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176 Werke der dreißiger Jahre ten drei Jahrzehnte sowie der Ballettinszenierungen von Choreographen wie Martha Graham (1978) und Visualisierungen durch so unterschiedliche Filmemacher wie Woody Allen und Marc David scheint sich das gewiß zu Unrecht im Schatten von Ionisation stehende, doch gleichermaßen visionäre Ecuatorial nunmehr langsam im zeitgenössischen Repertoire zu etablieren. 1 George Gershwin: Porgy and Bess Von Hyesu Shin Kompositionsdatum: Februar 1934 bis 2. September 1935. Titel / Satzbezeichnungen: Porgy and Bess. An American Folk Opera. Opera in 3 acts. Lyrics by DuBose Heyward and Ira Gershwin, libretto by Heyward. Erstaufführung: 10. Oktober 1935, Alvin Theatre, New York. Beteiligte Künstler: Alexander Smallens (Dirigent), Rouben Mamoulian (Regie), Sergei Soudei- kine (Ausstattung), Todd Duncan (Porgy), Anne Wiggins Brown (Bess). Erstdruck: 1935 (Klavierauszug), hg. von Albert Sirmay, Gershwin Publishing Corporation / Chappell, New York. Ersteinspielung: 1976, Cleveland Orchestra & Chorus, Lorin Maazel (Dirigent), Willard White (Porgy), Leona Mitchell (Bess). Bei der Entstehung von Meisterwerken der Kunst war nicht selten der Zufall mit im Spiel, und so war es auch im Falle der Oper Porgy and Bess von George Gersh- win, die am 10. Oktober 1935 im Alvin Theatre in New York uraufgeführt wurde. Im Herbst 1925 erschien ein Roman von DuBose Heyward mit dem Titel Porgy. Es ist eine Geschichte über einen Schwarzen namens Porgy, der verkrüppelt ist und sich als Bettler in Catfish Row durchschlägt. Vordergründig geht es um seine Liebe zu Bess, darum, wie die beiden zueinanderfinden und sich wieder verlieren. Ihre Liebe steht unter keinem günstigen Stern, denn ein Mord bringt sie zusammen, und ein weiterer Mord bringt sie wieder auseinander. Diese unglückliche Liebesge- schichte zieht sich als roter Faden durch den Roman hindurch, der im Kern eine realistische Darstellung des Zusammenlebens der Schwarzen in Charleston, South Carolina, ihrer Sprache und kulturellen Eigenart zum Thema hat. Die überschäu- mende Lebensfreude der Gullah Negroes, ihr Humor und ihr empfindsames We- sen sind ebenso Gegenstand der Schilderung wie ihr Alltag, der von schwerer Ar- beit, Aberglauben, Glücksspiel und Drogen beherrscht ist. Mehr zufällig stieß George Gershwin ein Jahr nach dem Erscheinen auf diesen Roman und war begeistert. Besonders der hohe Anteil an Musik, die u.a. als welt- liche und geistliche Lieder in die Handlung des Romans integriert ist, könnte den Komponisten angesprochen haben. Unmittelbar nach der Lektüre und noch vor Morgengrauen habe er dem Autor geschrieben, daß er aus dem Roman eine Oper machen möchte. Heyward war sofort einverstanden. Bis die Arbeit an der Oper überhaupt begonnen werden konnte, sollten allerdings noch mehrere Jahre verge- hen. Denn Gershwin hatte bereits andere Projekte in Planung, so daß er für seine ehrgeizige Absicht, eine »richtige« Oper zu komponieren, keine Zeit erübrigen konnte. Als er seine Arbeit an der Oper im Februar 1934 endlich aufnahm, diente nicht der ursprüngliche Roman als Vorlage, sondern die 1927 mit großem Erfolg aufgeführte Fassung als Theaterstück, die Heyward zusammen mit seiner Frau Dorothy erstellt hatte, und die mit dem Pulitzerpreis geehrt wurde. Um die Ver- 1 Woody Allen gebrauchte neben Mu- sik von Bach, Mahler, Satie und Weill Auszüge aus Ecuatorial in seinem Spielfilm Another Woman (1988). Marc David verfuhr ähn- lich wie Jean Mitry und Jean-Ma- rie Straub, indem er Ecuatorial als strukturelle Grundlage für seinen gleichnamigen Film von 1992 be- nutzte.

