Gemeinsam forschen(d) lernen, Teil II 3. Das Curriculum ... · Empirie und der Praxisforschung...

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- 1 - Wolfgang Fichten & Hilbert Meyer: Gemeinsam forschen(d) lernen, Teil II 3. Das Curriculum der Oldenburger Teamforschung 3.1 Dialektik von Führung und Selbsttätigkeit Weil Forschung ein regelgeleiteter und systematisierter Prozess ist, müssen die For- schungsnovizen mindestens vier Herausforderungen bewältigen: (1) Sie müssen die Systematik und die Prozessstruktur forschenden Handelns er- kennen. (2) Sie müssen die unterschiedlichen Rollen von Forschern und Beforschten, von Auftraggebern und Auftragnehmern durchschauen und die dadurch gesetzten „Spielregeln“ einhalten. (3) Sie müssen sich einen Überblick über geeignete Forschungsmethoden ver- schaffen, eine oder zwei begründet auswählen und sich die erforderliche Me- thodenkompetenz aneignen. (4) Sie müssen sich mit den Gütekriterien von Forschung vertraut machen und denkmögliche ethische Konflikte diskutieren. Das ist ein ehrgeiziges Ziel, das in einem bis zwei Semestern erreicht werden soll und muss. Deshalb besteht unser Oldenburger Curriculum aus einer Mischung von eher straff angesetzten Anteilen an Direkter Instruktion mit oft genug ausufernden Phasen selbstregulierter Teamarbeit. Wir behaupten in Anlehnung an das Grundprin- zip in Lothar Klingbergs Dialektischer Didaktik: These: Forschungskompetenz entwickelt sich im Wechselspiel von Führung und Selbsttätigkeit. 3.2 Das Team-Setting Wir bilden kleine Teams, die zumeist aus 4 bis 5 Studierenden und einer Berufsprak- tikerin (= Mitwirkende Lehrerin mit 2 Stunden Abordnung an die Universität) beste- hen. Die „Forschungswerkstatt Schule und LehrerInnenbildung“ am Didaktischen Zentrum der Carl von Ossietzky Universität bildet dafür das Unterstützungssystem. Zu Beginn unserer Teamforschungspraxis (1996 bis 2005) waren die Lehrpersonen gleichberechtigte Teammitglieder. Inzwischen ist die Teamforschung im Master- Modul „Schul- und Unterrichtsforschung und ihre Forschungsmethoden“ der Carl von Ossietzky Universität platziert. Das hat zur Folge, dass die Studierenden im For- schungsteam nun eine Ziffernnote erhalten, die Lehrpersonen nicht, so dass sich neue Rollenkonstellationen ergeben haben (siehe Abschnitt 4). Die Forschungsvor- haben müssen nun in einem einzigen Semester durchgeführt werden. Die soziale Architektur der Teamforschung entfaltet sich in einem Geflecht verschie- dener personaler Konstellationen, die das Wechseln der Perspektiven begünstigen: - Wir sprechen die Arbeitsgruppen von Beginn an als „Teams“ an, auch wenn sie dies zu Beginn noch nicht sind - sie müssen erst dazu werden.

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Wolfgang Fichten & Hilbert Meyer:

Gemeinsam forschen(d) lernen, Teil II

3. Das Curriculum der Oldenburger Teamforschung 3.1 Dialektik von Führung und Selbsttätigkeit

Weil Forschung ein regelgeleiteter und systematisierter Prozess ist, müssen die For-schungsnovizen mindestens vier Herausforderungen bewältigen:

(1) Sie müssen die Systematik und die Prozessstruktur forschenden Handelns er-kennen.

(2) Sie müssen die unterschiedlichen Rollen von Forschern und Beforschten, von Auftraggebern und Auftragnehmern durchschauen und die dadurch gesetzten „Spielregeln“ einhalten.

(3) Sie müssen sich einen Überblick über geeignete Forschungsmethoden ver-schaffen, eine oder zwei begründet auswählen und sich die erforderliche Me-thodenkompetenz aneignen.

(4) Sie müssen sich mit den Gütekriterien von Forschung vertraut machen und denkmögliche ethische Konflikte diskutieren.

Das ist ein ehrgeiziges Ziel, das in einem bis zwei Semestern erreicht werden soll und muss. Deshalb besteht unser Oldenburger Curriculum aus einer Mischung von eher straff angesetzten Anteilen an Direkter Instruktion mit oft genug ausufernden Phasen selbstregulierter Teamarbeit. Wir behaupten in Anlehnung an das Grundprin-zip in Lothar Klingbergs Dialektischer Didaktik:

These: Forschungskompetenz entwickelt sich im Wechselspiel von Führung und Selbsttätigkeit.

3.2 Das Team-Setting

Wir bilden kleine Teams, die zumeist aus 4 bis 5 Studierenden und einer Berufsprak-tikerin (= Mitwirkende Lehrerin mit 2 Stunden Abordnung an die Universität) beste-hen. Die „Forschungswerkstatt Schule und LehrerInnenbildung“ am Didaktischen Zentrum der Carl von Ossietzky Universität bildet dafür das Unterstützungssystem.

