kamikazeaktion die Öffent-lichkeit über sich selbst, über ihn, Keter, und über das gesamte Projekt informieren würde. Schließlich könnte Krausinger möglicherweise, sobald der Zugang zu ihr freigeschaufelt war, einfach mit dieser Scheibe verschwinden.

Ein Teufelskreis, dachte er. Angst vor Bestrafung habe ich keine. Ich bin 73 Jahre alt und ich habe mein Leben gelebt, angenehm gelebt. Er sah sich in seinem Wohnzimmer um. Seine Haushälterin hatte mit seinem nicht wenigen Geld - ein Generalsgehalt stand monatlich zur Verfügung -die Wohnung, in der er selbst sich selten aufhielt, vortrefflich eingerichtet. In der Bar hatte immer, wie auch jetzt, ein französischer Kognak gestanden und seine guten dicken Havanna-Zigarren, hatte er stets in ausreichender Anzahl zur Verfügung. Schön und gut. Aber soll das alles gewesen sein? - Und das wäre es, wenn man ihn jetzt auf sein Altenteil setzen würde. Dann aber wurde er sich wieder der Tatsache bewußt, daß er ja Soldat war. Berufssoldat. Und ein solcher steht in den Stiefeln auf Posten, bis er einen neuen Befehl erhält oder tot umfällt. Er raffte sich auf. Sein Körper in der Generalsuniform streckte sich.

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Keter verbrachte die nächsten Tage damit, alte Bekannte zu besuchen. Und am darauf folgenden Montag fuhr er nach Westberlin. Er verzichtete darauf, in der Grenzübergangsstelle Friedrichstraße durch die Stasi-schleuse zu gehen. Er vermutete stets, daß Angehörige westlicher Geheimdienste, die auf dem S-Bahnhof aufmerksam beobachteten, bald wissen würden, wer durch die Schleuse gekommen war. Seine Genossen hatten seine Bedenken zwar zerstreut, aber er traute dem Frieden nicht. Deshalb stellte er sich immer, wenn er einmal nach drüben mußte, natür-lich in Zivil und mit einem falschen DDR-Paß ausgestattet, in die Schlange der Ausreisenden und wartete geduldig. So, glaubte er, würde er keinem Spion der westlichen Seite auffallen.

Der Offizier des MfS in der Uniform eines Unterleutnants der Grenz-truppen in dem kleinen Schalterhäuschen im "Palast der Tränen", wie die Grenzübergangsstelle im Volksmund hieß, musterte Keters Gesicht und verglich es mit dem Foto im Paß, den er, unsichtbar für Keter vor sich lie-gen hatte und ablichtete. Für ihn war Keter ein Rentner auf Verwandten-besuch.

Keter begab sich auf den S-Bahnsteig und benutzte die nächste S-Bahn bis zur Station "Zoologischer Garten". Dort verließ er sie und begab sich hinunter auf die Straße. Zielsicher ging er hinüber zum Kurfürstendamm und schlenderte die Straße entlang. Ab und zu sah er sich Auslagen in Schaufenstern an. Hin und wieder vergewisserte er sich, daß er auch wirklich nicht verfolgt wurde. Schließlich bog er in eine Seitenstraße ein und erreichte nach etwa zweihundert Metern eine Bank, in der er vor Jah-ren ein Konto eingerichtet hatte. Er ließ sich zu seinem Schließfach führen und öffnete es mit seinem Schlüssel, nachdem der Bankangestellte zuvor ebenfalls einen Schlüssel in eines der beiden Schlösser eingeführt hatte.

Dann war er allein. Was er hier in der Blechbox seines Schließfaches deponiert hatte, das war ein kleines Vermögen. Vor Jahren schon hatte er dafür gesorgt, daß er die Identität eines in der DDR verstorbenen west-deutschen Rentners ohne Angehörige annehmen konnte. So wurde des-sen Rente regelmäßig von der BfA auf sein Konto bei dieser Bank über-wiesen und er hatte immer über ausreichend Westgeld verfügt. Über die näheren Einzelheiten wollte er heute nicht mehr nachdenken.

Er prüfte den Inhalt seines Schließfaches. Da waren einige Bündel Gel-des, große Scheine zumeist. Da waren auch die Unterlagen zu einer Eigentumswohnung, die er zehn Jahre zuvor in Westberlin erworben hatte und da waren einige andere Dinge, die er gern in diesem Schließfach wußte. Zufrieden betrachtete er seine Reichtümer. Er entnahm einige Hunderter, schob die Blechbox wieder in das Schließfach zurück und schloß es ab.

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Dann verließ er den Tresorraum und wenig später auch die Bank. Er begab sich zurück zum Ku'damm und schlenderte gemächlich die Straße entlang. Nachdem er einige hundert Meter weit gegangen war, betrat er ein Restaurant. Er wählte sich einen Platz am Fenster zur Straße und bestellte ein Menü mit wohlklingender Beschreibung. Dazu trank er einen trockenen Chablis. Zum Nachtisch ließ er sich einen guten Kognak servieren und rauchte eine teure Zigarre. So schlemmte er an diesem Tage, was seiner Gesundheit sicher nicht zuträglich war. Indem er das dachte, kam er auf Krausinger, der damit keinerlei Probleme hatte. Es wurde ihm wieder bewußt, daß er sich mit diesem Mann in einer Schick-salsgemeinschaft befand.

Er schüttelte den Kopf. Wenn ihm einer seiner Genossen zu der Zeit, als er in die Sowjetunion emigriert war, gesagt hätte, daß er Jahrzehnte später mit einem Altnazi gemeinsame Sache machen würde und mit diesem praktisch auf Gedeih und Verderb verbunden sein würde, er hätte ihn für total verrückt erklärt. Nun war es aber tatsächlich so weit gekommen.

Er blätterte in einer renommierten überregionalen Tageszeitung und schaute dann und wann aus dem Fenster, das rege Treiben auf dem Ku'damm beobachtend. Schließlich verließ er das Restaurant und begab sich zurück zum Bahnhof Zoo.

Am darauf folgenden Mittwoch hatte Keter das erbetene Gespräch beim Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates. Dessen Sekretär teilte ihm bei seinem Eintreffen mit, daß für ihn fünfzehn Minuten reserviert worden seien.

Keter fühlte sich unangenehm unter Zeitdruck gesetzt. Aber es kam doch anders. Es blieb nicht bei der angekündigten Viertelstunde. Er legte dem Vorsitzenden dar, daß er Informationen besitze, die darauf hinauslie-fen, daß sich in einer bislang unbekannt gebliebenen ehemaligen For-schungs- und Entwicklungsstelle des Dritten Reiches Entwicklungsergeb-nisse befänden, die bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt den Höchststand auf dem Gebiet der Waffentechnik darstellten.

Der Vorsitzende meinte, daß er sich frage, weshalb ihm der Genosse Keter, den er durchaus schätze, etwas von alten Waffen erzähle.

Keter beeilte sich zu betonen, daß es sich nicht einfach um irgendwel-che alten Waffen handele. Damit hätte er sich selbstverständlich nicht gewagt, den Vorsitzenden zu behelligen. Was dort verborgen sei, das seien die Produkte eines Genies. So wisse er, daß in dieser Forschungs-stelle gegen Ende des Krieges deutsche Spitzenwissenschaftler gearbeitet

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hätten, unter ihnen ein Mann, den man beinahe einen zweiten "Einstein" nennen könne.

Auf die Frage des Vorsitzenden, wieso er denn von diesem Manne nie etwas gehört habe, antwortete er, dieser Mann habe den Krieg nicht über-lebt. Die sowjetischen Freunde, die nach ihm gesucht hätten, seien zu dem Schluß gekommen, daß die Amerikaner ihn mitgenommen hätten nach Los Alamos, wo sie ihre Atombomben bauten. Die Amerikaner wie-derum hätten geglaubt, er sei in einem geheimen sowjetischen For-schungslager in Sibirien verschwunden und dort verstorben. Deshalb habe sich keine Seite mehr mit dem Schicksal dieses Mannes beschäftigt. Entscheidend sei ja aber nicht dieser Mann. Wichtig sei für die Republik, daß durch eine intensive Auswertung dessen, was man finden werde und eine schöpferische Umsetzung der Erkenntnisse wahrscheinlich ein Rie-sensprung nicht etwa nur auf dem Gebiet der Waffentechnik, sondern überhaupt in der Entwicklung von Wissenschaft und Technik gemacht werden könne. Und dieser für die gesamte Menschheit geltende Sprung werde in der DDR vollzogen werden. Die DDR könne mit den Erkennt-nissen ihre gesamte Volkswirtschaft modernisieren. Das würde auch Aus-wirkungen in alle gesellschaftlichen Bereiche haben, da tausendfältige Nachnutzungen im zivilen Bereich möglich seien. Die NVA und die anderen Schutz- und Sicherheitsorgane bekämen modernste Waffensysteme um den Sozialismus noch zuverlässiger vor imperialistischen Angriffen schützen zu können. Schließlich würde sich auch die Devisenlage der DDR absolut zum Besseren wenden, denn es würden nun bald eine Vielzahl von zu Spitzenpreisen exportierbarer Produkte entstehen, die auf dem Weltmarkt reißenden Absatz finden würden. So könne die alte Losung von Anfang der siebziger Jahre "Überholen, ohne einzuholen" zu guter letzt doch noch mit Leben erfüllt werden.

Der Vorsitzende hatte aufmerksam zugehört. Er zeigte sich angenehm überrascht. Die von Keter vorgetragenen Argumente fielen bei ihm auf fruchtbaren Boden. Die wirtschaftliche Lage war nicht die Beste. Das war selbst ihm, den Ministerrat und Politbürosekretäre über Vieles im Unklaren ließen, bekannt. Devisen benötigte die DDR wie der Fisch das Wasser. Und moderne Waffentechnik für die NVA? Das war nicht von der Hand zu weisen. Schließlich schien ihm sein kleines Königreich permanent vom Imperialismus bedroht zu sein. "Das und der Megachip" sagte er leise, aber für Keter dennoch hörbar und lächelte still vor sich hin. Dann fragte er Keter, was denn sein Minister dazu gesagt habe.

Keter beeilte sich zu betonen, daß es ihm ganz wichtig gewesen sei, ihn als Vorsitzenden zuerst zu informieren, weil die Dimensionen dessen, was er ihm erläutert habe, so ungeheuer groß seien. Das gehe über den

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Kompetenzrahmen des Ministers deutlich hinaus. Es seien Entscheidun-gen über sich bald auszahlende Investitionen zu treffen. Außerdem befürchte er, daß der Minister die Tragweite des Ganzen möglicherweise nicht verstehen werde. Deshalb habe er sich eingedenk der alten Bekanntschaft zwischen ihnen, aufgrund seines überaus großen Vertrau-ens zu ihm als einer überragenden Persönlichkeit sowie wegen des Respektes, den er vor seiner strategischen Denkweise und staatsmänni-schen Weitsicht habe, direkt an ihn gewandt.

Diese Worte überzeugten. Der Vorsitzende erkundigte sich, um welche Investitionen es gehe. Er zuckte zwar leicht mit den Augen, als Keter ihm die Summe nannte. Aber offensichtlich war ihm dieser Strohhalm, der ihm da gereicht wurde, zu wichtig, als daß er auf ihn aus finanziellen Erwägungen verzichten konnte, denn er gab der Angelegenheit seinen Segen.

Keter hatte innerlich gespannt auf diese positive Entscheidung gewartet und war nun enorm erleichtert.

Waldheide sollte "Sondergebiet des MfS" werden. Der Vorsitzende beauftragte den Sekretär des Nationalen Verteidigungsrates Keter zu unterstützen.

Keter bat darum, daß er seinen Minister selbst informieren dürfe. Der Minister durfte auf keinen Fall mitbekommen, daß er ihn die ganzen Jahre über niemals über Krausingers Existenz informiert hatte. Und die Gefahr, daß die ans Tageslicht kam, bestand genau dann, wenn der Minister sich erst einmal im Detail für Waldheide interessieren würde. Und das würde der, so wie er ihn kannte, garantiert tun, wenn er erst wüßte, wie wichtig dieser Ort war. Deshalb mußte er herausgehalten werden. Sein Wunsch wurde akzeptiert. Niemand sonst werde mit dem Minister darüber sprechen. Wiederum spürte Keter eine ungeheure Erleichterung. Er hatte hoch gepokert und er schien gewonnen zu haben.

Der Vorsitzende schlug zum Abschluß des Gespräches für das gesamte Projekt die Bezeichnung "Zukunft" vor, weil man sich ja so viel davon versprechen könne, wenn er den Genossen Keter richtig verstanden habe und sagte, sich die Hände dabei reibend: "Ja, das wäre es dann wohl. Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf! Wie ich es immer sage."

Keter wußte, nun mußte er noch einen rhetorischen Verstärker verwen-den, damit der Gönner seines Projektes dies auch blieb. "Genosse Vorsit-zender des Staatsrates, Sie werden nicht enttäuscht werden. Das 'Projekt Zukunft' wird garantiert halten, was es verspricht."

Der Vorsitzende nickte und sagte: "Ich weiß, daß ich mich bei Ihnen darauf verlassen kann, Genosse Keter."

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Keter verließ das Büro des Nationalen Verteidigungsrates. Das Gespräch hatte eine volle Stunde gedauert. Er hatte alles erreicht, was er sich vorgenommen hatte. Und sein Minister würde nicht erfahren, was er wirklich in Waldheide vorhatte. Zufrieden ließ er sich zu seiner Wohnung fahren.

Nachdem er es sich, dort angekommen, bequem gemacht hatte, las er noch einmal den Brief an seinen Chef durch, den er bereits in Warenthin hatte schreiben lassen.

Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik Ministerium für Staatssicherheit Waffentechnische Versuchsanstalt (WVA) Der Leiter O. U., 04.10.86

Genossen

Armeegeneral Erich Mielke

Minister für Staatssicherheit

Verbesserung der materiell-technischen Rahmenbedingungen für For-

schung und Entwicklung in der WVA

Sehr geehrter Genosse Minister! Die Waffentechnische Versuchsanstalt Warenthin (WVA) des Ministeriums für Staatssicherheit hat im Verlaufe ihres Bestehens zahlreiche For-schungs- und Entwicklungsresultate hervorgebracht, die der Einsatzbe-reitschaft und dem Ansehen unseres Ministeriums gedient haben. Unser Beitrag für die Verbesserung des Schutzes und der Sicherheit von Staat und Volk der Deutschen Demokratischen Republik wurde wiederholt durch Sie, verehrter Genosse Minister sowie durch die Partei- und Staatsführung anerkannt und gewürdigt. Diese Leistungen wären undenkbar gewesen ohne die richtungweisenden Orientierungen und die Unterstützung, die wir jahrzehntelang von Ihnen persönlich erfahren durften. Wir wollen unsere Leistungen auch weiterhin auf dem hohen Niveau halten, welches Partei und Regierung von uns gewöhnt sind. Darüber hinaus haben wir uns das Ziel gesetzt, zu Ehren des kommenden Partei-tages sowie des bevorstehenden 40. Jahrestages der Republik diese Lei-stungen ganz außerordentlich zu erhöhen. Dazu ist eine weitere Verbes-serung der materiell-technischen Basis der WVA erforderlich. Insbeson-dere benötigt meine Einrichtung ein größeres Erprobungsfeld für die

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waffentechnischen Entwicklungen. Ein entsprechendes Gelände wurde bereits gefunden. Ich schlage Ihnen vor, dies als "Sondergebiet Waldhei-de" ausweisen zu lassen. Wegen der Übernahme des Geländes aus dem Bereich des Ministeriums für Nationale Verteidigung bitte ich Sie, den Leiter der Rückwärtigen Dienste zu beauftragen, mit mir zusammenzuarbeiten. Ich danke für Ihr Verständnis und freue mich darauf, Ihnen bald neue Forschungsergeb-nisse vorlegen zu können. Mit kommunistischem Gruß

Fritz Keter Generalleutnant

Keter setzte seine Unterschrift darunter und verschloß den Brief. Zufrie-den lächelte er vor sich hin. Mit soviel Honig um den Bart würde der sich bestimmt nicht querlegen.

Am nächsten Morgen gab er den Brief in der Zentralen Poststelle des Ministeriums ab. Zwei Stunden später war er bereits wieder in Warenthin.

Zehn Tage danach erreichte Keter die Bestätigung des Ministers für das "Sondergebiet Waldheide" und die Bewilligung der notwendigen Mittel.

Er informierte zuerst Krausinger darüber. Der war erleichtert, daß die Sache nun endlich ins Rollen kam. Dann bildete Keter aus wenigen Offi-zieren die "Arbeitsgruppe Waldheide", die von da an unter seiner Leitung für die Vorbereitungen zur Eröffnung der Außenstelle verantwortlich war. Dazu gehörten auch Dr. Kaiser und Michael Rummel, der wenige Monate zuvor aus der Zentrale in Berlin als sein neuer Persönlicher Referent in die WVA gekommen war.

Keter informierte die Offiziere der Arbeitsgruppe darüber, daß er auf Weisung der Zentrale einen Teil der Forschung in eine neue Außenstelle bei Greventorf verlegen werde. Der wichtigste Grund für diese Entschei-dung des Ministers sei die Tatsache, daß das dortige NVA-Objekt zum Teil unterirdisch angelegt sei, was günstig für die Fortführung der For-schungsarbeiten in eventuellen Krisensituationen wäre. Er machte deut-lich, daß die Außenstelle aus verschiedenen Gründen ein Geheimprojekt sein müsse. Alle sollten das, was er ihnen mitgeteilt habe, streng vertrau-lich behandeln. Er informierte die Offiziere auch darüber, daß Dr. Letti-cher das Objekt sehr gut kenne, weil er dort im Kriege gearbeitet habe. Er werde zu denen gehören, die in der Außenstelle arbeiten würden.

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Während jeder aus der Arbeitsgruppe, die sich von da an wöchentlich traf, eine spezielle Aufgabe erhielt, behielt sich Keter die Gesamtkoordi-nation des "Projektes Zukunft" und die Verbindung zu den unterstützen-den Kräften der NVA und des Ministeriums vor. Sein Ziel war es, in sechs Monaten die Außenstelle Waldheide zu eröffnen. Er erreichte beim Chef der Grenztruppen, daß bereits wenige Wochen später das Objekt Wald-heide übernommen werden konnte. Im Ministerium für Nationale Vertei-digung erhielt er die Zusage, daß ein Pionierbataillon für vier Wochen in Waldheide zur Verfügung stehen werde, und zwar auf Kosten der NVA. Das Bataillon werde den Marschbefehl erhalten zu einer "Manöverübung unter realen Bedingungen". Die Manöveraufgabe werde lauten: "Wieder-aufbau einer vom Gegner zerstörten ober- wie unterirdischen verteidi-gungswirtschaftlichen Anlage".

Keter konnte zufrieden mit sich sein. Innerhalb von nur wenigen Tagen hatte er wichtige Voraussetzungen für das Projekt geschaffen. Er ernannte Dr. Schmidt, einen Forschungsgruppenleiter aus dem Bereich von Oberst Dr. Dr. Kaiser zum zukünftigen Leiter der Außenstelle. Schmidt war drei Jahre zuvor aus dem Sektor Wissenschaft und Technik der Hauptverwal-tung Aufklärung gekommen. Er war erst Mitte Dreißig und ein hoffnungs-voller Mann, der vermutlich einmal die Nachfolge von Kaiser antreten würde. Schmidt war nicht größer als Krausinger, hatte pechschwarzes noch volles Haar, das er kaum bändigen konnte, dunkelbraune Augen und ein schmales Gesicht. Allerdings wirkte er immer etwas kränklich.

Zu Krausinger sagte Keter, seine Personalentscheidung begründend: "Ich kann nicht immer dort sein und einer muß den Gesamtüberblick bewahren. Sie wissen, daß ich Sie nicht zum Leiter machen kann. - Wie ich überhaupt meinem Parteisekretär gegenüber begründen soll, daß ich Sie, einen Parteilosen, der auch nicht einmal dem MfS angehört, mitneh-me und in noch geheimere Forschungen einbeziehe, das muß ich mir erst noch überlegen."

Keter glaubte wohl, Krausinger würde diese Personalentscheidung nicht gefallen. Dem aber war es im Grunde genommen egal, wer die Forschung offiziell leiten würde, denn der wirkliche Motor von Forschung und Entwicklung würde immer er sein, Krausinger. Jeder andere hatte für ihn nur Strohmannfunktion.

Bereits zwei Wochen später kam Michael Rummel als Vertreter des Auftraggebers nach Waldheide. Mit ihm waren Krausinger und Haupt-mann Reddler, ein Mitarbeiter des Abwehrchefs der WVA, angereist. Hauptmann Reddler, ein Jahr älter als Michael, ein Hüne von fast zwei

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Metern und 100 kg Lebendgewicht, hatte einen großen kantigen Kopf, einen Stiernacken und Pranken von Händen. Sein brutal wirkendes Gesicht ließ ihn nicht besonders sympathisch erscheinen und Michael war er nie ganz geheuer. Aber wie sich später noch erweisen sollte, war der Mann eine wertvolle Hilfe für Keter.

Keter hatte Krausinger diesen Reddler als angeblichen Personenschutz für ihn verkauft. Reddler wiederum war von ihm instruiert worden, es bestehe die Gefahr, daß "dieser wichtige Wissenschaftler von der anderen Seite gekidnappt werden könne". In Wahrheit traute Keter Krausinger auch jetzt noch nicht hundertprozentig und wollte einen eventuellen Fluchtversuch verhindern.

Am gleichen Tag rückte auch das Pionierbataillon mit schwerer Räum-technik an. An den folgenden Tagen wurden die Trümmer der Ruinen abtransportiert. Dann wurde im ehemaligen Gebäude Nr. 3 der Zugang zu den Tiefetagen freigelegt. Dazu war auch Keter angereist. Er, Krausinger und Michael stiegen über die mit Trümmern übersäte Treppe vorsichtig nach unten. Reddler hatte oben dafür zu sorgen, daß keiner der Soldaten allzu neugierig wurde.

Im Vorraum der ersten Tiefetage sahen sie als erstes die zum Teil zer-störte Flügeltür, von der nur noch eine Seite lose in einer Angel hing. An ihr vorbei, dort wo die andere Hälfte der Tür hingehörte, blickten sie in das absolute Dunkel. So schien es ihnen jedenfalls. Da die Elektroversor-gung der Tiefetagen noch nicht wieder intakt war, hatten sie voraus-schauenderweise Taschenlampen bei sich. Sie betraten den Gang und folgten den breiten und starken Strahlen ihrer leistungsfähigen Lampen.

Die Luft war schwer und stickig. Krausinger war sofort klar, daß dies daran lag, daß durch die Sprengung 1945 auch die Luftzirkulationsanlage zerstört worden war. Überall lagen Betonbrocken herum und die andere Hälfte der zweiflügligen Tür lag dazwischen.

Linkerhand ging es in einen großen saalartigen Raum. In der Halle waren Arbeitstische und Maschinen zu sehen. Auf den Tischen und an den Wänden sah man die verschiedensten Teile und Materialien, teilweise gestapelt. Krausinger erklärte den beiden, daß hier die Endmontage gewesen sei. Er fand, daß nach den vielen Jahren alles noch so sei, wie er es damals verlassen hatte.

"Sagen Sie, Professor, gibt es hier irgendwelche Resultate der damaligen Arbeiten, die man sofort nutzen könnte?" Keter hätte allzu gerne gehört, daß dem so sei.

"So genau weiß ich das nicht. Wenn hier unten das Licht wieder funk-tioniert, dann müssen wir eine Bestandsaufnahme machen. Dann werden wir sehen, was hier noch verwendbar ist, General."

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"Gut. Ich glaube wir können im Moment nichts weiter machen. Kommen Sie wieder mit nach oben", sagte Keter etwas enttäuscht.

Sie gingen zurück in das Treppenhaus und sahen sich den Weg nach unten an. Was dort noch auf der Treppe lag, die wenige Meter tiefer eine Biegung machte, das konnte auch ohne schwere Räumtechnik weg-geräumt werden. Und so hatten sie es ja auch geplant. Die NVA hatte die grobe Arbeit zu leisten und den Zugang freizulegen. Tiefer hinein sollten die ja auch gar nicht gehen. Keter fuhr zurück nach Warenthin.

In den folgenden Wochen wurden zwei der Ruinen im Rohbau wieder-errichtet. Im Gebäude Nr. 3 restaurierte man auch den integrierten und äußerlich nicht sichtbaren Fahrstuhlturm. Krausinger war es äußerst wichtig, daß beim Wiederaufbau dieser Ruine die Pioniere keinen Einblick in die Tiefetagen bekamen. Eine Woche später zog das Pionierbataillon der NVA ab und die Pioniereinheit des MfS-Wachregiments legte die Treppe zur zweiten Tiefetage frei.

Keter kam erneut nach Waldheide. Gemeinsam mit Krausinger und Michael stieg er hinunter in die zweite Tiefetage. Dort befanden sich die verschiedensten Labors. Hier sahen sie Instrumente und Materialien auf verstaubten Tischen, als sei gerade noch daran gearbeitet worden. Krau-singer bemerkte dazu, das sei auch kein Wunder, denn der Aufbruch damals sei beinahe blitzartig erfolgt.

Sie sahen sich die Treppe nach unten in die dritte Tiefetage an und stellten fest, daß hier kaum noch Trümmer, höchstens kleinere Teile lagen. Krausinger war erneut froh darüber, daß er damals den Befehl erteilt hatte, nur die oberen Teile der Anlage zu sprengen und damit lediglich die Zugänge zu verschütten. Hätte er die einzelnen Etagen sprengen lassen, dann wäre jetzt alles ungleich schwerer und vielleicht erst im Laufe von Jahren zu bewältigen.

Vorsichtig stiegen sie hinunter in die dritte Tiefetage. Als sie den unter-sten Treppenabsatz erreichten, fanden sie dort alles unbeschädigt vor. Links war die Tür des Lastenaufzuges. Rechts war ebenso eine Flügeltür, wie sie auch in den anderen Tiefetagen den größeren Bereich vom Vor-raum abtrennte.

Diese Tür stand nicht offen, wie die in der Etage darüber. Krausinger öffnete sie. Keter und Michael leuchteten den dahinter befindlichen Gang aus, an dessen Seiten sich verschiedene Türen befanden. Sie drängten sich an Krausinger vorbei und öffneten nacheinander die einzelnen Türen, von denen keine verschlossen war. Hier waren einst physikalische und chemische Laboratorien. Überall auf den Tischen und Anrichten standen die verschiedensten Geräte und Versuchsanordnungen. Verstaubte Bücher und einzelne, damals vergessene Ordner mit Forschungs-

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dokumentationen lagen herum. In einem der Zimmer lag ein Laborkittel auf dem Tisch. In einem anderen Raum befanden sich Einzelteile von SS-Uniformen und Laborkittel auf dem Fußboden. Krausinger schloß schnell die Tür. Er hoffte, daß Michael die SS-Uniformen nicht bemerkt hatte.

Am Ende des Ganges war eine große schwere Tür, eine Panzertür, wie unschwer zu erkennen war, auf welcher sich ein Schild mit einem Toten-kopf und der Aufschrift "Gefahr - radioaktiv" befand.

"Was befindet sich denn hinter der Tür?" fragte Keter. Auch Michael schaute Krausinger fragend an.

"Das war ein Strahlenlabor. Diese Tür sollten wir lieber geschlossen las-sen!"

"Ein Strahlenlabor? Wozu haben Sie denn ein Strahlenlabor benötigt, damals?" Keter bedrängte Krausinger. "Na, sagen Sie schon."

"Es hatte etwas mit unseren Radarforschungen zu tun, General." Krau-singer ging schnell weiter, ohne Keter anzusehen, der lediglich "Aha" sagte. Er schien offensichtlich befriedigt zu sein durch die Antwort. Michael jedoch hatte sofort gemerkt, daß diese Antwort, die ein Schüler der siebenten Klasse durchschaut hätte, von etwas ablenken sollte. Er registrierte das zunächst einfach nur, vergaß es aber auch bald wieder, der neuen Eindrücke waren es in diesen Tagen einfach zu viele.

Sie gingen zurück in den Vorraum. Krausinger prüfte die Tür des Lastenaufzuges. Sie war in Ordnung. Aber sie ließ sich natürlich nicht öff-nen, da die Elektroanlage noch nicht wieder intakt war. Keter warf Krau-singer einen fragenden Blick zu und deutete mit dem Kopf in Richtung der vierten Tiefetage. Der sah flüchtig zu Michael, welcher, wie er erleichtert feststellte, gerade in eine andere Richtung schaute, schüttelte den Kopf und sagte laut: "Dann können wir jetzt wieder nach oben gehen."

Oben angekommen, beauftragte Keter Michael, die Elektroanlage in den Tiefetagen wiederherzustellen zu lassen. Er habe zu gewährleisten, daß die Elektriker aus dem Handwerkerzug nicht in den Räumen herum-stöberten. Dann begaben sich Keter und Krausinger in Keters Dienstzim-mer, das im Stabsgebäude provisorisch eingerichtet worden war. "Nun sagen Sie schon, Professor, wie kommt man denn nun in die unterste Tie-fetage?" bedrängte Keter Krausinger. "Da war ja nirgendwo ein Zugang zu sehen!"

"Aus der dritten Tiefetage kommt man überhaupt nicht weiter nach unten, General. Das Treppenhaus endet dort. Und das aus gutem Grund. Wir haben das damals so machen lassen, damit kein Unbefugter weiter hinunter konnte, als bis zur dritten Tiefetage. Es gibt aber zwei Wege nach ganz unten. Einmal geht das mit dem Lastenaufzug. Der ist ja aber,

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wie Ihnen ja bekannt ist, noch nicht wieder in Betrieb. Außerdem ist auch dabei gesichert, daß Unbefugte nicht bis ganz nach unten gelangen kön-nen. Offiziell endet er in der dritten Tiefetage. Nur wer einen verdeckten Schalter in einer bestimmten Weise betätigt, kann noch weiter hinunter fahren. Der andere Weg führt über eine geheime Wendeltreppe, die sich neben dem Fahrstuhlschacht befindet. Vorige Woche, als die Trümmer beiseite geräumt wurden, habe ich den verschütteten Eingang zur Wen-deltreppe erst einmal mit einer Stahlplatte sichern lassen. Die damit beauftragten Soldaten haben den Eindruck vermittelt bekommen, daß dies ein Zugang zu einem einfachen Keller sei. Später habe ich die Stahlplatte dann verschlossen."

"Spricht irgend etwas dagegen, daß wir uns jetzt die vierte Tiefetage ansehen?"

"Ja, leider. Ich muß erst die Wendeltreppe räumen lassen. Auf ihrem oberen Abschnitt haben sich Trümmerstücke verkeilt. Ich denke frühe-stens übermorgen werden wir nach unten können. Glauben Sie mir, ich bin genauso ungeduldig wie Sie. Aber es geht nicht schneller."

Keter fuhr zurück nach Warenthin. Er mußte sich halt gedulden. Am darauf folgenden Tag öffnete Krausinger die Stahlplatte. Unter sei-

ner und Michaels Aufsicht begannen die Pioniere die Wendeltreppe frei-zuräumen und Beschädigtes instand zu setzen. Mit Hilfe eines Preßluft-hammers wurden die Hindernisse beseitigt. Ab der ersten Tiefetage war die Treppe dann problemlos begehbar.

Nach wenigen Stunden bereits war alles erledigt. Auch der Trümmer-schutt war weggeschafft worden. Krausinger verschloß die Einstiegsplatte und tarnte sie gemeinsam mit Michael und Reddler, denen er erklärt hatte, die Wendeltreppe führe zu den Notausgängen der drei Tiefetagen. Dann mußten andere Soldaten, die nicht ahnten, was sich unter dem Schutthaufen befand, der den Einstieg tarnte, einen Meter davor eine zweite Wand setzen. Als sie sich nach vollbrachter Arbeit entfernt hatten, schafften Michael und Reddler auch den restlichen Bauschutt nach draußen und legten die Einstiegsluke wieder frei.

Krausinger sah vor seinem geistigen Auge bereits den alten Zustand von Ende des Krieges wiederhergestellt, bevor er den Befehl zur Sprengung gegeben hatte. Die Tür, welche noch einzubauen war, würde wieder getarnt werden, alles wie gehabt.

Noch am gleichen Abend schlich er über die Wendeltreppe nach unten. Er fühlte sich gerade so, wie fünfzig Jahre zuvor, als er schon öfter diesen Weg in die Tiefe gegangen war, zu seinen Gefangenen und zu der Scheibe.

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Er öffnete die schmale Tür, welche direkt in den Vorraum der vierten Tiefetage führte. Ein seltsames Gefühl und eine bange Ahnung beschli-chen ihn. Er dachte an die toten SS-Leute. Würde es nach Leichen rie-chen? Sicher nicht, nach so langer Zeit. Die würden skelettiert sein. Leb-ten die Zwerge noch? Ja, waren sie überhaupt noch da? Er setzte einen Fuß in den Vorraum, zögerte einen Moment, trat dann aber ein. Links von ihm war die Tür zum Lastenaufzug. Geradeaus befand sich eine große zweiflüglige Tür. Diese war noch breiter, als die entsprechenden Türen in den Etagen darüber. Und sie befand sich auf der entgegengesetzten Seite. Er klinkte sie auf. Gleich rechts befand sich der Wachraum. Daran ging er vorüber. Auch an der zweiten Tür, der Zelle der Gefangenen, ging er vorbei. Im Moment war es ihm erst einmal wichtiger zu sehen, ob die Scheibe noch da war.

Er öffnete die Tür zu dem ziemlich großen Raum. Der Lichtstrahl seiner Taschenlampe wurde vom Metall der Scheibe reflektiert. Sie war also noch da! Er war zutiefst erleichtert. Dann begab er sich zu seinen Gefan-genen.

Als er den Raum betrat, begegnete ihm etwas, das in den letzten Jahr-zehnten sein Leben und seinen Willen zum Überleben bestimmt hatte und das allein durch sein Vorhandensein alle seine geheimen Ziele in greifbare Nähe rückte. Das Gefühl der Erleichterung wurde noch stärker, als er sah: Auch sie waren noch da. Aber lebten sie auch wirklich noch? Bange Sekunden der Befürchtung, doch alles wieder zu verlieren, was er gerade als wiedergewonnen betrachtet hatte. Er beugte sich nach vorn. Aber er konnte nicht feststellen, ob die beiden Zwerge lebten oder tot waren. Dafür, daß sie noch lebten, sprach, daß ihre Körper nicht zu Skeletten geworden waren, obwohl man sie nicht einbalsamiert hatte. Er befühlte ihre Arme. Die waren eher kalt als warm. Er wußte aber aus Bergwalds Tagebuch, daß sie ihre Körpertemperatur weit hinunterschrauben konnten. Das hatte also nichts zu besagen. Dann stellte er seine grobe Untersuchung ein. Da war jetzt nichts zu machen. Da mußte erst richtiges Licht her.

Am nächsten Tag informierte er Keter, daß die Treppe nun passierbar sei. Keter ließ sich sofort nach Waldheide fahren. Gemeinsam mit Krau-singer und Michael begab er sich zu der Einstiegsluke. Er wies Michael an, niemanden nach unten zu lassen.

Nachdem Krausinger die Bodenplatte geöffnet hatte, stiegen er und Keter hinab. Michael, der oben bleiben und Wache halten mußte, schluckte. Nur ein Notausgang? Und dann so geheimnisvoll?

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Krausinger eilte relativ leichtfüßig voran, während Keter ihm vorsichtig folgte. Für Krausinger war der Weg über diese Wendeltreppe eine uralte Geschichte, vor beinahe fünfzig Jahren schon oft geübt und einen Tag zuvor war er diesen Weg ja auch wieder gegangen. Außerdem war er nicht so schwergewichtig wie Keter. Nach einigen Minuten waren sie unten angelangt. Keter drängte neugierig und erregt hinter ihm: "Wo sind die denn nun, Professor?"

"Weiter hinten. Das ist doch erst der Vorraum. Und nicht so laut, bitte!" Krausinger sprach mit unterdrückter Stimme, als habe er wirklich Angst, die Schlafenden zu wecken. Er betrat den großen Raum, in dem die Scheibe stand. Der Kegel seiner Taschenlampe erhellte ihn und traf auf die silbrig glänzende Scheibe. Keter drängte nach. Ein "Oh" entfuhr sei-nem offenen Mund. Ein Ausdruck ehrfürchtigen Erstaunens, den Krausin-ger von Keter in all den Jahren noch nie gehört hatte. Dann erfüllte Stille den Raum.

Keter sah etwas vor sich, von dem er bisher zwar durch Krausinger schon viel hörte, an dessen wirklicher Existenz er aber bis zuletzt noch immer Zweifel hatte. Und das war etwas, wovon er sich noch viel ver-sprach und von dem er "ganz oben" schon viel versprochen hatte.

Sie gingen langsam weiter nach vorn, bis direkt vor die Scheibe. Im Licht der Taschenlampen erstrahlte sie. "Da ist ja überhaupt kein Staub drauf", sagte Keter erstaunt.

Krausinger fiel das auch erst jetzt auf. Tatsächlich, der General hatte recht. "Offensichtlich ist diese Legierung staubabweisend", meinte er. Dann drehte er sich um und ging in Richtung der Tür. "Kommen Sie, General, wir müssen weiter."

Krausinger öffnete die gegenüber befindliche Tür und leuchtete in den Raum hinein. Keter tat das Gleiche. Aber der Raum war leer, total leer. "Alles in Ordnung, General! Der ist noch so leer, wie damals."

"Machen Sie's doch nicht so spannend. Wenn Sie wissen, daß der leer ist, weshalb leuchten Sie ihn dann überhaupt erst aus? Zeigen Sie mir doch endlich Ihre Gefangenen!"

"Leise, um Gottes Willen, leise! Hinter der übernächsten Tür liegen sie." Krausinger wollte eilig an der nächsten Tür vorübergehen. Er steuerte auf die Tür zu, hinter der die Gefangenen ihren Dornröschenschlaf hielten. Keter folgte ihm. Die Tür davor schien ihm jetzt nicht interessant genug zu sein. Er dachte an die Skelette, die dahinter lagen und war zufrieden, daß sein Trick geklappt hatte. Vorsichtig öffnete er die nächste Tür und leuchtete in Richtung der hinteren Wand. Dort lagen sie.

Auch Keter richtete den Strahl seiner Lampe in diese Richtung. Er blieb wie erstarrt stehen. So etwas hatte er noch nie gesehen. An Krausingers

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Schulter rüttelnd flüsterte er: "Sind sie das?" Stärker rüttelnd und Krausin-gers Versuch, sich dieser Hand auf seiner Schulter zu entziehen, mit der Kraft seines Armes begegnend, zischte er ihm atemlos ins Ohr: "Sind sie das Professor?"

"Pssst!" machte Krausinger empört, sich nicht bewußt darüber, wie schi-zophren sein Verhalten war, denn je eher die Zwerge munter wurden, um so eher könnte er doch seine Ziele erreichen. Er war einfach fixiert auf einen Termin, der eben erst in 1995 liegen würde. "Ja, natürlich sind sie das!"

Er trat vorsichtig an die Pritschen heran, auf denen zwei Wesen lagen wie sie Keter, der ihm gefolgt war, noch nie gesehen hatte. Allerdings hatte ihm Krausinger ja bereits vorher gesagt, was ihn erwarten würde. Dennoch war es etwas ganz anderes, wenn man es selbst sah, als wenn man es nur erzählt bekam. "Leben sie? Leben sie?" fragte er mit unter-drückter Stimme.

"Ich weiß es nicht, General. Das können wir jetzt nicht klären. Zuerst brauchen wir elektrisches Licht und ... und vielleicht einen Arzt?"

"Einen Arzt?" Keters Verwunderung war unüberhörbar: "Wollen Sie wirklich, daß noch eine weitere Person mitbekommt, was Sie hier unten versteckt haben?"

Das wollte Krausinger natürlich nicht. "Gut, sprechen wir oben darüber", sagte Keter, der mit einemmal das

ungute Gefühl verspürte, daß die Gefangenen alles hörten. Sie verließen den Raum, begaben sich zurück zur Wendeltreppe und stiegen nach oben, wo Michael den Einstieg absicherte.

Michael hatte erwartet, daß die beiden ihm erklären würden, was sie da unten gesehen hatten. Das aber geschah nicht.

Krausinger verschloß den Zugang. "Folgen Sie uns, Michael", sagte Keter. Alle drei gingen in Keters Dienstzimmer. Dort angekommen legte Keter fest, daß Michael mit den Elektrikern am nächsten Tag die Elektro-anlage im Wendeltreppenbereich wieder instandzusetzen hatte. Dazu sei es nicht nötig, daß sie bis hinunter gingen, weil die Kabel nur im oberen Bereich, also höchstens bis auf Höhe der ersten Tiefetage beschädigt seien. Und außerdem dürfe niemand, auch er nicht, weiter hinunter gehen. Krausinger nickte bekräftigend. Und wieder schluckte Michael.