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176 Werke der dreißiger Jahre

ten drei Jahrzehnte sowie der Ballettinszenierungen von Choreographen wie MarthaGraham (1978) und Visualisierungen durch so unterschiedliche Filmemacher wieWoody Allen und Marc David scheint sich das gewiß zu Unrecht im Schatten vonIonisation stehende, doch gleichermaßen visionäre Ecuatorial nunmehr langsamim zeitgenössischen Repertoire zu etablieren.1

George Gershwin: Porgy and Bess

Von Hyesu Shin

Kompositionsdatum: Februar 1934 bis 2. September 1935.Titel / Satzbezeichnungen: Porgy and Bess. An American Folk Opera. Opera in 3 acts. Lyrics by

DuBose Heyward and Ira Gershwin, libretto by Heyward.Erstaufführung: 10. Oktober 1935, Alvin Theatre, New York.Beteiligte Künstler: Alexander Smallens (Dirigent), Rouben Mamoulian (Regie), Sergei Soudei-

kine (Ausstattung), Todd Duncan (Porgy), Anne Wiggins Brown (Bess).Erstdruck: 1935 (Klavierauszug), hg. von Albert Sirmay, Gershwin Publishing Corporation /

Chappell, New York.Ersteinspielung: 1976, Cleveland Orchestra & Chorus, Lorin Maazel (Dirigent), Willard White

(Porgy), Leona Mitchell (Bess).

Bei der Entstehung von Meisterwerken der Kunst war nicht selten der Zufall mitim Spiel, und so war es auch im Falle der Oper Porgy and Bess von George Gersh-win, die am 10. Oktober 1935 im Alvin Theatre in New York uraufgeführt wurde.Im Herbst 1925 erschien ein Roman von DuBose Heyward mit dem Titel Porgy. Esist eine Geschichte über einen Schwarzen namens Porgy, der verkrüppelt ist undsich als Bettler in Catfish Row durchschlägt. Vordergründig geht es um seine Liebezu Bess, darum, wie die beiden zueinanderfinden und sich wieder verlieren. IhreLiebe steht unter keinem günstigen Stern, denn ein Mord bringt sie zusammen,und ein weiterer Mord bringt sie wieder auseinander. Diese unglückliche Liebesge-schichte zieht sich als roter Faden durch den Roman hindurch, der im Kern einerealistische Darstellung des Zusammenlebens der Schwarzen in Charleston, SouthCarolina, ihrer Sprache und kulturellen Eigenart zum Thema hat. Die überschäu-mende Lebensfreude der Gullah Negroes, ihr Humor und ihr empfindsames We-sen sind ebenso Gegenstand der Schilderung wie ihr Alltag, der von schwerer Ar-beit, Aberglauben, Glücksspiel und Drogen beherrscht ist.

Mehr zufällig stieß George Gershwin ein Jahr nach dem Erscheinen auf diesenRoman und war begeistert. Besonders der hohe Anteil an Musik, die u.a. als welt-liche und geistliche Lieder in die Handlung des Romans integriert ist, könnte denKomponisten angesprochen haben. Unmittelbar nach der Lektüre und noch vorMorgengrauen habe er dem Autor geschrieben, daß er aus dem Roman eine Opermachen möchte. Heyward war sofort einverstanden. Bis die Arbeit an der Operüberhaupt begonnen werden konnte, sollten allerdings noch mehrere Jahre verge-hen. Denn Gershwin hatte bereits andere Projekte in Planung, so daß er für seineehrgeizige Absicht, eine »richtige« Oper zu komponieren, keine Zeit erübrigenkonnte. Als er seine Arbeit an der Oper im Februar 1934 endlich aufnahm, dientenicht der ursprüngliche Roman als Vorlage, sondern die 1927 mit großem Erfolgaufgeführte Fassung als Theaterstück, die Heyward zusammen mit seiner FrauDorothy erstellt hatte, und die mit dem Pulitzerpreis geehrt wurde. Um die Ver-

1 Woody Allen gebrauchte neben Mu-sik von Bach, Mahler, Satie undWeill Auszüge aus Ecuatorial inseinem Spielfilm Another Woman(1988). Marc David verfuhr ähn-lich wie Jean Mitry und Jean-Ma-rie Straub, indem er Ecuatorial alsstrukturelle Grundlage für seinengleichnamigen Film von 1992 be-nutzte.