Zu Beginn unserer Teamforschungspraxis (1996 bis 2005) waren die Lehrpersonen gleichberechtigte Teammitglieder. Inzwischen ist die Teamforschung im Master-Modul „Schul- und Unterrichtsforschung und ihre Forschungsmethoden“ der Carl von Ossietzky Universität platziert. Das hat zur Folge, dass die Studierenden im For-schungsteam nun eine Ziffernnote erhalten, die Lehrpersonen nicht, so dass sich neue Rollenkonstellationen ergeben haben (siehe Abschnitt 4). Die Forschungsvor-haben müssen nun in einem einzigen Semester durchgeführt werden.

Die soziale Architektur der Teamforschung entfaltet sich in einem Geflecht verschie-dener personaler Konstellationen, die das Wechseln der Perspektiven begünstigen:

- Wir sprechen die Arbeitsgruppen von Beginn an als „Teams“ an, auch wenn sie dies zu Beginn noch nicht sind - sie müssen erst dazu werden.

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- Wir fordern die Berufspraktikerinnen von Beginn an auf, ihre Rolle im Team zu reflektieren und zu kommunizieren (siehe Abschnitt 4).

- Wir bilden als Hochschullehrer (zur Zeit: Annekatrin Klopp, Wolfgang Fichten, Hilbert Meyer) das Lehr- und Moderationsteam. Wir forschen nicht selbst, son-dern organisieren die Forschungsprozesse und geben Rückmeldungen zur Pro-zess- und Produktqualität.

Wir versuchen in jedem Semester neu, den Teamforscherinnen und -forschern deut-lich zu machen, dass sie durch die Einübung in die Praxisforschung zu wertvollen Mitgliedern der weltweiten Aktionsforschungs-Gemeinschaft (Altrichter 2002) werden können.

3.3 Verlebendigung: zwei Studierende zu der Frage: „Was lerne ich, wenn ich selber forsche?“ (Tim Lübben und Svea Norden)

3.4 Prozessmodell der Forschung

Wir orientieren den Arbeitsablauf an einem idealtypischen Prozessmodell von Praxis-forschung.

Abbildung nächste Seite!

Das Modell macht deutlich, dass es zwischen der herkömmlichen datenbasierten Empirie und der Praxisforschung keine grundsätzlichen Unterschiede gibt (so auch Altrichter 1990 und Dick 2003, S. 38 f.). Der gemeinsame Nenner aller Forschungs-paradigmen ist der Versuch, die Datenerhebung, -auswertung und -interpretation me-thodisch kontrolliert vorzunehmen. Das Besondere der Aktionsforschung ist die Dop-pelrolle der Berufspraktiker als Forscher und Akteure im Feld und die enge Anbin-dung an reale Schulentwicklungsprozesse.

Der konkrete Verlauf jedes Teamforschungsvorhabens folgt diesem Prozessmodell immer nur annäherungsweise. Es gibt viele Variationen und Schleifen. Die Phasen sind unterschiedlich lang. Vor allem die Kleinarbeitung der Forschungsfrage und die Datenaufbereitung und -auswertung dauern zumeist deutlich länger, als es die Teammitglieder erahnt haben.

3.5 Curriculum-Bausteine

Wir haben in den 18 Jahren der Arbeit am Oldenburger Modell eine ganze Reihe von Bau-steinen entwickelt, die jedes Team benötigt, um sein Forschungsvorhaben erfolgreich zum Abschluss zu bringen. Die Bausteine werden in den Seminaren vorgestellt, eingeübt und dann in den Teams praktiziert.

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(1) Auf dem „Marktplatz" findet die Teambildung statt. Damit ist eine zweistündige Veranstaltung gemeint, auf der die Mitwirkenden Lehrerinnen ihre aus den Schulen mitgebrachten vorläufigen Forschungsfragen präsentieren und auf der die Studierenden entscheiden, welchem Team sie sich zuordnen. Wir ha-ben uns für die

Teambildung immer so viel Zeit genommen, weil ungeschickt zusammengesetzte Teams schon kurze Zeit später in Problemlagen zu kom-men pflegen. (2) Forschungstagebücher: Wir fordern alle Beteiligten schon in der ersten Sit-zung auf, sich eine Forschungskladde anzuschaffen, die zur Dokumentation

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von Feldbeobachtungen und für prozessbegleitenden Reflexionen genutzt wird. Wir liefern dazu eine kurze Einweisung im Anschluss an das erste Kapitel von Altrichter & Posch (2007). Wir haben beobachtet, dass das Tagebuchschreiben für die beteiligten Lehrer, aber auch für die Studierenden ungewohnt ist und der behutsamen und regelmäßigen Pflege bedarf.

(3) Team-Reflexion und Arbeitsbündnis: Wir bieten eine kurze Einführung in die Grundsätze der Teamarbeit an und empfehlen jedem Team, einen von allen zu unterschreibenden Teamkontrakt zu schließen, in dem insbesondere die einge-gangenen Arbeitsverpflichtungen festgehalten werden.