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Notiz aus den Aufzeichnungen des Seniors über ein seltsames Ereignis in Waldheide

Ein recht seltsames Erlebnis hatte ich, als ich mich am 15. März 1988 gemeinsam mit den Genossen der Leitung der WVA in der Außenstelle Waldheide befand. Dort geschah am Abend etwas Unerklärliches. Wir saßen im Dienstzimmer des Generals. Plötzlich war da ein seltsames Licht zu sehen, das ein Loch in die Tapete brannte oder sogar zwei, wenn ich mich recht erinnere. Danach war es plötzlich weg. Und dann sahen wir draußen über dem Objekt ein riesiges dunkles Dreieck in der Luft stehen. Es wurde Alarm ausgelöst. Aber es wurde noch seltsamer. Das Dreieck hat seine Form verändert. Es wurde zur Kugel. Oder vielmehr zu zwei Kugeln. Die flogen ungeheuer schnell davon. Ich hätte gern einmal den Antrieb dieses unbekannten Flugobjektes analysiert. Aber leider war es ja verschwunden. Quader hielt es damals gleich für ein Flugzeug des Klassenfeindes und wollte die Luftverteidigung alarmieren. Ich wußte nicht recht, was ich davon halten sollte. Vielleicht hatten uns ja nur unsere Nerven einen Streich gespielt? Massenpsychose oder so etwas? Der Adjutant des Generals hielt es jedenfalls für ein UFO. Der hatte wohl früher in der Zentrale in Berlin an Informationen über so etwas gearbeitet. Und er-staunlicherweise wurde er in dieser Auffassung von unserem Chef unter-stützt. Und seltsamerweise schienen der General, wie auch Dr. Letticher irgendwie sofort zu wissen, daß dieser Besuch so etwas wie eine War-nung war. Je länger ich nun, nachdem ich die Akte gefunden habe, dar-über nachdenke, um so mehr wird mir klar, daß dieses ungewöhnliche Ereignis etwas zu tun gehabt haben muß mit dem, was ich als Geheimnis von Waldheide bezeichnen möchte.

Am 15. März 1987 war die Außenstelle Waldheide in Anwesenheit eines Stellvertreters des Ministers feierlich eröffnet worden. Wie in der oben angeführten Notiz des Seniors festgestellt, war die Warenthiner WVA-Führung ein Jahr später zum ersten Jahrestag der Eröffnung angereist. Am Nachmittag hatte eine Feierstunde mit den etwa sechzig Angehörigen der Außenstelle stattgefunden. Keter war voll des berechtigten Lobes gewesen für die "Waldheider", denn das erste Forschungsjahr hatte reiche Früchte getragen. Nach dem gemeinsamen Abendessen saßen die leitenden Offiziere sowie Krausinger und Michael im Dienstzimmer des Generals in lockerer Runde. Noch an diesem Abend wollten alle, die von dort gekommen waren, zurück nach Warenthin fahren.

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Michael hatte die Rolle der Ordonnanz übernommen und schenkte gerade eine neue Runde guten Kognaks ein, da sahen es alle praktisch gleichzeitig. Es war ein ungeheuer heller, gleißender Lichtschein, der am Fenster vorübergezogen war. Das Gespräch erstarb im selben Moment. Keiner sagte etwas. Alle starrten zum Fenster.

"Was war denn das?" rief Keter einen Moment später verwundert, ja fast erschrocken, wie Michael registrierte.

"Vielleicht Autoscheinwerrferr?" meinte Quader, nach einer natürlichen Erklärung suchend, aber mit durchaus unsicherer Stimme.

"Der hätte nicht in diese Ecke scheinen können. Der Winkel ist zu ungünstig", sagte Schmidt, der die Gegebenheiten am Ort bestens kannte. In diesem Moment war das Licht erneut zu sehen. Jetzt war es neblig dif-fus und pulsierte.

Michael hatte beim ersten Auftauchen des Lichtes gedacht, daß es viel-leicht der bewegliche Scheinwerfer der Wache gewesen sein könnte. Aber das verwarf er sogleich wieder, denn es schien ihm undenkbar, daß die Wache es sich wagen würde, das Dienstzimmer des Generals auszu-leuchten. Das war noch undenkbarer, da bekannt war, daß General Keter anwesend und dessen Dienstzimmer nicht etwa leer war. Das einzige, was dafür spräche, wäre, daß die Wache im Schwenk, aus Versehen, das Fenster gestreift hätte. Aber ein solches seltsames Licht besaßen die Scheinwerfer einfach nicht.

Als das Licht in veränderter Form zurückkehrte, saß Michael wie erstarrt in seinem Sessel. Was da vor sich ging war unbegreiflich und er hatte plötzlich ein ganz seltsames, beklemmendes Gefühl.

"Dieses Licht ist aber äußerst merkwürdig - so unwirklich", sagte Oberst Knappschulte in die Stille hinein. Er sprach damit aus, was alle dachten.

Plötzlich focussierte das Licht zu einem hellen, scharfen Punkt, der sich verbreiterte und ohne sichtbaren Rauch ein im Durchmesser etwa zehn Zentimeter großes Loch in die Tapete oberhalb von Krausinger Kopf brannte. Daraufhin nebelte der Lichtstrahl sich wieder ein, um gleich dar-auf erneut scharf zu werden, zu focussieren und ein zweites Loch von gleicher Größe neben das andere in die Tapete zu brennen.

Danach zog er sich blitzschnell aus dem Zimmer zurück. Mit ihm ver-schwand der seltsame Lichtschein überhaupt. Alles war im Grunde in Sekundenschnelle vor sich gegangen. Keiner der Anwesenden hatte sich bewegt oder bewegen können, als der Lichtstrahl in das Zimmer gedrun-gen war und das unheimliche Geschehen ablief. Keiner hatte überhaupt zu atmen gewagt. Krausinger war bleich wie ein weißes Bettlaken.

Jetzt aber waren alle wie aus einem Bann entlassen. Quader und Theo Kaiser sprangen auf und rannten zum Fenster. Krausinger hielt das für

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äußerst unvorsichtig. Laser, das war doch Laser, dachte er. Da war eine Waffe im Einsatz gewesen. Und sie hatte vor allem ihn bedroht. Vorsicht war geboten. Äußerste Vorsicht!

Michael war ebenfalls aufgesprungen. Er griff gerade nach dem Tele-fonhörer, um die Wache anzurufen, da klingelte es bereits. Er konnte sich nicht einmal mehr melden, der Anrufer sprach offensichtlich sofort auf ihn ein. Keter, Dr. Schmidt und Krausinger blickten gespannt zu ihm hin.

"Was?" rief Michael in den Hörer. "Beobachten Sie weiter!" Er legte auf. "Es war die Wache ..."

Er wurde unterbrochen. Quader und Kaiser machten sich bemerkbar: "Nun seht Euch das an!" rief Oberst Kaiser. "Das ibles Spielchen von Klas-sengegnerr!" schrie der Kommissar. Keter war nun auch zum Fenster gegangen und schaute über den Schultern seiner beiden Stellvertreter hindurch. Er sagte kein Wort. Michael lief hinterher und versuchte, eben-falls etwas zu sehen.

Keter fragte, ohne sich umzudrehen mit gepreßter Stimme: "Was sagte die Wache?"

"Genau das", antwortete Michael. In Berlin hatte er immer nur die geheimen Berichte über so etwas gelesen. Jetzt sah er es zum ersten mal persönlich. Ein riesiges schwarzes Dreieck, mit drei Lichtern an der Unterfläche. Das Ganze in einer Höhe von etwa 100 Metern über dem Gelände und vielleicht eine Fläche von 600 Quadratmetern abdeckend. Das war ja unvorstellbar. Und es war bedrohlich, was da zu sehen war.

"Alarmstufe 3", wies Keter an. Michael lief zum Telefon und gab den Befehl an die Wache weiter. Die

Alarmsirene ertönte. Die Wachen wurden verstärkt. Alle Mitarbeiter liefen zur Waffenkammer. Nun war auch Krausinger vorsichtig zum Fenster gekommen. Was er da sah, erschreckte ihn noch mehr, denn ihm war ja bereits klar, wem diese Präsenz galt.

Plötzlich sah es so aus, als ob sich das Dreieck in zwei Hälften zerteilen würde. Und es war auch so. Aber mit einem mal leuchteten die beiden Hälften grell auf, schienen Kugelform anzunehmen, die sich auseinander bewegten, also in verschiedene Richtungen langsam abdrifteten. Doch gleich darauf begannen die beiden Kugeln rot zu glühen und mit enormer Geschwindigkeit, aber ohne hörbares Geräusch, in Richtung Westen zu verschwinden. Sie wurden in Sekundenschnelle klein wie Punkte und waren gleich darauf nicht mehr zu sehen.

"Seht! Rrichtung West die hauen ab!" rief der Kommissar, die erschreckende und unerklärliche Formveränderung des Objektes völlig ignorierend. "Ich ja habe gesagt - Klassenfeind! Frritz, laß Luftabwehrr grreifen ein!" rief er Keter zu.

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Krausinger und Keter, der ebenfalls ahnte, was da geschehen war, sahen sich wortlos an.

"Ach Quatsch, Hermann, hast du nicht gesehen, wie schnell die weg waren? Da brauchen unsere Jäger gar nicht erst aufzusteigen!" Nach-denklich fügte Kaiser hinzu: "Den Antrieb möchte ich analysieren."

"Da hat er recht. Lassen wir die Genossen der Luftabwehr in Ruhe. Es hat jetzt keinen Sinn mehr, sie hochzujagen", meinte Keter an Quader gewandt.

"Das war doch kein Flugzeug. Das war doch ein UFO, bzw. es waren sogar zwei", sagte Michael. Krausinger und Keter sahen sich bedeutsam an.

"Wie kommen nurr auf so was, Genosse Hauptmann?" sagte Quader kopfschüttelnd. Auch Kaiser und Schmidt sahen Michael verständnislos an.

"Ich habe in Berlin genügend Berichte und Dokumente über solcherart Flugobjekte auswerten müssen. Mit eigenen Augen hatte ich zwar bisher noch keines gesehen, aber alles deutet darauf hin, das dies eben eines war. - Ja, ich glaube, daß das was wir gerade erlebt haben, eine Begeg-nung mit einem unidentifizierten Flugobjekt der Kategorie CE2 oder MA2 nach Dr. Vallee war." Michael brachte sein Fachwissen aus der Berliner Tätigkeit ein.

"Ach hörren auf mit solch Quatsch!" rief Quader empört. "Dr. Vallee, wer soll denn das sein?" fragte auch Knappschulte verwundert.

"Dr. Jaques Vallee ist ein amerikanischer Astronom", antwortete Michael. "Amerrikanerr, dacht ich doch mirr, natirrlich!" ließ sich Quader abfällig

hören. "Was denn, beschäftigt sich unser Ministerium wirklich mit so etwas?" fragte nun auch Dr. Kaiser verwundert.

jetzt mischte sich Keter ein: "Ja, Genossen. Die Erforschung unerklärli-cher Luftraumphänomene und unbekannter und unidentifizierbarer Flug-objekte ist eine nicht zu unterschätzende Aufgabe. Es gibt eigens dafür in der Zentralen Auswertung und soviel ich weiß auch im Sektor Wissen-schaft und Technik Referate, die in keiner Struktur erwähnt werden. Und Genosse Rummel hat in einem dieser Referate gearbeitet, bevor er zu uns kam. - Ich darf Euch eines sagen, Genossen. Unsere sowjetischen Waf-fenbrüder wissen seit Jahren, was heißt seit Jahren, seit Jahrzehnten, daß diese UFOs reale Phänomene sind. Natürlich fiel das bisher unter absolu-te Geheimhaltung. Bei uns ja auch. Aber hier haben wir vor wenigen Minuten selbst ein solches Objekt gesehen. Oder Hermann, hast du das etwa wirklich für einen 'Starfighter' der NATO gehalten?"

"Also ich jetzt wirrklich nicht wissen ... Diese Ding ... rrecht seltsam ... das sich warr. So schnell warren weg wiederr! - Oderr Amis können schon so tief lassen fliegen ihrre Rraumgleiterr?"

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"Nein, das funktioniert nicht. Dafür sind sie nicht konstruiert, glaube ich. Und die sind ja auch nicht so groß. Und außerdem können die sich nicht teilen und in Kugeln verwandeln. Und das habt Ihr ja auch alle gesehen, oder?" Dr. Schmidt, dessen Spezialgebiet und Steckenpferd Flugzeuge waren, gab sein Urteil ab, das nun auch Quader überzeugte.

"Ja, meint Ihr etwa, daß es sich bei diesen UFOs um Weltraumschiffe handelt, die nicht von dieser Erde sind?"

"Ja, Genosse Oberst", antwortete Michael an den Fragesteller Dr. Kaiser gewandt: "... das ist eben der Punkt. Alles deutet darauf hin, daß wir hier auf der Erde von extraterrestrischen Intelligenzen besucht und beobachtet werden. - Aber ein Raumschiff in dem Sinne war das wohl nicht, was wir da gesehen haben. Das war sicher kein Mutterschiff. Das war ganz sicher nur ein Raumgleiter für den erdnahen Bereich."

"Ja, und welche Konsequenzen könnte so etwas für uns haben", fragte Knappschulte, der sich während der ganzen Zeit recht ruhig verhalten hatte, unsicher.

Keter wandte sich ihm zu, faßte aber auch die anderen ins Auge: "Im Grunde genommen keine. Sie haben uns, das heißt die Menschheit, seit ewigen Zeiten beobachtet, wie die sowjetischen Genossen auch in Aus-wertung internationaler Quellen meinen, aber sie haben niemals ernstlich in unsere Entwicklung eingegriffen, jedenfalls nicht in jüngerer Zeit. Sie werden es auch jetzt kaum tun. Und sie sind ja auch wieder weg, das habt Ihr ja alle gesehen. Die haben sich einfach nur einmal gezeigt. - Ich schätze, man hat, wenn überhaupt, nur einmal im Leben die Gelegenheit, so etwas zu sehen."

"Also ich finde, das sah nicht so aus, wie einfach nur mal zeigen wollen, erwiderte Knappschulte. "Die haben doch geschossen. Das war doch ein aggressiver Akt. Seht Euch doch mal die Tapete an."

"Da err hat sich rrecht. Und ich mich frage, weshalb die haben ...? Das warr nicht Zufall, nitschewo!" Quader unterstützte Knappschulte, energisch den Kopf schüttelnd.

"Bitte beruhigen Sie sich, Genosse Knappschulte. Überlegen Sie doch mal: Wenn die wirklich gewollt hätten, dann wäre es ihnen sicher ein Leichtes gewesen, mehr zu tun, als nur zwei Löcher in die Tapete zu brennen", sagte Keter. Und an Quader gewandt meinte er: "Ich denke, das war nur eine kleine Demonstration dafür, was die alles können. Sie wollen die Menschheit anscheinend sukzessive und punktuell darüber infor-mieren, daß es sie gibt, und wozu sie in der Lage sind. Ja, dazu gehört das wohl. Aggressiv war das sicher nicht. Wenn die uns töten oder verletzen wollten, dann hätten die das durchaus tun können. Haben sie aber nicht. Oder ist jemand verletzt?" Keter schaute sich demonstrativ um. "Und

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großen Schaden haben sie ja nicht angerichtet." Mit einem Blick auf Krausinger fügte er hinzu: "Und außerdem war das mit Sicherheit Zufall, daß sie gerade hier ihr Spielchen getrieben haben. - Also, betrachtet das, was Ihr gerade erlebt habt, als eine sicher sehr interessante Ergänzung Euerer bisherigen Lebenserfahrungen."

In die für einen Augenblick entstandene Stille hinein fragte Michael den General: "Was ist mit dem Alarmzustand? Soll er bestehen bleiben?"

"Lassen Sie ihn aufheben. Verstärkte Luftbeobachtung durch die Wache!" An alle Anwesenden gewandt sagte er: "Ich denke, wir sollten jetzt aufbrechen. Es ist spät geworden."

"Gut, fahren wir", sagte Kaiser. Alle erhoben sich, erleichtert darüber, daß sie sich von diesem unheimlichen Ort entfernen konnten und verab-schiedeten sich von Krausinger und Dr. Schmidt, die ja in Waldheide bleiben würden.

"Lassen Sie den Wagen vorfahren, Michael", sagte Keter. "Ich komme gleich nach." Alle verließen den Raum, bis auf Krausinger, dem Keter ein Zeichen gegeben hatte. Als sie allein waren, fragte Keter: "Das war doch wohl eine Warnung, Professor?"

"Ja. - Ja, sie sind da und sie haben uns gewarnt. - Oder... oder haben sie etwa die Zwerge weggeholt? ich muß sofort hinunter! Ich muß nach-schauen!" rief Krausinger aufgeregt. Er hatte sich die ganze Zeit über beherrscht, als die anderen dabei gewesen waren. Jetzt aber äußerte sich seine ganze aufgestaute Erregung.

"Ich komme mit." Vor dem Haus stand bereits Keters Fahrer mit dem Wagen. Der Wagen

mit Knappschulte, Quader und Kaiser passierte gerade die Wache und entfernte sich. Michael und Dr. Schmidt standen vor der Tür und beob-achteten den Himmel.

"Ich habe noch etwas mit dem Professor zu besprechen", sagte Keter im Vorübergehen zu Schmidt und Michael. "Es dauert vielleicht noch etwa eine halbe Stunde." Dann ging er mit Krausinger hinüber zum Gebäude Nr. 3. Als sie sein Dienstzimmer betreten hatten, zog Krausinger die Fen-stervorhänge zu und verschloß die Tür von innen. Dann begab er sich zu dem großen Schrank, der hinter seinem Schreibtischsessel die gesamte Wand zum Lastenaufzug einnahm. Er öffnete eine der Türen, drehte die Fächer samt Akten heraus, trat hinein und öffnete dann die Tapetentür, die sich in der dahinter befindlichen Wand befand. Keter folgte ihm.

Sie standen nun beide in einem engen, höchstens einen Meter breiten Korridor hinter der doppelten Wand. Krausinger bückte sich und entsi-cherte den verdeckten Verschlußmechanismus der runden Stahlplatte, die in den Boden eingelassen worden war. Keter hatte den Schrank von

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innen wieder geschlossen, ebenfalls die Tapetentür. Nun stiegen sie, Krausinger vorneweg, die enge Wendeltreppe hinunter. Krausinger hatte das Licht eingeschaltet. Sie bewegten sich, so schnell es ging, abwärts.

Unten angekommen öffnete Krausinger vorsichtig den Zugang. Er schaltete das Licht ein. Im Vorraum konnte er nichts Auffälliges ent-decken. Er trat ein. Keter drängte nach. Links befand sich der Lastenauf-zug. Vor ihnen sahen sie die stählerne breite Hauptschleuse, eine sichere Tresortür, die den Vorraum von der übrigen Etage trennte. Krausinger berührte eine Stelle an der Wand zum Lastenaufzug und langsam begann die Schleuse sich zu öffnen.

Als die Öffnung breit genug war, huschte er schnell durch den Spalt und lief zur großen Halle. Erleichtert stellte er fest, daß die Scheibe noch immer dort stand, wo sie all die Jahre gestanden hatte. Keter, der ihm gefolgt war, nahm ebenfalls erleichtert zur Kenntnis, daß ihnen die Schei-be nicht entführt worden war.

Nun schnell zu den Gefangenen. Diesmal war Keter eher da, weil er Krausinger nicht an sich vorbei ließ. Er griff nach der Klinke der Tür hinter welcher die Gefangenen schliefen. Hoffentlich noch schliefen und nicht bereits weg waren, auf Nimmerwiedersehen. Keter wollte die Tür aufreißen und Krausinger zuvorkommen. Er hatte nicht bedacht, daß Krausinger den Schlüssel bei sich trug. Als der aufgeschlossen hatte, schob er ihn beiseite und stand als erster in der geöffneten Tür. Krausinger versuchte an ihm vorbeizukommen.

Aber Keter blieb wie ein Fels in der Brandung im Türrahmen stehen und genoß den Anblick der Gefangenen, die nach wie vor auf ihren Pritschen lagen. Er sah Krausinger erleichtert an. Der nickte und sagte: "Alles in Ordnung. Gott sei Dank." Beide sahen sich noch einmal prüfend um. Dann verließen sie den Raum.

Krausinger verschloß leise die Tür. Als sich die schwere Stahlschleuse wieder geschlossen hatte, gingen sie die Wendeltreppe hinauf.

"Wir werden sie also noch einige Jahre als Gäste bei uns haben", sagte Keter in die nur durch ihre Schritte unterbrochene Stille hinein.

"Dem Himmel sei Dank, daß dem so ist", antwortete Krausinger, der noch vor zehn Minuten alle seine Träume und Hoffnungen hatte schwin-den sehen. Oben angekommen verschloß er die Stahlplatte, die Tape-tentür und den Schrank. Die entsprechenden Schlüssel trug er, in einem Brustbeutel um den Hals, immer bei sich.

Vor der Tür verabschiedeten sie sich. Keter stieg mit Michael in den Dienstwagen. Er gab dem Fahrer ein Zeichen und der Volvo setzte sich in Bewegung. Der Posten am Tor salutierte und schloß den Schlagbaum, nachdem der Wagen ihn passiert hatte und über den Zufahrtsweg in Richtung Landstraße rollte.

209

Krausinger hatte sich von Dr. Schmidt verabschiedet, sich in seine Pri-vaträume begeben und saß nun im Wohnzimmer in einem Sessel. Er hatte die Gardine vom Fenster weggezogen. Im Dunkeln sitzend, schaute er hinaus zum Sternenhimmel und dachte nach über das Geschehene. Sie haben sich also gezeigt. Nach so vielen Jahren haben sie sich gezeigt. Und sie haben mit ihrem Laserstrahl oder was auch immer das gewesen war, deutlich gemacht, daß sie genau wissen, was hier unter der Erde versteckt ist. Sie wollten ihre Leute wiederhaben, unversehrt. Aber ihre ganze Aktion hat auch gezeigt, daß sie die Gefangenen nicht so einfach mitnehmen konnten. Oder nicht wollten? Noch nicht wollten? Vielleicht können sie diese nur befreien, wenn sie munter sind, wenn sie selbst etwas zu ihrer Befreiung beitragen können? Ja, das wird es sein. - Sicher ist es so. Die Zwerge müssen selbst munter sein, damit eine Flucht klappt. Das bedeutet also, daß sie noch einige Jahre hier im Keller bleiben werden. - Ich muß unbedingt Gelegenheit haben, mit ihnen zu reden, wenn sie munter sind. Sie können nicht einfach abgeholt werden, ohne daß ich das Wesentliche geklärt habe.

Er grübelte weiter, während er angestrengt den Himmel beobachtete. Oder soll ich vielleicht direkten Kontakt mit ihren Befreiern aufnehmen? Jetzt schon? Das würde vielleicht viel Zeitgewinn bringen. - Ja, ich müßte sie kontaktieren. Aber wie? Was kann ich mit meinen bescheidenen Mit-teln unternehmen? Wann werden sie sich überhaupt wieder zeigen? -Wenn man 1944 als Ausgangspunkt nimmt, als wir die Zwerge gefunden haben, und wenn deren Freunde wirklich erst jetzt, 1988, zum ersten mal wieder in dieser Gegend waren, dann kann man nur von einer gegen Null gehenden Wahrscheinlichkeit sprechen, daß die vor 1995 noch einmal zurückkommen. Aber vielleicht ist es ja jetzt anders, wo sie doch mitbekommen haben, wo ihr "Dornröschen" schläft? Er schalt sich. Das ist doch unlogisch! Woher sollen die jetzt erst erfahren haben, wo die Gefangenen sich befinden? Durch Zufall? Wahrscheinlich wissen die das seit 1944! Ich muß einfach versuchen, Kontakt zu bekommen. Dazu muß ich die Augen offenhalten. Schon rückte er den Sessel näher an das Fen-ster. Er beobachtete den Nachthimmel, bis er einschlief.

Auch an den folgenden Abenden schaute er umsonst zu den Sternen. Der Wachmannschaft war ebenfalls eingeschärft worden, jedes verdäch-tige Flugobjekt, jede verdächtige Erscheinung am Himmel zu melden. Und die Wache war nun einmal Tag und Nacht präsent. Aber auch sie konnte nichts feststellen.

Nach einigen Wochen dämpfte sich Krausingers Beobachtungseifer. Er legte die Angelegenheit zu den Akten. So schnell war wohl doch nicht wieder mit den Besuchern zu rechnen, glaubte er.

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Waldheide, 1989. Es war der 01. Mai 1989. Und es schien, wenn man von den Äußerlichkeiten der Festveranstaltung ausging, alles so zu sein, wie in jedem Jahr am "Kampftag der Internationalen Arbeiterklasse". Im Versammlungsraum der Außenstelle waren alle versammelt, die nicht verhindert waren. Der Parteisekretär hatte wie zu einem Staatsakt schmücken lassen. Aber es kriselte draußen im Lande. Und je mehr es kriselte, um so lauter wurden überall die Schönwetterparolen und um so aufwendiger wurde auf Äußerlichkeiten Wert gelegt, gerade so, als könne man das Bröseln dessen, was Sozialismus genannt wurde, mit roten Fah-nentüchern verdecken.

Der General stand hinter dem Rednerpult und hielt die Festrede. Danach würden wieder Mitarbeiter befördert werden oder Orden an die Brust geheftet bekommen und dann würde mit Sicherheit das bis zum nächsten Morgen dauernde Besäufnis folgen, dachte Krausinger. Er ver-suchte, sich auf Keters Rede zu konzentrieren, aber die Konzentration ließ schnell nach, weil ihn die Beweihräucherung der DDR-Politik nicht interessierte. Er war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Er meinte, daß es doch eigentlich nur eines gebe, das zähle, Macht und Einfluß über Menschen - egal, welche ideologische Tünche, welche verbale Ver-packung darum herum sei. Und Macht und Einfluß können immer nur wenige Auserwählte haben, niemals die Masse. Dummes Gerede also von "Volkes Macht". Ich zum Beispiel, Krausinger redete in Gedanken mit sich selbst, habe weder eine ökonomische, noch eine politische Basis für Macht. Ich versuche nicht, die Massen durch ideologische oder religiöse Heilsverkündigungen hinter mich zu bringen. Ich trete auch nicht als populistischer Volkstribun auf, der dem Volke, dem "tumben Narren" nach dem Maule redet, um Gefolgsleute zu gewinnen. Ich brauche die Massen nicht. Wie sagte der Philosoph? "Der Starke ist am Mächtigsten allein." Wie wahr. Nun gut, nicht ganz allein. Ich benötige einige Gehilfen. Aber mehr nicht. Ich brauche die Massen nicht hinter mir. Sie werden unter mir sein, wenn ich oben stehe. So wie das bei allen rot, braun oder schwarz bemäntelten Führern bisher immer war. Ich aber werde im Unterschied zu diesen Führern dem Volke nichts weismachen müssen. Meine Macht wird aus sich selbst heraus, kraft der Fakten wirken. Sie werden sie akzeptieren müssen, ob sie es wollen oder nicht. Denn sie wird allgewaltig sein. Gottähnlich!

Krausinger berauschte sich an seinen wahnsinnigen, ihm jedoch nur vernünftig und logisch erscheinenden Gedanken. Er würde seine Macht nicht für jemanden anderen ausüben. Nicht für eine Religion, nicht für eine soziale Bewegung, nicht für ein Vaterland, nicht für einen wie auch immer genannten Führer. Er hatte seine eigenen Ziele.

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Er war auch kein fanatischer Altnazi. Für ihn galt nicht mehr der Korps-geist "Unsere Ehre heißt Treue." Schon lange nicht mehr. Nie hatte er nach dem Kriege Verbindung zu den Hilfsorganisationen der SS, wie der ODESSA, der SPINNE oder der HIAG gesucht, wie andere alte Kamera-den. Nie war es ihm in den Sinn gekommen, daß er sich auf Kamerad-schaftsabenden in der Erinnerung an Vergangenes berauschen könnte.

Er fühlte sich zur Herrenrasse gehörig. Aber er glaubte nicht, daß alle ehemaligen Kameraden dazu gehören würden, denn er verstand darunter etwas anderes, als er früher einmal gelernt hatte. Er konnte einfach dem Gedanken nichts abgewinnen, ein ganzes Volk von Durchschnittsmen-schen, also von Mittelmaß und darunter, wie er die Masse einschätzte, als Herrenrasse zu bezeichnen. Sie hatten, wie er meinte, einfach nichts, was darauf hindeutete. Das Blut allein konnte es nicht sein. Im Blut saß nicht das Edle. Blut war nun einmal nur Nährstoff- und Sauerstofftransporteur. Nein, Herrenrasse, das war für ihn jetzt jene menschliche Elite, die zur Macht geboren war, Macht anzog und Macht ausübte. Diese Menschen hatten natürliches Charisma und überdurchschnittliche Intelligenz. Dage-gen sah er die Masse der durchschnittlich intelligenten, unselbständigen und manipulierbaren Durchschnittsmenschen mit Sklavenseele, die nur an ihr alltägliches Wohl dachten, als allein zum Dienen geboren an. Für ihn spielte es auch keine Rolle, welcher Konfession, sozialen Herkunft, politischen Anschauung, Nation oder Rasse die angehörten, die er als herrenrassig betrachtete. Es gab sie überall auf der Welt. Für ihn versteck-te sich unter dem "roten Umhang" des Generals ein solcher Macht-mensch, ihm zwar keineswegs ebenbürtig, aber eben herrenrassig.

Krausinger wurde aus seinen paranoiden Phantasien gerissen. Er hörte seinen Namen. Keter war mit seiner Rede an der Stelle angelangt, an der er Krausinger einen neuen Motivationsschub geben wollte. Er hatte gera-de geäußert: "Nur ein starker - auch militärisch starker - Sozialismus, ist ein guter Sozialismus. Wir tragen mit unseren waffentechnischen For-schungs- und Entwicklungsresultaten unseren Teil dazu bei. Einen beson-deren Beitrag zu den Erfolgen des Institutes hat aber fraglos unser verehr-ter Dr. Letticher geleistet."

Krausinger wehrte kaum merklich ab. "Doch doch, Professor, seien Sie nicht so bescheiden. Ihrem forscheri-

schen Wirken, Ihrer Tag- und Nachteinsatzbereitschaft und Ihrem Kollek-tivgeist verdanken wir sehr viel. Ich habe Sie dem Ministerrat für die erneute Auszeichnung mit dem Vaterländischen Verdienstorden in Gold vorgeschlagen. Mein Vorschlag, natürlich unterstützt durch den Genossen Minister, wurde angenommen. Leider waren Sie gestern, zum Zeitpunkt der Ordensverleihungen in Berlin, unpäßlich. Deshalb werden Sie diesen Orden nachgereicht bekommen." 212

Ach, lüg doch nicht so unverfroren, General. Die ganze Show wird doch hier nur für die Nichteingeweihten abgezogen. Ich habe angeblich schon fünf solcher Orden bekommen, auf die ich so viel Wert lege, wie auf eine mongolische Ziegenlederzieharmonika. Und die Auszeichnungen hast immer du, General, hier oder in Warenthin, im "stillen Kämmerlein" vorgenommen, unter Ausschluß der Öffentlichkeit und ohne daß ich diese Orden wirklich angeheftet bekam. Die bekommt man nur in Berlin verliehen und es wäre den Mitarbeitern schon sehr merkwürdig vorge-kommen, wenn das anders wäre. Die Orden seien für mich sicher aufbe-wahrt im Tresor, wurde mir immer gesagt. Jedenfalls wird es auch diesmal so sein. Ich darf ja das Objekt nicht verlassen - "zu meinem Schutz". Ich heiße nicht Dr. Letticher und ob der Minister weiß, daß es mich gibt, das bezweifle ich auch.

Am 25. Juni 1989 fand in der Außenstelle Waldheide in Vorbereitung des 40. Jahrestages der DDR eine Versammlung des "Parteiaktivs" statt, zu der Keter mit seinem Stellvertreter für politische Arbeit, dem "Kommissar" Quader erschienen war.

Nach der Veranstaltung weihte Keter Quader in das Geheimnis von Waldheide ein. Er hatte lange mit sich gerungen. Am Abend zuvor hatte er sich dann aber doch dazu entschieden. Er mußte sich absichern. Er war zwar der Leiter der WVA, aber im Grunde ging nichts ohne den Par-teisekretär - nirgendwo in der DDR. Er hatte schon einige Zeit zuvor Krausinger davon überzeugt, daß das notwendig sei. Krausinger hatte nach anfänglicher totaler Ablehnung resignierend - er hatte die schlech-teren Karten - zugestimmt. Allerdings hatte er dem General das Zuge-ständnis abgerungen, Quader nur die Scheibe zu zeigen, nicht aber die Gefangenen.

Als Quader die Scheibe zu Gesicht bekam, kam er aus dem Staunen nicht mehr heraus. Krausinger, der mit nach unten gekommen war, erklärte Quader, er sei dabei, das Geheimnis des Antriebs zu lösen. "Sie wird wieder fliegen", sagte er im Brustton der Überzeugung.

"Mit entsprechender Bewaffnung wäre das die überlegenste taktische, wenn nicht gar strategische Waffe, die es je gab", meinte Keter.

Quader sah sich die Scheibe von innen und außen an, lief um sie herum, hörte Keters und Krausingers Worte und wurde euphorisch: "Stellt Euch einmal vorr Genossen", er streifte Krausingers Blick und korrigierte sich "... stellen Sie sich doch nurr vorr: Wirr können diese Scheibe in Ser-rie herrstellen. Damit Warrschauer Verrtrrag diese NATO-Pakt wirrd sich sein meilenweit iberrlegen!"

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Quaders Begeisterung ließ nicht nach. Er verließ, gemeinsam mit Keter, Waldheide, in dem Glauben, daß etwas ganz Großes in diesem Bereich der WVA geschehe, an dem er als Parteisekretär kraft Amtes maßgebli-chen Anteil haben werde.

Keter hatte nicht vergessen, ihn zu verpflichten, mit niemandem über die Scheibe zu sprechen, da nur der Minister selbst eingeweiht sei. Das versprach Quader bei seinem, wie er sagte "Ehrenwort als Kommunist".

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Kapitel IV

Warenthin, August 1989. Im August 1989 jagte in der WVA eine Ver-sammlung die andere. Hektik herrschte. Keter mußte oft nach Berlin. Er kam deshalb nicht mehr dazu, die Außenstelle zu besuchen.

In dem Maße, wie sich der 40. Jahrestag der DDR näherte und die Unzufriedenheit in der Bevölkerung wuchs, in dem Maße erhöhten sich die Anstrengungen der "Firma", um den wachsenden Widerstand und die Fluchtbewegungen einzugrenzen und zu ersticken und Erosionserschei-nungen am eigenen Apparat zu verhindern.

Die Montagsdemonstrationen in Leipzig zeigten bereits die Ohnmacht des Ministeriums. Als der Generalsekretär am 18. Oktober 1989 gestürzt wurde, hatte Keter ein Gefühl, als werde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen.

Als sich dann am 13. November sein Minister vor der Volkskammer mit den Worten "Ich liebe Euch doch alle - ich liebe doch alle Menschen" lächerlich machte, war ihm dieser Auftritt in höchstem Maße peinlich, denn er ließ ja indirekt alle Stasigenerale, und damit auch ihn, als Blöd-männer erscheinen.

Am gleichen Tag stellte der neue Ministerpräsident seine Regierungs-mannschaft vor. Der Regierung gehörte kein Minister für Staatssicherheit mehr an. Aber es gab ein Amt für Nationale Sicherheit. Diese Umbenen-nung des MfS hielt Keter für einen geschickten Schachzug, um die "Firma" vor dem Volkszorn zu schützen.

Er war allerdings schockiert, als der Generalstaatsanwalt am 05. Dezember ein Ermittlungsverfahren gegen den ehemaligen Minister ein-leitete. Den Minister verhaften und möglicherweise verurteilen? - Wo sollte das denn hinführen? Wer würden die Nächsten und Übernächsten sein?

Er wurde mit den ständig neu eingehenden Informationen immer unru-higer. Die Ereignisse überschlugen sich. Sogenannte "Bürgerkomitees" besetzten die Bezirksverwaltungen und die Zentrale in Berlin. In diesen Tagen wurde ihm der Alkohol zum genehmen Betäubungsmittel. Er kippte damals mehr Wodka in sich hinein, als selbst er vertragen konnte.

Viele seiner Offiziere soffen ebenso. Einige so exzessiv, bis sie unter den Tisch rutschten. Die Gelage erinnerten an ein bekanntes Gemälde, das die Tafelrunden im Führerbunker in den letzten Tagen des Dritten Reiches darstellte.

Michael beteiligte sich nicht daran. Er lernte Keter, den er immer als stark, charismatisch, alles und jede Situation beherrschend, erfahren

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hatte, nun zweifelnd, desolat, fast gebrochen, betrunken und resignierend kennen.

Schließlich raffte sich der General aber doch wieder auf. Irgendwie wurde ihm in einem klaren Moment bewußt, daß er ja schließlich die Verantwortung für viele Menschen hatte. Auf seine verzweifelten Anrufe in Berlin reagierte allerdings niemand mehr. Er solle sich selbst kümmern, das war der letzte Hinweis gewesen, den er erhalten hatte. So glaubte er bereits, daß man seine Institution völlig vergessen habe. Es wurde weiter-gearbeitet, als sei die WVA eine Welt für sich, die das alles, was sich da draußen veränderte, im Grunde genommen nicht betraf. Auf die Losungen "Stasi in die Produktion" reagierten sie, indem sie meinten, in der WVA seien sie ja schon immer in der Produktion gewesen.

Doch dann erhielt Keter am 15. Mai 1990 ein Schreiben aus Berlin. Es kam von einem der von der Regierung bestellten Auflöser. Man hatte sie also doch nicht vergessen. Irgendwie hatten die gemerkt, daß sich da oben, ganz im Norden noch einige hundert Mann befanden, für die fast alles noch so weiterlief, wie zu alten Zeiten.

Das Schreiben war an den Leiter der Einrichtung Warenthin, Herrn Keter, adressiert. Auch angeredet wurde Keter in dem Brief ganz ohne Dienstgrad. Er war empört. Aber dann meinte er, daß der Absender ja eigentlich recht habe. Das Ministerium gab es nicht mehr. So konnte auch keiner mehr einer von dessen Generalen sein. Aber immerhin war er der letzte aktive General des MfS, er, Generalleutnant Fritz Keter. Das tröstete ihn etwas.

In dem Schreiben wurde er davon in Kenntnis gesetzt, daß die WVA mit Wirkung zum 15. Juni 1990 aufzulösen sei. Der Leiter der Dienststelle trage die Verantwortung dafür, daß diese Abwicklung unproblematisch und ohne Widerstand gegen das Unvermeidliche vor sich gehe.

Keter schäumte vor Wut, als er den Inhalt zur Kenntnis genommen hatte. Er fluchte. Noch einmal kam sein ganzer Haß auf dieses Volk, den Pöbel, wie er es nannte, der den Sozialismus nicht verdient habe, hoch.

Am folgenden Tag sprach er mit niemandem über das Schreiben. Er sann Tag und Nacht darüber nach, wie es nun weitergehen sollte. Es schien ihm undenkbar, die WVA einfach zu schließen. Am zweiten Tag aber hatte er sich dazu durchgerungen, der Weisung zu folgen. Er hatte stets gewußt, wann er die schlechteren Karten besaß. Da am nächsten Tag ohnehin die routinemäßige Leitungssitzung stattfinden würde, wollte er diese Gelegenheit nutzen, als wichtigsten und unter diesen Bedingun-gen nun auch einzigen Tagesordnungspunkt die angeordnete Auflösung der Einrichtung zu behandeln.

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Er durchwachte unfreiwillig beinahe die gesamte folgende Nacht. Seit der "Wende", die für ihn ein konterrevolutionärer Umsturz war, konnte er ohnehin nicht mehr richtig schlafen. Nun aber war eine neue Eskalation in der Krise erreicht worden. Wohin sollte das alles nur noch führen? Völlig übernächtigt erwachte er am folgenden Morgen.

Um 09.00 Uhr betrat er den Beratungsraum. An den großen Dienstbe-sprechungen nahmen nicht nur seine Stellvertreter teil, sondern alle lei-tenden Offiziere bis zur Ebene der Abteilungsleiter und Gleichgestellten. Er teilte den Versammelten mit, daß allein ein Schreiben aus Berlin und die sich daraus ergebenden Konsequenzen Gegenstand der Dienstbe-sprechung sein würden.

Alle sahen ihn an. Einige erwartungsvoll und auf Gutes hoffend. Aber das waren nur wenige. Andere blickten gespannt und erregt. Wieder andere skeptisch, zweifelnd: Was sollte das schon sein, die Lage war so wie so beschissen.