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wechslung mit der Theaterfassung zu vermeiden, entschied man sich, der Oper denTitel Porgy and Bess zu geben. Recht bald gesellte sich Georges Bruder Ira hinzu,der seit Lady, Be Good! von 1924 als der kongeniale Texter für die Melodienseines zwei Jahre jüngeren Bruders galt. Die Theatre Guild in New York, die diedramatisierte Fassung des Romans produziert hatte, erklärte sich bereit, auch dieOper zu geben. Die erste und auch einzige Oper von Gershwin wurde somit ineinem Broadway-Theater und nicht in einem Opernhaus uraufgeführt.

George Gershwin kennt man weltweit als einer der erfolgreichsten und belieb-testen Songschreiber und Broadway-Komponisten, den Amerika je hervorgebrachthat. Daß er aber auch eine Oper komponiert hat, ist vermutlich nicht einmal annä-hernd so bekannt wie die Songs Summertime, I Got Plenty o’ Nuttin’ oder It Ain’tNecessarily So, die alle aus dieser Oper stammen und sich noch heute großer Be-liebtheit erfreuen. Dabei war die Arbeit an der Komposition von Porgy and Bessseine intensivste und ehrgeizigste. Carmen und Die Meistersinger waren zwei vonihm selbst genannte Vorbilder, aber auch der Einfluß von anderen Opernkompo-nisten wie Alban Berg und Richard Strauss kann nicht überhört werden.1 Gersh-win verbrachte sechs Wochen auf Folly Island, das zehn Meilen vom HandlungsortCharleston entfernt liegt, um die Stimmung einzufangen und sich mit den Lebens-weisen und vor allem der Musik der dortigen Gullah Negroes vertraut zu machen.Er hat aber bei der Komposition keine bereits vorhandenen Melodien benutzt,sondern alles selbst komponiert, weil er die ganze Musik »aus einem Guß« habenwollte.2 Auch bestand er entgegen der am Broadway und auch für ihn üblichenPraxis darauf, jeden Ton selbst zu orchestrieren. Überließ er die Instrumentationseiner Rhapsody in Blue von 1924 Ferde Grofé, so widmete er neun Monate ganzder Orchestrierung seiner über 700 Seiten umfassenden Oper. Für die Aufführungstellte er selbst einen Stab aus klassisch ausgebildeten schwarzen Sängern und Thea-terleuten zusammen, die ihre Erfahrungen in Oper und Ballett gemacht hatten.Todd Duncan und Anne Wiggins Brown sangen die Hauptrollen; Rouben Mamou-lian, der die dramatisierte Fassung des Romans inszeniert hatte, konnte als Regis-seur verpflichtet werden, während Alexander Smallens als Dirigent und SergeiSoudeikine für die Ausstattung engagiert wurden. Dies alles verrät, wie wichtig esGershwin war, eine Oper im traditionellen Sinne zu schaffen und zur Aufführungzu bringen.

Vor diesem Hintergrund erscheint nicht zufällig, daß er von 1932 bis 1936 beiJoseph Schillinger Unterricht nahm, um seine Technik zu verfeinern. Denn daß erdie Arbeit an der Oper erst so spät begonnen hat, lag auch daran, daß Gershwinder Ansicht war, seinem ehrgeizigen Plan nicht gewachsen zu sein. Dabei war er alsKomponist und Pianist zu dem Zeitpunkt auf dem Zenit seiner Karriere. Nachdem großen Erfolg seiner Rhapsody in Blue für Klavier und Orchester, die er aufAnregung von Paul Whiteman komponierte und 1924 zusammen mit dessen Or-chester uraufführte, konnte er sich als der Komponist, der den Jazz in den Kon-zertsaal gebracht hat, und auch als virtuoser Pianist etablieren. Auch war Schillin-ger nicht der erste Lehrer, den Gershwin um Anleitung im klassischen Kompositions-unterricht gebeten hatte. Von 1915 bis 1921 hatte er bei Edward Kilenyi studiert,später nahm er Unterricht bei Rubin Goldmark, Wallingford Riegger und HenryCowell.