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(4) „Kritische Freunde“ : Jedes Team erhält einen vom Moderationsteam gestell-ten Betreuer, der hin und wieder an den Teamsitzungen teilnimmt und dem das Exposé und der Forschungsbericht zur Kommentierung zuzustellen sind.

(5) Forschungsauftrag : Die zuständigen Gremien der Schulen (Schulleitung, Ge-samtkonferenz, Steuergruppe oder Fachkonferenz) werden von uns aufgefor-dert, den von den Mitwirkenden Lehrern vorformulierten Forschungsauftrag

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„abzusegnen". Dies ist eine Voraussetzung, um die Akzeptanz der Forschungs-ergebnisse im Kollegium zu sichern.

(6) Kleinarbeitung der Forschungsfrage: Die Zuspitzung des zumeist noch recht pauschalen und viel zu umfangreichen Forschungsauftrags hin zu einer ge-schickt formulierten Forschungsfrage ist für Anfänger schwierig. Es ist wichtig. die Forschungsfrage von „guten Absichten“ zu reinigen und sie auf den empi-risch überprüfbaren Kern zu reduzieren. In diesem häufig schmerzlichen Pro-zess werden die Teams von Mitgliedern der Forschungswerkstatt beraten.

(7) Exposé-Schreiben : Alle Teams müssen vor Beginn der Datenerhebung ein Exposé von circa 3 Seiten Umfang schreiben, das vom Moderationsteam gele-sen und kommentiert, bei Bedarf auch kritisiert wird. Dazu gibt es einen bei Meyer & Fichten (2009) abgedruckten Fragenkatalog. Für die Umfangsplanung der Vorhaben gilt die aus der qualitativen Forschung stammende Parole:

These: „Small is beautiful“

(8) Datenerhebung : Wir haben einen METHODEN-READER (Fichten, Wagener u.a. 2004) verfasst, auf dessen Grundlage wir im Seminar eine Einführung in Erhebungsmethoden vornehmen: Dabei beschränken wir uns einige wenige Methoden1: die Unterrichtsbeobachtung, das Interview, den Fragebogen und die Gruppendiskussion. Die Einführung realisieren wir in einer Kompaktsitzung als Stationenlernen.

(9) Datenauswertung : Wir setzen darauf, dass die Teams die gängigen Verfahren schlichter quantitativer Datenaufbereitung mit Hilfe von SPSS beherrschen oder sich kurzfristig aneignen. Wir machen zusätzlich eine Einführung in qualitative Verfahren und bieten ein „pragmatisches Mischmodell zur qualitativen Inhalts-analyse“ an, das Wolfgang Fichten im Anschluss an Philipp Mayring formuliert hat (dargestellt in Meyer & Fichten 2009). Die Datenaufbereitung und die Aus-wertung sind mühsam und langwierig. Sie kann zwanzig oder dreißig mal soviel Zeit kosten wie die Datenerhebung. Besonderen Wert legen wir auf die sorgfäl-tige Kodieren. Unser Merksatz: „Die Forschungsergebnisse können nicht bes-ser sein als der Gehirnschmalz, der in die Kategorienbildung investiert wird.“

(10) Spiegelungen: Forschungsbezogene Überlegungen, Planungen und Entschei-dungen werden immer wieder seminarintern vorgestellt und im Zwei-Team-Setting mittels einer besonderen Spiegelungstechnik bearbeitet (Fichten & Wa-gener 2005). Damit wird die schon genannte Prozessreflexion angeregt.

(11) Forschungsbericht: Die Arbeit endet mit dem kollektiv geschriebenen und verantworteten Forschungsbericht, der hin und wieder auch als kleine For-schungsarbeit veröffentlicht wird.

(12) Rückmeldungen an die Schulen : Sie bilden den krönenden Abschluss eines Aktions-forschungsprojekts. Wichtig ist dabei ein stabiles Vertrauensverhältnis zwischen den Teammitgliedern (insbesondere der Mitwirkenden Lehrerin) und der Schulleitung bzw. der Steuergruppe der Schule. Die Studierenden sind oft überrascht, wenn keine unmit-telbare Umsetzung der rückgemeldeten Ergebnisse stattfindet.

1 Ergänzend benutzen wir: Moser (1997) und Altrichter & Posch (2007).

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(13) Ethischer Kode : Wir besprechen mit jeder neuen Kohorte praxisbezogen, welche e-thischen Konflikte beim Forschen entstehen können und wie sie zu bearbeiten sind. Wir haben einen zehn Punkte umfassenden Ethischen Kode formuliert, den wir allen Teams zur Kenntnis bringen.

(13) Supervision : Eine ausgebildete Supervisorin hat während des BLK-Modellversuchs die Teambildungen begleitet und bei Bedarf ein Coaching vor-genommen. Heute machen wir das Supervisionsangebot in eigener Regie.2

2 Die Moderatorin Annekatrin Klopp ist Diplompsychologin mit Supervisionszertifikat.

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(14) Zertifizierung: Die Teammitglieder erhalten zum Abschluss zusätzlich zum Modulzeugnis ein Zertifikat, das sie in ihr Portfolio aufnehmen können. Feed-back-Rituale, ein gemeinsames Essen u.a. ergänzen das Programm.