Nachdem Keter das Schreiben verlesen hatte, herrschte einen Augen-blick lang Ruhe. Die Gemütsbewegungen reichten, wie an den Gesichtern abzulesen war, von Empörung und Wut bis zu Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit. "Scheiße, jetzt auch noch arbeitslos!" rief einer und beendete die Stille.

"Das können die doch nicht mit uns machen! Einfach auf die Straße set-zen ... ?" meinte ein anderer. Es wurde lamentiert und geklagt.

"Schießen hätten wir sollen!" schrie plötzlich einer voller Haß. Dann wurde erster Widerstand gegen die Weisung laut.

Major Pieter, der Küchenchef, meinte: "Abwickeln? Müssen wir das denn wirklich? Können die uns denn überhaupt noch etwas befehlen?"

Dr. Schließpak, ein Abteilungsleiter aus der Forschung, rief selbstbe-wußt: "Was wir hier leisten, das ist doch etwas, das in vielen Ländern der Erde für Militär und Nachrichtendienste interessant wäre. Sollten wir es nicht anbieten? Kommerziell, meine ich."

Knappschulte, Keters Stellvertreter für Verwaltung, warf ein: "Kein schlechter Gedanke!"

Ein anderer meinte: "Aber wenn, dann natürlich in erster Linie der Bun-desrepublik. Das sind wir unserem Vaterland schuldig!" Einige nickten zustimmend: "Richtig! Sehr richtig!"

Hört, hört die neuen Töne, und noch dazu von wem sie kommen, regi-strierte Keter.

"Das glaubt Ihr doch wohl selbst nicht, daß die im Westen daran inter-essiert sein könnten! Was wir hier entwickeln, das haben die doch schon vorgestern wieder ausrangiert", meinte der Leiter der EDV, Oberstleutnant Deckert, voller Ironie.

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"Also dann vielleicht doch nur an Schwellen- oder Entwicklungsländer verkaufen? Für die ist das allemal gut!" rief ein anderer.

Keter, der bisher nur ruhig beobachtet hatte, was da abging, dröhnte nun in das Wortgetümmel hinein: "Wir werden uns an den Befehl halten, Genossen!"

"Wer hat uns denn noch was zu befehlen?" rief einer. Andere unter-stützten ihn lautstark: "Richtig!" "Genau!" "Stimmt!"

"Was ist denn hier los?" dröhnte Keters tiefe Stimme erneut. Es wurde etwas ruhiger.

Knappschulte, Keters Stellvertreter, der an dem langen Beratungstisch neben ihm saß, meldete sich durch Erheben seiner rechten Hand zu Wort und drehte sich zu Keter: "Im Grunde genommen, kann man doch nie-mandem, der hier diese Fragen stellt, etwas übelnehmen. Wir müssen jetzt selber sehen, was wir tun können, um nicht unterzugehen. Denn jetzt geht es wirklich um das blanke Überleben, Genosse Keter!"

"An unsere gemeinsame Sache, an unsere Ideale denkt wohl keiner mehr?" versuchte Perle, der völlig irritierte stellvertretende PDS-Partei-sekretär, vorsichtig einzubringen. Aber damit lag er nun völlig verkehrt. Der Kommissar, die ihn hätte unterstützen können, war nicht anwesend, er betrat erst später den Raum und griff auch dann erstaunlicherweise und von Keter unangenehm registriert nicht in die Diskussion ein. Und die meisten Anwesenden hatten jetzt etwas anderes im Sinn.

Major Grünling, Leiter der sicherstellenden Bereiche, ließ sich nun zum ersten Mal vernehmen und brachte zum Ausdruck, was viele bewegte: "Was heißt denn hier Ideale und was heißt unsere Sache? Sache hin, Sache her. Ich habe Familie. Ich erwarte jetzt eine Lösung, die unsere sozialen Bedürfnisse berücksichtigt, jetzt sind wir nämlich alle Bürger, wie jeder andere draußen im Land. Und wir sind in der Regel auch nicht mehr die Jüngsten. Ob wir noch eine andere Arbeit finden, das ist doch noch die große Frage!"

Ein anderer Offizier, angetrunken, wie zu merken war, fixierte den hilf-losen Perle und fuhr ihn, mit dem Zeigefinger in der Luft herumfuchtelnd, an: "Und die Partei, hmm, dihihie Partei hat uns nichts... nichts mehr zu sagen. Die kann uns... kann uns ja doch nicht helfen."

"Was soll denn das heißen? Wo sind wir denn hier? Vergeßt nicht, daß wir Offiziere des Ministeriums ..." Major Peters, der Abwehrchef wurde unterbrochen. "Komm hör auf! Sieh dich doch mal um! Du lebst wohl noch vorgestern? Offiziere waren wir mal. Das ist lange her, fast schon eine Ewigkeit, habe ich das Gefühl. Ein Ministerium gibt es nicht mehr. Und die SED, der ich drei Jahrzehnte meines Lebens als Mitglied geopfert habe und an die ich geglaubt hatte, die hat versagt. Gründlich versagt!"

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Zwei, drei der Anwesenden versuchten den Redner davon abzubringen, auf die Partei zu schimpfen. Was sie auch erreichten. Dafür redete der Angetrunkene weiter: "Ja, ja die Partei, die immer... immer Recht hat! Wo, wo, ja wo ist die ... die denn? Die kann ... kann uns nicht mehr helfen. Nicht dieses... dieses klägliche Häuflein, das sich ... das sich jetzt äh P... PD ... PDS nennt! Jetzt ... jetzt heißt es doch wohl: Hilf dir... hilf dir selbst, dann ... dann wird dir geholfen!"

"Genooossen!" rief Keter, der das Heft wieder in die Hand bekommen wollte, gedehnt und mit Nachdruck.

"Was heißt hier Genossen? Sprechen Sie doch bitte etwas allgemeiner, Herr Keter", rief Dr. Schuhknecht, der nicht, wie die meisten in dieser Runde vom SED- zum PDS-Mitglied geworden war, und der als erster in der WVA niemanden mehr mit seinem Dienstgrad angesprochen hatte. "Und überhaupt", setzte er hinzu, "Sie haben uns doch nichts mehr zu sagen. Sie sind doch eine Altlast!"

Keter schwoll die Zornesader, er wurde hochrot im Gesicht und dann wieder blaß. Er rang nach Luft. Das war ja Meuterei! Diese Bande war ja nicht mehr zu bändigen!

"Genossen", rief der neue PDS-Parteisekretär Siele. Niemand kümmerte sich um ihn. "Geenoossen!" rief er deshalb gedehnt, um sich Gehör zu verschaffen. "Wir sollten doch sachlich bleiben und Genossen Keter seine Ausführungen machen lassen. Immerhin ist er noch der Leiter der Einrichtung. Wir sind doch nicht die Matrosen von Kronstadt! Wir sind doch kein Anarchistenhaufen! Wir haben Traditionen. Zu denen gehört auch die preußische Disziplin! Bedenkt das bitte. Ich glaube, es führt kein Weg an der Abwicklung vorbei. Obwohl ..." Er wiederholte gegen die laut werdenden Stimmen des Widerspruches:"... obwohl es natürlich auch mir lieber wäre, eine bessere Lösung zu finden."

Wieder redeten alle durcheinander. Sieles Entlastungsangriff für Keter hatte nichts genützt. "Ich verlange einen Runden Tisch", rief Schuhknecht der Parteilose. "Ja, ein Runder Tisch, frei von Altlasten, sollte sich mit unserer Zukunft befassen", stimmte ihm jemand zu.

Keter spürte Stiche im Herzbereich. "Runde Tische", die Vorstufen der Anarchie in seiner Einrichtung? Und "Altlasten", damit war ja wohl er gemeint - eine Unverschämtheit sowas!

"Runder Tisch, Runder Tisch! Jetzt ist dieser Bazillus der Staatsfeindlichkeit auch schon bei uns angelangt. Das ist doch widersinnig. Wir sind doch eine quasimilitärische Einrichtung. Hier gibt es keinen Runden Tisch. Das werden wir nicht zulassen!"

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Keter konnte nicht identifizieren, wessen Stimme das war. Er nahm ein Dröhnen in seinem Kopf wahr. Sein Herz schmerzte. Er fühlte sich ganz elend. Aber keiner beachtete ihn.

"Dann nennen wir es eben Soldatenrat, wenn Ihr das Militärische so be-tont!" rief jemand. "Ja, auch ich halte eine demokratische Veränderung der Führungsstrukturen für unabdingbar", meinte eine andere Stimme. Keter wurde jetzt wieder etwas klarer im Kopf. Die wollen mich opfern, dachte er bitter. Na bitte, meinetwegen. Es ist ja sowieso Schluß mit der WVA.

"Kollegen ...", begann Major Kretinak. "Kollegen? Das ist ja etwas ganz Neues", wurde er unterbrochen, "...

jetzt sind wir also bei der Gewerkschaft gelandet?" "Ja, ich sage bewußt Kollegen, weil ich eine neutrale Anrede wählen

möchte. Unsere Dienstgrade können wir doch vergessen, egal wie die Sache ausgeht. Hier gibt es jetzt weder General noch Hauptmann. Wir sind nun alle gleich. Und Genosse ist in diesem Raum, wie Ihr wißt, auch nicht mehr jeder. Und auch von den Genossen legt mancher keinen Wert mehr auf diese Anrede."

Es kam keinerlei Protest. "Was ich sagen wollte, Kollegen, ist folgendes: Wir sollten eine Kom-

mission zur Abwicklung der WVA bilden. Diesen Auftrag bzw. Befehl, wie auch immer, müssen wir ausführen. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Die Kommission ..."

Er wurde erneut unterbrochen. "Unsinn, wir wickeln nicht ab", rief einer. Ein anderer warf in den Raum: "Es muß doch einen Ausweg geben?" Und ein Dritter rief: "Also ich gehe gleich. Lange höre ich mir das nicht mehr an!"

"Die Kommission, Kollegen - laßt mich doch mal ausreden - sollte aber auch einen Weg suchen, der vermeidet, daß wir anschließend auf der Straße stehen. Und ich bin sicher, daß es da Auswege geben muß, aus dieser beschissenen Situation, in der wir uns im Moment befinden."

Keter hatte sich zurückgelehnt und verfolgte, wie er überhört, übergan-gen und praktisch entmachtet wurde. Und das von den eigenen Genos-sen! Von den Genossen, die er zum Teil schon sehr lange kannte. Die er gefördert hatte. Die deshalb auch ihm persönlich, nicht nur der Partei, wie er im Stillen meinte, viel zu verdanken hatten. - Aber, was heißt, so ging es ihm durch den Sinn, verdanken? Wofür sollten sie ihm jetzt, wo das alles nichts mehr wert war, noch dankbar sein?

Er nahm wahr, daß nach langem Hin und Her eine "Abwicklungskom-mission" gebildet wurde. Ihr gehörten neben Major Kretinak, der ihre Bil-dung vorgeschlagen hatte, Oberst Knappschulte, Hauptmann Siele und Dr. Kaiser an.

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Die Kommission verließ den Versammlungsraum und beriet sich in einem Nebenraum. Als sie zurückkam, bat Knappschulte Keter, die Front-seite des Tisches freizumachen, was dieser notgedrungen tat. Stühle wur-den herangerückt und die neuen Herren der VVVA, so sah es Keter, nah-men vorn Platz. Er verfolgte ohnmächtig, genau wie die anderen Anwe-senden nur ein Zuschauer, von einem Platz an der Seite aus was Knapp-schulte im Namen der Kommission verlas.

Knappschulte trug den "Beschluß Nr. 1 der Abwicklungskommission" vor. "Die Kommission zur Abwicklung der Waffentechnischen Versuchs-anstalt Warenthin hat soeben einstimmig beschlossen:

1. Generalleutnant Keter wird von seinen Pflichten als Leiter entbunden. Die Kommission dankt ihm für seine langjährige erfolgreiche Arbeit. 2. Die Kommission übernimmt kommissarisch die Leitung der Einrichtung. 3. Die Kommission wird auf einer Belegschaftsversammlung am 21.05.1990 Maßnahmen zur Abwicklung bekanntgeben und Wege zur Erhaltung der Arbeitsplätze vorschlagen."

Stille herrschte. Dann wurden erste zustimmende Meinungen geäußert. Keter dagegen fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen.

"Meine Herren, die Kommission dankt Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Informieren Sie Ihre Mitarbeiter über die bevorstehende Belegschaftsver-sammlung und setzen Sie Ihre übliche Arbeit fort, wie bisher. Wir als Kommission gehen in Klausur, um ein tragfähiges Konzept vorlegen zu können. Danke, meine Herren."

Alle erhoben sich von ihren Plätzen. Nur Keter, der wie unter einem Schock stand, saß noch. In seinem Schädel drehte sich alles. Nach einer Weile wurde es besser. Er riß sich zusammen. Mühsam erhob auch er sich und verließ den Raum.

Seine Offiziere mieden seinen Blick. Einige wandten ihm den Rücken zu, als sei er nicht da. Ein, zwei alte Genossen sahen ihn mit sorgenvollen Blicken an. "Ich halte das für eine Sauerei was sie mit dir gemacht haben", sagte einer. "Aber so ist das heute. Die alten verdienten Genossen läßt man fallen, wie heiße Kartoffeln."

Keter antwortete nicht. Was sollte ihm das jetzt noch? Warum hatte sich keiner stark gemacht für ihn? Jeder dachte doch jetzt nur an sein eigenes Überleben. Selbst die alten Kampfgefährten schlugen sich heimlich auf die Seite der Sieger vom Schlage Knappschultes. Zumindest verhielten sie sich ruhig, um den neuen Herren nicht unangenehm aufzufallen. Der König ist tot - es lebe der König. Bald werden sie Knappschulte und Kon-sorten auf den Schultern tragen. Er wollte jetzt mit niemandem mehr sprechen. Schweren Schrittes und mit hängenden Schultern erreichte er sein Zimmer und ließ sich in seinen Sessel fallen.

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Erst zirka zwanzig Minuten später begann er wieder klare Gedanken zu fassen. Er war als Leiter abgesetzt worden. Diese Erkenntnis war schmerzlich. Immerhin war er 35 Jahre lang in dieser Einrichtung der Chef gewesen und er hatte seinen Abschied von dieser Position, der ohnehin bald auf der Tagesordnung gestanden hätte, anders erwartet - mehr im Sinne eines feierlichen Aktes und mit der Versetzung in den Ruhestand in allen Ehren und vielleicht noch befördert zum Generaloberst a.D. So wäre es angenehm gewesen. So wäre es auch gerecht gewesen, dachte er.

General sagte auch keiner mehr. Er war jetzt einfach nur noch ein Herr Keter, wie ein x-beliebiger Herr Meier draußen in der Stadt. General zu sein, war ein Lebensgefühl gewesen. Man war etwas Besonderes. Men-schen erfüllten Befehle widerspruchslos. Selbst solche, die einem geistig oder körperlich weit überlegen waren. - Und diese Uniform! Wie hatte er sie immer gern getragen. Sie hob einen heraus aus der grauen Masse. Er strich zärtlich über das gute Tuch, betastete die schweren goldenen Rau-penschlepper der Schulterstücke und die zwei goldenen Sterne. Auch die rot und golden gehaltenen Arabesken an den Kragenspiegeln streichelte er mit den Fingerspitzen.

Er wurde schwermütig. Nie wieder würde er diese Uniform tragen kön-nen. Er ging zurück zum Sessel und setzte sich wieder. Ja, es stimmte schon, was Gottfried Keller einst festgestellt hatte: Kleider machen Leute. - Sollte er nun immer in Zivil herumlaufen? Wie irgendein kleiner unbe-deutender Rentner im Lande? Wer würde ihn jetzt noch respektieren? Ja, was war er eigentlich noch wert? Er versuchte sich von seinen selbstbe-mitleidenden Gedanken zu befreien. Aber es gelang ihm nicht. Rausge-schmissen haben sie mich im Grunde genommen auch. Ich bin praktisch arbeitslos. - Diesen Knappschulte, diesen Verbrecher, den hätte ich schon vor Jahren als Stellvertreter ablehnen sollen. Ich habe gleich, als er zu mir kam, mangelnde Sympathie verspürt. Aber ich habe den Kerl nicht zu fas-sen gekriegt. Der war immer aalglatt. Und seine Verwaltungsarbeit hat er nun einmal gut gemacht. Da kann man nichts sagen. Außerdem war der wohl mit Ernst Thälmann entfernt verwandt, hieß es mal. Da war nicht gegen anzukommen.

Was will ich eigentlich hier noch? Ja, wieso gehe ich nicht wirklich gleich? - Nein, das wäre sicher dumm. So leicht will ich es denen nicht machen. Ich muß bleiben und hören, was sie sich als Zukunftsperspektive für die WVA ausgedacht haben. Habe ich so viele Jahre meines Lebens in die WVA investiert, dann kann ich auch noch bis morgen warten.

Plötzlich kam ihm Waldheide in den Sinn. Sicher würde die Kommission sich auch für die Außenstelle zuständig fühlen. Da gab es gar keine Frage. Aber es war zu erwarten, daß die Waldheide bald aufgeben wür-

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den, weil keiner von der Kommission von dessen wirklicher Bedeutung etwas wußte. Dann könnten er und der Professor in dem verlassenen Objekt bleiben und irgendwie ausharren bis zu dem Termin im Jahre 1995. Dieser Termin, der ihnen helfen würde, die Uhren zurückzudrehen, würde alles verändern und ihn diese Niederlage hier verschmerzen lassen, tausendfach verschmerzen. Und alle die, die ihn jetzt verraten hatten, würden noch einmal zu ihm kommen als sei nichts gewesen und würden ihn bitten, wieder seine Mitarbeiter werden zu dürfen. Ja, er mußte unbedingt nach Waldheide. Dort war jetzt seine Heimat.

Es klopfte und im gleichen Moment trat Quader ein. Keter sah ihn wütend an. Er hatte von seinem Politstellvertreter Unterstützung erwartet, die ausgeblieben war.

"Frritz, nimm nicht so schwerr. Warr sich abzusehen." "Daß es dich auch noch gibt! Ich habe von dir kein einziges Wort gehört,

heute morgen, so ganz gegen deine Gewohnheit immer und überall Reden zu schwingen! Schön ruhig sein und die eigene Haut retten. Was ist denn das für eine Haltung für einen Kommunisten?!"

"Paß auf Frritz. Warr sich doch Taktik! Gemerrkt hast, wie brodelte Hexenkiche. Als ehemaligerr Sekrretärr von SED und als Politstellverrtre-terr ich doch soforrt wärre gewesen auch in Schußlinie wie du!"

Keter unterbrach ihn ärgerlich: "Ja, ja, der Keter kann ja draufgehen. Hauptsache ich, Quader, werde gerettet. Sicher. Gesunde Einstellung sowas!"

"Siehst falsch das, Frritz. Mußt verstehn. Ich mirr nicht konnt' leisten, auch werrden abgeschossen, wegen wichtiges Auftrrag, was habe!"

Keter stutzte. "Von wem willst du denn einen Auftrag haben? Es ist doch alles zusammengebrochen!"

"Frritz, du natirrlich rrecht hast. Alte Strrukturren brrechen sich weg. Warr sich abzusehen. Deshalb verantwortungsvolle Genossen begonnen haben zu bauen neue Strrukturren berreits Ende von Dezembern An Rregierrung vorrbei! Grruppe von Offizierren aus zweite und dritte Fihr-rungsgarrniturr von Hauptabteilungen und Verrwaltungen, Codename 'Die Obrristen', hat ibermommen die Spitze! Schätzen ein Lage so, daß wahrrscheinlich läuft sich hinaus alles auf einheitliches kapitalistisch beherrschtes Deutschland. Ob nun iberr Konföderration oderr ohne solch' Vorrstufe mit Charrakterr von Feigenblatt. Genossen in Berrlin favorrisierren sich aus bestimmte Grrinde einheitliches Deutschland gegeniberr von Konföderrationsgebilde. Dabei wirr sind, aus unserre wichtigste Institutionen und aus aufrechteste Genossen zukinftiges Gesamtdeutschland durchziehendes Netz zu schaffen. Ziel soll sich sein: Untertauchen, leistungsfähige Strrukturren unterrhalten, legale, halble-

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gale und illegale Möglichkeiten nutzen, um Gesellschaft zu durchsetzen. So werrden sein eines Tages wirr so weit, daß können Deutschland iberrnehmen!"

Keter sog gierig in sich ein, was er da exklusiv von Quader zu hören bekam. Endlich einmal Kampfgeist, Mut, Widerstandswillen, wie er sie seit Monaten vermißt hatte. Das ist noch Tschekistengeist, dachte er, obwohl er Quader noch nie hatte leiden können. So kann man sich in Menschen täuschen, dachte er angenehm berührt. Er war positiv überrascht.

Quader redete weiter: "Frritz, zu diese wichtige Institutionen in Netz gehörrt sich dein 'U-Boot' in Waldheide. Waldheide ist mächtige Trrumpfkarrte, die wirr in entscheidende Moment werrden ziehen aus Ärrmel. Was habt in tiefste Keller, ist sich unserre wichtigste Flotille. Und du Frritz bist Admirral, derr warrtet sich in U-Boot auf Einsatz."

Keter richtete sich moralisch gestärkt in seinem Sessel auf, seine Brust schwoll vor Stolz und aufgrund des wiederhergestellten Selbstwertgefühls.

"Frritz, und eines sollst wissen: Firr uns nicht gehörrst zum alten Eisen. Wirr dich brrauchen und zählen auf dich."

Das ging Keter runter wie Öl. Das war ein Labsal für seine geschundene Seele. Die Genossen haben mich doch nicht abgeschrieben. Sie brauchen mich. "Selbstverständlich Hermann. Ihr könnt immer auf mich zählen. Ich bin dabei."

"Das wirr auch haben errwarrtet so. Werrde sein firr Euch zuständig. Dirrektorrium kennt natirrlich nicht alle Einzelheiten, weißt schon. Bin ich aber Inspekteurr firr Bewaffnung. Damit ist sich gewährrleistet ständige Kontakt zwischen uns."

"Ich gratuliere dir zu deinem Amt", sagte Keter. Dann fiel ihm Waldheide wieder ein. "Sag mal, wie soll ich denn das alles machen, wenn die mich hier entlassen werden und Waldheide unter Knappschultes Leitung steht?"

"Da mach dirr nicht Sorgen. Waldheide abgeklemmt wirrd von GmbH, die wirrd sich gebildet aus WVA. Und du wirrst firr Dirrektorrium verr-walten Waldheide. Muß jetzt zu Kommission. Bleibst bis morrgen. Werrd inforrmierren dich."

"Gut, ich bleibe", sagte Keter. Quader verabschiedete sich und ließ einen moralisch gestärkten,

zuversichtlichen Keter zurück.

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Michael, der als der Persönliche Referent und Adjutant Keters stets an den Dienstbesprechungen der Leitung teilgenommen hatte, war diesmal nicht dabei gewesen, weil er als Operativer Diensthabender Vierund-zwanzigstundendienst gehabt hatte, eine Einrichtung, die man in der WVA vorsichtshalber beibehalten hatte. So erfuhr er erst aus zweiter Hand, was geschehen war.

Er saß gerade beim General und erhielt die ihn erschreckenden Neuig-keiten bestätigt, als das Kommissionsmitglied Siele Keter im Auftrag der Abwicklungskommission für 14.00 Uhr in den Beratungsraum bat. Man habe etwas mit ihm zu besprechen.

Pünktlich betrat Keter den Beratungsraum, den die Kommission sich als ständiges Hauptquartier auserkoren zu haben schien. Außer den Mitglie-dern der neuen Leitung war auch Quader im Raum. Er saß an der Seite und nickte Keter aufmunternd zu.

Die Kommissionsmitglieder legten ihm einige Listen vor, die er unter-schreiben sollte. Es sei nicht nötig, daß er sich damit aufhalte, sie alle im Detail zu lesen. Es handele sich dabei um Entscheidungen, die getroffen worden wären, um die zukünftige GmbH leistungs- und konkurrenzfähig am Markt zu gestalten. So seien eine Personalstraffung und weitere Maß-nahmen notwendig.

Keter sah sich die Listen an. Da war auch überall ein Datum. Das Datum lag zwei Tage zurück. Seltsam! Er sollte also der Buhmann sein, der die Leute feuerte? Nicht mit ihm. Und genau das sagte er auch.

"Aber Genosse Keter", sagte Siele "... wie kommst du denn nur auf so etwas?" Theo Kaiser meinte: "Wir können das nicht einfach unterschrei-ben. Du bist nun einmal offiziell immer noch der Leiter der Einrichtung, bis zum Termin der Auflösung, dem 30. Juni."

"Seien Sie doch bitte so fair, Herr Keter...", sagte Knappschulte, "... und erschweren Sie uns nicht unsere Arbeit. Wir haben doch das Vertrauen der Genossen hier in Warenthin und auch in Berlin. Oder haben Sie auch nur einen gesehen, der darauf bestanden hätte, daß Sie die Einrichtung weiterhin leiten?"

Das war ein Tiefschlag. Keter griff nach seinem Herzen. So eine Gemeinheit!

Mit dem Kopf auf Keters Hand am Herzen weisend, meinte Kretinak: "Immerhin, Herr Keter, gehören Sie ja mit Ihren bald achtzig Jahren eigentlich schon lange in den Ruhestand. Freuen Sie sich doch darauf, daß Ihnen diese große Verantwortung von den Schultern genommen wurde."

Das war ein weiterer Hieb gewesen. Keter schluckte.

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Jetzt sprang ihm Quader bei: "Genossen! Frritz bei weitem nicht so aus-sieht, wie Achtzigjährriger. Das wißt selbst. Und ist sich auch gesundheit-lich in Orrdnung. Aber so wie rredet mit ihm, da selbst mirr wirrde Herrz tun weh, und ich doch viel jingerr als err!" Dann wandte er sich an Keter: "Frritz, denk drran, was hab' dirr gesagt. Tu uns Gefallen, hierr ab-schließen deine Arrbeit. Hilfst unserre Sach'."

Alle nickten bekräftigend. Keter überlegte. Alte Genossen in Rente schicken und junge in die

Arbeitslosigkeit? Alles Genossen, mit denen er jahrelang zusammengear-beitet hatte? Nein, den Preis wollte er nicht zahlen. "Ich werde nicht für Euch die Genossen auf die Straße werfen. Das könnt Ihr von mir nicht verlangen!" Er pokerte hoch, aber er hoffte, daß die Entscheidung des Direktoriums bezüglich Waldheide und der Rolle, die er, Keter, spielen sollte, schon ihre Wirkung auf diese subalternen Warenthiner Vasallen ausgeübt haben würde.

Die ließen jedoch nicht locker, was die Unterschriften betraf. Sie wollten sauber bleiben und sich nicht den Zorn der Entlassenen zuziehen. Also versuchten sie Keters Widerstand zu überwinden. "Genosse Keter", sagte Siele, "... glaube uns doch bitte. Wenn wir die Einrichtung ab Juli unter den neuen Bedingungen für unsere gemeinsame Sache erhalten wollen, müssen wir wettbewerbsfähig sein, uns weitgehend selbst tragen. Wir erhalten dann keine Gelder mehr aus dem Staatshaushalt. Dann sind auch unsere Reserven aufgebraucht, von denen wir im Moment noch zehren. Wir können dann nicht mehrere hundert Mann durchbringen."

"Herr Keter", mischte sich nun wieder Kretinak ein: "... für die notwen-digerweise Ausscheidenden ist gesorgt. Sie werden eine Abfindung aus dem Staatssäckel erhalten. Die Rentner werden eine gute Altersversor-gung bekommen, dafür hat die Volkskammer bereits die gesetzlichen Grundlagen geschaffen. Und alle werden in Ehren entlassen. Sie erhalten ein unverfängliches Zeugnis von unserer angeblichen 'NVA-Dienststelle'. Damit können sie sich überall bewerben, ohne daß auffällt, woher sie wirklich kommen."

"Kannst berruhigt unterrschrreiben. Niemand wirrd sich leiden", sagte Quader.

Keters Widerstand brach. Seine moralischen Bedenken waren weitge-hend ertränkt worden. Und sein Ziel, in wenigen Jahren in Waldheide zusammen mit dem Professor den Termin wahrzunehmen, erhielt die Pri-orität. Er unterschrieb.

Knappschulte dankte ihm im Namen der Geschäftsführer und übergab ihm ein Abberufungsschreiben, unterschrieben von genau dem Mann, von dem er die Weisung zur Auflösung erhalten hatte. Es war datiert wie

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das Schreiben über die Auflösung der WVA und berief ihn zum 30. Juni ab. Keter starrte auf das Papier. Wie waren die in den Besitz dieses Schreibens gekommen? Er war nahe daran, die Macht wieder an sich zu reißen, die er ja offiziell noch besaß. Aber dann ließ er es. So wie es nun lief, war es vielleicht doch besser.

Knappschulte forderte ihn auf, in den folgenden vierundzwanzig Stun-den alle Dokumente zu übergeben, sein Dienstzimmer zu räumen und das Objekt zu verlassen. Keter war es recht. Er wollte nicht mehr warten bis zur Belegschaftsversammlung. Er konnte seinen Leuten nun ohnehin nicht mehr in die Augen sehen. Quader begleitete ihn in sein Zimmer. "Frritz, wirrst fahrren morrgen nach Waldheide. Wirrd offiziell sich sein nurr Jagdpacht mit kleine Verrwaltung. Unterrsteht dirrekt Dirrektorrium. Werrd' sein Kontaktperrson firr Euch. Darrfst haben dorrt höchstens zehn Mann firr Entwicklung von Scheibe und Wache und alles iberrhaupt."

"So wenig Leute? Und wie sollen wir dann forschen? Was meinst du denn, was der Professor sagen wird?"

"Prrofessorr? Ist sich nicht Chef. Hat zu machen, was Auftrrag. Denk ich, err sich ist so genial? Kann err sich doch auch ohne viele Helferr forr-schen."

"Außerdem brauche ich Michael Rummel in Waldheide." "Rrummel ist sich nicht mehrr Adjutant. Außerrdem warr sich iberrhaupt

nicht politisch rreif nie." "Ich weiß, daß mir kein Adjutant mehr zusteht. Aber als einen der Mit-

arbeiter, vielleicht für Wache und so, könnte ich ihn gebrauchen. Und du schätzt ihn politisch völlig falsch ein. Du kennst ihn halt nicht so gut, wie ich."

"Warr sich Rrummel in Parrteilehrrjahrr öfterr seltsam unklug. - Na, mußt selbst wissen. Gewisse Entscheidungen iberr Perrsonal stehen zu dirr auch selbst. Ich mich nicht noch kimmerr darrum."

Keter brauchte Michael. Der hatte immer gut gearbeitet, er konnte sich auf ihn stets verlassen und er hatte sich an ihn gewöhnt. Er mußte einen Posten für ihn finden. Es würde keine Verwaltung in Waldheide geben, Schreibkram aber mit Sicherheit. Eine Wache würde benötigt, denn die Wachmannschaft würde verabschiedet werden müssen. Und er hatte kei-nen Fahrer mehr. Hier boten sich mehrere Tätigkeitsanteile, die Michael wahrnehmen könnte.

Am nächsten Tag erhielt Keter einen alten Lada, der, wie er meinte, schon lange hätte aus dem Fuhrpark ausrangiert werden müssen. Da sein Fahrer zu den bereits entlassenen Zeitsoldaten gehörte, saß nun Michael

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am Steuer des Wagens, als sie die WVA verließen. Während der Fahrt dachte Keter darüber nach, was in den letzten Tagen alles geschehen war. Es war für ihn deprimierend gewesen, seine Entmachtung zu erleben. Zuletzt hatte er noch Dr. Kaiser, einem der neuen Geschäftsführer der Gmbh i.G. sein Dienstzimmer übergeben müssen.

Als sich der Wagen dem Objekt Waldheide näherte, beschlich ihn ein seltsames Gefühl. Bisher war er immer als König auf ein Vorwerk seines Reiches gefahren, wenn er hierher kam. Nun fuhr er als der Vogt eines neuen Königs in die ihm verbliebene Vogtei. Er war jetzt nur noch ein Vasall. Aber eigentlich hätte alles noch viel schlimmer kommen können, dachte er. Immerhin war der alte König nicht unter der Guillotine gelandet.

Der Wagen bog von der Chaussee ab und in den Waldweg ein. "Nur für Forstfahrzeuge" stand auf einem Schild. Nach wenigen Minuten Fahrt, sahen sie den Schlagbaum vor sich. Der Schlagbaum blieb geschlossen, ganz im Gegensatz zu sonst, wenn Keter im Volvo eintraf.

Der Posten, nicht mehr in der NVA-Uniform, sondern in einem buntge-fleckten Tarnanzug, ohne Rangabzeichen und ohne Kopfbedeckung, trat auf den Wagen zu. Als er Michael am Steuer des schäbigen Lada erkann-te und Keter in Zivil hinten sitzend, schaute er verdutzt und seine Hand zuckte automatisch zum Gruß an die nicht vorhandene Uniformmütze. Dann öffnete er den Schlagbaum.

Michael fuhr bis vor das Stabsgebäude und ließ Keter aussteigen. Der begab sich in sein Dienstzimmer. Es war schon ziemlich spät geworden und er hatte auch noch nicht die Kraft, irgend etwas zu bewegen oder mit irgend jemandem zu sprechen. Das mußte Zeit haben, bis zum nächsten Tag.

Als er am nächsten Morgen in den Frühstücksraum der Leitung kam, saßen der Professor und Dr. Schmidt, der bisherige Leiter der Außenstel-le, bereits am Tisch. Keiner von beiden sprach. Schmidt war von den Ereignissen der Wende sehr betroffen. Er war seit Monaten still und in sich gekehrt und meinte einmal zu Krausinger: "Ich wollte doch nur das Beste ..." Er hatte Keter bereits Ende 1989 um Ablösung als Leiter der Außenstelle gebeten. Krausinger dagegen sprach ohnehin meist nicht viel.

So traf Keter die beiden an. Er äußerte noch nichts zu der neuen Lage, sondern ließ sich sein Frühstück servieren.

"Genosse General, ich habe gehört, Sie seien in einem Lada gekommen - und ohne Fahrer?" Schmidt sprach leise und sah Keter fragend an. Nun blickte auch Krausinger überrascht hoch: "Was? "Hatten Sie einen Unfall?"

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Keter schüttelte den Kopf. "Nein, nein, kein Unfall. Ich muß Ihnen bei-den etwas sagen. Es hat bestimmte Veränderungen ..."

"Was für Veränderungen?" Krausinger ahnte nichts Gutes. Auch Dr. Schmidt starrte Keter und Michael, der sich ebenfalls an den Tisch gesetzt hatte, fragend an.

"Ich werde Ihnen morgen - nein, heute nachmittag, Genaueres sagen. Lassen Sie mir noch etwas Zeit."

Stille herrschte am Tisch. Schmidt und Krausinger schmeckte es offen-sichtlich nicht mehr. Irgend etwas Bedrohliches lag in der Luft. Das spür-ten beide. Keter sah keinen an und frühstückte weiter. Bald darauf erhob er sich, nickte allen zu und sagte: "Ich werde Sie rufen lassen." Dann begab er sich zurück in sein Dienstzimmer.

Auch Michael erhob sich und verließ den Raum. "Was wird es denn sein?" fragte Schmidt, als Keter und Michael sich

entfernt hatten. "Vielleicht müssen wir hier raus? Vielleicht gibt es die WVA nicht mehr?"

"Um Gottes Willen, Dr. Schmidt, malen Sie doch nur nicht den Teufel an die Wand!" Krausinger war ziemlich verunsichert. Mehr noch Schmidt. Sie erhoben sich und jeder begab sich dorthin, wo er nach dem Frühstück auch so hätte hingehen müssen, aber sie waren, jeder auf seine Weise in Gedanken versunken und bedrückt.

Keter ließ sich die Personal listen bringen und begann eine Aufstellung derjenigen Personen anzufertigen, die man in Waldheide entbehren konnte und die auch relativ unproblematisch verabschiedet werden konnten. Er beauftragte Michael, die Papiere für die zu Entlassenden vor-zubereiten. Dann begab er sich zu Krausinger und informierte ihn. "Also Professor, die Lage ist die ... die WVA existiert nicht mehr."

"Was? Das hat doch Schmidt schon ge ... Das kann doch nicht sein. Wir können ..., wir können doch jetzt hier nicht weg!" rief Krausinger völlig entgeistert.

"... und General bin ich auch nicht mehr. - Und die Leitung haben jetzt andere inne."

Krausinger stutzte, blickte Keter an und fragte: "Wieso andere die Lei-tung? Sie sagten doch gerade, die WVA gibt es nicht mehr?"

"Das stimmt auch Professor. Die WVA unter meiner Leitung hat aufge-hört zu existieren. Sie nennt sich jetzt SHT und wird eine GmbH. Geschäftsführer sind Knappschulte, Kaiser und ein paar andere. Und Quader spielt da auch eine Rolle."

"Und Sie?" 229

"Ich habe es Quader zu verdanken, daß ich unsere ehemalige Aus-senstelle leiten darf. Wie gut, daß wir ihn damals eingeweiht haben, denn nur deshalb können wir hier bleiben und weitermachen. - Damit, Profes-sor, bleibt hier beinahe alles so, wie es war. Sie bleiben mein wichtigster Mitarbeiter, nach wie vor und es ändert sich für Sie persönlich nichts."

Krausinger atmete erleichtert auf. "Wissen diese Geschäftsführer, was wir hier im Keller haben?"

"Keine Sorge Professor. Das weiß nur Quader. Und der wird es denen nicht auf die Nase binden. Der arbeitet doch auf einer strategischen Ebene."

Keter erläuterte Krausinger die neue Situation. Er sagte auch, daß die Zeiten, als das Geld aus dem Staatshaushalt geflossen sei, wie es gebraucht wurde, vorbei seien. Die neue Firma müsse wirtschaftlich arbeiten. Man müsse deshalb auch in Waldheide wesentlich kleinere Brötchen backen, als bisher. Das werde jedenfalls so bleiben, solange die politischen Verhältnisse die eigenen Kräfte zum Abtauchen zwängen. "Wenn wir eines Tages alles wieder im Griff haben, dann kann es wieder ganz anders aussehen", meinte er.

"Darf ich fragen, was Sie damit meinen, General?" fragte Krausinger verwundert. "Glauben Sie denn wirklich, daß Ihr 'realer Sozialismus' wie-der aufblühen wird?"

Keter, der mit Wohlgefallen die Anrede General gehört hatte, antworte-te: "Professor, ich möchte jetzt keine politische Grundsatzrede halten. Ich weiß, wie verhaßt Ihnen diese sind. - Doch doch, ... doch ich habe das immer gemerkt. Ich kann Ihnen aber etwas anvertrauen, was ich für denkbar halte. Wenn diese konterrevolutionäre Regierung in Berlin unsere Republik kampflos an die BRD übergibt, ja verschenkt, dann haben wir vielleicht sogar bessere Chancen, ein sozialistisches Gesamtdeutschland zu bekommen, als jemals in den letzten fünfzig Jahren. Wir werden das System unterwandern. Wir werden mit Sicherheit im Bundestag sitzen. Wir werden zahlreiche 'nützliche Idioten' der bürgerlichen Seite für uns arbeiten lassen. Wir werden zehntausend Bundesbürger, die wir zum Teil bereits vor Jahrzehnten angeworben und als Schläfer gehalten haben, für unsere Sache aktivieren. Und schließlich werden die Krisen des westli-chen Systems über kurz oder lang in unsere Hände spielen. Dann über-nehmen wir unblutig, soweit es geht, die Bundesrepublik. Der Sieg dieser bürgerlichen Kräfte wird ein Pyrrhussieg sein. Im Grunde genommen holen sie sich doch nur ein Trojanisches Pferd hinein, wenn sie die DDR übernehmen sollten."

"Na, ob das alles wirklich so kommt?" bezweifelte Krausinger Keters Worte. Er hatte ja seine eigenen Ziele und ihm war es völlig egal, ob in

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Bonn eine konservative, eine Grün-Rote, eine breite Volksfrontregierung oder eine rein kommunistische Regierung saß.

"Versprechen kann ich das allerdings nicht", sagte Keter, die eigene Euphorie etwas dämpfend, "... aber ich hoffe es und vieles spricht dafür, zumal ich davon überzeugt bin, daß die gesetzmäßige Entwicklung der Gesellschaft zwar Rückschläge erleiden kann, aber auf Dauer gesehen sich in einer Höherentwicklung vollziehen wird. - Der Kapitalismus hat nun einmal abgewirtschaftet. Sein Fall ist gesetzmäßig."

Im Juli ließ Keter die Restbelegschaft von Waldheide in den Beratungs-raum kommen. Es waren nun nur noch die anwesend, die bleiben sollten und auch wollten.