Der Unterricht bei Schillinger hatte sicherlich seinen Anteil u.a. an der Entste-hung einer Fuge, die Gershwin für die Mordszene im ersten Akt komponiert hat.»I can think of no other full-fledged fugus in opera«, schreibt der Komponist Elie

1 Joan Peyser, The Memory of AllThat. The Life of George Gersh-win, New York 1993, S. 229f. undS. 243.

2 George Gershwin, Rhapsody inCatfish Row, in: New York Timesvom 20. Oktober 1935.

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Siegmeister, »except the one in Falstaff – and Gershwin’s is, I think, far more dra-matic.«1 Aber auch in der Gestaltung der Musik als dramaturgischem Mittel stehtPorgy and Bess keiner anderen Oper nach. Ein gutes Beispiel bietet das WiegenliedSummertime, das erste Gesangsstück der Oper, das Clara ihrem Baby singt.2 Die-ses Lied klingt besänftigend und tröstlich, was der harten, oft auch brutal aggres-siven Realität der Bewohner in Catfish Row nicht entspricht. Eine idyllische Stim-mung wird vorgespielt, deren trügerischer Schein bald darauf von einem unerwar-teten Mord entlarvt wird. Als ob dies verdeutlicht werden müßte, erklingt dasWiegenlied vor dem Mord ein zweites Mal, von den Schreien der Würfelspielerbegleitet. In der zweiten Szene des vierten Akts kehrt das Lied zum dritten Malwieder – diesmal inmitten eines wütenden Hurricanes, der schließlich die Elterndes Babys tötet. Hier fungiert das Lied nicht anders als zu Beginn der Oper als»Vorbote« des Todes. In dieser Funktion wird das Lied auch in der ersten Szenedes letzten Aktes eingesetzt, wenn es in die gleiche Würfelspiel-Musik aus demersten Akt übergeht, woraufhin wiederum ein Mord folgt. Hier singt Bess für dasBaby, womit sie dessen Mutter ersetzt. Gleichzeitig wird dadurch signalisiert, daßBess, die zuvor von der Gemeinschaft ausgeschlossen war, nun vollkommen akzep-tiert und auch integriert ist. Aber daß sie ein Lied singt, das zuvor eine andere aus derGemeinschaft gesungen hat, entspricht auf der musikalischen Ebene ihrem psychischlabilen Charakter. Denn sie hat sich selbst nicht unter Kontrolle und gerät immerwieder in Abhängigkeit zu falschen Männern. In Analogie dazu, daß sie sich meistensden Themen ihrer jeweiligen Männer »anpaßt«, wird ihre Integration in die Ge-meinschaft dadurch angezeigt, daß sie sich ein Lied aus der Gemeinschaft aneignet.3

Ungewöhnlich ist, daß in die durchkomponierte Anlage der Oper Songs ein-geflochten sind, die sich im großen und ganzen nicht sehr von anderen Songs un-terscheiden, die Gershwin für den Broadway so erfolgreich komponiert hat. Ande-rerseits werden in diesen Gesangsstücken, nicht anders als in konventionellen Arien,Gefühle geschildert und Charaktere beleuchtet. In I Got Plenty o’ Nuttin’ (Akt 2,Szene 1) kostet Porgy sein Glücksgefühl aus, das ihn, seit er mit Bess zusammenge-kommen ist, positiv verändert hat. In der selben Szene singen Porgy und Bess zu-sammen ein Duett (Bess, You Is my Woman Now), mit dem sie in der Art großerArien Verdis oder Puccinis ihre Liebe preisen. In It Ain’t Necessarily So (Akt 2,Szene 2), das Sporting Life zusammen mit dem Chor singt, wird seine diabolischeNatur auch musikalisch zum Ausdruck gebracht durch die Verwendung des »dia-bolus in musica« in der Melodie und ihrer an die Bewegung einer Schlange erin-nernden Verlauf.4 Daß diese Figur ein gesellschaftlicher Außenseiter ist, machteGershwin auch durch die Wahl des Vaudeville-Sängers John W. Bubbles deutlich,dessen Stimme sich daher auch klanglich von den anderen Charakteren unterschied.