Er sah sich um. Dieser Saal war immer voll gewesen, wenn er seine Leute zusammenrufen ließ. Jetzt saßen da lediglich noch der Professor, Dr. Schmidt, Hauptmann Michael Rummel, sein Adjutant, Hauptmann Peiges, der ehemalige Parteisekretär der Außenstelle, Oberleutnant Funke, ehemaliger Wachzugführer, Hauptmann Reddler, der einstige Sicherheitsbeauftragte und Abwehrmann, Oberleutnant Schulz, ein Diplomingenieur, der als Techniker zur Forschungsgruppe gehörte, der Physiker Dr. Thomas Schadeberg, der zweite Physiker in der Gruppe, Hauptmann Kapons und der Mathematiker Peter Rosenzweig. Also nicht einmal mehr ein Dutzend, stellte er wehmütig fest.

Keter lobte die Anwesenden dafür, daß sie sich dafür entschieden hat-ten, weiter in Waldheide zu bleiben und eventuelle Konsequenzen auf sich zu nehmen. Dann sagte er: "Genossen, wir haben eine völlig neue, für uns ungewohnte Situation. Wir sind nicht mehr Herren im eigenen Land. Wir müssen vorübergehend in die Illegalität. Das heißt, wir müssen abtauchen, bis sich die Verhältnisse zu unseren Gunsten geändert haben. Wir können uns also nicht in der Öffentlichkeit zeigen, wenn wir unser Projekt nicht gefährden wollen."

Alle sahen ihn gespannt, aber gefaßt an. "Deshalb lege ich fest: Erstens. Es verläßt keiner mehr das Objekt. Aus-

nahmen genehmige ich. Zweitens. Wir müssen dafür sorgen, daß Frem-den der Eindruck vermittelt wird, als werde das Objekt nicht mehr genutzt. Drittens. Wir reden uns, wenn wir hier oben sind, nur noch mit den Vornamen an. Ich heiße Fritz. Professor, ich hoffe, daß auch Sie das akzeptieren. Es dient unserer Sicherheit.

Wenn ein Fremder das Objekt betreten würde und hier die Worte Genosse, Hauptmann, General oder Professor hören würde, dann wären

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wir doch verraten! - Diese besonderen Vorsichtsmaßnahmen sind unab-dingbar. - Aber das ist ja alles nicht völlig neu für Euch hier in Waldheide."

Keter wies darauf hin, daß die Sicherheit des Objektes nun nicht mehr durch eine Wacheinheit und durch motorisierte Streifen, welche das gesamte Objekt einschließlich des ehemaligen Schießplatzes regelmäßig umfahren hatten, abgesichert sei. Die Wache müßten sie nun selbst stel-len. Hauptverantwortlich für die Bewachung des Objektes sei Dieter Reddler, der auch die beiden scharfen Rottweiler und die Hunde an den Laufseilen versorgen werde.

Die Anwesenden nickten. Was sie gehört hatten, war für sie nicht über-raschend. Sie hatten damit gerechnet und sich darauf eingestellt.

Ende September 1990 kam Quader erneut nach Waldheide. Er berich-tete, daß in der GmbH der Übergangsprozeß gelungen sei. Man verkaufe bestimmte Prototypen an verschiedene Abnehmer in aller Welt und könne mit den erzielten Gewinnen die "Kriegskasse" des Direktoriums füllen. Wie weit denn nun die Ansätze zum Nachbau der Scheibe seien, wollte er wissen. Das erinnerte Krausinger auf unangenehme Weise an den Druck, den einstmals sein Vorgesetzter Gruppenführer Holt ebenfalls der Scheibe wegen erzeugt hatte.

Quader erschien in der Folge dieses Besuches immer wieder in unre-gelmäßigen Abständen in Waldheide, um den direkten Kontakt zu halten.

Eines Tages klingelte das Telefon im Wachraum der vierten Tiefetage, den Keter und Krausinger gemeinsam bewohnten. "Ja bitte? - Ach du, Hermann?" Keter hörte sich wortlos an, was ihm Quader mitteilte. Schließlich sagte er: "Danke für die Information. Wieviel Vorsprung haben wir? Gut, wir bereiten alles vor."

Krausinger starrte Keter fragend an. "Hermann hat einen Wink aus dem Landeskriminalamt bekommen.

Morgen soll eine Überprüfung unseres Objektes erfolgen. Es lag eine Anzeige vor."

"Eine Anzeige? Wer war das?" "Was wissen die von uns?" "Kann das gefährlich werden?" Drei Männer bestürmten Keter gleichzeitig mit Fra-gen, da auch Michael und Reddler das Zimmer betreten und Keters Worte gehört hatten.

"Von wem die Anzeige stammt, hat Hermann noch nicht erfahren. Aber die Information bekommt er auch noch von seiner Quelle zugespielt. Ent-weder es war einer unserer ehemaligen Mitarbeiter oder sie stammt hier aus dem Ort. Vielleicht vermuten die Leute einfach irgend etwas hier

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draußen. In jedem Falle dürfte die ganze Wahrheit aber nicht bekannt sein. Wie auch immer und wer auch immer dahinter stecken mag, wir müssen sofort Vorbereitungen für den Polizeibesuch treffen. Professor, wir bleiben mit den anderen hier. Michael und Dieter, Sie schließen die Schleuse zur vierten Tiefetage. Danach verwischen Sie oben alle Spuren, die den Zugang verraten könnten. Morgen beobachtet Michael aus siche-rer Entfernung das Objekt und den Objektrand. Dieter wird sich den Besuchern zeigen und als Vertreter des Jagdpächters ausgeben. Dieter, Sie führen die, wohin sie wollen. Unsere Legende ist ja bekannt: Private Jagdpacht Hermann Quader aus Berlin. Wenn alles wieder ruhig und sicher ist, holen Sie uns unten wieder raus."

Michael und Reddler begannen im Gebäude auffällige Spuren zu besei-tigen, die auf die Anwesenheit von mehr als einem Mann hinwiesen.

Am folgenden Vormittag - alle außer Michael und Reddler blieben wie vereinbart abgetaucht - fuhren genau um 10.16 Uhr, Michael hatte auf die Uhr geschaut, als er sie kommen sah, zwei Streifenwagen der Polizei auf das Gelände. Sie hielten am Eingang, dessen Schlagbaum geschlossen war. Reddler kam aus dem alten Wachhäuschen heraus und ging auf den ersten Wagen zu. "Tach, kann ich Ihnen helfen?" sagte er zu dem Fahrer des ersten Fahrzeuges, der das Fenster herunter gelassen hatte.

Der neben dem Fahrer sitzende Mann in der Uniform eines Polizei-hauptkommissars reichte Reddler einen Durchsuchungsbefehl. Der betrachtete das Papier und tat völlig überrascht: "Was? Durchsuchungs-befehl? Weshalb denn? Und was wollen Sie denn hier durchsuchen? Hier gibt's doch nichts!"

"Lassen Sie das mal unsere Sache sein. Zeigen Sie uns die Gebäude. Wir beginnen mit dem ersten." Der Hauptkommissar ließ den Wagen anfahren und dann vor dem Stabsgebäude anhalten. Er stieg aus und wandte sich dem Gebäude zu. Aus den beiden Wagen stiegen weitere uniformierte Polizeibeamte.

Reddler ging voran. Sie betraten das Stabsgebäude. Die Beamten ver-teilten sich auf den Etagen und liefen durch die Räume, die nach wie vor möbliert waren, aber verlassen aussahen. Der Hauptkommissar rief seine Leute zusammen und fragte Reddler: "Wo ist hier der Keller?"

"Hier gibt es keinen Keller", antwortete der. Der Hauptkommissar ging, gefolgt von seinen Leuten, hinunter in das

Erdgeschoß und suchte neben der Treppe nach einem Kellereingang. Er öffnete die zweiflüglige Tür. Solche Türen befanden sich auch in den übrigen Gebäuden. Außer im Gebäude Nr. 3 befand sich dahinter jedoch nur ein kleiner Abstellraum. So auch in diesem Gebäude. Der Haupt-kommissar schloß die Tür und warf Reddler einen prüfenden Blick zu.

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Reddler sagte, dem Blick standhaltend: "Hier gibt es keinen Keller. Das können Sie mir glauben."

"Zum nächsten Gebäude", wies der Hauptkommissar seine Leute an. Im Gebäude Nr. 2 ging das gleiche Spiel wieder vor sich. Erneut wurde kein Keller gefunden. Der Eifer der Beamten, der ohnehin nicht sonderlich groß schien, erlahmte zusehends. Nun teilte der Anführer seine Leute auf. Zwei liefen durch die Baracken, zwei stiegen im Gebäude Nr. 3 in die obere Etage. Er selbst und ein Polizeimeister, gefolgt von Reddler, liefen durch die Zimmer im Erdgeschoß. In Krausingers Zimmer schaute der Hauptkommissar nur kurz hinein, so als ob er nicht sehen wollte, was er möglicherweise hätte sehen können. Er machte sich nicht die Mühe, die Tür im Erdgeschoß, neben dem Treppenaufgang, die in diesem Gebäude tatsächlich in den "Keller" führte, zu öffnen. Wollte er sich vor Reddler nicht lächerlich machen oder hatte er Anweisung dazu?

Jedenfalls war Reddler erleichtert, als der Hauptkommissar seine Leute zusammenrief und zu ihm sagte: "Tut mir leid. Aber wir haben Anweisun-gen zu befolgen. Nichts für ungut." Dann bestiegen die Beamten ihre Fahrzeuge, wendeten und verließen das Gelände.

Michael beobachtete mit einem Feldstecher von einem Versteck am Waldrand aus, was geschah. Er hatte den Auftrag, abzuklären, ob die Beamten auch tatsächlich wieder abgezogen waren oder ob sie irgendwo vorn an der Straße warteten und sich erneut, vielleicht zu Fuß dem Objekt näherten. Er hielt das Richtmikrofon in Richtung Landstraße, hörte aber nichts außer den Motorengeräuschen der sich entfernenden Polizei-fahrzeuge. Er bewegte sich durch den Wald bis nach vorn zur Straße. Vor-sichtig lugte er nach allen Seiten. Da war niemand mehr. Doch halt! Ein Personenwagen von rechts. Ein Opel Corsa. Hinter dem Steuer befand sich ein junges Mädel. Sie fuhr vorbei. Also doch alles in Ordnung. Er blieb noch volle zwanzig Minuten auf seinem Posten, um ganz sicher zu sein, daß die Polizeifahrzeuge nicht zurückkamen. Dann nahm er Kontakt zu Reddler auf: "Forstmeister" sprach er in sein Funkgerät.

"Hier Forstmeister", meldete sich Reddler. "Alle Bäume sind markiert." "Gut, dann fangt an zu sägen." Fünfzehn Minuten später waren sie in Krausingers Zimmer. "Alles in

Ordnung?" fragte Michael vorsichtshalber noch einmal. "Alles okay", bestätigte ihm Reddler. Michael begab sich über die Wendeltreppe nach unten. Der General

und der Professor sahen ihm gespannt entgegen, als er den Raum betrat. "War der Verräter dabei?" fragte Keter.

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"Also das waren nur Polizisten. Da war keiner dabei, der mal bei uns war oder aus Waldheide gewesen sein könnte. Es ist alles in Ordnung. Ich glaube nicht, daß denen irgend etwas aufgefallen ist."

"Dann geht also alles weiter, wie gehabt", sagte Keter. "Hermann wird uns informieren über den Bericht, den die abgeben müssen, die gerade dort oben geschnüffelt haben."

Waldheide, Freitag, 03. April 1992. Es war ein ziemlich grauer Tag. Am Morgen war es nicht richtig hell geworden und so blieb es bis zum Abend. Michael hatte Wache. Er saß am Fenster von Krausingers ehemaligem Arbeitszimmer und beobachtete den von dort aus einsehbaren Bereich des Objektes. Es wurde langsam dämmrig draußen. Die Sicht war also nicht gerade gut und es war sehr anstrengend für die Augen.

Er mußte, wie schon so oft in letzter Zeit, an Berlin denken. Er verspürte ein wachsendes Bedürfnis, wieder draußen zu sein, unter Menschen und er malte sich aus, wie es wohl jetzt sein würde in Berlin, wo jeder wie überall in ganz Deutschland von Ost nach West gehen konnte, wann auch immer es ihm beliebte, ja daß es Ost und West gar nicht mehr gab. Aber er verdrängte seine Wünsche immer wieder. Er konnte ja hier nicht weg. Er war schließlich Geheimnisträger. Ein Aussteigen könnte tödlich für ihn enden, wie für Rosenzweig. Eines Tages war Rosenzweig aus dem Objekt verschwunden. Keter und auch Krausinger hatten sich furchtbar aufgeregt. Drei Wochen war dann nicht mehr darüber gesprochen worden. Doch dann hatte Keter alle zusammengerufen und mitgeteilt, daß Rosenzweig in Straßburg erwischt worden sei, als er mit einem Agenten des Mossad Verbindung aufnehmen wollte. "Nun läuft ein Verräter weniger auf dieser Erde herum!" hatte er gesagt, drohend in die Runde geschaut und hinzugesetzt: "Verrat endet tödlich. Ich denke das weiß hier jeder!"

Halt. Hatte sich drüben am Waldrand etwas bewegt? Michael beugte sich nach vorn, kniff die Augen zusammen und versuchte etwas auszu-machen. Jede Faser seiner Muskeln war gespannt. Aber er vermochte dennoch nichts zu erkennen. Da war wohl doch nichts. Er entspannte sich wieder und nahm seine ursprüngliche Haltung ein. Seine Gedanken wurden wieder eingefangen von der Erinnerung an Berlin. - Moment! Hatte da eben einer der Hunde gebellt?

Er zuckte zusammen und nahm sofort wieder seine angespannte Beob-achterhaltung ein. Verdammt duster jetzt schon dort draußen. Dabei war es doch noch gar nicht so spät. Die Augen zu schmalen Schlitzen zusam-menkneifend, spähte er nach draußen. Aber er konnte nichts Verdächtiges erkennen. Doch, da war doch etwas! Einer der Hunde am Laufseil,

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das konnte er erkennen, stand mit gespitzten Ohren, gesträubtem Fell und stehender Rute und zerrte an seiner Kette. Er bellte wie wild und sprang am Zaun hoch. Es war einer der drei Hunde die Reddler aus dem Wachhundebestand ausgesucht hatte, weil sie, obwohl Kettenhunde, noch nicht verrückt waren und auch nicht zu zutraulich, so daß sie geeignet erschienen für die ihnen zugedachte Aufgabe. Die anderen hatte Reddler befehlsgemäß erschossen. Man könne sie nicht alle durchfüttern, hatte Keter gesagt.

Der Hund führte sich immer noch wie wild auf. Verdammt. Wo liegt nur das Nachtsichtgerät? Ich habe es doch mit nach oben gebracht? Michael tastete auf dem Fußboden danach. Dann hatte er es gefunden.

Schnell nahm er es hoch, setze das Infrarot-Spezialfernglas an die Augen und suchte damit den Waldrand ab, dort wo der Hund hinzukom-men versuchte. Plötzlich bemerkte er etwas. Da war doch jemand! Ja, man sah ihn zwar kaum. Aber da stand eine dunkel gekleidete Person an einen Baum gelehnt und beobachtete das Objekt. Schnell betätigte er den Signalknopf, der unter dem Fensterbrett angebracht war. Jetzt waren die unten alarmiert. Er beobachtete weiter und sah, wie die Person am Zaun offensichtlich bemüht war, einen Weg zu finden, auf welchem sie unbe-schadet an dem Hund vorbeikommen konnte.

Er vermutete aufgrund der Bewegungsweise und der Figur, daß es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um einen Mann handelte. Der bewegte sich gerade eilig am Waldrand entlang. Er trug einen Rucksack über beide Schultern gezogen und hatte ein Tau bei sich. Was wollte der damit? Der Hund folgte bellend auf der anderen Seite des Zaunes, konnte aber bald nicht weiter. Das Laufseil war zu Ende. Der Fremde hatte offensichtlich genau diese Stelle erreichen wollen. Er ging in die Hocke und durchtrennte den Stacheldraht. Dann rollte er sich unter dem Zaun hindurch.

In Michaels Rücken wurde die Tapetentür aufgestoßen. Halblaut fragte Reddler: "Was ist los?" Michael reichte ihm das Fernglas, deutete in Rich-tung der ehemaligen Schulungsbaracke, hinter welcher der Fremde gera-de verschwunden war, und sagte leise: "Eine Person, vermutlich männ-lich."

"So'n Mist aber auch, männlich", meinte Reddler scherzend - sie alle hatten lange keine Frauen mehr gesehen.

"Der ist jetzt hinter der Baracke", erklärte Michael und reichte Reddler den Feldstecher. Er versuchte mit zusammengekniffenen Augen, etwas zu erkennen.

"Hast du weitere Personen festgestellt?" fragte Reddler, der mit dem Fernglas den Waldrand absuchte.

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"Nein. Ich glaube, der ist allein." Hinter ihnen betrat Keter den Raum. Fast im gleichen Moment öffnete

sich die Tür zum Flur und Dr. Schadeberg trat ein. Michael informierte beide schnell über die Situation.

"Was sollen wir tun? Ihn gewähren lassen? Vielleicht ist es ja nur ein Neugieriger aus dem Dorf?" meinte Schadeberg.

"Nein, das glaube ich nicht", entgegnete Reddler, "... der scheint sich ganz professionell zu bewegen, wie Michael beobachtet hat. Da steckt mehr dahinter!"

"Den holen wir uns", entschied Keter. "Ihr Zwei", er nickte Michael und Reddler zu. Dann blickte er den schmächtigen und völlig unsoldatischen Schadeberg zweifelnd an und fragte: "Und Sie Thomas, trauen Sie sich das zu?"

Schadeberg, nervös die Brille zurechtrückend, antwortete zögernd: "Also eine Pistole halten, das kann ich schon."

Keter hatte im Moment keine Wahl, er mußte auch Schadeberg los-schicken, obwohl er ihm nicht allzuviel zutraute. "Gut, ich beobachte von hier aus. Sie bringen den Kerl in den Versammlungsraum."

Michael und Schadeberg liefen geduckt hinüber zur Schulungsbaracke, wobei Michael den ungeübteren Schadeberg deutlich hinter sich ließ. Reddler lief in die entgegengesetzte Richtung. Er wollte in den Rücken des Eindringlings gelangen, so wie sie es beim Hinauslaufen schnell noch vereinbart hatten. Als Michael an der Baracke angelangt war verhielt er, auf Schadeberg wartend, einen Moment und bewegte sich vorsichtig zur Barackenecke.

Als er sie erreicht hatte, stand plötzlich der Eindringling vor ihm. "Hände hoch!" rief er.

Der Eindringling jedoch riß sein rechtes Bein blitzschnell hoch und trat ihn vor den Brustkorb. Er stürzte gegen die Barackenwand und verspürte einen stechenden Schmerz an Brust, rechter Schulter und am Hinterkopf. Seine 9 mm Makarow-Armeepistole, einer bundesdeutschen Polizeiwaffe Typ Walther PPK fast baugleich, fiel ihm aus der Hand. Er sackte an der Barackenwand zusammen.

Schadeberg, inzwischen am Ort des Geschehens angelangt, schoß aus nächster Nähe auf den Angreifer. Nachtblind, wie er war, allerdings dane-ben. Der Fremde stürzte sich auf ihn und würgte ihn. Schadeberg stram-pelte verzweifelt und schoß zwei Kugeln in die Erde. Er röchelte.

In dem Moment erschien Reddler. Ein gezielter Tritt gegen den Körper des Eindringlings, der sich blitzschnell zur Seite rollte, traf Schadeberg am Kopf, der stöhnend zusammenbrach. Der Fremde packte gekonnt Reddlers Bein und brachte den noch in Schwung Befindlichen zu Fall.

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Dann stürzte er sich auf ihn. Das war sein Fehler. Nun hatte er keine Chance mehr. Hauptmann Reddler, der früher einmal bei "Dynamo" trai-niert hatte und Deutscher Meister der DDR im Ringen gewesen war, hatte ihn schnell fest im Griff und machte ihn kampfunfähig.

Michael, der allmählich zu sich kam, schüttelte sich und stand mühsam auf. Dann half er Reddler, den Eindringling zu fesseln.

Schadeberg rieb sich abwechseln mit der rechten Hand den Hals und den von Reddler getroffenen Schädel und suchte mit der linken Hand am Boden nach seiner Brille und seiner Waffe.

Reddler verpaßte dem Gefangenen mit seinem schmutzigen Taschen-tuch einen Knebel. Dann stieß er ihn vor sich her in den Versammlungs-raum, der den größten Teil der Schulungsbaracke einnahm. Die Fenster waren von außen mit Brettern vernagelt. Innen hingen aber noch die alten Gardinen und Vorhänge. Von draußen würde niemand etwas sehen können. Sie setzten den Gefangenen auf einen der herumstehenden Stühle und banden ihm nun auch die Beine an den Fußgelenken zusammen.

Als Keter eintraf, hatten sie bereits das Licht gelöscht und Reddler hielt dem Gefangenen eine Taschenlampe vor das Gesicht. Er sollte nieman-den der Anwesenden erkennen können und er sollte unsicher werden. Wie in einem schlechten Krimi, dachte Michael.

Dann begann die Befragung. Reddler hatte dem Mann den Knebel abgenommen und fragte ihn, wer er sei und was er an diesem Ort wolle. Der antwortete nicht. Reddler trat ihm mit seinen schweren Springerstie-feln gegen das linke Schienbein.

Der Mann schrie laut auf vor Schmerz. Der Lichtschein der Taschen-lampe auf seinem Gesicht bewegte sich zur Decke und wurde dann von Reddler wieder auf sein Gesicht gerichtet. "Rede endlich, dann tut dir auch nichts weh!" brüllte er ihn an.

"Das ist Freiheitsberaubung!" ächzte der Gefangene. "Schnauze. Antworte gefälligst auf meine Fragen!" "Darf man denn hier nicht im Wald herumlaufen?" "Im Wald schon. Aber das hier ist nicht der Wald! Was hast du hier

gesucht?" "Ich gehe gern im Wald wandern. Da habe ich diese Häuser hier gese-

hen. Das hat mich neugierig gemacht." Im Hintergrund durchsuchte Keter den Rucksack des Gefangenen.

Dabei fragte er, sich in das Verhör einklinkend: "Wie ist Ihr Name? Wer sind Sie?" "Ich heiße Meiser, Wolf Meiser. Ich wohne in Neubrandenburg. Bin

momentan auf Urlaub hier und bin auf einem Spaziergang."

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"Sie lügen!" Keter hielt mit ausgestrecktem Arm den Rucksack in den Lichtkreis und schüttelte ihn. Es klang metallisch. "Gehen Sie immer so spazieren, in völlig schwarzen Klamotten, das Gesicht schwarz angemalt, mit einem Klappmesser und all diesem Kram hier im Rucksack? Brauchen Sie ein solches Tau und eine solche starke Lampe etwa zum Spazierengehen?!"

Ein neuer Schmerzensschrei. Reddler hatte den Mann wieder gegen ein Schienbein getreten. Diesmal gegen das rechte. Der Lichtkegel der Taschenlampe vollführte eine ähnliche Bewegung wie bei Reddlers letz-tem brutalen Tritt.

"Wer sind Sie wirklich? Was wollen Sie hier?" fragte Keter. "Das wird Ihnen leid tun. Das ist Freiheitsberaubung und Körperverlet-

zung." Der Mann stöhnte. "Reden Sie keinen Quatsch. Sie sind bei Nacht und Nebel in dieses Pri-

vatgrundstück eingedrungen, in krimineller Absicht. Sie haben den Zaun beschädigt. Sie haben Hausfriedensbruch begangen. Sie haben meine Mitarbeiter angegriffen und schwere Körperverletzung gehört ebenfalls zu dem, was auf Ihr Konto geht. Sie tragen Waffen und führen Einbre-cherwerkzeug mit sich. Ja, was glauben Sie denn, wer hier wen erfolgreich anzeigen wird?"

"Das war doch Notwehr. Ich wollte doch niemanden verletzen. Wenn man hier als harmloser Wanderer ... Aaahh! - Rufen ... rufen Sie doch endlich Ihren Gorilla zurück!"

Reddler schlug dem Mann seine rechte Handkante ins Genick. "Gorilla" wollte er auf gar keinen Fall auf sich sitzen lassen.

Michael hielt sich im Hintergrund. Schadeberg hielt vor der Tür Wache. Krausinger war leise eingetreten und hatte sich neben Michael gestellt.

"Nun reden Sie! Was haben Sie uns zu sagen. Wer sind Sie wirklich? Was wollen Sie hier?" Keter wurde ungeduldig.

"Gut. Also es stimmt. Ich bin nicht zufällig hier. Ich komme aus Berlin, bin Privatdetektiv und im Auftrag eines Klienten hier."

"Was sollten Sie hier und wer ist Ihr Klient?" "Ich bin, wie Sie sich sicher denken können, zum Schweigen verpflich-

tet. Ich kann Ihnen den Namen natürlich nicht..." Ein erneuter Schmerzensschrei. Er war länger anhaltend und wiederholte sich. Keter hatte Reddler ein Zeichen gegeben, Druck zu machen.

"Ist... ist der denn verrückt? Der... der bringt mich doch um!" stöhnte der Gefangene, nach Luft schnappend.

Michael schlug das Herz im Hals. Ihm wurde übel. Er hielt sich Bauch und Mund und würgte wieder hinunter, was nach oben kommen wollte.

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Solch eine Brutalität hatte er noch nie in seinem Leben erlebt. Und er hielt sie auch nicht für gut. "Muß denn das sein?" raunte er dem Professor zu.

"Stellen Sie sich doch einmal vor, der hätte hier was entdeckt!" zischte der zurück.

"Reden Sie endlich. Ich kann meinen Mitarbeiter sonst nicht mehr zurückhalten", sagte Keter. "Wie heißen Sie wirklich? Was wollen Sie hier? Wo kommen Sie her? Reden Sie!"

"Ich, ich heiße ... Kulpa ... Hans Kulpa. Ich wohne in Oranienburg und ich bin Privatdetektiv, wie ich schon sagte."

Bei der Namensnennung war Michael zusammengezuckt. Hans Kulpa. Das war doch ein Genosse aus Berlin. Kulpa war Anfang der achtziger Jahre wie er selbst Zugführer im Wachregiment "Feliks Dziershynski" gewesen. Kulpa war dann zur Fallschirmjägerkompanie des MfS nach Eilenburg gegangen, um sich auf einen Spezialauftrag vorzubereiten. Hans Kulpa. Der hatte ihn natürlich im Dunkeln nicht erkannt. Er ihn ja bisher auch nicht. Jetzt sah sich Michael den Mann genauer an, auf des-sen Gesicht inzwischen mehrere Taschenlampen gerichtet waren. Dicker geworden war Kulpa in den letzten Jahren. Aber er war es. Keine Frage. Was sollte das denn werden? Bekämpften sich jetzt schon die Brüder? Das muß ich unbedingt dem General sagen, dachte er.

Aber Keter war vollauf mit dem Verhör beschäftigt. "Was wollten Sie mit dieser Ausrüstung hier auf dem Gelände? Wer hat Sie womit beauftragt?"

"Ich sollte erkunden, ob hier ein unterirdisches Kanalsystem existiert. Mein Auftraggeber hatte sich mir als ein Autor vorgestellt, der ein Buch über die geheimen Bauprojekte der Nazis 'Auf den Spuren von Todt und Speer' schreiben will. So sagte er mir jedenfalls. Er habe Informationen, nach denen die Nazis" - Krausinger zuckte im Dunkeln zusammen - "... hier einen unterirdischen U-Boot-Hafen angelegt haben sollen und eine Montagestätte für U-Boote. Die zerlegbaren Segmente der U-Boote sollen auf dem Landwege von den Produktionsstätten im Inland bis hierher gebracht worden sein. Dann wurden sie angeblich unter der Erde zusam-mengesetzt und sind dann über den unterirdischen Kanal bis zur Ostsee gefahren, direkt zum Kampfeinsatz."

"Das glauben Sie doch selbst nicht. Denken Sie sich doch mal etwas Glaubhafteres aus", ließ sich Keter ärgerlich vernehmen.

Kulpa sagte hastig: "Ich kann Ihnen doch nur sagen, was mir mein Auf-traggeber erzählt hat. Mir kam es ja auch etwas komisch vor: Ein unterir-discher Kanal, zig Kilometer lang. So recht konnte ich das nicht glauben. Aber wissen Sie, ich werde zum Tagessatz bezahlt, nicht nach Erfolg. Ob hier nun ein solcher Kanal ist, oder auch nicht, ich bekomme mein Geld."

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Keter nickte Krausinger zu. Sie verließen die Baracke. "Wissen Sie etwas von einer unterirdischen U-Boot-Fabrikation und von solch einem Kanal, Professor?"

"Nein. Darüber ist mir nichts bekannt. Und sollte es wirklich so etwas gegeben haben, dann wäre das ein Projekt der Marine gewesen. Damit hatten wir nichts zu tun. Ich kann es mir aber auch beim besten Willen nicht vorstellen, daß es hier eine so lange unterirdische Wasserstraße gegeben haben soll, bis zur Ostsee. Das wären ja etwa vierzig Kilometer!"

"Dann ist das alles also doch nur eine Legende, die uns der Gefangene erzählt hat, um von der Wahrheit abzulenken."

"Das glaube ich auch. - Was haben Sie mit dem Mann vor, General? Der muß verschwinden - unbedingt und für immer! Da gibt es keine Frage! Wer steckt denn überhaupt dahinter? Wer kann denn dieser angebliche Schriftsteller wirklich sein? Da muß doch irgend jemand etwas verraten haben! Ob dieser Verräter Rosenzweig uns den geschickt hat?"

"Professor! Beruhigen Sie sich. Rosenzweig lebt nicht mehr, dafür wurde gesorgt. Und sonst weiß draußen nur noch Quader von dem Pro-jekt. Das heißt, er kann natürlich andere Personen eingeweiht haben. Aber das ist für mich einfach undenkbar. Quader ist absolut zuverlässig." Keter glaubte selber nicht so recht an das, was er gerade gesagt hatte, aber er wollte den Professor erst einmal beruhigen.

"Was wollen Sie nun tun?" "Erst müssen wir versuchen, mehr aus ihm herauszubekommen. Dann

werden wir dafür sorgen, daß er nicht mehr reden kann. - Kommen Sie, gehen wir wieder hinein."

Keter setzte das Verhör Kulpas fort: "Hören Sie, Kulpa oder wie auch immer Sie wirklich heißen. Es dürfte Ihnen ziemlich klar sein, daß die Geschichte, die Sie uns da erzählt haben, viel zu phantastisch klingt, als daß wir sie Ihnen abkaufen würden. Wir sind überzeugt davon, daß Sie aus anderen Gründen hier herumschnüffeln. - Wir haben zwar nichts zu verbergen, aber wir mögen es einfach nicht, wenn jemand unsere Ruhe stört. - Sie können sich sicher vorstellen, daß Sie keine Chance bekom-men werden, hier wieder herauszukommen, ohne daß Sie sich kooperativ gezeigt hätten."

"Ich sagte doch: Ich heiße Hans Kulpa, bin Privatdetektiv und ermittle im Auftrag eines Klienten."

"Was ermitteln Sie?" "Ich soll erkunden, ob es hier einen unterirdischen U-Boot-Kanal ..." Keter unterbrach Kulpa: "Das haben wir doch alles schon gehört. Sagen

Sie endlich die Wahrheit!"

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"Ich sage Ihnen doch die ganze Zeit schon die Wahrheit. Das war mein Auftrag: Feststellen, ob es hier ein unterirdisches U-Boot-Tunnelsystem gibt oder nicht."

Unterirdisches Tunnelsystem. Das haben wir ja praktisch. Und "U-Boot", das ist ja unsere Codebezeichnung dafür. Was weiß Kulpa? Michael begriff, daß dies wirklich kein zufälliger Besuch war. Aber für wen arbeitete Kulpa?

"Sie lügen! Wer weiß alles von Ihrer Aktion?" herrschte Keter den Gefangenen an.

"Mein Klient. Ist ja logisch." "Wer sonst noch?" Kulpa rutschte, soweit seine Fesseln das zuließen, unruhig auf dem

Stuhl hin und her. Er druckste herum: "Naja ... na da ist..." "Nun reden Sie endlich!" "Da ist ... noch jemand, der Bescheid weiß beziehungsweise bald

Bescheid wissen könnte. " "Wer ist das?" Jetzt kam es fast wie aus der Pistole geschossen: "Ich habe

vorsichtshalber etwas bei einem Notar hinterlegt." Keter hatte etwas gezögert, sagte dann aber: "Na und? Da liegt es doch

gut." Er machte eine wegwerfende Handbewegung. Nach einer kurzen Pause fragte er dann aber: "Weshalb haben Sie dort etwas hinterlegt?"

"Ja, was glauben Sie denn? Als Lebensversicherung natürlich!" Kulpa setzte hinzu: "Wenn ich nicht bis morgen, 16.00 Uhr das Hinterlegte per-sönlich wieder abgeholt habe, dann wird spätestens übermorgen hier die Hölle los sein. Darauf können Sie sich aber verlassen!"

Keter und Krausinger sahen sich wortlos an. Keter winkte allen zu, ihm zu folgen und wendete sich zur Tür.

"Dieter, Sie bleiben hier vor der Tür", wies er an, als sie die Baracke ver-lassen hatten. Dann ging er, gefolgt von den anderen hinüber in Krausin-gers Arbeitszimmer. Dort saß Funke, der Michaels Posten eingenommen hatte.

"Rainer, Sie gehen vor zum Waldrand, neben der Einfahrt. Sichern Sie dort. Aber vorsichtig! Der Eindringling war vielleicht nicht allein."

Michael betrat als letzter den Raum. "Wo bleiben Sie denn?" fragte Keter.

"Ich hatte meine Taschenlampe abgelegt und habe sie im Dunkeln suchen müssen."

"Sie beobachten wieder von hier durch das Fenster, Michael. Thomas, Sie gehen erst mal schlafen. Sie müssen sich von dem Angriff erholen."

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Als Schadeberg den Raum verlassen hatte, gingen Keter und Krausinger über die Wendeltreppe ganz nach unten in die vierte Tiefetage. Sie wollten sicher sein, nicht abgehört zu werden.

"Glauben Sie dem Mann, General?" fragte Krausinger, als sie unten im Wachraum saßen.

"Wo denken Sie hin, Professor. Das hat der doch eben erst erfunden, um sein Leben zu retten. Aber verraten hat er sich mit seiner Aussage natürlich - ganz klar!"

"Ja", sagte Krausinger nachdenklich, "... wer nur nach alten unterirdi-schen Kanälen forscht, braucht keinen Rettungsanker bei einem Notar zu deponieren! - Der Mann ist von irgend jemandem geschickt worden, der Teilinformationen hat über das, was es hier zu finden gibt. Bloß, wer sollte das sein?"

Krausinger wurde das unangenehme Gefühl nicht los, daß dieser angebliche Auftraggeber jemand aus seiner Zeit 1944/45 sein könnte. Kammler vielleicht? Oder irgendein anderer Überlebender von den damals Eingeweihten. Jetzt, wo alles wieder ein Land war und keine Grenze einen alten Kameraden hindern konnte, da war das ja denkbar. Das ich da erst jetzt darauf komme, schalt er sich im Stillen. Aber wer auch immer es ist: Der Mann muß weg. Er wiederholte seine Forderung laut.

"Ob das so klug ist? Stellen Sie sich einmal vor, es gibt tatsächlich einen Auftraggeber. Wenn sein Mann nicht zurückkommt, dann sieht der das doch sicher als Bestätigung an und weiß, daß hier jemand Neugierige verschwinden läßt. Der schickt dann doch sicher gleich mehrere Spione." Keter war unsicher, wie er sich in dieser Situation verhalten sollte.

"Wissen Sie vielleicht etwas Besseres? - Dann werden die eben auch verschwinden. Wir müssen Zeit gewinnen. Bis zum Termin sind es noch etwa drei Jahre. Tun Sie alles, was getan werden muß, damit wir bis dahin unser Geheimnis wahren können." Krausingers letzte Worte klangen wie ein Befehl.

Keter starrte noch einen Moment vor sich hin. Dann war er zu dem Schluß gekommen, daß die Forderung des Professors richtig war. "Ich sorge dafür", sagte er und ging wieder nach oben. Dort erfuhr er von Michael, der das Gelände beobachtete, daß alles ruhig sei. Er verließ das Gebäude und begab sich über den freien Platz hinüber zur Schulungsba-racke.

"Ist alles in Ordnung?" fragt er Reddler, der wie befohlen den Eingang bewachte.

"Selbstverständlich", antwortete der im Brustton der Überzeugung. Er hielt Keter die Tür auf. Dann folgte er ihm.

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Keter leuchtete in die Mitte des Raumes, wo Kulpa gesessen hatte und erblickte einen leeren Stuhl. "Was ist hier los?" rief er überrascht.

Die Lichtkegel zweier Taschenlampen trafen sich an dem leeren Stuhl, neben dem zerschnittene Stricke lagen, mit denen Kulpa gefesselt war. "Scheiße", sagte Reddler. Dann rief er: "Bleiben Sie stehen wo Sie sind. Heben Sie die Hände!" Er bewegte sich, Pistole und Taschenlampe in Richtung Raummitte haltend, vorsichtig rückwärts zur Tür. Keter flüsterte er zu: "Kommen Sie!" An der Tür angelangt, steckte er die nun ausge-schaltete Lampe in sein Unterarmhalfter und tastete mit der freien linken Hand nach dem Lichtschalter. Die Hand mit der Waffe bewegte sich gleichzeitig von rechts nach links und zurück, auch als er den Schalter gedrückt hatte. Beide suchten, wegen der plötzlichen Helligkeit mit zusammengekniffenen Augen, den Raum ab. Hatte sich der Gefangene unter den Tischen versteckt?

Keter bemerkte ein offenes Fenster. Das heißt, er sah nur, daß der Vor-hang sich bewegte, als ob das dahinter liegende Fenster offen sei. Und das war es auch, wie sie gleich darauf feststellen konnten. "Der ist getürmt", rief er wütend. "Wie konnte das geschehen?" Im gleichen Moment ertönte außerhalb der Baracke ein Schuß.

"Eine 7,65er. Das war Rainer am Tor!" rief Reddler. Beide wandten sich zum Ausgang. Keter wies hastig an: "Laufen Sie

vor! Ich schicke Ihnen Michael nach!" Reddler rannte nach vorn, während Keter zum Gebäude Nr. 3 hastete.

Michael beobachtete dies vom Fenster aus und ihm war klar, daß da irgend etwas geschehen sein mußte. Auch er hatte den Schuß vernom-men. Er fragte sich, auf wen Funke vorn am Waldrand geschossen hatte. Etwa auf Kulpa ... ?

"Michael sofort zum Objekteingang! Der Gefangene ist weg. Dort vorn muß was geschehen sein!" Keter ließ sich erschöpft auf dem am Fenster stehenden Stuhl nieder, von dem Michael aufgesprungen war.

Michael griff nach der MPi und lief aus dem Raum. Hat es Kulpa also geschafft! Das Gefühl, das ihn bei diesem Gedanken ergriff, war eine Mischung aus Erleichterung und Furcht vor Kommendem.

Keter rief ihm nach: "Dieter ist schon nach vorn. Rainer hat geschossen. Dort können mehrere von diesen Banditen sein!"

Als Michael den Schlagbaum erreicht hatte, nahm er links undeutlich Bewegung wahr. Er warf sich auf die Erde und richtete die Kalaschnikow auf die Schatten am Waldrand. Dann sah er eine Taschenlampe rhyth-misch aufleuchten. "Alles in Ordnung", hieß das. Er stand auf und lief schnell zu der Stelle, von der das Licht kam.

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Er hörte Reddler rufen: "Kümmere dich um Rainer. Der Kerl hat ihn gewürgt."

An einen Baum gelehnt saß Funke. Er hielt sich den Hals, schnappte nach Luft und ächzte. Er wollte etwas sagen, brachte aber nur ein heise-res Krächzen heraus. Nur drei Meter weiter durchsuchte Reddler eine am Boden liegende Person. Über die Schulter sagte er zu Michael: "Das ist dieser Kulpa. Er ist tot. Rainer hat ihn erwischt. Reine Notwehr."

Michael half Funke aufzustehen. Er stützte ihn, als sie zum Gebäude Nr. 3 liefen. Kulpa tat Michael leid. Immerhin war er ja mal ein Genosse gewesen und er kannte ihn schon seit etwa zehn Jahren. Aber es war sicher besser, daß es so gekommen war, denn hätten die ihn erwischt und gefoltert, hätte er vielleicht verraten, wie es ihm gelungen war, aus der Baracke zu entkommen. - Besser so. War ja auch unüberlegt von mir, was ich da vorhin getan habe, schalt er sich.

Keter Öffnete die Tür: "Kommt rein. Ist er schwer verletzt?" "I ... ch haaa ... eeeerwischt. Ich glaiiibe er iiis toiiit", krächzte Funke, der

ziemliche Halsschmerzen haben mußte. Michael antwortete auf Keters Frage: "Rainer will sagen, daß er ihn erwischt hat. Kulpa ist tot. Er hatte Rainer gewürgt. Und Rainer mußte sich befreien von ihm."

Funke nickte dankbar und bestätigend. "Bringen Sie ihn nach unten. Thomas soll sich um ihn kümmern." Dr. Schadeberg hatte vor Jahren sein Medizinstudium abgebrochen,

weil ihn die Physik mehr gereizt hatte. Seine medizinischen Kenntnisse hatten ihn aber zum Gelegenheitssanitäter im "U-Boot" werden lassen. Michael brachte Funke zu ihm. Zehn Minuten später konnte der wieder einigermaßen verständlich sprechen und er schien auch das dringende Bedürfnis zu haben, das zu tun. Er mußte erst einmal verarbeiten, daß er einen Menschen getötet hatte. Und er hatte wohl auch das Gefühl, daß er sich rechtfertigen mußte. "Ich ... ich habe ihn getötet. Und ... und ... ich kannte ihn doch gar nicht. Und, und ich habe doch noch nie auf einen Menschen geschossen! Aber... aber der kam plötzlich und ... und sprang mich ... mich von hinten an."

"Wie hat der sich denn befreit?" fragte Schadeberg erstaunt. Oh Gott, beinahe wäre ich mitschuldig geworden am Tod von Funke,

dachte Michael. "Den habe ich doch nicht erwartet". Funke sprach nun wieder einiger-

maßen normal, wenngleich er nur langsam reden konnte und noch um jedes Wort rang. "In meinem Rücken waren doch unsere Leute! Ich hörte ein Geräusch hinter mir und dachte, es käme Verstärkung. Da spürte ich schon die Hände um meinen Hals und wurde nach vorn geworfen. Irgendwie gelang es mir, mit dem Knauf der Waffe nach ihm zu schlagen.

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Er ließ meinen Hals los und wollte mir die Waffe entwinden. Dabei konnte ich mich auf die Seite drehen. Und plötzlich ging das Ding los ... Der sackte tot zusammen."

"Das war doch Notwehr, Rainer", stellte Schmidt fest. "Du konntest gar nicht anders", beruhigte ihn auch Michael. Schadeberg sagte: "Komm, Rainer, du muß jetzt erst einmal schlafen.

Ich gebe dir eine Beruhigungsspritze." Das Telefon klingelte. Schmidt nahm den Hörer ab und sagte: "Ich rich-

te es aus." An Michael gewandt meinte er: "Fritz war es. Dieter entsorgt gerade die Leiche dieses Eindringlings. Das wird wohl ein paar Stunden dauern, bis er wieder hier ist. Du sollst oben wieder die Wache überneh-men."

"Gut. Wer löst mich ab?" "Das klären wir noch." Als Michael am Morgen, nachdem er sich die ganze Zeit über mit psy-

chosomatischen Magenschmerzen herumgeplagt hatte, abgelöst wurde und schlafen gehen durfte, bewegte ihn immer noch, wie schon die Stun-den zuvor, das Erlebte. Er mußte sich übergeben. Was er erlebt hatte, ging über das hinaus, was er ertragen und wegstecken konnte. Es dauerte Tage, bis er sich auch innerlich einigermaßen beruhigt hatte.

Waldheide, Juni 1992. "Sie wissen, Michael, ich habe immer sehr viel von Ihnen gehalten, seit Sie Anfang 1986 aus der Zentrale zu mir nach Warenthin gekommen sind. Sie sind hier im 'U-Boot' praktisch mein wichtigster Mann." Keter hatte halblaut gesprochen und Michael gönner-haft zugenickt.

"Danke" antwortete der, wachsam und vorsichtig, denn er wunderte sich doch sehr über das unerwartete Lob.

"Sie werden staunen über das, was ich Ihnen jetzt sage, und ich sage Ihnen auch, daß ich mit Ihnen darüber nur sprechen kann, Michael, weil ich weiß, daß ich mich auf Sie hundertprozentig verlassen kann."

Michael wurde noch mißtrauischer, nickte aber und fragte zurückhal-tend: "Worum geht es denn?"

Keter sah sich um und sagte dann mit gesenkter Stimme: "Passen Sie auf. Der Professor macht insgeheim Aufzeichnungen, über die ich einfach Bescheid wissen muß ... als Leiter, Sie verstehen. Nicht, daß ich ihm irgendwie mißtrauen würde. Warum sollte ich auch? Aber es ist für mich außerordentlich wichtig, zu wissen, wie weit er bei seinen Untersuchungen wirklich ist. Stellen Sie sich vor, er verheimlicht mir möglicherweise den wahren Stand seiner Forschungen, nur um mich dann überraschen und erfreuen zu können! - Also, da ist unser Professor manchmal wirklich

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wie ein Kind. - Nun ich will ihm zwar seinen Spaß lassen, aber dennoch muß ich über den genauen Stand alles wissen. Also dachte ich mir, daß Sie ..." Er schaute Michael zustimmungheischend an, "... daß Sie mir, ohne daß er etwas davon merkt, seine Aufzeichnungen kopieren."

Michael stutzte einen Moment vor Überraschung über das Ansinnen des Generals, dann aber nickte er, obwohl er skeptisch war und fragte: "Ja schon, aber was soll denn das sein? Wie sieht das aus und wo bewahrt er es auf?"

Keter stellte zufrieden fest, daß sein Adjutant seinen als Wunsch formu-lierten Befehl akzeptierte. "Es handelt sich um ein graues Heft, DIN A5. Er hat es irgendwo versteckt, da unten in der Wachstube. Ich werde Ihnen Gelegenheit geben, dort zu sein, wenn er gerade darin liest oder schreibt. Sie beobachten ihn unbemerkt vom Gang aus. Unter einem Vorwand werde ich ihn dann nach oben rufen. Sie werden beobachten, wo er das Heft versteckt. Dann kopieren Sie es schnell und legen es wieder in sein Versteck zurück."

Michael nickte zustimmend. Er hatte Befehle des Generals auszuführen. Aber seltsam kam ihm dessen Ansinnen doch vor.

Keter fiel es nicht leicht, einen weiteren Mitarbeiter in das Geheimnis von Waldheide einzuweihen. Einige Jahre zuvor, wenige Wochen nach der Eröffnung der Waldheider Außenstelle der WVA, waren fünf Forscher unter Leitung von Dr. Schmidt über die Existenz der vierten Tiefetage informiert worden und die Scheibe war ihnen gezeigt worden, die dann bald ihr ständiger Arbeitsplatz wurde. Kein anderer sonst erfuhr davon, auch Michael und Reddler nicht. Diese beiden waren zwar auch schon mit dem Fahrstuhl nach unten gefahren und in der Wachstube, dem Quartier von Keter und Krausinger, gewesen. Aber nie hatten sie die Scheibe gesehen, geschweige denn die Gefangenen, deren Existenz allerdings auch den Forschern unbekannt war.

Da Keter nun aber unbedingt an das besagte Heft des Professors gelangen wollte, aber auch vermutete, daß darin etwas über die Scheibe und ihre Piloten stehen könnte, was Michael möglicherweise lesen würde, entschied er sich, ihn vorher einzuweihen. Er legte nun mit väterlicher Geste seine Hand auf Michaels rechte Schulter und sah ihn verständnis-voll an. "Michael, ich weiß, daß das alles für einen jungen Mann nicht einfach ist. Sicher ist es leichter auf all die Annehmlichkeiten des Lebens da draußen zu verzichten, wenn man in einem Alter ist, wie ich es bin. -Aber, Sie werden später einmal froh sein, daß Sie dabei waren. Glauben Sie mir: Das, was wir hier tun, ist nicht irgend ein Sondereinsatz. Nein. Es geht um viel mehr. Es ist etwas ganz Außergewöhnliches." Er sah Michael mit Verschwörermine an und setzte nach einer bedeutungsvollen Pause

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fort: "Ich werde Sie nun in etwas einweihen, dessen Informationsgehalt alle Geheimhaltungsstufen überschreitet, die Ihnen bisher bekannt waren." Plötzlich wurde Keters Stimme drohend: "Sie bürgen mir mit Ihrem Leben dafür, daß das geheim bleibt!"

Michael beschlich ein äußerst unangenehmes Gefühl, das seine Neu-gier gewaltig dämpfte. Weshalb drohte ihm der General? Das hatte er noch nie getan. Was mochte das denn Ungeheures sein, was er ihm offenbaren wollte? Vielleicht sollte er sich das gar nicht anhören? Manch-mal ist es ja wirklich besser, wenn man nicht alles weiß, dachte er.

Aber der General redete bereits weiter: "Sehen Sie, Michael, viele posi-tive Elemente in unserem Lande haben leider den Glauben an unsere Sache verloren, als sie die kampflose Aufgabe unserer sozialistischen Errungenschaften und die Übergabe der Macht an unseren Klassengegner erleben mußten. Sie haben leider auch unser Organ - 'Schild und Schwert der Partei' - ohnmächtig erleben müssen. Aber sie haben zu früh verzweifelt. Und unsere Klassengegner, Michael, die haben zu früh frohlockt! Abgerechnet wird noch immer erst zum Schluß. Wir werden die Geschichte wieder richtigstellen!" Der General ereiferte sich zusehends.

Michael wartete gespannt darauf, worin denn nun das Geheimnis bestehe, von dem hier die Rede war.

"Wir haben sie, Michael. - Wir haben die größte und wirksamste Waffe aller Zeiten. - Und wir werden sie einsetzen!"

"Was für eine Waffe meinen Sie denn?" Keter sah Michael an mit einem Blick, als habe er eine die Welt bewe-

gende Entdeckung zu verkünden, was ja aus seiner Sicht auch so war: "Es handelt sich um eine ganz außergewöhnliche Flugwaffe ..." Er brach ab und setzte mit unterdrückter Stimme hinzu: "Michael, Sie sind doch selbst auf dem Gebiet in der Zentrale tätig gewesen. Sie haben doch so etwas ausgewertet!"

Michael starrte den General ungläubig an. "Was denn, meinen Sie etwa...?"

"Ja, genau. Sie erinnern sich noch daran, wie damals von diesem Licht Löcher in die Tapete meines Dienstzimmers gebrannt wurden? - Das war ein UFO!"

"Ja, das haben wir ja damals auch gleich vermutet." Michaels innere Erregung stieg. War das möglich? Sollte das wahr sein?

"So eines haben wir! Das heißt, Professor Krausinger hat es seit 1944." Michael starrte Keter fragend an: "Krausinger? - Wer ist denn das?" Keter stutzte, dann wurde ihm bewußt, daß er ja Krausingers wahre

Identität stets geheimgehalten hatte: "Ach so. Daran habe ich jetzt nicht

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gedacht, daß Sie ja nicht wissen können, daß Dr. Letticher in Wirklichkeit Krausinger heißt. - Nun, jetzt wissen Sie es."

Michael stutzte. Schon die Information, daß Dr. Letticher in Wahrheit anders hieß, irritierte ihn, aber die erwähnte Jahreszahl paßte gleich über-haupt nicht zu der Person des Professors, den er im Moment vor seinem geistigen Auge sah. "Was denn? Und Dr. Letti ... ich meine Professor Krause ... oder wie heißt er gleich noch mal?"

"Krausinger." "Krausinger? Und der Professor soll ... soll ein UFO besitzen, sagten

Sie? Und seit 1944? Wieso seit 1944? Da gab es die doch noch gar nicht?"

"Doch, doch! Und der Professor..., beziehungsweise wir, haben hier in Waldheide ein solches Objekt!"

"Aber woher ist das denn? Und wo soll das denn sein?" "Sprechen Sie nicht so laut", sagte Keter zu seiner Überraschung. "Der

Professor, darf uns doch nicht hören!" Michael überlegte, wo denn dieses angebliche UFO sein könne. Plötz-

lich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Sicher ganz unten! Deshalb durfte außer wenigen eingeweihten Forschern, dem General und dem Professor niemand in der vierten unterirdischen Etage die anderen Räume betreten! Hier ein UFO? Und er war die ganze Zeit nichtsahnend über den Boden gelaufen unter dem sich solches befand?

Der General, Michaels ungläubigen Blick registrierend, sagte: "Sie kön-nen mir glauben. Wir haben hier seit vielen Jahren ein Flugobjekt nichtir-discher Herkunft."

Michael glaubte noch immer, seinen Ohren nicht trauen zu dürfen. Das war ja unfaßbar und einmalig. Dieses UFO mußte er einfach sehen. Die Neugier brach erneut aus ihm heraus und überwand seine Vorsicht: "Wo ist es? Wann kann ich es sehen?"

Der General nahm Michaels Fragen nicht wahr. Er fuhr fort, ohne darauf einzugehen: "Diese Scheibe hat ungeahnte Flugeigenschaften, Manövrierfähigkeiten, von denen die besten irdischen Jagdflugzeuge nur träumen können! Sie ist besser als alles, was Menschen bisher entwickelt haben. Mit Hilfe dieser Flugscheibe werden wir die jüngere Geschichte Deutschlands korrigieren. Alles wird wieder werden, wie es war, vor 1989. Was sage ich, besser als das wird es werden. Wir werden das ganze Deutschland haben!" Das Gesicht des Generals glühte. Er erschien Michael plötzlich fremd und unwirklich. "Leider aber wird das noch einige Zeit dauern, bis alles so weit ist", sagte Keter. Und wie im Fieberwahn redete er weiter auf Michael ein: "Verstehen Sie jetzt, Michael!? Verstehen Sie nun, daß wir hier unbedingt ausharren müssen?!"

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Die Michael gerade noch beherrschende Neugier verdampfte rasch wieder und Angst gewann die Oberhand: Welch ein Wahnsinn, dachte er nun, welch ein Wahnsinn! Die sind doch verrückt hier. Und der General offensichtlich am meisten. Die Geschichte mit Waffengewalt umschreiben! Nein. Ich muß weg hier. Unbedingt weg!

"Was wird eigentlich geschehen, Professor, wenn diese Wesen endlich wieder aufwachen?"

"Wenn es zur Anabiose kommt, dann werde ich natürlich sofort mit ihnen reden ...", begann Krausinger.

Aber Keter unterbrach ihn, bevor er Näheres ausführen konnte. Er verfolgte die Absicht, den von ihm seit längerer Zeit argwöhnisch beob-achteten Versuchen Krausingers, die Machtverhältnisse zwischen ihnen beiden zu seinen Gunsten zu verändern, zu begegnen und bereits jetzt zu klären, wer zum Termin das Sagen haben würde. Deshalb ging er sogleich in die Offensive: "Sie, Professor? Die kennen Sie doch aber. Die wissen doch, wer Sie sind! Meinen Sie, die hätten das vergessen? Die werden Sie wiedererkennen, zumal Sie sich ja kaum verändert haben. Da wird Ihnen der Bart, den Sie sich zur Tarnung haben wachsen lassen, auch nicht helfen! - Die wollten doch nichts mehr mit Ihnen zu tun haben, sonst hätten die sich doch nicht in einen Dornröschenschlaf begeben!"

Krausinger ließ sich durch diesen überraschenden verbalen Angriff aus der Ruhe bringen. "Momeeent, Momeeent", rief er, die Worte dehnend, aufgebracht. "Moment! Das sehen Sie falsch, General. Völlig falsch! Ich darf Sie daran erinnern, daß ich diese Zwerge beschützt und ihnen das Leben gerettet habe. Die wissen doch, daß sie mir vertrauen können. Die sind doch nur vor der brutalen Gewalt anderer Personen in den Schlaf geflohen."

Keter reizte der Widerstand und der aggressive Ton Krausingers. Er reagierte nun ebenfalls mit verschärfter Stimmlage: "Die haben das braune Regime über gehabt. Die wollten aus ihrer Sklaverei fliehen, Professor. Und Sie waren Standartenführer der SS und gehörten zu ihren Sklavenhaltern!"

"Hören Sie General, jetzt möchte ich doch gern einmal wissen, woher Sie sich eigentlich das Recht nehmen, als Stasi-General ständig auf mei-ner SS-Zugehörigkeit herumzureiten? Die SS war doch im Grunde nichts anderes als die Staatssicherheit. Wir waren 'Schild und Schwert der NSDAP', um in ihren Bildern zu reden. Und die Staatssicherheit der DDR war, wie Sie selbst immer gesagt haben 'Schild und Schwert der SED'."

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Keter unterbrach Krausinger wild aufheulend vor Empörung: "Waaas?! Es gibt überhaupt keine Gleichheit, nicht mal eine Ähnlichkeit. Ungeheu-erlich, was Sie da behaupten ..."

"Ach hören Sie doch auf! Jedem, der die Alltagsgeschichte des Dritten Reiches und der DDR miteinander vergleicht, fällt doch auf, daß die von Ähnlichkeiten und Gleichheiten nur so strotzten. Ihr habt doch unsere Lieder, unsere Fahnen, unsere Paraden und ... und ... und übernommen, weil Ihr zu Eigenem nicht fähig gewesen seid!"

"Umgekehrt! Ihr habt unsere Arbeiterlieder und unsere rote Fahne umfunktioniert, und die Bezeichnung 'Arbeiterpartei', die habt Ihr auch benutzt, alles um die Arbeiterklasse zu täuschen und Euch dienstbar zu machen, Standartenführer!" brüllte Keter. Er war außer sich.

Was heißt denn hier Standartenführer!? Das ist doch fast fünfzig Jahre her, General Sie haben ..." Krausinger brach ab. Michael stand in der Tür. Dieser junge Mann kannte zwar inzwischen Vieles, aber eben nicht alles. Und schon gar nicht seine, Krausingers, wirkliche Vergangenheit. Und er hatte kein besonderes Interesse, daß weitere Personen über ihn restlos Bescheid wußten.

Michael hatte die letzten Sätze gehört. SS-Standartenführer? Das war der Professor? Ein hoher SS-Offizier als Mitarbeiter des MfS? Undenkbar! Antifaschistisch erzogen und in jedem SS-Mann einen KZ-Mörder zu sehen gelernt, glaubte er, seinen Ohren nicht trauen zu können. Daß ein so hoher SS-Offizier beim MfS tätig war, das konnte er einfach nicht glauben.

Nun hatte auch Keter mitbekommen, daß Michael eingetreten war. Zwar hielt er es nun wirklich für kein so großes Unglück, daß der nun auch die beinahe letzten Reste des Geheimnisses von Waldheide erfahren hatte, dennoch war es sicher besser, jetzt nicht weiter zu reden, denn einen Streit mußten er und der Professor ja nicht unbedingt coram publico austragen. Deshalb beendete er das Gespräch, indem er sagte: "Sie haben recht, Professor, wir sollten uns jetzt nicht nutzlos auseinandersetzen über Dinge, über die schon lange das Gras der Geschichte gewachsen ist."

Krausinger erfaßte sofort, daß Keter die Kurve zu kriegen versuchte, um den unerwünschten Zeugen nicht weiter mit Informationen zu füttern. Er reagierte schnell und sagte: "Das sage ich doch die ganze Zeit", begab sich an dem verdutzt dreinschauenden Michael vorbei zur Tür und verließ den Raum.

Keter wandte sich, als sei nichts gewesen, Michael zu: "Wie sieht es oben aus? Alles in Ordnung?"

"Ja, da war nichts. Dieter hat mich gerade abgelöst." "Gut, dann legen Sie sich hin Michael. Schlafen Sie ein paar Stunden,

nach dieser Wache."

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"Ja, ich wollte mich nur zurückmelden und mir von Thomas etwas gegen Kopfschmerzen geben lassen", antwortete Michael und begab sich zu der Scheibe, an der Schadeberg gerade arbeitete. Er durfte den unterirdischen "Hangar" seit einigen Tagen betreten. Nachdem Keter ihm dieses Geheimnis verraten hatte, hatte es keinen Grund mehr gegeben, ihn nicht die Scheibe auch mit eigenen Augen sehen zu lassen.

Michael hatte ergriffen das fremdartige Fluggerät betrachtet und auch von innen angesehen. Das alles war eine Bestätigung dessen, was er zwei Jahre lang bei der Analyse von UFO-Berichten in dem Sonderreferat der Zentrale in Berlin gelesen hatte. Niemals war er einem außerirdischen Flugobjekt nahe gewesen. Geschweige denn, daß er eine eigene Nahbe-gegnung gehabt hätte. Er hatte immer nur davon gelesen oder gehört. Kein Wunder also, daß er wirklich ergriffen gewesen war.

"Na, da staunen Sie, was? Dafür lohnt es sich doch, hier durchzuhal-ten!" hatte Keter auf ihn eingeredet.

Michael hatte genickt, aber er hatte in Wirklichkeit in eine ganz andere Richtung gedacht: Ich muß weg von hier!

Nachdem er von Schadeberg ein schnellwirkendes Kopfschmerzmittel erhalten hatte, begab er sich wieder nach oben, um von dort aus in den Schlafraum in der dritten Tiefetage zu gelangen.

Ein paar Tage später ergab sich eine Gelegenheit, das von Krausinger wie sein Augapfel gehütete Oktavheft zu kopieren. Keter hatte dafür gesorgt und Michael führte es aus, wie abgesprochen.

Allerdings wich er in einem Punkt von der Absprache mit dem General ab. Er kopierte das Heft, welches sich als das Tagebuch eines gewissen Bergwald herausgestellt hatte, nicht nur für den General, sondern ebenso ein Exemplar für sich selbst. Und er las es heimlich. Und was er da las, war wiederum einfach unglaublich. Er hatte zwar die Scheibe gesehen und war ergriffen gewesen. Aber immer noch hatte er Zweifel gehegt, ob das nicht doch ein Naziflugzeug sei, eine geheime deutsche Wunderwaffe. Nun aber war dieses Tagebuch für ihn eine Bestätigung der Worte des Generals. Und in dem Tagebuch stand ja auch, daß es sogar einmal gefangene Außerirdische gegeben hatte.

Der General, befürchtend, daß Michael beim Kopieren etwas über die Gefangenen gelesen hatte, wollte das Geschriebene als Unsinn hinstellen, um ihn nicht mit noch mehr Geheimwissen über Waldheide zu versorgen. Deshalb sagte er einen Tag später zu Michael: "Ich habe das gelesen, was Sie für mich kopiert haben. Alles wirres Zeug! Wirklich nur wir-

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res Zeug! Da hat wohl ein Soldat beim Wachdienst einen phantastischen Roman schreiben wollen. - Verstehe gar nicht, weshalb der Professor das immer versteckt... sicher aus sentimentaler Erinnerung an einen Kamera-den. Anders kann es nicht sein."

Michael aber war das, was er gelesen hatte in Verbindung mit der Scheibe, die er nun mit eigenen Augen gesehen hatte, eine erneute Bestätigung all seiner Arbeit im Referat "Unbekannte Luftraumphänome-ne" gewesen. Und es verstärkte seine Auffassung, daß es Wahnsinn war, was Keter vorhatte.

"General, können Sie mir eigentlich garantieren, daß Ihr Michael nicht irgendwann einmal die Fronten wechselt?"

"Wie meinen Sie das Professor?" Keter blickte Krausinger überrascht an. "Ich habe an ihm in den letzten Wochen, ja man kann schon sagen,

Monaten, Zeichen der Resignation feststellen können. Und ich hörte, wie er Schmidt vor einigen Wochen gefragt hat, ob denn das alles überhaupt noch einen Sinn habe."

"Ach, Professor", Keter verteidigte seinen Mann, "Resignation bei Michael? Ja, müde ist er vielleicht etwas geworden, das mag ja sein ... Ist ja aber auch nicht leicht, der viele Wachdienst. Ist ja überhaupt alles etwas hart hier unten - für alle von uns. Ihn hat es eben besonders erwischt. Und daß er etwas kritisch auftritt, das ist doch seiner Jugend zuzuschreiben. Die Jugend ist nun mal kritischer als wir Älteren. Aber er ist doch nach wie vor Tschekist. Ich lege meine Hand für ihn ins Feuer."

"Na, dann wirr wollen berreitlegen schon einmal Brrandsalbe", mischte sich Quader ein, der zwei Stunden zuvor eingetroffen war. Nach einer kurzen Pause, während der er Keters irritierten Gesichtsausdruck regi-strierte, setzte er fort: "Frritz, du alles dies zu sehrr unkrritisch siehst. Was meinst, wie schnell unterr extrreme Bedingungen, unter denen leben und kämpfen missen jetzt, jemand wirrd sich weich? Das drraußen im Lande wirr leiderr haben rreihenweise. Rrummel mirr ibrrigens perrsönlich immerr schon errschienen politisch unrreif. Ich dirr gesagt aber schon vorr Jahrre was err sich rredete in Parrteilehrrjahrr firr ein unqualifiziertes feindliches Quatsch. Und was soll sich heißen nun, das wirrden sein Zeichen von Jugend? Weißt nicht, wie alt sich ist Rrummel? Wirrd sich doch dieserr bald Vierrzig! Nein, nein, es uns nichts hilft, wenn du entschuldigst ihm. Können wirr nicht leisten uns, daß einerr garr verrläßt Boot, wo sitzen alle wirr drrinnen. Unterr keinen Umständen das darrf geschehen. Mußt dafirr sorrgen, daß sich Rrummel nicht kann werrden zu Verräterr!"

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"General", unterstützte Krausinger Quader, "... führen Sie sich doch bitte einmal vor Augen, was passieren würde, wenn er bei Polizei oder Medien plauderte! Alles, wofür ich fünfzig Jahre gewirkt und gewartet habe und wofür auch Sie bereits seit Jahren tätig sind, wäre doch dann auf das Äußerste gefährdet! Bedenken Sie doch, was wir uns von dem Termin erhoffen können. Sollen wir das alles gefährden lassen? Hier sind Sentimentalitäten völlig fehl am Platz!"

Jetzt griff Quader wieder ein: "Prrofessorr völlig rrecht, Frritz. Nicht uns leisten können solch Rrisikofaktorr unterr uns. Kann uns machen alles kaputt, derr. Ich gegeniberr Dirrektorrium verrantworrtlich. Verrat muß werrden verrhinderrt - mit Hilfe von alle Mittel! Steht sich viel zu viel auf Spiel. Können nicht lassen sich kleine Rrisiko werrden zu grroße Rrisiko. - Frritz du hierr klarr in Verrantworrtung!"

Keter hatte die ganze Zeit nachdenklich vor sich hin geschaut. Er wog eine jahrelange gute Zusammenarbeit mit Michael auf gegen die ihm auf-gezeichnete Gefahr, daß dieser möglicherweise durch Verrat all das zer-störte worauf er jetzt ebenso hoffte, wie der Professor. Schließlich hatte er eine Mission. Er würde dem Sozialismus in Deutschland eine neue Chan-ce geben! Was heißt eine Chance? Diesmal würde der Sozialismus siegen - und zwar in ganz Deutschland und unwiderruflich. Das würde für Millionen Menschen gut sein. Was zählte da einer, wenn er denn auch Michael Rummel hieß? Er blickte nun auf und sagte langsam, aber gefaßt: "Ihr habt wahrscheinlich recht. Vielleicht ist er wirklich eine Gefahr geworden. - Gefahren müssen beseitigt werden. Das sind wir unserer Sache schuldig. - Gut. Ich sorge dafür."

Michael überprüfte den Verpflegungsbestand, der zum Teil in der dritten Tiefetage eingelagert war. Er war aber nicht bei der Sache und mußte immer wieder von neuem anfangen, die einzelnen Lebensmittelgruppen, die meist in Konservenform oder in Kartons gestapelt waren, zu zählen. Er grübelte über seine Situation nach und er kam immer wieder zu dem einzigen Schluß: Ja, er mußte sich endlich aus diesen unseligen Ver-strickungen befreien. Das einzige, was ihn noch hielt, das war das phan-tastische Geheimnis von Waldheide, an dem er teil hatte. Aber es würde vielleicht noch Jahre dauern, bis sich zeigen würde, ob die Scheibe über-haupt fliegen konnte. Das heißt, es würden "seine besten Mannesjahre" vergehen in einem sinnlosen "U-Boot-Dasein" mit machtbesessenen Ver-rückten. Andere hatten das ja offensichtlich genau so gesehen. Zuletzt

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war Funke verschwunden. Hatte sich abgesetzt, erst vor wenigen Wochen.

Er entschied sich: Ich muß unbedingt hier weg. Ich muß wieder unter normale Menschen!

Doch plötzlich kamen wieder die Zweifel: Aber wie soll ich mein Brot verdienen? Wo soll ich wohnen? Kann ich in dieses normale Leben zurück? Da kämen doch eine Menge von nicht überschaubaren Proble-men auf mich zu. - Wer gibt mir Arbeit, wenn er weiß, womit ich bisher meine Brötchen verdient habe? - Aber ich muß raus hier. Ich muß weg. Ich habe die Fünfunddreißig lange hinter mir. Als erwachsener Mann auf einem Abenteuerspielplatz die besten Jahre verrinnen lassen, während draußen das Leben weitergeht? Nein! Sein Entschluß wurde klarer und klarer und schließlich endgültig: Ich wage den Absprung!

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Kapitel V

Waldheide, Sommer 1992. Die Wechselsprechanlage machte sich mit einem unangenehmen krächzenden Geräusch bemerkbar, ein Lämpchen blinkte. Krausinger drückte den Knopf. "Ludwig", meldete er sich.

"Dieter hier", antwortete Reddler, der sich oben auf Beobachtungspo-sten befand und meldete: "Hermann kommt."

"Lassen Sie ihn herein." Etwa fünf Minuten später verließ Quader den Fahrstuhl. Er kam mit ern-

stem Gesichtsausdruck auf die beiden Männer zu. "Tag Frritz, Tag Prro-fessorr". Sie reichten sich die Hände.

"Wir haben heute überhaupt nicht mit dir gerechnet, Hermann", sagte Keter. "Gibt es einen besonderen Grund für Ihr Kommen?" fragte auch Krausinger, eine gewisse Bissigkeit in der Stimme nicht unterdrückend.

Quader antwortete nicht sofort. Er öffnete einen Aktenkoffer und ent-nahm ihm ein Blatt Papier. Dann reichte er es Keter mit der Bemerkung: "Ist sich nurr Kopie."

Keter nahm das maschinengeschriebene Blatt entgegen und überflog es wortlos. Dann sah er kurz Krausinger an, der ihn erwartungsvoll beob-achtet hatte, und las laut vor:

An den Bundesnachrichtendienst (BND) der Bundesrepublik Deutschland Pullach bei München

Komplott gegen die Sicherheit der Bundesrepublik

Sehr geehrte Damen und Herren, Sie werden sicher glauben, daß der Urheber dieses Schreibens ein Spin-ner oder ein notorischer Wichtigtuer ist. Ich könnte Ihnen das auch nicht verdenken. Sie werden beabsichtigen, dieses Schreiben ad acta zu legen bzw. Ihrem Reißwolf anzuvertrauen. Davor warne ich Sie dringlichst! Ich bin ein Insider in der Angelegenheit, über die ich Sie informiere. Und Sie sind Betroffene. Sie alle! So wie die gesamte Bundesrepublik und in der weiteren Folge auch die gesamte westliche Welt. Nehmen Sie folgendes ernst, sehr ernst! In der Nähe von Waldheide in Mecklenburg, unter dem ehemaligen "NVA-Objekt" befindet sich ein gefährliches Waffenarsenal, das von der Staatssicherheit als Trumpf gegen die freiheitlich-demokratische Ordnung eingesetzt werden soll,

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um in der Bundesrepublik die Machtverhältnisse zu etablieren, die in der ehemaligen DDR geherrscht haben. Es handelt sich bei diesen Waffen zum Teil um Technologie des 21. Jahrhunderts. Zu allem entschlossene Männer halten sie zum Einsatz bereit. Aus eigener Erfahrung weiß ich, daß diese Kräfte auch in Ihrem Apparat Ihre V-Leute haben. Deshalb gehen mit gleicher Post Schreiben gleichen Wortlauts an das BKA, den Bundesverfassungsschutz sowie an zwei wei-tere, hier aus gutem Grund nicht zu nennende Institutionen. Kümmern Sie sich unbedingt um die äußerst brisante von mir geschilderte Angelegenheit. Es eilt!

Keter hatte den Brief fertig gelesen. Er war, so schien es, bleich gewor-den. Stille herrschte im Raum. "Eine Unterschritt fehlt!" unterbrach Keter die Stille. Als er Krausingers vorwurfsvollen Blick bemerkte, räusperte er sich und wandte sich an Quader: "Funke?"

"Nein Frritz. Funke ist sich tot. Tipp' eher ich auf Rrummel." Quader sah Keter fast schadenfroh an. Schließlich hatte er mit seinen Warnungen vor Rummel recht behalten.

Wieso läuft der eigentlich noch frei herum?" mischte sich Krausinger ein. "Ich dachte, Ihr Apparat existiere noch und sei leistungsfähig? So haben Sie doch immer geprahlt! Sie hatten doch nun wirklich genügend Zeit, um den Kerl auszuschalten. Der ist vor fünf Monaten weg - vor mehr als fünf Monaten!" Er schüttelte wütend den Kopf.

"Aberr hörr mal, Ludwig ..." "Nennen Sie mich nicht Ludwig!" Krausingers gereizte Stimme machte Quader unsicher. "Aberr haben

doch verreinbarrt..." "Ach Quatsch. Hier unten besteht keine Gefahr, daß jemand zufällig

unsere richtigen Namen hören könnte. - Für Sie bin ich Dr. Letticher! Der total irritierte Quader erwartete Unterstützung von Keter: "Was

sagst dazu, Frritz?" "Ach Hermann, das sind doch jetzt Nebensächlichkeiten! Der Professor

hat doch recht. Ihr habt versagt! Wenn das hier alles auffliegen sollte, dann bist auch du daran schuld! Ich glaube jetzt wirklich schon, daß es besser gewesen wäre, wenn ich dich damals nicht eingeweiht hätte. Irgendwie hätten wir das sicher auch ohne dich durchziehen können."

"Ihrr Zwei, seid doch nurr nicht aggrressiv so sehrr. Ja, gebe ich zu: Sache dumm gelaufen. Rrummell ist sich entkommen damals. Haben nirrgendwo können aufspirren. Trrotz all unserre Verrbindungen, die haben spielen lassen. Aberr glaube, brrauchen wirr uns wegen Schreiben nicht Sorrge machen. Gewährrsmann in Pullach hat inforrmierrt uns

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darriber, daß niemand dorrt gibt firr Brief auch nurr eine blanke Heller. Und, meinte err, auch bei anderre Adrressaten das mit Sicherrheit eben-so. Solch Zeug denen flatterrt alle Tag auf Tisch. Können außerdem gehen davon aus, daß bei diese Ämterr schon wichtigerre Informationen sind eingegangen, ohne daß jemand hat iberrhaupt rreagierrt. Wenn mal rreagieren, dann vielleicht errst Monate oder Jahrre später. Dafirr es gibt genigend Beispiele. - Also, Gefahrr nicht in Verrzug!"

"Glaubst du das wirklich?" "Ja, Frritz. Bin ich sicherr ziemlich." "Ihr Wort in Gottes Ohr, Herr Quader", meinte Krausinger mit höhni-

schem Unterton. Die Zeiten waren schon lange vorbei, zu denen er von diesen Leuten abhängig war und sie Macht über ihn hatten. Jetzt war sie bald da - seine große Stunde. Dann würden diese Leute höchstens noch seine Steigbügelhalter sein. Mehr nicht.

Quader ignorierte Krausinger und sprach nur noch zu Keter: "Werrden hierr bei Euch stationierren Sonderrkommando. Wenn da wirrklich kom-men irrgendwelche BKA-Leute oderr welche von Bundesamt firr Verfas-sungsschutz, dann wirr werrden verschwinden lassen. Von denen keinerr wirrd liften Geheimnis. Ist sich Entscheidung von Direktorium!"

Krausinger starrte Quader an. Keter fragte: "Was denn? Wieviel Leute sollen das denn sein? Und wo sollen sie denn untergebracht werden? -Was wissen die denn über unser 'U-Boot'?"

"Keine Angst, haben keinen Einblick. Kennen nurr Auftrag wo lautet: Niemand, aberr auch niemand lebend herreinlassen in Objekt, derr nicht kennt Parrole und also nicht gehörrt in dies wichtiges Stitzpunkt. Wissen Genossen da drraußen also nurr, was missen wissen, damit können Auf-gabe gut errfillen. Bewährrtes Prrinzip! Werden sich sein sechs Mann. Spitzenleute! Alles Einzelkämpferr. Nehmen es auf mit zwanzig Mann von Lauseverrein BKA. Und frragst, wo werrden unterrgebrracht? Sind sich drraußen in Wald. Haben Zelt! Ist sich kein Prroblem nicht."

Man sah Krausinger an, daß er erleichtert war. Keter ging es ebenso. Er meinte: "Nun gut. Mach das mal. Wir müssen hier, schätze ich, noch ein volles Jahr unbehelligt bleiben. Dann haben wir die Sache ganz ausge-brütet. Dann sind wir am Drücker. Dann wird alles nach unserer Pfeife tanzen müssen!"

"Gut, dann ich muß jetzt wiederr fahrren. Muß ich soforrt nach Berrlin, orrganisierren ganze Sach'. Hörrt von mir"

Waldheide, Juli 1993. General, sagen Sie, ist Ihnen denn auch schon

aufgefallen, daß sich Dr. Schmidt in letzter Zeit recht seltsam verhält?"

Keter blickte auf, nickte und antwortete auf Krausingers Frage: "Ja,

wenn Sie mich so fragen, Professor, etwas verändert erscheint er mir

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tatsächlich auch. Er spricht kaum noch. Ist so in sich gekehrt. Ob der depressiv geworden ist?"

"Ja, den Eindruck habe ich auch. Alles deutet auf Lagerkoller. Das könnte gefährlich werden, General! Sie wissen ja, daß wir es uns nicht leisten können, einen weiteren Verlust oder gar noch einen Abspringer zu haben. Und noch dazu Dr. Schmidt, der außer uns den größten Einblick hat!"

"Na, Professor, hier unten kann man schon seltsam werden. Aber ich glaube nicht, daß Schmidt uns auch noch verraten wird wie Rosenzweig, Funke und Rummel, diese Lumpen! Wir müssen seine Entwicklung ein-fach beobachten. Vielleicht hat er im Moment ein Tief."

Plötzlich vernahmen sie sich nähernde Schritte. Schnell wechselten sie das Thema. "Sie möchten mir also keine Revanche geben, für das letzte Spiel? fragte Keter laut.

"Vielleicht heute abend. Im Moment bin ich nicht dazu aufgelegt." Die Tür wurde geöffnet, Kapons trat ein. Krausinger redete weiter: "Da würden Sie nämlich schnell gewinnen.

Und das wäre doch sicher auch aus Ihrer Sicht ..." Er brach ab. Auch Keter starrte den sichtlich schockierten Kapons an.

Kapons blickte von einem zum anderen und sagte dann, mit bebender Stimme: "Ich muß, muß ...leider eine ... eine betrübliche Mitteilung machen."

"Wie?" Krausinger starrte Kapons verständnislos an. "Ja, was ist denn los ...?!" fragte Keter in deutlicher Erregung mit lauter Stimme.

"Rolf... Rolf ist... tot." Kapons schien ziemlich fertig zu sein. "Was ist denn passiert? Herrgott, nun red' doch schon!" wurde er von

Keter bedrängt. "Ich habe ihn ... gefunden ... oben, oben im Fahrstuhlschacht." "Im Fahrstuhlschacht? Ja, was macht er da ..., ich meine ... ja was hat

er denn dort gesucht?" Krausinger fragte gezielter als Keter: "Hatte er einen Unfall?" "Nein nein. Er, er... hing dort." "Was denn? Hat er sich etwa das Leben genommen?!" Keter starrte

Kapons ungläubig an, der wortlos nickte und sich die Schweißperlen von der Stirn wischte.

Nach einer Pause, alle Drei hatten vor sich hin gestarrt, sagte Keter ent-täuscht: "Also ehrlich gesagt. Das hätte ich nicht von ihm erwartet. Rolf Peiges war doch schließlich einmal Parteisekretär hier in der Außenstelle. Und jetzt sowas!"

Kapons schaute beschämt zu Boden, gerade so als ob er sich dafür ver-antwortlich fühle.

Krausinger meinte: "Was haben Sie denn mit ihm gemacht? Hängt er noch?"

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Kapons beeilte sich zu antworten: "Nein, nein, ich habe ihn zusammen mit Dieter abgeschnitten und runtergenommen."

"Gut. Habt Ihr die Leiche entsorgt?" fragte Keter. "Dazu sind wir noch nicht gekommen. Das war doch eben erst. Und wir

wußten ja auch nicht, ob Sie ihn vielleicht noch einmal sehen ..." "Was denn? Bin ich etwa Leichenbeschauer? - Bringt die Leiche weg!" Krausinger sah Keter wortlos an, als Kapons den Raum verlassen hatte.

Keter zuckte hilflos mit den Schultern, so als könne er das alles nicht ver-stehen, was da geschehen war.