Diese Mischung aus Broadway und Oper stellte innerhalb der amerikanischenTheaterlandschaft der 30er Jahre ein Novum dar. »Metropolitan – worst exampleof old fashioned opera (museum) on the one side, musical comedy which tries tobe sophisticated and low brow at the same time, on the other side. Nothing be-tween«5 – so faßte der aus Nazideutschland geflüchtete Kurt Weill 1936, nacheinem knappen Jahr der Beobachtung, die Situation des amerikanischen Musik-theaters zusammen. Porgy and Bess war ein Versuch, diese Kluft zu schließen. Fürsich persönlich wollte Gershwin mit dieser Oper auch als seriöser Komponist An-erkennung finden, was ihm jedoch versagt blieb. Wurde seine Rhapsody in Blue,mit der er seinen größten Triumph feierte, als ein erfrischendes Ereignis begrüßt,so wurden seine weiteren Kompositionen für den Konzertsaal stets von der Kritik

1 In einem Brief vom 21. Septem-ber 1990 an Joan Peyser, zitiertnach: Peyser 1993, S. 242.

2 Lawrence Starr, Toward a Reeva-luation of Gershwin’s »Porgy andBess«, in: American Music 2 (1984),S. 31f.

3 Geoffrey Block, Enchanted Eve-nings. The Broadway Musical from»Show Boat« to Sondheim, NewYork / Oxford 1997, S. 81f.

4 Ebenda, S. 79.5 Zitiert nach: Elmar Juchem, Kurt

Weill und Maxwell Anderson. NeueWege zu einem amerikanischenMusiktheater, 1938–1950 (Veröf-fentlichungen der Kurt Weill-Ge-sellschaft Dessau 4), Stuttgart 2000,S. 30f.

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verrissen. Bis auf vereinzelte Ausnahmen warf man Gershwin einmütig komposi-tionstechnische Mängel vor und sprach ihm gänzlich die Fähigkeit ab, eine ernst-zunehmende Kunstmusik, geschweige denn eine Oper schreiben zu können. Ver-ächtlich sah man auf ihn nieder, der mit Porgy and Bess ein unmögliches, daherauch mißlungenes Hybrid aus Broadway und Oper, kommerzieller Unterhaltungs-musik und seriöser Kunstmusik sowie aus musikalischen Elementen schwarzer,weißer und jüdischer Kultur fabriziert habe. Auch antisemitische Töne mischtensich in die Kritik, die die Ähnlichkeiten zwischen schwarzer und jüdischer Musikdazu mißbrauchten, jüdischen Musikern kulturelle Ausbeutung der Afroamerika-ner zu unterstellen. Offensichtlich waren die zeitgenössischen Kritiker der soge-nannten Kunstmusik in vieler Hinsicht voreingenommen, so daß das Werk vonAnfang an kaum eine Chance auf eine sachliche Beurteilung hatte.

Das Publikum aber nahm die Oper begeistert an: Nach den Tryouts in Bostonam 30. September 1935 sollen Tausende von Kartenbestellungen eingegangen sein,die jedoch zurückgewiesen werden mußten, weil die Aufführung nur für eine Wo-che geplant war. Nach der Premiere in New York am 10. Oktober habe das Publi-kum stürmischen Beifall geklatscht. Insgesamt wurden hier 124 Vorstellungen ge-geben – keine geringe Zahl, um die Oper gänzlich als Mißerfolg zu werten, abernicht groß genug, um die hohen Ausgaben zu decken. Anfang 1936 wurde dieOper abgesetzt, nach einer knapp zweimonatigen Tournee kam das endgültige Ende.

Daß die Oper trotz des anfänglichen Erfolgs nicht ein größeres Publikum hatüberzeugen können, kann einerseits an den schlechten Kritiken gelegen haben.

Todd Duncan als Porgy und AnneBrown als Bess, die Originalbeset-zung der Uraufführung am 10. Ok-tober 1935 in New York.