"Also, ich weiß nicht, General, Ihre vielgerühmte Truppe, 'Schild und Schwert der Partei', wie sie immer hieß, das sind ja überwiegend Versager!"

Keter starrte Krausinger an, als müsse er erst einmal realisieren, was der gesagt hatte und antwortete dann, als habe er es gerade erst verstanden: "Na, nun übertreiben Sie aber mal nicht, Professor!"

"Was heißt hier Übertreibung? So viele Verräter und Selbstmörder, wie in Ihrem Verein, gab es aber damals bei uns nicht. Das kann ich Ihnen aber sagen!"

Krausinger hatte zwar in gewisser Weise recht, denn außer Schulz, der an einer verschleppten Blinddarmentzündung gestorben war, waren die weiteren Personalverluste auf Verrat zurückzuführen: Rosenzweig hatte sich 1991 und Funke und Rummel hatten sich 1992 abgesetzt. Dennoch regte ihn Krausingers Vorwurf auf: "Ach hören Sie jetzt aber auf mit Ihrer SS! Solche Vergleiche! - Und hüten Sie Ihre Zunge ... sonst könnte ich für Ihre Sicherheit nicht mehr garantieren."

Krausinger hielt diese Drohung für lächerlich: "Sicherheit... hä, hä, hä, Sicherheit sagen Sie!? Was habe ich denn hier noch für eine Sicherheit? Sie wollten mich und das Geheimnis von Waldheide schützen. Wie aber sieht es jetzt aus? Draußen im Land, da herrschen jetzt andere. Sie dage-gen mußten sich in ein Rattenloch verkriechen! In diesem Objekt schien die Sicherheit einigermaßen gewährleistet, durch eine Gruppe von Män-nern. Aber jetzt gibt es die nicht mehr. Das sind doch immer weniger geworden. Ich befürchte, daß wir beiden Alten bald die einzigen sein werden, die hier die Stellung halten müssen."

Keter hatte sich sagen müssen, daß der Professor so unrecht nicht hatte. Aber er fühlte, daß er ihn beruhigen mußte, denn Krausinger war nun einmal nach wie vor der Schlüssel zur Nutzung der Scheibe für seine eigenen weltrevolutionären Zwecke. Deshalb sprach er beruhigend auf ihn ein: "Wir haben ja da draußen im Wald noch die Gruppe Sicherungskräfte, die Quader uns geschickt hat. Die sind zuverlässig. Glauben Sie mir. Alles bewährte Einzelkämpfer."

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Dr. Schmidt stieg die Treppe hinunter zur vierten Tiefetage. Er lief lang-sam. Er war bedrückt. Seine Depressivität wollte nicht weichen. Er fühlte sich hilflos und verlassen. Er ahnte, ja wußte, daß er dieses Objekt nicht lebend verlassen würde. Seine Arbeit machte er seit Wochen mehr mechanisch, als mit Interesse und Kreativität, die bei der Erforschung der Eigenschaften der Scheibe vonnöten gewesen wären.

Unten angekommen betrat er schleppenden Schrittes den Gang. Als er an den verschlossenen Türen vorüberging, blieb er vor einer von ihnen stehen. Er starrte sie verständnislos an. Dann versuchte er sich zu kon-zentrieren. Was waren das eigentlich für Türen? So oft war er an ihnen vorbeigegangen. Nie hatte ihn interessiert, was sich wohl dahinter befän-de. Heute aber dachte er, für sich selbst überraschend: Warum eigentlich weiß ich nicht, was hinter diesen Türen ist? Warum sind die stets ver-schlossen? Er konnte sich nicht vorstellen, daß da irgend etwas Besonde-res sei, aber seltsamerweise drängte ihn pure Neugier, nachzuschauen. Er war froh, daß er sich wieder für etwas interessieren konnte und nutzte diesen Moment, der ihm ein Zeichen für eine Besserung seiner depressi-ven Lethargie zu sein schien.

Er besah sich das alte Schloß, griff in die Hosentasche und zog ein Taschenmesser heraus. Dann bückte er sich vor und setzte das Messer an. Zwei Drehungen und das einfache Schloß war geöffnet. Er betrat den Raum, tastete an der linken Seite nach dem Lichtschalter und schaltete das Licht ein. Als sein Blick auf menschliche Skelette und Reste von SS-Uniformen fiel, zuckte er zusammen. Doch dann stand er starr und schaute auf das, was er vor sich sah. Gedanken schossen ihm durch den Kopf: Wie kann das sein? Was ist hier eigentlich los? Bisher hatte er nur gehört, daß sie sich in einem früheren Wehrmachtsobjekt befanden. Hier lagen aber SS-Uniformen! Weshalb hatte Keter nicht die Wahrheit gesagt? Hatte er sie nicht gekannt?

Schmidt sah unter den Fetzen einer auf einem Skelett hängenden SS-Uniform etwas wie ein Buch hervorlugen. Rasch bückte er sich und zog es hervor. Auf dem Deckel des grauen Oktavheftes stand "Tagebuch" geschrieben und darunter war vermerkt "Teil II" und noch etwas weiter unten stand der Name des Tagebuchschreibers: "Bergwald".

Er schlug das Tagebuch auf. Sein Blick fiel auf einen unter dem Datum des 01. März 1945 stehenden, ihn zunehmend irritierenden Text: "Ich glaube, der Standartenführer Professor Dr. Krausinger hat mitbekommen, daß ich mit den Kleinen rede. Ich bin mir nicht sicher, aber er hat mich so prüfend angesehen, als ich gerade bei den Kleinen saß und sie mit mir per Gedankenübertragung kommunizierten. Danach hat er mich nach oben in sein Dienstzimmer befohlen. Sehr ungewöhnlich, da

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ich eigentlich rund um die Uhr hier unten bleiben muß. Er und der Hauptsturmführer Schubert führten dort ein Gespräch mit mir, das mir wie ein Verhör vorkam. Von den beiden Forschungsleitern ist mir der gemütliche dicke Danz-mann eigentlich lieber. Obersturmbannführer Professor Dr. Danzmann scheint mir umgänglicher zu sein. Der schmächtige Krausinger mit seiner Brille und der kurzgeschnittenen Bürstenfrisur ist mir manchmal ein bißchen unheimlich. Er ist zwar Wissenschaftler und kein Soldat. Aber ich glaube, der ist im Ernstfall zu allem fähig".

Schmidt glaubte seinen Augen nicht trauen zu dürfen. Was hatte er da gerade gelesen? Schmächtig, Bürstenfrisur, Brille, Professor? Wie Dr. Let-ticher, dachte er. Nur, daß der einen Vollbart trägt. Das gibt es doch nicht...? Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Professor Krausinger - Dr. Letti-cher? General Keter nannte den doch auch seit ewigen Zeiten Professor!? Deshalb vielleicht? Weil Letticher Professor Krausinger war? Und Militär-forscher soll der Letticher bei der Wehrmacht gewesen sein? Im Tagebuch steht, daß Krausinger SS-Standartenführer und Wissenschaftler war. Ist Letticher dieser Krausinger? - Nein, das konnte, das durfte nicht sein! Er schüttelte den Kopf. Unmöglich. Ich kenne ihn doch auch bereits seit Jah-ren. Ich arbeite doch schon so lange mit ihm zusammen ... Ja, aber was weiß ich denn wirklich von ihm!? Und diese Ähnlichkeit der Beschreibung im Tagebuch mit unserem Dr. Letticher! Aber der müßte doch dann wesentlich, ja wesentlich älter sein ...? - Aber völlig undenkbar ist es ja nicht. Wehrmachtsoffizier? SS-Offizier? Waffenforscher? Das ist ver-dammt ähnlich, scheint nur verfremdet zu sein! Letticher könnte tatsäch-lich Krausinger sein. Professor Krausinger... Professor Letticher? Letticher ist Krausinger! Und ... Keter weiß alles!

In Schmidts Schädel drehte sich alles. Das konnte doch nicht wahr sein. Das durfte doch einfach nicht sein! Da hatte er seit Jahren mit einem Oberst der SS zusammengearbeitet. Und das im Apparat des MfS und in der DDR, die den Antifaschismus zur Staatsdoktrin erhoben hatte! Unglaublich. Und Keter wußte alles! Aber der hatte das mit Sicherheit nicht allein verantwortet. Das muß doch ganz oben abgesichert worden sein. Das heißt ja ... Ja war denn auch der Antifaschismus nur Lug und Trug, nur eine Fassade?

Für Schmidt, der schon seit längerem äußerst depressiv auf die gravie-renden Veränderungen seiner Umwelt reagiert hatte, brach endgültig eine Welt zusammen. Deshalb also hatten Keter und Letticher immer soviel Wert darauf gelegt, daß diese Türen verschlossen blieben! Er zitterte vor zorniger Erregung. Wie in Trance verließ er den Raum. Seine Schritte lenkten ihn zu der nächsten Tür, die ebenfalls stets verschlossen war.

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Mechanisch öffnete er wieder mit dem Taschenmesser das einfache Schloß. Er betrat den Raum in den Licht vom Flur fiel und tastete mit der Hand nach dem Schalter. Die Lampe, in der Mitte des Raumes von der Decke hängend, leuchtete diesen aus, als er sie eingeschaltet hatte. Er stellte fest, daß der Raum bis auf zwei Pritschen leer war. Aber was war denn das? Er trat näher heran. Waren das Kinder, was er da sah? Nein, das waren doch keine Kinder?! Schmidt trat noch näher heran und beugte sich über die Gefangenen, die auf den Pritschen im Tiefstschlaf lagen. Waren das etwa Mumien?

Er begann zu zittern. Er fühlte sich, als habe er starkes Fieber. Es wurde ihm ganz seltsam zumute. Träume ich das alles nur, oder ist das die Rea-lität, dachte er. Das kann doch nicht wahr sein!? Er taumelte zurück von den Pritschen, aus dem Raum hinaus und brach vor dessen Eingang zusammen. Er hatte seine Gesichtsnerven nicht mehr unter Kontrolle. Augenlider und Nerven an den Schläfen und mitten auf den Wangen zuckten unkontrolliert. Und plötzlich schrie er laut auf. Er schrie die ganze Existenzangst, die sich bei ihm aufgestaut hatte und die ganze Wut, die er aufgrund der gerade gemachten Entdeckungen und der daraus resultierenden Erkenntnis, all die Jahre von Keter, Letticher und denen da oben in Berlin hintergangen worden zu sein, aus sich heraus. Sein Magen begann sich zusammenzukrampfen. Er erbrach sich. Dann streckte er sich wimmernd lang auf den Boden. Erst allmählich beruhigte er sich. Ein Beobachter hatte geglaubt, nun sei alles wieder in Ordnung. Weit gefehlt. Zwanzig Minuten später richtete er sich langsam auf und wendete den Kopf. Es war ein irres Funkeln, das seine Augen beherrschte. Mißtrauisch sah er sich um.

In dem Moment öffnete sich die Tür. Reddler betrat den Gang. Er bemerkte sofort die offenen Türen und sah Schmidt auf dem Boden lie-gen. "Was ist denn los, Hans?" fragte er im Vorübergehen. Er wartete die Antwort nicht ab, sondern betrat den Raum, in dem das Licht noch brannte. Was er da sah, verschlug auch ihm die Sprache. Aber er behielt die Nerven, im Gegensatz zu Schmidt. Das konnten doch nur die Piloten der Scheibe sein. Wieso aber waren die nicht skelettiert? Die mußten doch schon bald fünfzig Jahre lang hier unten liegen? Sind die vielleicht einbalsamiert worden? Über die Schulter gewandt fragte er Schmidt: "Sind die mumifiziert?"

Der reagierte mit schwacher Stimme ohne auf die Frage einzugehen: "Sie verfolgen mich. Schon immer. Überall sind sie. Überall."

Reddler verließ den Raum, beugte sich über Schmidt und fragte ihn: "Ist dir nicht gut, Hans?"

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Der, nicht auf das achtend, was ihn Reddler fragte, schrie nun, wild um sich schlagend: "Aspergillus! Aspergillus! Aspergillus flavus!"

"Was ist damit? Was meinst du damit? Denkst du, die Körper da drin tragen das Mumiengift?"

"Sie sind überall. Sie verfolgen mich." Schmidt hatte die Stimme gesenkt und blickte Reddler mit Verschwörermiene an. Seine Augen spie-gelten den Wahnsinn wider, der ihn ergriffen hatte. "Sie sind überall. Sie verfolgen mich. Ja, sie sind hinter mir her! Ich muß mich wehren, wehren!" Zuletzt war Schmidts Stimme immer lauter geworden. Plötzlich packte er Reddler am Hals. Dieser schlug ihm blitzschnell Arm und Hand weg, dann versetzte er ihm einen Schlag gegen die Halsschlagader. Schmidt rutschte zur Seite und war sofort still.

Reddler eilte zum Fahrstuhl, den bewußtlosen Schmidt auf dem Fußbo-den zurück lassend. Er fuhr nach oben und suchte Keter.

"Der sitzt hinter dem Haus und macht ein Mittagsschläfchen in der Sonne ...", sagte Krausinger, der im Erdgeschoß des Gebäudes in seinem alten Arbeitszimmer, des Tageslichtes wegen tat er das öfter einmal, über einer physikalischen Formel brütete, Reddlers Frage nach Keter beant-wortend, ohne aufzublicken.

"Sagen Sie Professor..., was ist denn das dort unten in diesem Raum in der vierten Tiefetage?"

Jetzt wurde Krausinger hellwach. "In welchem Raum? Und was haben Sie denn dort unten gesucht?!"

"Ich habe Hans gesucht. Er ist dran mit der Wache." "Ach so", sagte Krausinger beruhigt und wandte seine Aufmerksamkeit

wieder seinen Berechnungen zu. Aber Reddler ließ nicht locker: "Ja, was ist das denn nun dort unten?"

Krausinger ließ sich ungern erneut aus seinen Berechnungen heraus-reißen, aber er wurde wieder hellhörig und stellte sich nun dumm: "Meinen Sie die Scheibe?"

"Nein. Das ist ja nichts Neues. Hans hat diese Tür geöffnet..." "Tür geöffnet? Welche Tür?" Krausinger war auf das höchste erregt.

Was war da los? Hatten die etwa ...? "Die Tür, das heißt, die beiden Türen unten in der vierten Tiefetage,

gleich vorne rechts, gegenüber der Halle mit der Scheibe." "Waaas?!" schrie Krausinger empört. "Da liegen so seltsame Kreaturen drin. Sind das die Piloten?" fragte

Reddler, der sich durch Krausingers Reaktion nicht beeindrucken ließ. Der antwortete nicht, nahm das Sprechfunkgerät vom Tisch und wählte

hastig Keter an. Gleichzeitig fragte er: "Wo ist Schmidt jetzt?"

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"Der ist noch unten. Er scheint mir irgendwie wirr im Kopf zu sein. Bringt keinen klaren Gedanken mehr zustande, faselt immer nur von 'Aspergillus flavus' und hat mich angegriffen. Ich mußte ihn bewußtlos schlagen."

"Kommen Sie sofort rein. Hier ist was Furchtbares passiert!" rief Krau-singer in die Sprechmuschel, als Keter sich meldete.

Wenige Augenblicke später hastete Keter in den Raum. "Was ist denn los?" rief er unwillig.

"Die haben die Ruhe der Zwerge gestört!" brüllte Krausinger außer sich vor Wut zurück.

"Wer hat die gestört? Was reden Sie da Professor?" Fragend schaute Keter Reddler an, der die beiden irritiert betrachtete, denn so erregt hatte er sie noch nie gesehen. Er verstand nicht, weshalb sie so völlig aus dem Häuschen zu sein schienen.

Kapons hatte von Keter den Befehl erhalten, Schmidt zu bewachen. Schmidts Wahnsinn schien voll ausgebrochen zu sein. Sie konnten es sich aus naheliegenden Gründen nicht leisten, ihn zu einem Arzt zu brin-gen oder einen Arzt zu einem Hausbesuch zu bestellen. Das Problem mußte anders gelöst werden.

Reddler hatte die Skelette aus dem Abstellraum entfernt. In die Tür, wie auch in die, hinter der die Zwerge schliefen, hatte er Sicherheitsschlösser eingebaut. Kapons gegenüber durfte er nicht erwähnen, was er gesehen hatte.

Dr. Schmidt wurde in dem Absteliraum untergebracht, in dem er die Skelette entdeckt hatte. Die Tür wurde verschlossen. Schmidt wurde wie ein Gefangener gehalten, allerdings ohne Fesseln. Er erhielt seine Mahl-zeiten regelmäßig und der Kübel, den man ihm hingestellt hatte, weil es keine Toiletten gab, wurde ebenfalls regelmäßig geleert. Diesen Dienst verrichteten im Wechsel Reddler und Kapons, die beiden letzten Offiziere, die General Keter nach der Flucht von Funke und Rummel noch zur Verfügung standen, nachdem der schwer erkrankte Schadeberg wenige Monate zuvor von Quader abgeholt worden war.

Schmidts offensichtlicher Verfolgungswahn hatte sich nicht gelegt. Er war nun bereits seit sechs Wochen gefangen gesetzt. Meist flüsterte er, auf dem kalten Betonfußboden hockend, vor sich hin. Oder aber er beob-achtete mißtrauisch und wortlos, was derjenige tat, der ihm Essen brachte oder den Kübel leeren kam. So war es auch diesmal, als Kapons ihm die Mittagsmahlzeit brachte. Kapons hatte die Tür aufgeschlossen und

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den Raum betreten. Er stellte das Tablett mit dem Essen und einer Flasche Mineralwasser auf den kleinen Tisch. Dann beugte er sich hinunter zu Schmidt, um zu sehen, ob mit dem alles, den Umständen entsprechend in Ordnung sei.

In dem Augenblick schnellte, begleitet von einem markerschütternden Schrei Schmidts rechte Hand hoch. Stahl blitzte im Licht der Lampe. Das Taschenmesser drang in Kapons Hals. Der wollte schreien, aber schon schoß Blut im Strahl aus seinem Mund. Während er stöhnend zusam-menbrach, rannte Schmidt, sein Opfer nicht weiter beachtend, wahnsinnig schreiend durch die offene Tür in den Gang und zum Fahrstuhlvorraum. Die Tür des Fahrstuhles, den man mechanisch schließen mußte, stand noch offen. Er trat hinein und glotzte mit stierem Blick auf die Bedienungsknöpfe. Offensichtlich wußte er nicht mehr, wie man den Fahrstuhl in Bewegung setzte. Er kam wieder heraus und rannte ziellos in der Etage herum.

Kapons hatte mit allerletzter Kraft sein Sprechfunkgerät gezückt und auf Sendung gestellt. Reddler meldete sich. Kapons wollte antworten. Ein Schwall Blutes schoß ihm, verbunden mit einem gurgelnden Stöhnen aus dem Rachen und ergoß sich über die Sprechmuschel. Dann fiel ihm das Gerät aus der Hand. Sein Körper zuckte noch einmal und erschlaffte dann. Leises Stöhnen war zu hören.

Schmidt rannte weiter ziellos herum. Seine wahnsinnigen Schreie hall-ten durch die Tiefetage. Es klang schrecklich. Plötzlich öffnete sich die Tür zur Wendeltreppe, die Schmidt bisher unbekannt gewesen war. Krau-singer trat, gefolgt von Reddler aus dem geheimen Treppenschacht.

Schmidt bemerkte die Waffe in Reddlers Hand. Die eigenen Schritte beschleunigend sprang er mit erhobenem rechtem Arm, das blutige Taschenmesser mit der Hand umkrampfend, auf Reddler zu.

Ein Pistolenknall, hier unten einer Detonation gleich, folgte. Krausinger hatte Schmidt durch die Brust geschossen. Reddler wandte sich um, sah Krausinger verwundert und anerkennend an. Dann beugte er sich hinun-ter, drückte zwei Finger an Schmidts Halsschlagader und sagte, sich auf-richtend: "Ich glaube, das war das Beste für ihn."

Krausinger dagegen sah auf die Leiche Dr. Schmidts herunter, mit dem er viele Jahre erfolgreich zusammengearbeitet hatte und dachte: Niemand darf mein Projekt gefährden, niemand!

Reddler war aufgestanden und hatte nach Kapons gesucht. "Professor", rief er. "Klaus liegt hier. Ich glaube, er lebt noch."

Krausinger kam hastig gelaufen. Er sah auf Kapons herab. Das Blut trat nach wie vor aus der Wunde aus. "Wo wollen Sie hin?" fragte er Reddler, der aus dem Raum rannte.

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"Ich suche Verbandszeug! Wir müssen ihm doch die Wunde abbinden", rief Reddler über die Schulter.

"Sind Sie denn töricht?" herrschte ihn Krausinger an. "Bleiben Sie hier! Der Mann überlebt das doch nicht."

"Bis in ein Krankenhaus..." "Was? Sie wollen den in ein Krankenhaus bringen? Bis der dort wäre,

wäre der doch bereits verblutet! Und wissen Sie, was das bedeuten würde? Ein Mann mit einem Messer im Hals - hier aus Waldheide? Wollen Sie denn alles gefährden?!"

Reddler starrte Krausinger entgeistert an: "Wir können doch aber nicht einen alten Gen ... , äh einen ... einen Kameraden einfach verbluten las-sen. Der ist doch vielleicht noch zu retten!"

Krausinger rief über Sprechfunk nach Keter: "Kommen Sie schnell hier herunter!"

Reddler drückte Kapons mit einem mehrfach gefalteten Stofftaschen-tuch die Halswunde zu. Krausinger von unten her anschauend sagte er: "Wir können ihn doch nicht verbluten lassen!"

Kapons stöhnte schwach. Im Hintergrund hörte man Schritte. Mit vor Anstrengung hochrotem Kopf

stürmte Keter in den Gang. "Was ist denn los, zum Teufel noch mal? Einer muß doch schließlich oben aufpassen!"

"Klaus ist schwer verletzt. Wir müssen etwas unternehmen!" rief ihm Reddler zu.

Keter schaute auf Kapons hinunter. Er sah den Sitz der Wunde und hörte Krausinger eiskalt sagen: "Wir können ihm nicht mehr helfen. Las-sen Sie ihn sterben." Er betrachtete den am Boden liegenden Schwerver-letzten und schaute dann Reddler an. "Ja", bestätigte er schließlich fast tonlos Krausingers Worte. "Es hat keinen Sinn mehr. Er wird sterben."

Reddler erwiderte erregt: "Dann muß ja jeder von uns, der mal verletzt wird, damit rechnen, daß man ihn einfach krepieren läßt!"

"Er ist einfach zu schwer verletzt. Er hat zuviel Blut verloren. Und er ist zu schwach. Wir kriegen ihn in keinen OP-Saal mehr lebend rein, selbst wenn wir wollten."

"Vielleicht ist er ja stärker, als wir jetzt glauben. Wir müssen ihm doch helfen."

Plötzlich meinte Krausinger, dem die Beharrlichkeit Reddlers mißfiel: "Ein Vorschlag: Vielleicht ist er ja wirklich noch kräftig genug für einen Transport und für eine Operation. Bis zum nächsten Krankenhaus brau-chen wir mindestens dreißig Minuten. Das heißt, wenn er die nächsten dreißig Minuten nicht durchhält, dann würden wir dort nur eine Leiche abliefern - und um welchen Preis? Um den Preis unserer Sicherheit hier!

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- Ich wäre allerdings bereit, das Risiko einzugehen, wenn er die nächsten dreißig Minuten durchhält."

Reddler sah Krausinger wortlos an. "Sie können ihn jetzt verbinden ...", sagte Krausinger an Reddler

gewandt. "Nun holen Sie schon den Verbandskasten." Sich erhebend sagte Reddler zu Keter: "Drück bitte weiter auf die

Wunde, Fritz." Keter übernahm Reddlers Aufgabe, der nach nebenan zur Wachstube

lief. "Nehmen Sie die Hand von der Wunde, General!" flüsterte Krausinger,

indem er sich zu Keters Ohr hinunter beugte. Der lockerte den Druck und schaute aus seiner hockenden Position, die ihn offensichtlich sehr anstrengte, fragenden Blickes hoch zu Krausinger.

"Sie wissen so gut, wie ich, daß wir Kapons nicht in ein Krankenhaus bringen können. Wir können uns keine Sentimentalitäten leisten!" Krau-singer sprach leise, aber mit Nachdruck.

Keter nickte und zog die Hand von der Wunde. Aber er sagte kein Wort. Jetzt quoll das Blut im Rhythmus des schwächer werdenden Pulses aus Kapons Halswunde.

"Der Reddler hat das leider nicht begriffen. - Wenn er wiederkommt, dann tun Sie am besten so, als ob Sie die ganze Zeit die Wunde zuge-preßt hätten."

Keter nickte. In der ungewohnten Hockstellung, in der er sich mühsam hielt, schmerzte ihn sein Kreuz . "Ich bin sicher, Klaus hätte das sowieso nicht überlebt", sagte er, mehr zu sich selbst, um sein Gewissen zu beru-higen.

Im Hintergrund hörte man Reddler im Eiltempo zurückkommen. Keter drückte schnell wieder das blutige Taschentuch auf die Wunde.

Reddler erschien, den Sanitätskasten in der Hand. "Schnell, hier ist die keimfreie Kompresse", sagte er und hockte sich wieder neben Keter. "Laß mal kurz los. Ich drücke sie auf die Wunde."

"Machen Sie den Verband nicht zu straff, damit er nicht erstickt", sagte Krausinger. Er gab sich Mühe, Besorgnis anklingen zu lassen.

Der Verwundete hatte in den letzten Minuten mehrfach gurgelnd geröchelt. Das wiederholte sich. "Verdammt", sagte Reddler. "Ich glaube, der verschluckt sich an seinem eigenen Blut. Vielleicht kriegt er es auch in die Lunge. Wir müssen ihn aufrichten." Er hob Kapons Oberkörper an. In dem Moment gab Kapons noch einmal ein gurgelndes Stöhnen von sich. Er schien verzweifelt nach Luft zu schnappen. Blutiger Schaum trat ihm aus dem Mund. Dann sank er kraftlos in sich zusammen. Reddler legte den erschlafften Körper vorsichtig ab.

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"Ich glaube, er hat seinen Geist aufgegeben", sagte Keter. Reddler zog ein Augenlid Kapons nach oben. "Ja, es ist aus mit ihm." "Sehen Sie, wir hätten ihn nicht mehr rechtzeitig in ein Krankenhaus

bringen können. Wie ich Ihnen gesagt habe!" Krausingers Stimme klang eher triumphierend, als bedauernd. Er war froh, daß die Sache so ausge-gangen war.

Reddler schien nicht auf Krausingers Worte gehört zu haben. Er stand auf, blickte aber noch immer auf Kapons leblosen Körper hinab.

Keter, der sich ebenfalls mühsam aufgerichtet hatte - ihn schmerzten Knie und Rücken - drehte sich um und ging langsamen, schleppenden Schrittes in Richtung Fahrstuhl. Er trat an die Leiche von Schmidt heran. Stumm blickte er auf sie herab. Plötzlich fühlte er sich sehr alt und furcht-bar einsam. Alle verließen sie ihn. Seine ganze Mannschaft. Offiziere, mit denen er jahrelang zusammengearbeitet hatte. Alle waren weg: Geflohen, gestorben, verrückt geworden. Und alle waren sie junge Männer gewesen, im Vergleich mit ihm. Ein Wahnsinn!

Krausinger trat hinter ihn und, als wisse er, was Keter gerade bewegte, sagte er: "Es kann nicht mehr lange dauern, General. Dann haben wir unser Ziel erreicht. All die langen Jahre, all die Mühen, all die Opfer wer-den nicht umsonst gewesen sein." Er sprach in einem beruhigenden Ton zu Keter und berührte ihn das erste Mal in all den Jahren, indem er ganz kurz und sacht seine Hand auf Keters Arm legte. Es war, als wollte ein Vater sein verstörtes Kind beruhigen.

Keter drehte sich leicht zur Seite und nickte Krausinger zu. "Ja, Sie haben recht", sagte er mit leiser Stimme, dankbar dafür, daß er verstanden wurde.

Krausingers Blick fiel plötzlich auf etwas Graues, das sich kaum vom Grau des Betonfußbodens der Halle abhob. Er bückte sich und hob es auf. Es war ein Oktavheft, wie er schon eines vor fast fünfzig Jahren in dieser Etage gefunden hatte. Er drehte es um und bekam einen Schreck. "Bergwald" stand darauf. Ja, das war ja das Tagebuch Bergwalds! Wie kam denn das hierher? In dem Moment las er, daß dort auch noch stand: "Teil II". Es war also nicht das Tagebuch, das er sorgfältig versteckt hielt, sondern ein anderes, ein Zweites, das er bisher nicht gekannt hatte. Schmidt mußte das gehabt haben. Aber wo hatte der das gefunden?

Eilig blätterte er darin. Mit einem kurzen Blick erfaßte er, daß es viele seiner Fragen beantworten konnte. Verdammt. Warum habe ich den zweiten Teil nicht bereits damals gefunden. Dann wäre ich doch sicher schon viel weiter! Schnell schob er das Heft unter sein Hemd. Er sah sich um. Keter schien nichts bemerkt zu haben.

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Krausinger überzeugte sich davon, daß er allein war. Dann zog er das Tagebuch unter seinem Hemd hervor und schlug es auf. Er war gespannt darauf, was er Neues lesen würde.

"06. April 1945 Heute haben mir die beiden etwas zu erklären versucht, was ich sicher nicht richtig verstanden habe, weil mir einfach die fachlichen Kenntnisse fehlen. Auf meine Frage, wie denn ihr Fluggerät angetrieben werde, die ich nun bereits wiederholt gestellt hatte, sagten sie mir, daß der Antrieb mit Hilfe des Transurans Element 115, erfolge. Es sei ein Minireaktor an Bord, der elektrische Energie und eine Basisgravitationswelle liefere. Durch eine Interaktion zwischen Materie und Antimaterie werde ein Gravitationsfeld geschaffen. In einen Klumpen von E 115 werde ein beschleunigtes Proton hineingeschossen, wodurch Antiwas-serstoff entstehe. Die mit der Materie reagierende Antimaterie produziere Energie, überwiegend Hitzeenergie, die durch einem thermionischen Reaktor in elektrische Energie umgewandelt werde. Für mich sind das alles böhmische Dörfer. Dafür bin ich zu wenig gebildet. Aber interessant ist es schon. Und ich darf wohl auch stolz darauf sein, daß sie das gerade mir, einem völlig unbedeutenden Erdenbürger offenbarten."

Krausinger ließ das Tagebuch sinken. Das war es also: Element 115! Das ist ein superschweres, aber ziemlich stabiles Element, dachte er. Es weist einen ungeheuren Energiegehalt auf. Ein Kilogramm davon könnte durchaus eine solche Energie entwickeln, wie 50 Wasserstoffbomben! -Aber es kommt doch auf unserer guten alten Erde überhaupt nicht in natürlicher Form vor. Und es läßt sich hier auch nicht herstellen. Man weiß nur, daß es theoretisch existieren müßte und hat es deshalb in das Periodensystem aufgenommen. Aber das ist auch alles. Du großer Gott. An dieses Material kommen wir ja doch überhaupt nicht heran! Er blätterte weiter, merkte aber schnell, daß er die für ihn einzig bedeutsame Stelle gerade gelesen hatte.

Waldheide, Sommer 1994. Die Sonne verbreitete eine sengende Hitze. Keter deckte seine Augen mit der Hand ab und schaute nach oben. Er glaubte, das Loch in der Ozonschicht direkt über sich zu haben. Mißtrauisch besah er sich seine nackten Unterarme, auf denen sich, wie er zufrieden feststellte, die Altersflecken nicht vermehrt hatten in den letzten Jahren. War da irgendwo etwas Verdächtiges, Schwarzes, schnell Wachsendes zu sehen? Nein, da war nichts. Zum Glück. Vorsichtig rollte er seine Hemdsärmel herunter, glättete sie und knöpfte sie zu. Trotz die-ser Vorsichtsmaßnahme, packte er wenig später den Stuhl, auf dem er

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gesessen hatte, und ging zurück in das Gebäude, an dessen Rückseite er sich gesonnt hatte. Es war ihm zu heiß geworden da draußen. Er begab sich wieder hinunter in die kühle Unterwelt des Objektes. Unten ange-kommen betrat er die Wachstube.

Krausinger, sich von seiner Liege aufrichtend, warf dem Störenfried einen ärgerlichen Blick zu.

"Wann wird es denn nun endlich so weit sein, Professor?" fragte Keter. Doch Krausinger, der sich wieder zurückgelehnt hatte, reagierte nicht. Das ärgerte ihn: "Professor, antworten Sie mir! Sie wissen, daß ich es auf den Tod nicht ausstehen kann, wenn ich etwas frage und es antwortet mir keiner. Ich rede doch wohl nicht etwa gegen eine Wand? Wann hat dieses Warten hier endlich ein Ende?"

Nun richtete sich Krausinger ganz auf und setzte sich auf die Liege. "Jetzt haben Sie es endlich geschafft, General. Sie haben mich völlig munter gemacht! Hoffentlich sind Sie jetzt zufrieden!"

"Es ist doch hellichter Tag oben! Das ist ja wohl krankhaft, den ganzen Tag nur zu schlafen. Sagen Sie mir endlich, wann es soweit sein wird!"

Krausinger schnaubte wütend: "Wie oft habe ich es Ihnen bereits erklärt, General, daß der Termin 1995 sein wird. Früher wird nichts geschehen. Das können Sie mir glauben. So ungeduldig Sie auch sind. Es geht dadurch auch nicht schneller."

"Das heißt also, noch ein weiteres Jahr zu warten, zu warten, zu war-ten...?"

"Ja. Genau das heißt es, General. Sie sind doch nicht etwa zu willens-schwach, um das durchzustehen? Sie sind doch nicht etwa zu alt für diese große Sache?!"

"Ich? Ich bin gesund, wie ein Fisch im Wasser, Professor. Sie wissen doch, daß ich seit Jahren keinen Arzt mehr konsultieren mußte. Sie wis-sen, daß ich, wie man heutzutage wohl sagt, topfit bin. Wissen Sie, wie alt ich bin? - Ach, das wissen Sie ja. Aber wissen Sie, für wie alt mich viele Leute halten würden? Für viel jünger! Und da sagen Sie, ich sei zu alt. Das ist... das ist ja eine Unverschämtheit!"

"Passen Sie mal auf das auf, was ich Ihnen jetzt sage, General: Natür-lich sehen Sie jünger aus, als Sie sind, weitaus jünger. Natürlich sind Sie kerngesund und brauchen keinen Arzt."

Keter nickte triumphierend: "Sage ich doch!" Krausinger redete jedoch unbeirrt weiter: "Sie brauchen allerdings nicht

zu denken, daß das Ihr Verdienst sei, General. Ich war es, der Ihnen vor fünfzehn Jahren bereits einen Schuß Unsterblichkeit in den Wodka gemixt hat! Ohne den wären Sie doch jetzt ein alter, kranker Mann von achtzig Jahren, der vielleicht so aussähe wie neunzig - so wie Sie immer saufen!"

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Keters Gesichtsausdruck hatte sich bei Krausingers letzten Worten mißtrauisch gewandelt. Jetzt sah er den Professor ungläubig an: "Was haben Sie da gesagt? Sie haben mir etwas in meinen Wodka gegossen? -Und wie meinen Sie das mit dem 'Schuß Unsterblichkeit?"

"So wie ich es gesagt habe. Sie sind nur deshalb so gesund geblieben, so vital, weil ich dafür gesorgt habe."

"Wie denn? Wieso Sie Professor?" "ja, glauben Sie denn, Sie seien so gesund und relativ jung geblieben,

von nichts? Haben Sie nie darüber nachgedacht, daß das doch recht selt-sam ist?"

"Nein, wie sollte ich?" "Wie alt schätzt man mich? Was glauben Sie, General?" "Jaaa, ich weiß ja, daß Sie noch wesentlich jünger aussehen, als ich, ...

obwohl Sie ja älter sind ..." Keter brach ab und sah Krausinger plötzlich verstehend und voller Hoffnung an: "Heißt das etwa, daß Sie über Mög-lichkeiten verfügen, das Leben zu verlängern? Haben Sie da etwa ein Mit-tel aus der Scheibe?"

Krausinger ärgerte sich, daß er sich durch Keters Verhalten hatte hin-reißen lassen, das letzte seiner Geheimnisse zu verraten. Es blieb ihm aber nichts anderes übrig. Er weihte Keter ein, der staunend zuhörte, als Krausinger von den "Methusalem-Kapseln" sprach.

Als Keter erfuhr, daß eine einzige Kapsel fünfzig Jahre wirke, war er begeistert. Er fühlte sich jetzt zu den Unsterblichen gehörend.

Kassel, Juni 1995. Wir hatten viel diskutiert und das Für und Wider beraten, bevor wir uns dazu entschieden hatten, Waldheide aufzusuchen. Unser Ziel war es festzustellen, ob sich dort überhaupt noch jemand befand und was diese Leute trieben. Wir wollten Beobachtungsergebnisse sammeln und alles für einen Bericht zusammentragen, den ich in meinem Sender plazieren wollte.

Am 24. Juni 1995 machten wir uns in aller Frühe mit einem Mietwagen auf den Weg. Natürlich hatten wir dafür gesorgt, daß die Beobachter unsere Abreise nicht mitbekamen. Da sie von Michaels Aufenthalt in Kas-sel nichts zu wissen schienen, hatte ich mich über Umwege mitten in der Nacht zu ihm begeben. Von seiner Wohnung aus waren wir dann gestar-tet. Ich grinste, als ich Michael sah. Er hatte einen Dreitagebart und hatte sich seine Haare schwarz gefärbt. Dazu trug er eine spiegelnde Sonnen-brille. Das war sein Versuch, dort wo wir hin wollten, nicht erkannt zu werden.

Wir hatten vereinbart, daß wir uns am Steuer abwechseln wollten. Ich fuhr als erster. Als wir auf der Autobahn waren, wurden meine Gedanken

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von dem uns bevorstehenden Abenteuer gefangen. Ich dachte darüber nach, was uns wohl erwarten würde. Immerhin hatte ich damals in Wald-heide schwerbewaffnete Männer im Wald gesehen. "Du sag mal, Michael, waren die Russen damals, als du in dem Objekt warst, auch schon dort?"

"Was für Russen?" "Na, ich hatte dir doch schon einmal gesagt, als ich mich vor wenigen

Wochen heranschlich, da habe ich im Wald zwischen der Landstraße und dem Objekt ein Zelt gesehen, vor dem mit Maschinenpistolen bewaffnete Russen saßen. Was sind denn das für Leute? Was glaubst du?"

"Ach ja, ich erinnere mich. Stimmt. Hattest du mir gesagt. Aber als ich dort oben war, da haben wir selbst alles abgesichert. Ich hatte auch sehr oft Wache. Da waren keine Russen da. Ich kann mir das nur so erklären, daß der Quader die Russen mitgebracht hat, vielleicht als zusätzliche Wache, nachdem ich abgehauen bin. - Oder, oder sollten die Russen das Objekt übernommen haben?"

"Meinst du? Wo wären denn dann die Leute, die damals mit dir unten waren, vor allem der Krausinger und der General? Sind die vielleicht gar nicht mehr da?"

Michael zuckte die Schultern: "Ich kann es dir wirklich nicht sagen, Theo. Da ist alles möglich. Wir müssen einfach sehen, was sich dort getan hat, seitdem ich weg bin."

"Wann bist du eigentlich genau weg? Und wie war das denn? War es leicht, da rauszukommen? Das hast du mir ja noch gar nicht erzählt. Jetzt haben wir doch Zeit. Erzähl mal."

"Weißt du, ich habe damals lange hin und her überlegt. Ich wollte unbedingt weg von diesen Wahnsinnigen und wieder unter normale Menschen. Aber mir war natürlich klar, daß die mich suchen würden und daß es sehr gefährlich für mich werden würde, wenn ich mich dort absetzte. Und ich muß dir ehrlich sagen, auch jetzt habe ich kein sehr gutes Gefühl, wo wir doch genau dort hin fahren."

Er merkte wohl, daß ich ihn fragend anschaute, denn er sagte sofort: "Keine Angst, wir machen das, was wir uns vorgenommen haben. Keine Frage." Dann setzte er fort: "Also ich hatte mir die Entscheidung zu flie-hen, nicht leicht gemacht. Und meine Befürchtungen waren auch berechtigt. Um dir die Gefährlichkeit dieser Leute vor Augen zu führen, werde ich dir jetzt erzählen, wie sie hinter mir her waren, nach meiner Flucht, und wie die alten Stasiverbindungen noch funktionieren. Ich habe eine Nacht genutzt, in der ich Wache hatte, um unbemerkt das Objekt zu verlassen. Ich holte einen der Wagen aus der Garage und bin nach Berlin gefahren. Ich dachte mir, daß ich in so einer großen Stadt am ehesten

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untertauchen könnte und eventuell auch Hilfe von Freunden erhalten würde. In Lichtenberg suchte ich gleich am Morgen einen mir vertrauens-würdig erscheinenden Freund auf, der auch einmal bei der 'Firma' gewe-sen war. Von ihm erhielt ich den Schlüssel für eine ehemals 'Konspirative Wohnung', in der ich erst einmal wohnen wollte. Noch bevor ich dort auftauchte, war es aber wahrscheinlich den Leuten von Quader schon bekannt, daß ich da übernachten wollte, und ich kann von Glück reden, daß ich da lebend wieder rausgekommen bin."

"Was? Wieso lebend rausgekommen?" "Ja, also, als ich abends in der Wohnung war, da habe ich durch Zufall

gemerkt, daß sie offensichtlich beobachtet wurde und das Haus wahr-scheinlich schon umstellt war. Schnell imitierte ich aus Decken und Kissen einen Schlafenden auf einer Liege in einem der Zimmer. Ich wollte spät in der Nacht gerade die Wohnung verlassen, um unterzutauchen, da hörte ich, wie die Tür von außen geöffnet wurde. Ich versteckte mich und mußte mit anhören, wie die zwei Personen, welche die Wohnung betreten hatten, auf den vermeintlich Schlafenden auf der Liege schossen. Da sie vermuteten, daß sie mich erschossen hatten, war es mir möglich, sie total zu überraschen und kampfunfähig zu machen. Ich verließ das Haus, schaffte es bis zu meinem Wagen und raste durch die nächtliche Stadt. Ich merkte, daß ich verfolgt wurde, es gelang mir aber, die Verfolger abzuhängen."

"Wie sind die denn darauf gekommen, daß du in dieser Wohnung warst?"

"Also genau darüber habe ich während der Flucht auch gegrübelt. Hat-ten die mich bis nach Berlin verfolgt? Oder kontrollierten die ihre K-Woh-nungen immer noch und hatten festgestellt, daß ein Unbefugter in dieser Wohnung Unterschlupf gefunden hatte? Dann würden sie sicher auch bald wissen, daß ich es war, dachte ich. Oder aber sollte vielleicht mein Freund von dem ich den Schlüssel hatte ...? Ja. Natürlich. Auf den konnten sie doch auch gekommen sein! Die wußten doch sicher auch, daß ich mit ihm befreundet war. Die wußten doch alles in der Firma: Wer wen kannte, wer wen besuchte, wer mit wem befreundet war, wer mit wessen Frau bumste. Die könnten ihn befragt haben und er hatte vermutlich geantwortet, ohne zu ahnen, daß sie mich jagten. - Was heißt 'ohne zu ahnen'? Ich war bereits so weit, in Erwägung zu ziehen, daß er mich bewußt in diese Falle geschickt haben könnte. Ich zweifelte bereits an den besten Freunden. Und das ist ein verdammt schlechtes Gefühl, sage ich dir."

Ich nickte verstehend.

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Michael fuhr fort: Mir wurde erst da voll bewußt, daß ich mich in sehr großer Gefahr, ja in Lebensgefahr befand. Es ging ja nicht lediglich um die Bedrohung eines Abtrünnigen. Davon gab es viele. Es ging vielmehr um jemanden, der über eine so bedeutsame Angelegenheit Bescheid wußte, wie nur wenige andere auch. Es ging um jemanden, der ihnen alle ihre Pläne durchkreuzen könnte. Sie würden mich liquidieren lassen, wenn sie mich denn in die Hände bekämen. Keter, Quader und Krausinger wußten, was auf dem Spiel stand. Und die Verantwortlichen des Direktoriums in Berlin sicher ebenfalls. Es wurde mir ganz schön mulmig, das sage ich dir. Du wirst denken ich spinne, aber ich verspürte schon das kühle Eisen eines Schalldämpfers im Nacken. Ich muß untertauchen, dachte ich. Aber wohin? In Berlin konnte ich nicht bleiben. Nach Apolda zu meiner Mutter konnte ich auch nicht. Dort würden sie sicher ebenfalls auftauchen. Ich mußte weg, weit weg, das war klar. Am besten wäre es sicher, gleich in die alten Bundesländer zu gehen. Im Osten hatte es keinen Sinn. Da existierten die alten Strukturen der Firma sicher noch bis hinunter auf Gemeindeebene. Zumindest könnten sie durch diejenigen, die das wollten, schnell mobilisiert werden. Nach einem Blick auf den Kraftstoffanzeiger fuhr ich zügig aus Berlin heraus weiter nach Süden. Blicke in den Rückspiegel zeigten mir, daß ich nicht mehr verfolgt wurde. Ich hatte sie abgehängt."

Michael schien die Erinnerung an diese Flucht ganz schön mitzuneh-men. Ich sah es ihm an und hörte es an seiner Stimme. Nach einem kur-zen Atemholen sprach er weiter: "Zwei Stunden später steuerte ich den BMW auf den Parkplatz am Hauptbahnhof von Halle in Sachsen-Anhalt. Ich bestieg dann einen Interregio, der nach Frankfurt (Main) fuhr."

"Frankfurt? Und wie bist du denn dann nach Kassel gekommen?" "Ach weißt du, ich habe mich in verschiedenen Städten aufgehalten, nur

um meine Spuren zu verwischen. Ich kenne München, ich kenne Stuttgart, ich kenne Heidelberg, Dortmund und Krefeld. Ich habe mich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser gehalten. Ich bin nirgendwo länger geblieben als acht Wochen. Erst als ich nach Kassel kam und meinen jetzigen Arbeitsplatz fand, blieb ich länger. Und jetzt glaubte ich, einiger-maßen sicher zu sein. Und da tauchst du auf und die ganze Geschichte beginnt von vorn. - Aber ich mache auch nur mit, weil ich hoffe, daß wir gemeinsam diesem ganzen Spuk endlich ein Ende bereiten können."

Waldheide, 24. Juni 1995. Keter blickte auf die Uhr. Es war gegen elf

Uhr vormittags. Seit Wochen hatte ihn eine gespannte Unruhe ergriffen. Er

erwartete das Ende des Dornröschenschlafes der Gefangenen. Was

würde geschehen, wenn es soweit sein würde? Würde es ihm tatsächlich

gelingen, sie zu veranlassen, all seinen Befehlen zu gehorchen?

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Er verspürte ein menschliches Bedürfnis. Er mußte dringend nach oben. Vier Stockwerke. Verdammt. Den Fahrstuhl konnte er nicht benutzen, das taten sie seit einiger Zeit nicht mehr, wegen des Lärms, den der verur-sachte. Es fiel ihm allmählich immer schwerer, diese vielen Stufen hinauf zu steigen. Er war jetzt immerhin 83 Jahre alt geworden. Zwar war er durch Krausingers Kapsel biologisch erst 65, aber auch mit 65 hat man schon so seine Probleme. Das hatte er in letzter Zeit immer deutlicher feststellen müssen. Und außerdem war er in den letzten zwei Jahren kör-perlich ziemlich aus der Übung gekommen. Da sie sich oben nicht mehr sehen lassen konnten - aus Sicherheitsgründen - und da es im "U-Boot" kaum Möglichkeiten gab, um sich körperlich zu ertüchtigen, hatten seine Muskeln begonnen, zu erschlaffen.

Er stieg weiter nach oben, indem er sich mit der rechten Hand an dem eisernen Geländer hochzog. Jetzt hatte er schon etwa die Hälfte geschafft. Zu dumm aber auch, daß die Nazis damals keine Toiletten in die Tiefetagen eingebaut hatten. Aber er selbst hatte es ja bei der Übernahme des Objektes und auch später ebenfalls versäumt, welche einbauen zu lassen. Er berichtigte sich selbst in Gedanken: Was hieß da versäumt? Das war ja absichtlich geschehen. Er hatte ja gewollt, daß die Pioniere nur das Notwendigste taten, damit sie keinen Einblick in den Aufbau des Objektes unterhalb der Erdoberfläche erhielten. Außerdem war ja der Fahrstuhl ständig in Betrieb gewesen. Und wie hätte er denn zu DDR-Zeiten ahnen sollen, daß sie sich mal hier unten würden verstecken müssen?

Schließlich war er in Krausingers ehemaligem Arbeitszimmer angelangt. Er begab sich vorsichtig zum Fenster. Durch einen Spalt, der nicht völlig dicht gemachten Jalousie lugte er nach draußen. Dort war hellichter Tag, die Sonne schien und in etwa 200 Metern Entfernung befand sich die grüne Mauer des Waldes. Da war nichts und niemand zu sehen. Alles war ruhig.

Es war jetzt besonders gefährlich geworden, aus den unteren Etagen nach oben zu kommen, da ja draußen keiner von seinen Offizieren mehr Wache hielt. Er und Krausinger waren nun die letzten, die übriggeblieben waren. Keter ging über den Flur zu den Toiletten. Er hatte ein unsicheres Gefühl, während er sich dort aufhielt. Es war ihm klar: Wenn sie jetzt kämen, würden sie ihn hier wehrlos erwischen.

Selbst Reddler, auf den man sich immer hatte verlassen können, der zuletzt ihr einziger Schutz gewesen war, konnte nun nicht mehr helfen. Es war inzwischen fast achtundvierzig Stunden her, daß es geschehen war. Reddler hatte bei einer seiner abendlichen Kontrollen draußen im Gelände einen Fehler gemacht, der ihn das Leben gekostet hatte. Hinter dem Gebäude Nr. 3 war er, Keter und Krausinger konnten sich nicht

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erklären warum, in eine von ihm selbst installierte Schußfalle geraten. Er war sofort tot. Keter hatte ihn zwei Stunden später gefunden, als er draußen nach ihm suchte. Mit Krausingers Hilfe hatte er ihn dann im Wald verscharrt. "Zehn kleine Negerlein ..., dann waren's nur noch zwei ..." Er mußte an dieses Kinderlied denken und summte unbewußt die Melodie vor sich hin.

Aber so ganz ohne Schutz waren sie doch nicht, beruhigte er sich. Draußen im Wald befand sich immer noch die Sicherungsgruppe, die Quader dort stationiert hatte, mit dem Auftrag, das Objekt im Umfeld abzusichern. Trotzdem war dadurch nicht hundertprozentig garantiert, daß niemand in die Gebäude eindringen würde.

Er begab sich wieder nach unten. Erst als er die Stahlplatte über seinem Kopf geschlossen hatte, fühlte er sich wieder sicher. Während er sich die rechte Kniescheibe rieb, dachte er an die Probleme, die ihm Krausinger bereitete. Besonders ärgerte ihn im Moment die Tatsache, daß Krausinger all die kleinen körperlichen Macken eines alternden Mannes einfach nicht zu kennen schien. Na ja, so dachte er, der sah ja auch noch immer aus, wie Anfang bis Mitte Vierzig und war dies ja Dank seiner Kapseln auch erst. Und dabei war der Kerl kalendarisch älter als er. Der Professor mußte doch inzwischen ... ja, der mußte inzwischen über neunzig Jahre alt sein, denn er war ja 1903 geboren worden! Teufel noch mal!

Er war unten angelangt. Vorsichtig schloß er die Stahltür hinter sich. Seit er von Krausingers Kapseln wußte, versuchte er stets, ihn zu überra-schen. Er hoffte zu beobachten, wie er die Kapseln aus dem Versteck holte. Er hatte es sicher tausendmal versucht in all den Jahren. Leider war es ihm niemals gelungen. Der Professor war ein Fuchs. Er war mißtrauisch und wachsam, wie kein Zweiter.

Langsam, die Füße vorsichtig aufsetzend, näherte er sich der Wachstu-be. Es war dunkel. Um Strom zu sparen und um zu vermeiden, daß den örtlichen Versorgungsunternehmen ein etwaiger hoher Stromverbrauch in dem doch eigentlich leeren Objekt auffiel, hatten sie sich angewöhnt, so wenig Licht anzuschalten, wie möglich. Nur aus der offenen Tür zur Wachstube, die ihre gemeinsame Unterkunft, Wohn- und Schlafraum zugleich war, fiel Licht.

Plötzlich ertönte Krausingers Stimme aus dem Raum: "Kommen Sie nur, General. Ist oben alles in Ordnung?"

Keter fluchte still vor sich hin. Wie machte der Kerl das nur? Der bekam aber auch alles mit, was um ihn herum geschah. Da konnte man sich noch so sehr vorsehen. Gereizt trat er um die Ecke und war im ersten Moment geblendet vom direkten Licht der Lampe, da Krausinger sie so gedreht hatte, daß sie ihn anstrahlte.

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"Nehmen Sie die Lampe weg, Professor! Sind Sie denn verrückt? Sie blenden mich ja!"

Krausinger stellte die Lampe zurück auf den Tisch und setzte sich wie-der in den Lehnstuhl, in dem er schon gesessen hatte, als Keter nach oben gegangen war. Dabei erwiderte er, ebenso empört: "Und Sie? Schleichen Sie sich doch nicht immer so an, wie eine Raubkatze. Das ist ja unangenehm. Ich glaube, Sie haben schon einen weg, durch den langen Aufenthalt hier unten!"

Keter überlegte, ob er reagieren sollte, aber er war durch das Treppen-steigen so müde, daß er sich wortlos, aber ächzend in seinen Sessel fallen ließ.

Krausinger sah ihn prüfend an. Als er feststellte, daß Keter die Augen geschlossen hatte und daß vermutlich im Moment von dessen Seite nichts mehr kommen würde, griff er wieder nach dem Heft, das auf dem Tisch lag, schlug es auf und las weiter.

Keter zuckte zusammen. War da was? Nein. Krausinger las immer noch. Sonst schien alles in Ordnung zu sein. Er mußte eingenickt sein. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, daß er nicht sehr lange geschlafen haben konnte.

"Sie haben geschnarcht." Krausinger wendete den Blick nicht von seiner Lektüre, während er dies sagte.

Ach, deshalb war er munter geworden. Der Professor hatte wieder in die Hände geklatscht. Das tat der ja immer, um ihn im Schlaf zu stören und dann behauptete er zu seiner Rechtfertigung, er, Keter, habe geschnarcht. "Ich schnarche nicht!" antwortete er mit Bestimmtheit.

Krausinger lachte höhnisch auf, las aber weiter, ohne aufzublicken. Keter hörte nicht darauf. Er dachte an Quader. Der wurde langsam unan-genehm, der Mann. Er war ihm seit einiger Zeit bereits wieder so unsym-pathisch, wie früher, als er noch sein Politstellvertreter war. Quader hatte tatsächlich in den letzten beiden Jahren zunehmend durchblicken lassen, daß er im Auftrage des Direktoriums die Scheibe übernehmen wolle. Quader hatte das zwar nie offen gesagt, aber er hatte ein Gefühl dafür entwickelt, das ihm sagte, daß der ihn immer mehr in den Hintergrund drängen wollte. Der Kommissar wandte sich bei seinen sporadischen Besuchen seit einiger Zeit immer öfter an den Professor, und immer weni-ger an ihn. Da mußte man aufpassen. Höllisch aufpassen! Zumal ihn auch der Professor mit dem Nähekommen des Termins mehr und mehr nur als Hilfskraft behandelte.

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Er wurde aus seinen Grübeleien gerissen. "Ich habe nachgeschaut. Wir haben kaum noch etwas zu essen. Sie müssen etwas besorgen", hörte er Krausinger sagen. Das war ja schon wieder einer von den Versuchen, an die er gerade gedacht hatte. "Kommandieren Sie nicht so, Professor", grollte er beleidigt.

"Ja, soll ich vielleicht gehen? Sie wissen doch genau, daß wir das nicht riskieren können! - Oder soll ich Quader etwa darüber informieren, daß Sie nicht mehr können?"

"Nein, nein. Ich gehe ja schon." Keter dachte mit Unlust daran, die vier Stockwerke schon wieder auf der engen und steilen Wendeltreppe hin-aufsteigen zu müssen, um Quaders Leuten im Wald einen Einkaufsauftrag zu erteilen.

Die Bedarfsliste war von Krausinger bereits geschrieben worden. Er nahm sie vom Tisch und machte sich auf den Weg. Oben angekommen beschloß er, dort zu bleiben, bis die Lieferung erfolgt sein würde. Damit wollte er sich einen weiteren beschwerlichen Weg ersparen. Schnaufend ließ er sich in einen der Stühle fallen. Dann nahm er über Sprechfunk Verbindung mit Quaders Leuten auf. Er gab die Einkaufsliste durch. Es handelte sich um eine lange Liste mit vielen Mehrfachpositionen. Es mußte wieder etwa vier Wochen reichen, was sie sich jetzt liefern lassen würden.

Er setzte sich an das Fenster und spähte hinaus, denn er mußte auf der Hut sein. Er hatte Angst, von Plünderern oder von Leuten wie diesem Kulpa, der damals in das Objekt eingedrungen war, überfallen zu werden und unter Umständen das Geheimnis preisgeben zu müssen. Er hatte bereits Quader bitten wollen, von seinen Leuten im Wald wenigstens zwei direkt im Objekt zu stationieren. Als er diese Absicht Krausinger offenbart hatte, war es zu einem ziemlichen Krach gekommen. Krausinger wollte auf keinen Fall, daß von Quaders Leuten jemand der Scheibe zu nahe kommen würde.

Keter begann vor sich hin zu dösen. Er dachte wieder an die alten Zei-ten, als er noch General und Leiter einer großen Dienststelle war. Jetzt war er nichts anderes mehr als ein alter Mann, dessen Karriere beendet war. - Halt, nein, er würde ja wieder jemand sein, wenn erst einmal die Scheibe unter seinem Kommando stehen würde. - Unter seinem Kom-mando? So sicher war das nun schon lange nicht mehr. Krausinger schien eigene Absichten zu haben und Quader, ja Quader, der wollte wohl selbst 'Admiral im U-Boot' werden. - Ja, hatte das alles hier unter diesen Umständen für ihn eigentlich noch einen Sinn?

Er fühlte sich ausgelaugt und müde, sehr müde. Müde vom Leben. Ja, er hatte es gelebt, dieses sein Leben und er hatte mehr erreicht, als viele Mit-

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menschen. Jetzt aber ...? - Er raffte sich noch einmal auf. Nein! Ich bin beteiligt an etwas Außerordentlichem. Allein das Dabeisein ist es schon wert, zu bleiben. Und außerdem war ja noch nicht aller Tage Abend. Er würde sich die Führung nicht aus der Hand nehmen lassen. Niemals!

Wenige Minuten später war er völlig eingenickt. Die Stimme im Sprechfunkgerät weckte ihn. Er zuckte zusammen und rieb sich die Augen. Die auf russisch durchgegebene Meldung wurde wiederholt. Jetzt verstand er, daß die Lieferung gekommen war. "Lieferung wird abgeholt. Ende", antwortete er, ebenfalls auf russisch.

Dann begab er sich hinüber zu den Garagen. Er stieg in den alten Trabi-Kübelwagen, das einzige Fahrzeug, das sie noch besaßen. Dann fuhr er zum Waldweg. Auf halber Strecke zur Landstraße befand sich eine kleine Lichtung, auf der ihn ein Jeep erwartete. Von einem jungen Russen über-nahm er die Lieferung. Dann fuhr er zurück, entlud den Trabi vor dem Gebäude Nr. 3 und stellte ihn danach wieder in der Garage ab. Dann ließ er sich den Fahrstuhl nach oben schicken. Der wurde aus Sicherheits-gründen in der vierten Tiefetage blockiert und nur für solche Transporte benutzt. Nachdem er mit dem beladenen Fahrstuhl nach unten gefahren war, half ihm Krausinger, auszuladen.

Als sie alles verstaut hatten, bereitete er schnell eine Mahlzeit. Weil die Sauerstoffzufuhr nicht die beste war und weil sie sich nicht die wenige Luft noch durch Küchendünste verschlechtern wollten, nahmen sie zumeist kalte Speisen zu sich. Keter sah auf seine Uhr, als sie endlich essen konnten. Es war inzwischen 14.30 Uhr geworden.

"Heute abend wollte Hermann vorbeikommen." "Quader? Was will der denn schon wieder hier?" fragte Krausinger

mißtrauisch. Er schien Keter überhaupt sehr unruhig zu sein. "Ja, Hermann kommt.

Das wissen Sie doch, Professor. Bin gespannt, was er für Informationen hat. Wie weit werden die wohl sein mit der Vorbereitung zur Übernahme der Bundesrepublik?"

Krausinger betrachtete Keter mitleidig. Übernahme der Bundesrepublik. Peanuts im Vergleich mit dem, was er vorhatte. Seine Absichten hatten ganz andere Dimensionen. Was interessierten ihn schon Politik und Macht eines einzelnen Staates? Ihm ging es um mehr. - Und welche Bedeutung würden ein abgetakelter General des MfS und ein Inspekteur des Direktoriums gleicher Provenienz noch haben, wenn er, Krausinger, die Geschicke der Erde bestimmen würde?

Nach dem Essen döste Keter wieder im Sessel, seine Haupt- und Lieb-lingsbeschäftigung, wie Krausinger bei sich konstatierte. Er selbst begab sich zur Scheibe. Er hatte einige Decken und Kissen mitgebracht. Aus die-

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sen schuf er sich im Inneren an der Wand neben dem Einstieg eine Sitz-gelegenheit. Er selbst paßte, obwohl er nicht sonderlich groß war, beim besten Willen nicht in die kleinen Pilotensessel. Danach holte er aus der Wachstube eine Plasticbox mit den wichtigsten Dingen, die er an Bord haben wollte, wenn die Reise losgehen würde.

Wer ihn beobachtete, der mußte glauben, es mit einem Verrückten zu tun zu haben, denn diese Scheibe, die zwölf Meter im Durchmesser maß, konnte nicht in einem Stück mit dem Fahrstuhl nach oben gebracht wer-den. Sie mußte wieder auseinandergenommen werden, um dann oben erneut zusammengesetzt zu werden. Aber er wollte von jetzt ab in der Scheibe schlafen, damit sie ihm keiner hinter seinem Rücken würde steh-len können. Er mißtraute Quader über alle Maßen.

Krausinger hatte in letzter Zeit öfter als früher nach den Zwergen gese-hen, weil er erwartete, daß sie nun endlich aufwachen würden. Manchmal verbrachte er Stunden in dem Raum und beobachtete sie. Er hielt ihr Erwachen seit etwa zwei Monaten für überfällig. Aber er sagte sich, daß bei einer so langen Zeit, einem halben Jahrhundert, eine Toleranz von plusminus x Monaten durchaus normal sein mußte. Dennoch war er in den letzten Monaten ziemlich nervös geworden. Die dauernde erwartungsvolle Anspannung war daran schuld. Er befürchtete, daß sich Quader, dieser Trittbrettfahrer, wie er ihn bei sich nannte, zum Kommandanten der Scheibe aufschwingen würde. Das durfte niemals geschehen. Niemand durfte ihm die Beute abjagen, die er ein halbes Jahrhundert lang versteckt hatte.

"Wollen Sie Kaffee, Professor?" hörte er Keter rufen. Er ging zurück in die Wachstube. Keters Frage war nur rhetorisch gemeint. Er hatte den Kaffee bereits fertig. Es gab Kirschkuchen dazu, den er hatte mitbringen lassen. Sie wurden gut versorgt.

Plötzlich meldete sich Quader über das auf Empfang gestellte Sprech-funkgerät Keters.

"Ich denke, der wollte uns erst am Abend beehren?" meinte Krausinger aufgebracht durch die Störung.

"Ach Professor, was haben Sie nur? Da trinken wir eben zu dritt Kaffee. Das ist doch viel schöner, als immer nur zu zweit."

Krausinger zuckte verächtlich mit den Schultern und zog die Augen-brauen hoch: "Ich möchte mal wissen, was daran nun schön sein sollte mit Quader Kaffee zu trinken."

Keter hob die Sperre für den Fahrstuhl auf und beeilte sich, weiteren Kaffee zu kochen.

Fünf Minuten später betrat Quader die Tiefetage. "Hallo! Alles noch gesund und munterr ist sich an Borrd?" fragte er mit lauter Stimme.

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Herrgott, macht der Kerl einen Krach. Da werden ja die Gefangenen wach, dachte Krausinger.

"Komm, setzt dich, Hermann", sagte Keter, "... ich habe für dich frisch aufgebrüht."

Quader setzte sich und nahm einen Schluck aus der Kaffeetasse, die ihm Keter vorgesetzt hatte. Dann wandte er sich an Krausinger: "Wann Ihrre Gäste werrden errwachen, Prrofessorr?" Er sah Krausinger auf Ant-wort lauernd an: "Sie uns hatten verrsprrochen, daß in diese Frrihjahrr es wirrd sich geschehen. Wieso die noch schlafen? Werrden vielleicht sich iberrhaupt nie mehrr munterr? Haben Sie Professor, gemacht uns viel-leicht etwas vorr?"

Keter versuchte zu vermitteln. "Hermann, höre bitte auf, den Professor zu provozieren. Natürlich werden sie erwachen. Der Professor wartet doch ebenfalls darauf. Es kann jetzt jeden Tag so weit sein." Keter wandte sich an Krausinger: "Da habe ich doch recht, Professor, ja, stimmts?"

Krausinger hatte die Provokation Quaders mit unbeteiligter Miene hin-genommen. Die Zeiten waren schon längst vorbei, als er ein freundliches Gesicht zu allem gemacht hatte, was von Keter, Quader und anderen Leuten kam, die ihm etwas zu sagen hatten, und als er deren Worte noch ernst genommen hatte. Früher hätte ihn eine solche Provokation vielleicht um seine Sicherheit fürchten lassen. Heute waren diese Leute es nicht einmal mehr wert, daß er sich über sie erregte. Jetzt mußte er von denen nichts mehr befürchten und brauchte keinen ihrer Befehle auszuführen, denn sie waren nichts mehr. Sie besaßen keinerlei staatliche Macht. Er war jetzt nur aus freien Stücken noch hier. Und bald würde er mächtiger sein, als sie alle zusammen. Sie würden in den Staub sinken vor ihm und sie würden zu Staub zerfallen, wenn er das wollte. Er dachte wieder an die Waffe, die er fast fertiggestellt hatte, den Dematerialisa-tor, an dem er in den letzten Jahren intensiv mit Schmidt und Schadeberg, zuletzt völlig allein, gearbeitet hatte.

Er schob seine Kaffeetasse zur Seite, zog Papier und Kugelschreiber heran und beschäftigte sich wieder mit seinen Berechnungen. Auf Keters Frage antwortete er, ohne Quader auch nur eines Blickes zu würdigen: "Selbstverständlich. Wenn Sie keine Ausdauer haben und nicht warten können, dann müssen Sie es sein lassen. Ich jedenfalls halte durch."

Quader, der sich ärgerte, daß ihn Krausinger ignorierte, sprach ihn erneut direkt an: "Prrofessorr, will ich von Ihnen klarre und eindeutige Antworrt auf Frrage, ob definitiv wirr können errwarrten, daß Ihrre Gefan-genen werrden wach in nächste Tage ..."

Nun würdigte Krausinger Quader doch eines, wenn auch nur abfälligen Blickes und sagte von oben herab: "Davon können Sie allerdings aus-gehen." 282

"Gut", sagte Quader, und fügte hinzu: "Ein Zweites ich noch muß wis-sen. Hatte schon einmal gefrragt Sie danach: "Sie sicherr sich, daß Wesen unserre Befehle fihrren aus und werrden fliegen Scheibe gemäß unserre Weisungen?"

Krausinger zuckte zusammen. Euere Befehle? Niemals. Meine Befehle -ja! So dachte er, äußerte laut jedoch lediglich kurz angebunden: "Mit Sicherheit kann das niemand sagen."

Quader, der mit seiner Frage ein ganz bestimmtes Ziel verfolgte und die Antwort bereits in der Tasche hatte, fragte nun in vorgetäuschter Hilflo-sigkeit: "ja, aber werr soll denn dann fliegen Scheibe, wenn weigerrn sich Ihrre Piloten?"

Krausinger wurde die Fragerei Quaders immer lästiger. Unwirsch antwortete er, ohne aufzublicken: "Ich denke, daß wir sie schon dazu bringen ..."

"Aber Sie nicht wissen es mit letzterr Sicherrheit! Sie können nicht gar-rantierren es uns!" rief Quader erregt. "Habe schon gedacht mirr das! Aberr können wirr uns nicht leisten Rrisiko, daß Scheibe nicht wirrd sein einsetzbarr in Errnstfall. Deshalb habe mitgebrracht errfahrrenen Piloten, welcherr wirrd ..."

"Moment!" unterbrach Krausinger ihn: "Wollen Sie damit etwa sagen, daß ein Fremder meine Scheibe fliegen soll?"

"Ja, wie meinst du ...?" fragte auch Keter. Weder er noch Quader schie-nen mitbekommen zu haben, daß Krausinger von seiner Scheibe gespro-chen hatte.

Quader sagte, und es hörte sich an, als erweise er den beiden anderen eine Gnade oder überreiche ihnen ein besonderes Geschenk: "Ist doch nicht irrgend jemand, wo soll an Steuerrpult von Scheibe! Brring doch Euch Fliegerrkosmonaut Generralmajorr Alexanderr Iwanowitsch Tschel-jakowski, welcherr..."

"Was, einen Russen wollen Sie in die Scheibe lassen? Sind Sie denn von allen guten Geistern verlassen? Niemals! Niemals kommt dieser Mann in die Scheibe. Höchstens über meine Leiche!" Krausinger griff nach der Waffe, die er unter dem Sessel liegen hatte. Es war eine der SS-Waffen, die über die Jahrzehnte hinweg hier unten in der vierten Tiefetage gelegen hatten.

Auch Keter starrte Quader an: "Hermann!? Habe ich dich richtig ver-standen? Du willst einen russischen Kosmonauten mitbringen? Hierher, zu uns? In das U-Boot?"

Quader antwortete ihm nicht. Seine Augen waren auf Krausinger gerichtet der sich aus dem Sessel erhoben hatte und die Waffe auf ihn gerichtet hielt. "Machen sich nicht Quatsch, Prrofessorr. Behalten sich Nerrven und lassen rreden in Rruhe darriber?"

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Krausinger starrte durch Quader hindurch. Alle meine Pläne werden zunichte gemacht, wenn der zum Ziel kommt. Ich lasse mich nicht kurz vor meinem Ziel ausbooten! Nein. Ich habe nicht fünfzig Jahre lang gewartet und mein Leben geopfert, um nun als Ballast von Bord geworfen zu werden. - Dieser Mann ist eine Gefahr für mich. Er muß weg!

Quader bemerkte nicht das wahnsinnige Glimmen in Krausingers Augen. Er schaute nur gebannt auf die Waffe in dessen Hand und sagte an Keter gewandt, den er auf seine Seite ziehen wollte: "Das sehrr errfahrre-nerr Pilot, dieserr Genosse Generralmajorr. Kann fliegen garrantierrt Scheibe. Muß sich ausprrobierren natirrlich alles errst. Werr sollte von uns es sonst tun? - Du, Frritz, bleibst natirrlich Kommandant. Alexanderr Iwanowitsch muß, wie gesagt, errst prrobieren alle Mechanik und Elektronik in Scheibe. Deshalb habe ihn ..."

Keter hatte wohl vernommen, daß Quader sagte, er solle Kommandant bleiben. Aber er schluckte den Köder nicht. Ihm war sofort klar, daß dies nur ein Versuch war, ihn zu umgarnen. Er spürte die alte Abneigung Qua-der gegenüber wieder in sich aufsteigen. Nun brach es aus ihm heraus: "Ich habe es immer gewußt. Du bist ein Spion des KGB! Du willst die Scheibe für die Russen! Und was ist mit unserer Sache? Wir Deutschen müssen das selber ausfechten. Die Russen haben doch versagt! Sie haben uns nicht geholfen, damals 1989! Und du willst deinen Brüdern vom KGB die Scheibe zuspielen, die ich jahrelang vor denen verborgen habe. Du bist ein Vaterlandsverräter, ein Lump!"

Quader hatte plötzlich eine Waffe in der Hand und hielt diese auf Krau-singer gerichtet. "Legen Waffe vorrsichtig auf Tisch, Prrofessorr", sagte er.

Krausinger hatte sich tatsächlich von dem in solchen Fragen gewiefte-ren Kommissar übertölpeln lassen. Er hätte abgedrückt, wenn er nicht sofort daran gedacht hätte, daß es dann möglicherweise zwei Tote gege-ben hätte. Einer davon wäre er gewesen. Und all das lange Warten auf den Termin wäre dann auch umsonst gewesen. Also legte er vorsichtig die Waffe ab, so wie ihm Quader geheißen hatte.

"So ist sich gut, Professor." Quader sagte es langsam und als spreche er mit einem Geisteskranken.

"Und das Direktorium weiß sicher nicht, was du vorhast. Stimmt's?" fragte Keter.

Höhnisch antwortete Quader: "Dirrektorrium? Sicherr, bauen auch etwas auf, die von Dirrektorrium. Aber glaubst wirrklich, daß die ohne gewaltige militärrische Macht - und die sie nicht haben - können irrgend etwas ausrrichten? Ohne unsere Freunde in Sow ... äh, ich meine in GUS, läuft sich nichts. Alles anderre ist sich doch nur Illusion!" Quader hatte, während er Keter antwortete, weiter Krausinger fixiert und mit der Waffe bedroht. 284

"Du spielst das Spiel der Russen. Ich habe es immer gewußt. Wir wer-den das nicht zulassen, was du vorhast!" rief Keter empört.

Quader, es für unnötig erachtend, ihn eines Blickes zu würdigen, lachte laut und höhnisch. "Was denn? Wollt Ihrr verrhinderrn, was vorrhabe ich? Sieh dich doch mal an, alterr Mann! Rritter, wie sagt man ..., von trraurrige Gestalt! Werrd' doch allein ferrtig mit Euch." Er fuchtelte mit der Pistole in der Luft herum und deutete mit der linken Hand nach oben: "Und was meint Ihrr, auf wessen Seite stehen sich Leute oben in Wald? Sind sich meine Leute! Hatten doch nurr Auftrrag, zu bewachen Euch. Generralmajorr Tscheljakowski warrtet oben, mit drrei Gehilfen. Kommen auch gleich nach unten und ..."

Quader schrie auf: Keter hatte ihm heißen Kaffee mit einer blitzschnellen Bewegung, die man ihm nicht zugetraut hätte, ins Gesicht geschüttet. Er zuckte zurück, und rieb sich mit der linken Hand die Augen. Laut schrie er: "Verrdammte Sau, Keterr! Rrechne ich ab mit Euch Schwei ..."

Krausinger hatte die Situation die ganze Zeit über lauernd verfolgt. Jetzt war er hochgesprungen und hatte die Marxbüste Keters, die hinter ihm auf einem Schränckchen gestanden hatte, auf Quaders rechte Hand geschlagen, welche die Waffe hielt. Der brüllte vor Schmerz laut auf und ließ die Waffe fallen.

Krausinger hob sie auf und gab sie Keter. Er lief schnell zum Schrank und holte breiten Klebestreifen heraus. Mit Keters Hilfe klebte er Quaders Handgelenke zusammen. Dann zogen sie seine Hosenbeine nach oben, legten seine Beine übereinander und klebten auch diese an den Fußge-lenken aneinander. Schließlich setzten Sie Quader mit dem Rücken an die Wand.

Plötzlich fiel Keter ein, daß Quaders Kosmonaut und drei weitere Helfer oben warteten. "Der Fahrstuhl ...", rief er.

"Bewachen Sie den", forderte ihn Krausinger, mit dem Kopf in Richtung Quaders nickend, auf und entfernte sich. Er konnte nur hoffen, daß Qua-der seine Leute nicht bereits mit nach unten gebracht hatte. Die Waffe, die er mit beiden Händen hielt, streckte er nach vorn und trat vor den Fahrstuhl. Der war leer. Die hätten nur im Fahrstuhl sein können, dachte er erleichtert und rastete die Sperre wieder ein, die verhinderte, daß die Option, den Fahrstuhl nach oben zu holen, wahrgenommen werden konnte. Nun gab es für die oben keine Möglichkeit mehr, nach unten zu kommen, denn die Stahlplatte am oberen Ende der Wendeltreppe war von innen ausreichend gesichert. Außerdem war nicht einmal sicher, ob sie die kannten. Quader mußte sich seiner Sache ziemlich sicher gewesen sein, sonst wäre er nicht allein in die Höhle des Löwen gekommen. Aber der hatte sie wohl eher für die Höhle zweier alter schläfriger Bären

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gehalten, deren Krallen längst stumpf waren. Nun, da hatte er sich geirrt. Krausinger grinste zufrieden. Aber das wird ihm ja sicher inzwischen klar geworden sein.

Als er zurück in die Wachstube kam, hatte sich dort nichts verändert. Quader saß gefesselt auf dem Boden und Keter hielt ihm die Waffe vor die Nase. Quader schien wieder zu sich gekommen zu sein. Er blinzelte mit den Augen und blickte wütend auf die beiden Männer.

"Kommen Sie mit, General", der kann sich nicht befreien." "Werrden mich rrausholen hierr, meine Genossen. Dauerrt keine Stun-

de!" rief Quader wütend. "Wollen wir ihm das Maul zukleben?" fragte Keter, mit einem gehäs-

sigen Blick auf seinen ehemaligen Politstellvertreter. "Ach was. Der kann doch schreien, so viel er will. Dort oben hört den doch sowieso keiner! - Kommen Sie!" Keter beugte sich Krausingers Befehlston. Er folgte Krausinger zur

Scheibe im Hangar gegenüber. Während Krausinger es sich auf seinem Berg Kissen und Decken bequem machte, nachdem sie eingestiegen waren, warf er Keter ein Kissen zu: "Setzen Sie sich."

Als Keter mühsam Platz genommen hatte, sagte Krausinger: "Jetzt wis-sen wir also, General, was wir wirklich von Ihren Leuten zu erwarten haben ..."

"Moment, was heißt hier meine Leute?" Keter wies empört gestikulie-rend diese infame Unterstellung, wie er meinte, von sich. "Das sind doch die vom KGB, das heißt vom Föderalen Sicherheitsdienst Rußlands, wie die sich jetzt nennen! Mit denen habe ich doch nichts am Hut. Dem Quader habe ich schon lange mißtraut, schon zu DDR-Zeiten. Aber damals konnte ich ja nichts gegen ihn unternehmen. - Ja, was machen wir denn jetzt? Die können uns doch hier unten aushungern. Früher oder später müssen wir doch nach oben. Und ... und die Toiletten sind auch oben!"

"Also, bleiben Sie mal ruhig. Wir haben zunächst für vier Wochen Ver-pflegung. Gut, daß wir die heute angefordert haben."

"Ja und Quader? Den müssen wir doch auch mit durchfüttern?" "Ach ja." Krausinger war nur einen Moment lang irritiert, dann sagte er

erleichtert: "Aber für den können wir Verpflegung erpressen. Den haben wir jetzt als Geisel."

"Und ein Klo?" Keter plagte offensichtlich ein dringendes menschliches Bedürfnis.

"Da müssen wir wohl oder übel hier unten eine der Ecken benutzen. -Aber das sind doch jetzt wirklich Nebensächlichkeiten, General. Jetzt ist doch anderes viel wichti ..."

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"Welche Ecke denn?" Keter sprang für sein Alter und für seine Körper-fülle erstaunlich schnell auf, wartete die Antwort gar nicht erst ab und ließ einen verdutzten Krausinger zurück.

Du darfst keinem trauen, dachte der und schaute hinter Keter her, da er befürchtete, daß der heimlich Quader befreien könnte, in einem plötzli-chen Seitenwechsel. Er sah ihn nicht, aber an den Geräuschen, die aus der Ecke hinter der Scheibe zu ihm drangen, merkte er, daß Keter wirklich eine, für sein körperliches Wohlbefinden äußerst dringliche Absicht verfolgte. Wenige Minuten später saß Keter, sichtbar erleichtert, wieder auf dem Kissen, Krausinger gegenüber.

Der setzte seine von Keter unterbrochene Rede fort: "Im Übrigen bin ich ziemlich sicher, daß wir nicht mehr lange aushalten müssen, hier unten. Es kann nur noch Tage dauern, bis es so weit ist."

Keter hatte die letzten Worte mit wachsender Zuversicht vernommen. Ein Hochgefühl machte sich in ihm breit. Auf einmal schien es ihm so, als seien die alten Zeiten wieder angebrochen, als er noch jemand war, der zu befehlen hatte. "Ich werde das Kommando übernehmen, Professor. Sie können sich auf meine Führung verlassen. Jetzt werden wir - ohne die Russen - die Geschichte wieder zurechtrücken auf ihren gesetzmäßigen Verlauf. Die in Bonn werden machen müssen, was wir wollen!"

Krausinger hatte Keter ausreden lassen und sagte nun höhnisch: "Sind Sie denn noch gesund, General? Reden Sie doch nicht so einen weltfrem-den Unsinn! Sie und das Kommando übernehmen! Das Kommando über-nehme ich. Und ich habe andere Ziele als kommunistische Politik zu machen! Gesetzmäßiger Verlauf der deutschen Geschichte!? Was interes-siert mich denn ein solcher Quark? - Ich will Ihnen mal etwas sagen, General: Hier geht es nicht einfach nur um Deutschland. Ich werde Welt-geschichte machen! Und Sie können an meiner Seite dabei sein!"