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Andererseits war diese Mischung aus Broadway und Oper zu ungewöhnlich, umvon vielen ohne weiteres akzeptiert zu werden. So wurden zur Premiere sowohlMusik- als auch Theaterkritiker geschickt, als sei man sich nicht sicher gewesen,wie man das Stück einordnen sollte. Die Verantwortlichen der Theater Guild be-fürchteten, daß die Ankündigung als eine Oper das Publikum erschrecken würde.Daß das Stück schließlich »folk opera« genannt wurde, war ein Kompromiß. Auchaus diesem Grund, und nicht nur wegen der Überlänge, wurden schon vor und –trotz der positiven Reaktion des Publikums – auch nach der Bostoner Aufführunggroßzügige und einschneidende Kürzungen vorgenommen, so daß das Werk vielvon seinen Eigenschaften als Oper einbüßen mußte. Dadurch wurde auch die Über-zeugungskraft der Charaktere gemindert, was nach der Premiere Anlaß zur Kritikbot. Häufig wurden die Rezitative mißbilligt, die die Oper wie die MusikdramenWagners in unendlichem Fluß halten, vom Publikum jedoch einen langen Atemverlangen. Gershwin aber hatte sich gegen Heyward durchgesetzt, der gleich zuBeginn der Zusammenarbeit vorgeschlagen hatte, die Dialoge sprechen zu lassen.Daß die Oper 1942 erfolgreich war, lag vermutlich auch daran, daß die Rezitativegestrichen waren, so daß beinahe ein Broadway-Stück übrig blieb. Erst 1976 sollteHouston Grand Opera zum ersten Mal seit der Vorstellung in Boston wieder einefast vollständige Fassung der Oper zur Aufführung bringen.

Wahrscheinlich tat sich das vorwiegend weiße Publikum aber auch schwer, eineOper zu akzeptieren, in der Schwarze nicht nur die Protagonisten sind, sondern dieauch von schwarzen Sängern aufgeführt wurde. Möglicherweise war dieses Publi-kum auch darüber entrüstet, daß solch eine Oper als »American folk opera« be-zeichnet wurde. Man darf nicht vergessen, daß damals die Schwarzen noch immerdiskriminiert wurden. So sang in der Metropolitan Opera kein einziger schwarzerSänger, obwohl es hervorragende schwarze Künstler gab wie Marian Anderson,die von Toscanini hochgeschätzt wurde. Man muß aber auch bedenken, daß derErfolg von Porgy vor allem als Theaterstück im Zusammenhang mit der sogenann-ten Harlem Renaissance der 20er Jahre stand, einer Bewegung, die mit Harlem alsZentrum zur Entwicklung der afroamerikanischen Kultur entscheidend beigetra-gen hat. Wie in Europa brachte auch in den USA das Ende des Ersten Weltkriegesunter den Weißen eine Generation hervor, die sich von traditionellen Werten undalthergebrachten Konventionen abwandte. Für sie verkörperten die Schwarzen,insbesondere ihre Musik, die Freiheit, nach der sie suchten. Weiße Autoren entwi-ckelten Interesse an afroamerikanischer Kultur, während die afroamerikanischenSchriftsteller eine Öffentlichkeit vorfanden, die für ihre Schriften, in denen sie sichmit ihrer Identität auseinandersetzten, in einem Maße aufnahmebereit war wie niezuvor. Daß diese Bewegung verstärkt afroamerikanische Literatur hervorgebrachthat, war aber den weißen Verlegern und Lesern zu verdanken; sie hatte also selbstkaum Einflußmöglichkeiten etwa in Fragen der Rassendiskriminierung. Denn un-abhängig von der tatsächlichen Welt der Schwarzen wollten die meisten Weißendas Milieu der Schwarzen als eine exotische Kulisse und den Afroamerikaner alseinen (je nach Standpunkt positiv oder negativ gewerteten) primitiven Menschengeschildert sehen. Das Interesse der Weißen an schwarzer Literatur schwand mitder Weltwirtschaftskrise, so daß in den 30er Jahren, als Gershwins Oper fertigge-stellt wurde, das Publikum, das ihrer literarischen Vorlage in den 20er Jahren zumErfolg verholfen hatte, so gut wie nicht mehr existierte. Daran änderte auch dieTatsache nichts, daß die Oper im Kern allgemein menschliche Eigenschaften undnicht spezifische Themen der afroamerikanischen Bevölkerung in Amerika zum

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Gegenstand hat. Ablehnend war aber nicht nur das weiße Publikum. Auch dieSchwarzen nahmen die Oper nicht wohlwollend an, obwohl sie die Theaterfas-sung des Romans positiv akzeptiert hatten. Sie vermißten Authentizität; dieser Vor-wurf richtete sich in erster Linie gegen Gershwins Musik.