Keters verdutzten Blick registrierend, erklärte er: "Ja glauben Sie denn, General, Ihr utopisches Ziel Sozialismus/Kommunismus interessiert mich auch nur im Geringsten? Damit können Sie doch heutzutage nicht einmal mehr die ehemaligen Anhänger hinter dem Ofen hervorlocken. Abgesehen davon, daß eine Gesellschaft die Gutes für alle aus dem Füllhorn schütten will, nicht auf Dauer existieren kann, würde ich niemals meine mir bald zustehende Allmacht für den Plebs einsetzen! Ich werde die Welt beherrschen! Ich allein! Und niemand kann mich bremsen!" Krausinger bemerkte trotz seiner Siegeseuphorie, daß ihn Keter irritiert anstarrte: "Aber ...?" Rasch ernüchterte er. "Geben Sie die Pistole her!" forderte er, seine Waffe auf Keter gerichtet. "Sie machen sonst nur Unsinn!"

Keter gab Krausinger zögernd seine Waffe. Er hatte nun gehört, was er bereits seit längerer Zeit befürchtet hatte: Krausinger hatte ihn nur

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benutzt, um eigene Machtgelüste befriedigen zu können. Man muß ihn stoppen, rief eine innere Stimme. Er schaute auf die Waffe in seiner Hand. Aber es war ihm klar, daß er keine Chance gegen ihn haben würde, wenn er sich weigerte, die Waffe abzugeben.

Krausinger sagte mit Bestimmtheit: "So, und jetzt habe ich Hunger. Gehen Sie schon und bereiten Sie für uns etwas vor. Ich werde noch nach den Zwergen sehen."

Krausinger war sich klar darüber, daß er jetzt auf zwei Mann aufpassen mußte, aber er wollte endlich klare Verhältnisse schaffen.

Keter machte sich widerwillig auf den Weg, Krausingers Anweisungen auszuführen. Seitdem keiner der Männer, die ursprünglich mit dem U-Boot abgetaucht waren, mehr da war, mußte überwiegend er, der er doch immerhin General war, wie er verärgert feststellte, die unangenehmen all-täglichen Arbeiten verrichten. Und jetzt - das war ja die Krönung - hatte ihn Krausinger sogar mit der Waffe bedroht und entwaffnet! Es war unglaublich, aber leider wahr. Und er hatte nichts entgegenzusetzen. So hatte er sich das alles nun wirklich nicht vorgestellt.

Keter überprüfte Quaders Fesseln aus Klebestreifen, dann begann er mechanisch das Abendessen zu bereiten. Seine Gedanken waren weiter-hin ganz woanders. Wenig später spürte er aber eine plötzlich zuneh-mende Mattigkeit in all seinen Gliedern und in seinem Kopf begann es sich zu drehen. Dann brach er zusammen.

Krausinger sah sich, nachdem er Keter weggeschickt hatte, noch einmal in der Scheibe um. Er betrachtete die Schriftzeichen an den Wänden. Er hatte das schon oft getan, in der Hoffnung, daß ihm seine Intuition eines Tages helfen werde, herauszubekommen, was sie bedeuteten. Aber wahr-scheinlich mußte man ein genialer Sprachforscher sein, um überhaupt Ansatzpunkte zu finden. Das aber war er nicht. Trotzdem hatte er sich daran versucht. Er hatte die Häufigkeit der auftretenden Symbole festge-stellt und versucht, eine Formel aufzustellen, nach der sich ein fremdes Alphabet errechnen lassen könnte. Ebenso hatte er Deutungsversuche unternommen, ausgehend von der möglichen Art der Beschriftungen in zukünftigen irdischen Raumschiffen. Und er hatte mehrere Methoden miteinander verknüpft. Aber all das hatte zu nichts geführt.

Resignierend zuckte er auch diesmal mit den Schultern und verließ die Scheibe. Er ging hinüber zu dem Raum, in dem die Gefangenen schliefen und öffnete das nach dem Vorfall mit Dr. Schmidt eingebaute Sicherheits-schloß. Nachdem er das Licht eingeschaltet hatte, begab er sich vorsich-

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tig bis an die Pritschen heran, auf denen die Gefangenen lagen. Sie schliefen immer noch.

Mein Gott, wann werden die denn endlich wach, dachte er. Es war bereits Juni. Die Zwerge waren aber bereits im April 1945 eingeschlafen. Die Tatsache, daß die fünfzig Jahre bereits vorbei waren und sie nicht auf-wachten, beunruhigte ihn sehr. Würde er sein großes Ziel überhaupt erreichen können? Würde es sich wirklich gelohnt haben, so unvorstellbar lange gewartet zu haben?

Er löschte das Licht und schlug absichtlich die laut krachende Tür zu. Er verschloß sie und hängte sich den Schlüssel wieder um den Hals, so daß er unter seinem Hemd versteckt war. Dann begab er sich, mit seinen Gedanken beschäftigt, zurück zur Wachstube.

Er überlegte gerade, ob er die Zwerge vielleicht doch besser gleich gezielt und gewaltsam wecken sollte, da sah er Keter vor sich auf dem Boden liegen. Ein schneller Blick zu Quader, der nach wie vor gefesselt an der Wand saß, zeigte ihm, daß der nichts damit zu tun gehabt haben konnte.

Verdammt, ist der etwa abgekratzt? Das hätte mir jetzt gerade noch gefehlt. Er beugte sich über Keter und prüfte dessen Puls. Der war zu spüren. Er klatschte Keter mit der flachen rechten Hand auf die Wangen, im Wechsel mit der Außen-, dann mit der Innenseite und sprach ihn an: "General! Was ist mit Ihnen? Werden Sie wach!"

Keter reagierte nicht. Er war zwar schon wieder zu Bewußtsein gelangt, aber es fiel ihm noch schwer sich zu melden und er wollte sehen, ob sich Krausinger tatsächlich bemühte, ihm zu helfen. Von der Wand her, an die gelehnt er gefesselt saß, sagte Quader: "Geben auf, Prrofessorr. Derr ist sich hin. Derr Mann ist sich doch schon iberr achtzig Jahrr alt. - Haben jetzt letzte Unterrstitzung verrlorren. Folgen Sie Befehlen von mirr. Wirrd sich nichts geschehen Ihnen, denn brrauchen auch wirr Wissenschaftler. Befrreien mich aus meine Lage!"

Krausinger hatte bisher nicht auf Quaders Worte reagiert. Er öffnete Keter gerade den Kragenknopf des Hemdes und schob ihm unter Anstren-gung ein Kissen unter den Kopf. Quader, der Krausingers Schweigen so deutete, als ob der bereits seine aussichtslose Situation durchdenke und zu ihm übertreten werde, schob nach: "Nun machen schon!"

Jetzt richtete sich Krausinger auf, trat an Quader heran und sagte, geringschätzig auf ihn herabblickend: "Sie wollen mir Befehle erteilen? Sie? Sie verkennen Ihre Lage. Ich bin es, der hier Befehle erteilt. - Und, da Sie ja meinen, der General sei zu alt, um mir eine Hilfe zu sein, möchte ich Sie etwas fragen. Wissen Sie denn überhaupt, wie alt ich bin? - Ich bin zehn Jahre älter als der General!" Triumphierend und stolz auf sein Alter,

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sah Krausinger Quader an, dessen Gesichtsausdruck von Überraschung zu Ungläubigkeit wechselte.

"Das glauben selbst nicht. Das ja wohl nurr blöde Scherrz, Prrofes-sorr!?"

"Bitte, wenn Sie mir nicht glauben. Sie hätten besser meine Unterlagen überprüfen sollen, als Sie das noch konnten. Ich wurde 1903 geboren!" Mit dem Stolz alter Männer auf ihre Lebensjahre ergänzte er: "Da staunen Sie, was?"

Quader saß an die Wand gelehnt und wußte nicht, ob er Krausingers Worten glauben oder ob er höhnisch auflachen sollte.

Krausinger hatte sich wieder zu Keter gehockt und flößte diesem, indem er dessen schweren Kopf anhob, etwas Mineralwasser ein.

Keter schluckte von dem Mineralwasser. "Was ist los? Wo bin ich?" fragte er mit tonloser Stimme.

"Sie sind hier. Sind in Sicherheit. Es ist alles in Ordnung. Sie müssen ohnmächtig geworden sein. Was war denn los?"

Keter sah Krausinger an und tat so, als erkenne er ihn erst jetzt und als sei er erleichtert: "Gott sei Dank. Sie Professor! Mir ist schwindlig gewor-den. Dann muß ich umgekippt sein." Mit einem Blick in Quaders Richtung fragte er: "Hat Hermann Sie gerufen?"

"Nein, hat er nicht", antwortete ihm Krausinger. Keter richtete sich langsam mit Krausingers Hilfe auf, sah Quader ver-

ächtlich an und sagte: "Wäre dir recht gewesen, wenn ich hier krepiert wäre, was?!"

Quader beeilte sich, im Brustton der Überzeugung zu antworten: "Habe gerrufen, selbstverrständlich, mehrrmals. Wenn sich Prrofessorr nicht hat gehörrt mich ...?"

Krausinger half Keter, aufzustehen und sich in den Sessel zu setzen. Er hatte Keters Kreislaufschwäche mit Bedenken registriert. Nachdenklich blickte er auf Quader hinunter. Quader war wirklich der jüngste unter ihnen. Er könnte eine wertvolle Hilfe sein, wenn es ihm gelänge, diesen Mann umzudrehen und zu einem Verbündeten, was heißt Verbündeten, Mitarbeiter, zu machen. Deshalb forderte er Keter auf: "General, sagen Sie ihm, wie alt ich bin."

Keter, in seinem Sessel zusammengesunken, sah Krausinger verständ-nislos an.

"Nun los, sagen Sie es ihm schon!" Krausinger nickte Keter auffordernd zu. Keter überlegte: "Sie sind ... Professor, Sie sind ..." "Sagen Sie es ihm, nicht mir. Ich weiß, wie alt ich bin!" Keter wandte sich nun an Quader: "Also der Professor ist... 1903 gebo-

ren. Er ist jetzt..."

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Quader unterbrach ihn: "Dann err wärre sich ja berreits 92 Jahrre!? Das ich nicht kann glauben."

"Ja, ich hatte es ja bereits erwähnt", sagte Krausinger überlegen und stolz. Er hatte sich in seinen Sessel gesetzt und genoß Quaders Staunen.

"Nein, ich glaube nicht dies... ", sagte Quader noch einmal, leiser wer-dend. Dann starrte er Krausinger an und sagte nach einer Pause: "Haben, schon so lang ich kenne Sie, immerr so jung ausgesehen, wie jetzt. Habe deshalb mich friherr oft schon gefrragt, wie macht nurr derr das. Aber, daß doppelt so alt sein sollen, wie aussehen, will sich nicht in mein Kopf."

Keter, munterer geworden, rief dazwischen: "Glaub mir! Er ist so alt. Wir haben damals, bevor er zu uns kam, alles genauestens recherchiert. Er ist tatsächlich 1903 geboren."

"Unglaublich", sagte Quader anerkennend und schüttelte staunend den Kopf.

"Unglaublich, aber wahr", entgegnete Krausinger stolz. Quaders Augen wanderten von Krausinger zu Keter und wieder zu

Krausinger. Er konnte es nicht fassen, daß dieser mittelalt erscheinende Mann zehn Jahre älter sein sollte, als der bereits über achtzigjährige General. "Geht doch nicht zu mit rrechte Dinge!?" Er setzte hinzu: "Sagen, Prrofessorr, das wohl alles mit Scheibe zu tun? - Ja, natirrlich. Missen gefunden haben Medikament in Scheibe! Jetzt mirr alles klarr wirrd."

Keter und Krausinger schwiegen. Sie betrachteten Quader abwartend. Lange mußten sie nicht warten.

"Wo haben Medikament? Haben mehrr davon?" Quaders Stimme hatte sich vor Aufregung und Gier überschlagen. Er verhielt sich so, wie alle, die glaubten, sie könnten aus einem Jungbrunnen trinken. Krausinger wußte nun, daß der Köder, den er ausgeworfen hatte, im Maul des Fisches hing, den er angeln wollte. Er grinste still in sich hinein, zeigte aber weiterhin eine unbewegte Miene.

Keter hatte gespannt verfolgt, was sich da tat. Würde der Professor wirklich sein Geheimnis verraten? Aber zu welchem Zweck?

Quader wurde unruhig. Plötzlich stellte sich ihm die Frage, wieso die beiden Männer ihm im Moment gerade ein so schwerwiegendes Geheimnis gelüftet hatten. So etwas macht man seinem Gegner gegen-über doch bestenfalls in einer Situation, in der man weiß, daß er nichts mehr verraten kann, allein, um seine Macht noch einmal auszukosten. Der kalte Schweiß trat ihm auf die Stirn. Der Mund wurde ihm schlagartig trocken. Er beobachtete die beiden. Sicher würden sie ihn gleich erschießen. Um Zeit zu gewinnen, fragte er schnell: "Sagen, Prrofessorr. Wo haben Medikament? Darrf sehen mal?"

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"Das könnte Ihnen so passen", antwortete Krausinger, der die Situation auskostete. "Nur wer mit mir zusammenarbeitet, wie der General, der kann von mir etwas erwarten. Aber doch nicht jemand, der gegen mich arbeitet!"

"Haben doch aberr all die Jahrre gut zusammengearbeitet, Prrofessorr. Arrbeite doch nicht gegen Sie. Und kann perrsönlich mirr sehrr gut vor-stellen weiterre Zusammenarbeit." Quader versuchte Krausinger von sei-ner Loyalität zu überzeugen.

"Zusammenarbeit nur zu meinen Bedingungen, nicht zu Ihren, damit das klar ist."

Keter erhob sich aus seinem Sessel und begann die Vorbereitung des Abendessens wieder aufzunehmen.

Quader beeilte sich, Krausinger zu Munde zu reden: "Ja, selbstver-ständlich, keine Frrage, zu Ihrre Bedingungen."

Krausinger starrte vor sich hin. Er überlegte und wog die Gefahren und Vorteile gegeneinander ab, die entstehen würden, wenn er Quader in seine Mannschaft aufnehmen würde.

Keter hatte inzwischen den Tisch gedeckt. Er steckte Quader eine Scheibe trockenen Brotes zwischen die Hände. Er und Krausinger nah-men mit sichtlichem Appetit ihr gutes und reichliches Abendessen zu sich. Keiner sprach.

Keter war mit seinen Gedanken ungefähr wieder dort angelangt, wo er bereits war, bevor er ohnmächtig zusammenbrach. Er überlegte, wie in letzter Zeit bereits öfter, ob es für ihn noch Sinn habe unten zu bleiben und abzuwarten, daß vielleicht irgendwann einmal die Gefangenen munter werden würden. Er glaubte, daß er nicht mehr viel Zeit habe. Plötzlich fiel ihm aber zu seiner großen Erleichterung wieder ein, daß ihm Krausinger ja vor Jahren bereits eine lebensverlängernde Kapsel verabreicht hatte. Sofort orientierte er sich gedanklich um, denn nun wurde ihm wieder bewußt, daß er jede Menge Zeit hatte, denn 65 und 50, hieße bis 115 bliebe er so, wie er jetzt war. Erst dann würde sein Alterungsprozeß erneut einsetzen. Er entschied sich auch jetzt wieder: Ich bleibe, um dabei zu sein, wenn es so weit ist.

Krausinger dagegen überlegte gerade, wie er Quader zumindest neutra-lisieren könnte, um die von dessen oben lauernden Leuten ausgehende Gefahr abzuwenden. "Ich habe das Medikament. - Sie könnten etwas davon abbekommen."

Quader sagte atemlos "Jaaaha", mußte aber sofort nach dem Haken gesucht haben, denn er fügte hinzu "... aber?"

"Natürlich nur, wenn Sie mit mir bedingungslos und ohne Falschheit zusammenarbeiten."

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Quader antwortete eifrig: "Dazu bin gerrn berreit. Haben doch immerr herrvorragend zusammengearrbeitet. Können sich verrlassen auf mich!"

"Und die Pistole, vorhin auf meiner Brust?" "Was soll ich tun firr Sie?" fragte Quader eifrig ohne auf Krausingers

Frage einzugehen. "Ich", Krausinger schaute in Keters Richtung und dann wieder zu Qua-

der, "... erwarte von Ihnen erstens, daß Sie diesen Russen und seine Leute nach Hause schicken. Zweitens erwarte ich, daß Sie meine weiteren Befehle ausführen."

Quader antwortete erregt: "Aber wenn schicke weg, kommen doch wiederr zurrick zehn firr einen. Die lassen doch nicht spassen mit sich, Genossen aus Moskau. Wissen doch genau, was hierr ist zu holen!"

"Weil du Schuft es ihnen verraten hast!" rief Keter empört. Krausinger schwieg. Er sah Quader eine Weile an und sagte dann:

"Gut, wenn Sie nicht wollen, dann werden Sie eben weiter altern, wie alle Menschen, die meine Kapseln nicht zur Verfügung haben. - Schade für Sie."

"Was glauben denn, wie lange hierr unten sind sicherr? Ein, zwei Tag. Aberr höchstens doch! Dann werrden kommen herrunterr meine Leute. Dann ich werrde bekommen Medikament problemlos."

"Irren Sie sich da nur nicht, Quader. Ich habe das Medikament sehr gut versteckt. Auch der General hat es nicht gefunden." Krausinger sah in Richtung Keters, dem, ertappt, wie er sich fühlte, ein "Öh" entfuhr. "Sie können mir glauben, daß ich eher unter der Folter sterben würde, als daß ich das Versteck der Kapseln verriete. Und eines sollen Sie auch gleich wissen: Hier gibt es einen atomaren Zerstörungsmechanismus, den selbst der General nicht kennt. Ich werde ihn aktivieren, sobald hier jemand eindringt!"

Wieder herrschte Stille. Quader, wie auch Keter, mußten das eben Gehörte erst einmal verdauen. Dann versuchte Quader einzulenken, ohne aber die Russen wegschicken zu wollen. Als Krausinger darauf nicht einging, verlegte er sich wieder auf Drohungen. So ging das eine ganze Weile.

Keter wurde müde. Es war inzwischen fast 23.30 Uhr geworden. Um diese Zeit schlief er sonst schon. Er sah Krausinger an, der seinerseits Quader beobachtete. Dann quälte er sich aus dem Sessel hoch und sagte: "Professor, kommen Sie bitte einmal mit?" Er schaltete das Licht im Gang und im großen Hangar an und ging ziemlich weit von der Wachstube weg in die Halle hinein, denn er wollte nicht, daß Quader mithören konnte. "Haben Sie wirklich vor, dem eine Kapsel zu geben? Dem ist doch nicht von hier bis dort zu trauen, Professor!" Er zeigte von ihrem Standort bis zur Tür.

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"Wo denken Sie hin, General. Ich werde mich hüten, dem eine unserer wertvollen Kapseln zu überlassen. Aber ich muß ihn dazu bringen, seine Leute dort oben zu entfernen. Ich glaube, ich habe ihn an der Angel. Wir werden morgen weiter sehen. Jetzt müssen wir ihn erst einmal rüber brin-gen in den Raum, in dem Schmidt war."

Keter nickte zustimmend. Er schaute auf die Uhr. Es war 23.30 Uhr. Es wurde ihm auf einmal wieder so seltsam zumute, wie vor einigen Stunden, als er zusammengebrochen war. Er wollte Krausinger deswegen ansprechen. Aber als er anhub zu sprechen, erfaßte ihn ein Gefühl blei-erner Müdigkeit. Das war das Letzte, was er wahrnahm.

Krausinger merkte ebenfalls, wie seine Glieder immer schwerer wurden und er stellte fest, daß er wie gelähmt war. Plötzlich erfüllte ein gleißendes aggressives bläulichweißes Licht den Hangar, von oben kommend, praktisch durch die Betondecke hindurch.

Michael und ich hatten uns am Steuer abgewechselt und gegen Mittag einen Ort in der Nähe unseres Zieles erreicht, der allerdings noch weit genug von Waldheide entfernt war, um eine zufällige Entdeckung durch unsere Gegenspieler zu vermeiden. Dennoch hielten wir uns vorsichts-halber den ganzen Tag über im Hotelzimmer auf und berieten unser Vor-gehen. Erst gegen Abend, es war bereits dämmrig geworden, verließen wir in dunkler aber warmer Regenschutzkleidung das Hotel.

Hinter Waldheide stellten wir den Wagen, den wir gleich bei unserer Ankunft gemietet hatten, weil es uns sicherer erschien, mit einem ortsüb-lichen Kennzeichen unterwegs zu sein, auf einem Feldweg ab. Unser Ziel war nun nur noch etwa drei Kilometer entfernt. Dann gingen wir ein erstes Wegstück weit gemeinsam, bevor wir uns trennten und unserem Plan gemäß handelten.

Während ich mich von vorn an das Objekt heranschlich und lediglich beobachten und Michael vor den bewaffneten Russen warnen sollte, hatte er den gefährlicheren Part übernommen. Er schlich sich von der Rückseite an und wollte durch verschiedene Provokationen testen, ob das Objekt noch bewacht war oder nicht. Sollte sich nichts tun, wollte er das Gebäude Nr. 3 betreten und versuchen, nach unten zu gelangen.

Wir trugen Rucksäcke, in denen wir Marschverpflegung und Taschen-lampen, Michael dazu noch diverse Werkzeuge, mit uns führten. Ich hatte eine Kamera dabei. Beide besaßen wir handliche Sprechfunkgeräte und jeder trug eine Handfeuerwaffe bei sich.

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Ich hatte mich an dieses schwere Ding gewöhnt. Wir waren Wochen zuvor in einen Schießsportverein in einer Gemeinde im Landkreis Kassel eingetreten und dort hatte ich unter Michaels Anleitung leidlich gut schießen gelernt. Wir waren jedenfalls auf alles gefaßt und hatten uns geschworen, daß wir diesen Leuten nicht wehrlos in die Hände fallen würden.

Es war bereits nach 23.00 Uhr, als ich die vorgesehene Position erreich-te. Ich hatte niemanden gesehen oder gehört. Das Objekt lag völlig im Dunkeln. Es war nicht auszumachen, ob es noch genutzt wurde.

Wir hatten abgesprochen, daß wir erst Punkt 24.00 Uhr Kontakt mit-einander aufnehmen wollten, es sei denn, es passierte vorher etwas, worüber der andere unbedingt sofort informiert werden mußte. Ich hatte mich am Stamm eines Baumes postiert. Auf dem weichen Untergrund aus Moos und Fichtennadeln liegend beobachtete ich das undeutlich erkenn-bare Objekt - wir verfügten über kein Nachtsichtgerät - , aber auch die Umgebung. Es war mir nicht geheuer so allein im dunklen Wald, zumal ich annehmen mußte, daß die schwerbewaffneten Russen in der Nähe waren. Und nach allem, was mir Michael über das Verhör und den Tod dieses Hans Kulpa berichtet hatte, war ich nicht gerade darauf erpicht, erwischt zu werden.

Wie weit wohl Michael inzwischen vorgedrungen war? Wenn das Objekt leer sein sollte, dann wollte ich im Innern Fotos machen von allem, was da noch zu sehen sein würde. Wer weiß, vielleicht müßten wir auch noch einmal wiederkommen um Videoaufnahmen zu machen, eine entsprechende Ausrüstung hatten wir im Hotel zurückgelassen. Ich malte mir aus, daß ich den Bericht medienmäßig neben unserem Hörfunksender auch im Fernsehen und in der Presse verbreiten würde. Wenn schon, denn schon. Aber noch war es nicht so weit. Noch hatten wir den Bären nicht erlegt.

Ich versuchte auf dem Zifferblatt der Uhr die Zeit zu erkennen. Es war schon beinahe ein Viertel vor Zwölf geworden. Jetzt mußte Michael auch an seinem Ausgangspunkt an der gegenüberliegenden Seite des Objektes angelangt sein. Weshalb wurde ich aber plötzlich so müde? Bleierne Schwere befiel mich und zog mir die Augenlider herab. Nur nicht ein-schlafen! Das war der letzte Gedanke, an den ich mich heute noch erin-nern kann.

Ich weiß nicht, wie es geschehen war, aber als ich aufwachte, saß ich hinter dem Steuer des von uns gemieteten Wagens, also etwa drei Kilo-meter weit entfernt von der Stelle, an welcher ich im Wald auf Beobach-

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tungsposten plötzlich eingeschlafen war. Ich hatte weder die Waffe, noch die Kamera bei mir und auch der Rucksack fehlte. Aber große Gedanken über das Geschehene konnte ich mir nicht machen, denn über mir zogen lärmend Hubschrauber entlang, welche ihre Scheinwerfer auf den Boden richteten, und vorn auf der Landstraße war ein Verkehr, wie auf einer Bundesautobahn montagmorgens. Ich hörte Motorenlärm, Martinshörner, Stimmengewirr, Schreie und sah Blaulicht. Was war denn nur geschehen?

Ich warf den Motor an und fuhr nach vorn zur Straße. Es dauerte einige Zeit, bis ich mich in den Verkehrsstrom einfädeln konnte. Nach etwa einem Kilometer auf der Landstraße gab es aber kein Weiterkommen mehr. Ich ließ den Wagen wie andere Autofahrer stehen und begab mich zu Fuß nach vorn. Dort war die Straße gesperrt und die Polizei ließ nur eigene Fahrzeuge, Rettungswagen und Hilfsdienste aller Art durch. Wo war Michael? Ich mußte ihn suchen! Ich umging die Straßensperre. Irgendwo in dem Objekt mußte er sein. Plötzlich sah ich, für mich schockierend, daß das unmöglich war. Genau an der Stelle, wo sich das Objekt befunden hatte, war jetzt ein großer Teich, vielleicht ein See! Ich starrte auf die Wasserfläche und konnte es nicht begreifen. Was war nur geschehen? Um Gottes Willen, war Michael etwa ertrunken?

Lange stand ich starr und blickte auf das Wasser. Ich hatte an der Stelle gelegen und beobachtet. Auch ich hätte ertrinken können! - Aber ich lebte ja. Was aber war mit Michael? Ich hatte ihn dazu veranlaßt, mit an diesen Ort zu fahren! Und jetzt war er wahrscheinlich nicht mehr am Leben. Ich fühlte mich schuldig. Aber ich hatte das nicht gewollt. Hätte ich Michael nur nicht mit hineingezogen in die Sache. - Aber was hieß hineingezogen? Er war ja schon lange vor mir Beteiligter an dem Ganzen, was sich hier schon seit Jahren abgespielt hatte. Daran hatte ich ja keine Aktie. Was aber war jetzt geschehen? War Michael in das Objekt eingedrungen und hatte einen ihm unbekannten Selbstzerstörungsmechanismus ausgelöst? Hatte er nicht gesagt, daß da unten möglicherweise von Krausinger eine gefährliche Waffe für die Scheibe hergestellt worden war? Ich weiß nicht, wie lange ich so gestanden hatte. Irgendwann führte mich ein Polizeibeamter von dort vorn zurück auf die Landstraße.

Da stand ich dann zwischen Massen von Schaulustigen und nahm mit einemmal den Lärm um mich herum wieder richtig wahr. Plötzlich erschienen Fahrzeuge mit einer Spezialeinheit in Strahlenschutzanzügen. Wenig später wurden wir alle, die wir dort standen und gafften, von vorn weggeschafft. Es gelang mir, als ich mit vielen anderen Schaulustigen zusammen auf der Ladefläche eines Mannschaftstransporters sitzend über die Landstraße weggefahren wurde, an der Stelle abzuspringen, an welcher unser Wagen stand.

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Ich wendete bei der nächsten Gelegenheit und fuhr zurück in das Hotel. Ich staunte nicht schlecht, war ungeheuer erleichtert und froh, als wenige Minuten danach Michael eintraf- unversehrt und munter.

Ihm war es ähnlich ergangen wie mir, allerdings mit dem Unterschied, daß er an der Stelle eingeschlafen und dann gefunden worden war, an welcher er am Abend zuvor außerhalb des Objektzaunes in Stellung gegangen war. Ein so mysteriöses Ortswechselerlebnis wie ich es hatte, war ihm nicht widerfahren. Aber er war an der gegenüberliegenden Seite dieses neu entstandenen Sees oder großen Teiches gefunden worden, eines Gewässers, das es vorher dort nicht gegeben hatte. Wir sprachen die ganze Nacht über das mysteriöse Ereignis, kamen aber zu keinem definitiven Schluß, was da passiert sein mochte.

Das Wahrscheinlichste schien uns zu sein, daß Krausingers Geheim-waffe explodiert war und vielleicht einen in der Nähe des Objektes befindlichen unterirdischen See hervortreten ließ. Auch die Morgenzei-tungen und die Nachrichten halfen uns nicht weiter, da allgemeines Rät-seln darüber herrschte, was da wohl passiert sein mochte. Von einer Detonation war die Rede. Die hatte wir beide, die wir doch direkt in der Nähe gewesen waren, allerdings nicht vernommen. Sicher war, daß es den Grund unserer Anwesenheit in Waldheide nicht mehr gab. Und hochwahrscheinlich waren die Leute, die in dem unterirdischen Versteck gelebt hatten, nicht mehr am Leben. Damit hatte sich die ganze Angele-genheit für uns erledigt. Ich hatte nun, auch deswegen, weil ich keine Fotos machen konnte und jeglicher Beweis - bis auf die Akte - ver-schwunden war, keinerlei Ambitionen mehr, etwas über diese Geschichte zu veröffentlichen.

Nachdem wir noch einmal am Schauplatz des Geschehens waren und am Rand des Sees gestanden hatten, gleich vielen anderen Neugierigen, fuhren wir, ohne noch einmal geschlafen zu haben, im Laufe des Tages zurück nach Kassel. Während der Fahrt diskutierten wir allerdings weiter über die Angelegenheit und ihr seltsames Ende. Michael war es, der plötzlich meinte, daß die ganze Geschichte vielleicht durch das Eingreifen der wirklichen Eigentümer der Scheibe ein Ende gefunden hatte. Aber egal was wirklich vorgefallen war, eines war sicher: Krausinger, Keter und Quader hatten umsonst gehofft, mit dieser Scheibe ihre gefährlichen Ziele durchsetzen zu können.

In Kassel angekommen, holte uns der Alltag ein, wir kümmerten uns nicht mehr um die Angelegenheit. Ich ließ Bericht einfach Bericht sein. Ich hatte keine Lust mehr. Hin und wieder sprach ich mit Michael noch einmal über das Thema. Meist aber vermieden wir es, wenn wir uns trafen, darüber zu sprechen.

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Keter brummte der Schädel. Mühsam versuchte er die Augen zu öffnen. Sofort schloß er sie wieder. Gleißender Sonnenschein hatte ihn geblendet. Verdammt. Wieso Sonne? Bin ich denn nicht mehr in der Wachstube? Vorsichtig öffnete er seine Augen erneut, aber nur zu Schlitzen. Zusätzlich hielt er die rechte Hand vor die Augen, um durch die leicht geöffneten Finger hindurchschauen zu können.

Er merkte gleichzeitig, daß er auf heißem Boden lag. Was war denn das? Vorsichtig drehte er sich um und schaute nach unten. Sand war es, auf dem er lag. Auch ringsherum war Sand, nichts als heißer Sand, das heißt, da war noch etwas. Ein Körper. Was war das für ein Körper? Wer war denn das? Jetzt bewegte der sich und gab einen Ruf des Erstaunens von sich. Keter glaubte die Stimme zu erkennen. "Hermann?" rief er.

"Ja", antwortete Quader mit Mühe. "Was ist denn hier los? Wo sind wir denn nur? Träume ich? Ja, sicher

träume ich." Quader antwortete: "Kann nicht glauben, was sehe: Palmen, Sonne,

weißerr Korrallenstrrand und sogarr blaues Meerr. Weck mich, Frritz!" Meer? Keter konnte kein Meer sehen, weil ihm Quader in der Sichtlinie

lag. "Wo ist denn der Professor? Der wird doch wissen, wo wir sind?" rief er.

Hinter seinem Rücken wurde Krausingers Stimme vernehmbar. "Woher soll ich denn das wissen, General?" Krausinger klang ziemlich hoffnungs-los.

"Meinen Sie, meinen Sie, Professor..., daß die aufgewacht sind und uns mitgenommen haben?"

Quader rief dazwischen: "Seht Ihrr, was ich sehe dorrt... dorrt hinten an anderre Ende von Strrand?"

"Wo denn, wo, was meinen Sie?" rief Krausinger voller verzweifelter Hoffnung.

"Dorrt hinten, da ist sich doch irrgend etwas ... eine Hütte vielleicht?" meinte Quader.

"Ja, dann geh doch mal hin, sieh doch mal nach!" forderte ihn Keter auf. "Bin doch gefesselt! Befrreit mich doch endlich von verrdammte Klebe-

strreifen!" rief Quader wütend. "Ja, womit denn? Haben Sie ein Messer oder irgend etwas, Professor?"

fragte Keter. Krausinger wühlte in seinen Taschen. "Nein, nichts. Tut mir leid." Er

stand auf und begann in die Richtung zu laufen, in welche Quader blickte.

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Keter rief ihm die bereits schon einmal gestellte Frage hinterher: "Glau-ben Sie, Professor, daß die uns auf ihren Wüstenplaneten mitgenommen haben? Die Sonne brennt ja so furchtbar heiß. Und dieser viele Sand hier!"

Krausinger drehte sich im Gehen um: "Nein, nein, General. Sehen Sie die Sonne dort." Er wies nach oben: "Das ist eindeutig unsere!"

"Wie kommen darrauf? Könnte sich doch sein jede Sonne von derr

Welt!" rief Quader. "Ja, das könnte doch auch deren Sonne sein!" ergänzte Keter. "Quatsch. Die haben doch zwei Sonnen nebeneinander. Ich glaube, ich

erwähnte es bereits", beschied Krausinger in arrogantem Tonfall. Dann lief er weiter in die Richtung, in welcher Quader etwas zu sehen geglaubt hatte, das nach Zivilisation aussah.

Nach etwa einer, den Zurückgebliebenen endlos erscheinenden Stunde, war er wieder da. Keter und Quader sahen ihn gespannt an. "Na, was ... ? Keter brach seine Frage ab, als er Krausingers von Resignation geprägten Blick sah.

"Sagen schon", rief Quader ungeduldig. "Da vorn, das müssen Überreste amerikanischer Stellungen aus dem

Zweiten Weltkrieg sein. - Ich glaube, wir befinden uns im südlichen Pazi-fik."

Keter starrte Krausinger mit offenem Mund an. Quader rang nach Luft. Dann brach es aus ihm heraus: "Prrofessorr! Was haben sich Frreunde von Ihnen nurr gemacht mit uns!?"

Kassel, 25. August 1998. Gut ein Jahr nach unserem Erlebnis in Wald-heide las ich durch Zufall in einer der von unserer Redaktion abonnierten Zeitschriften eine Meldung, die mich an all das erinnerte, was ich im Zusammenhang mit der Akte Krausinger erlebt hatte und eine unerwartete Wendung der Dinge mit sich brachte. Es hieß da nämlich: Auch das gibt's

Wie unser Korrespondent in Washington uns mitteilte, wurde auf Hawaii in einem Marinekrankenhaus ein Mord an einem Deutschen und einem ihn interviewenden amerikanischen Journalisten begangen. Seltsam seien die Begleitumstände dieser Tat gewesen. Bei dem Deutschen habe es sich nämlich um einen gewissen Fritz Keter (83) gehandelt, der wenige Wochen zuvor zusammen mit zwei Begleitern von der US-Marine auf einer unbewohnten Pazifikinsel entdeckt worden war.

Die beiden anderen Männer hatten angegeben, sie alle Drei seien wohl-habende Privatiers aus Berlin, die zwei Jahre zuvor mit ihrer Segeljacht

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zu einer Weltumsegelung angetreten seien und im Pazifik Schiffbruch erlitten hätten. Im Juni 1995 seien sie auf der menschenleeren Insel gestrandet. Dort habe sie die US-Marine entdeckt. Der später ermordete Fritz Keter dagegen habe eine andere Version genannt. Der von seinen Gefährten als verrückt geworden bezeichnete Mann hatte behauptet, er sei General des Staatssicherheitsdienstes der DDR gewesen und von einem nichtirdischen UFO mit seinen Begleitern auf der Südseeinsel ausgesetzt worden. Während seine Gefährten darauf drängten, so schnell wie möglich wieder nach Deutschland zu gelangen, habe er auf seiner Version beharrt und vor einer extraterrestrischen Macht gewarnt, die für die Erde eine Gefahr werden könne. Er wurde einer psychiatrischen Untersuchung unterzogen. Resultat war ein mild gehaltener ärztlicher Befund, nach dem sein Nervenkostüm aufgrund der erlittenen Strapazen nach dem Schiffbruch und wegen des langen Aufenthaltes in ungewohntem extremem Klima, begleitet von der Hoffnungslosigkeit, je wieder von dieser Insel zu gelangen, sehr gelitten habe. Daraus seien auch seine UFO-Phantasien erklärbar. Möglicherweise seien diese Probleme aber nur vorübergehender Art. So weit so gut. Mysteriös ist allerdings die Raubmorderklärung der Polizei, denn der Mann kam arm wie eine Kirchenmaus von der Insel. Auch der Journalist soll nach Aussagen seiner Frau nicht mehr als zehn Dollar bei sich gehabt haben.

Sie hatten also überlebt! Allein diese Tatsache beunruhigte mich sehr stark, hatte ich doch geglaubt, mit ihrem Verschwinden sei alles erledigt. Und daß diese Leute selbst vor Mord nicht zurückschreckten, um ihre Ziele zu erreichen, das war mir immer klar gewesen. Aber daß Keter selbst eines der Opfer sein könnte, hätte ich nie für möglich gegehalten. Was mich am meisten beunruhigte war die Aussage in dem Bericht, daß die beiden anderen Männer - und das waren ja sicher Krausinger und Quader, wer sonst? - wieder nach Deutschland zurück wollten. Die Scheibe hatten sie ja verloren. Aber wer weiß, was sie nun ausheckten? Michael hatte mich beruhigt und, wohl um sich auch selbst zu beruhigen, gemeint, von der Seite dieser Leute bestünde keine Gefahr mehr. Mit den Wochen und Monaten, die danach ins Land gingen, vergaß oder ver-drängte ich das Wissen über Krausingers und Quaders Überleben.

Im Sommer des Jahres 1998 aber besuchte mich Michael Rummel, mit dem mich inzwischen eine echte Freundschaft verbindet, in Kassel. Er war einige Monate zuvor nach Thüringen gezogen. Für mich war das bedauerlich, denn ein guter Freund war nun nicht mehr in meiner Nähe. Aber er hatte sich beruflich verbessert. Das Versicherungsunternehmen,

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für welches er arbeitete, hatte ihm eine Führungsposition im Außendienst in seiner Geburtsstadt Apolda angeboten und er hatte zugegriffen.

Von ihm erfuhr ich den letzten Stand der Dinge. Michael hatte kurz zuvor gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Berlin besucht. Unsere alte neue Hauptstadt war ja auch einmal sein Wohnort gewesen.

An einem der Tage, sie flanierten unter den Linden, da wurde sein Blick unwillkürlich zur Straße gezogen, wo wenige Meter neben ihnen der Ver-kehr mal träge, mal zügiger vorüber floß.

Irgend etwas erzeugte ein unangenehmes Gefühl in ihm. Was war das nur? In dem Moment sah er auf dem Rücksitz eines Wagens einen Men-schen sitzen, der ihm außerordentlich bekannt vorkam. Er blickte in die nervös zuckenden Augen eines Mannes, der mit eisigem Blick durch ihn hindurchzuschauen schien, bevor er den Fahrer des langsam fahrenden schwarzen 7er BMW auf dessen Rücksitz er saß, anwies, wieder zu beschleunigen.

Als Michaels Freundin, die das Ganze mitbekommen hatte, fragte: "Wer war denn das? Kanntest du den?" hatte er beinahe tonlos geantwortet: "... Quader... das war Quader."

Diese Begegnung Michaels mit Quader und unsere Frage, wo denn Krausinger sich befinden könne und ob beide zusammen möglicherweise zurückgekommen nach Deutschland immer noch ihre alten Ziele ver-folgten, brachte mich nun doch dazu, die Geschichte endlich aufzu-schreiben. Das tat ich mit Michaels Unterstützung. Der vorliegende Bericht ist das Resultat.

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Ausdrücklicher Hinweis!

Die vorliegende Geschichte ist frei erfunden. An keinem der angegebenen

Orte hat nach Wissen des Autors jemals eines der von ihm dargestellten

Ereignisse stattgefunden. Die Mehrzahl der handelnden Personen ist

völlig frei erfunden. Die wenigen realen Personen haben niemals wirklich

mit der Geschichte zu tun gehabt, nicht einmal am Rande.

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