Die Oper Porgy and Bess kann als der Höhepunkt einer Entwicklung betrach-tet werden, die Gershwin schon vor Rhapsody in Blue (1924) begonnen hatte, unddie er mit Concerto in F (1925), An American in Paris (1928) und Second Rhapso-dy (1931) fortsetzte. Diese Entwicklung, aber auch die Ernsthaftigkeit, mit der ersich ihr hingab, spiegelt sich in seinen Äußerungen zu seinen eigenen Werken wi-der. Schrieb er über seine Rhapsody in Blue, daß er sie als »Verkörperung von Ge-fühlen«1 betrachte, so äußerte er sich über seine Cuban Overture (1932) in musik-theoretischen Begriffen, die den strukturellen bzw. formalen Verlauf der Musikganz und gar in den Vordergrund rücken.2 Es bleibt freilich eine Spekulation, obGershwin diese Entwicklung auf dem Gebiet des Musiktheaters fortgeführt hätte.Zweifellos scheint aber, daß Gershwin aus einer anderen Richtung kommend Glei-ches anstrebte wie Kurt Weill, der sein Ziel bereits in Europa formuliert und denamerikanischen Bedingungen entsprechend verwirklicht hat. Allerdings magGershwin mehr »instinktiv« gesteuert worden sein, gemäß seiner außerordentli-chen musikalischen Begabung, die bis zum äußersten herausgefordert werdenwollte. Obwohl seine Oper lange Zeit von Vorurteilen verschüttet liegen bliebund erst in den späten 70er Jahren wiederentdeckt und seit der Aufführung von1985 in der Metropolitan Opera ins Repertoire der klassischen Oper aufgenom-men wurde, hat sie im amerikanischen Musiktheater neue Maßstäbe gesetzt undden Grundstein zu einer amerikanischen Oper gelegt, auf dem sich Werke wieStreet Scene (1946) von Kurt Weill und West Side Story (1957) von LeonardBernstein entwickeln konnten.

George Enescu: Œdipe op. 23

Von Jörg Siepermann

Kompositionsdatum: ca. 1920 – 27. April 1931 (erste Skizzen ab 1910).Titel / Satzbezeichnungen: Œdipe, Tragédie lyrique in vier Akten und sechs Bildern op. 23,

Libretto von Edmond Fleg, Musik von George Enescu. Gewidmet Marie Rosetti-Tescani(Maria Cantacuzino).

Erstaufführung: 13. März 1936, Grand Opéra, Paris.Beteiligte Künstler: Jacques Ronche und Pierre Chereau (Inszenierung), André Boll (Bühnen-

bild), Philippe Gaubert (Dirigent), André Pernet (Œdipe).Erstdruck: 1934, Salabert, Paris (Klavierauszug von Henri Lauth); 1952, Salabert, Paris (Faksi-

mile der Partitur).Ersteinspielung: der rumänischen Fassung: 1964, Chor und Orchester der Rumänischen Oper

Bukarest, Mihai Brediceanu (Dirigent), David Ohanesian (Œdipe); der französischen Origi-nalfassung: 1989, Orfeon Donostiarra/Orchestre Philharmonique de Monte-Carlo, LawrenceFoster (Dirigent), José van Dam (Œdipe).

Immer dann, wenn Enescus einziges vollendetes Bühnenwerk außerhalb Rumä-niens aufgeführt wird, spalten sich die Rezensenten in zwei Lager. Die einen er-staunt die Erkenntnis, daß ein solch ungewöhnliches und einzigartiges Werk des20. Jahrhunderts in Vergessenheit geraten konnte, die anderen bescheinigen der

1 Hyman Sandow, Gershwin toWrite New Rhapsody, in: MusicalAmerica, 18. Februar 1928, S. 5.

2 Peyser 1993, S. 204.

George Enescu: Œdipe op. 23