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StudZR Klaus-Peter Schroeder::· Gerhard Anschütz (1867-1948) Lehenslinien eines deutschen Staatsrechtslehrers Abstract 1/2008 69 Zu den "Klassikern" der Verfassungskommentare zählt bis heute der Kommentar zur Weimarer Reichsverfassung ("Die Verfassung des Deut- schen Reichs vom 11. August 1919") aus der Feder des Heidelberger Staatsrechtslehrers Gerhard Anschütz, dessen letzte Auflage noch nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten im Frühjahr 1933 er- scheinen konnte. Obgleich die Weimarer Verfassung längst außer Kraft getreten ist, war sie doch Vorbild und Mahnung für die Autoren des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland von 1949. Musterhaft war auch die Haltung von Gerhard Anschiitz in den ersten Monaten der beginnenden Hitlerei, als er 1933 die persönlichen Konsequenzen vor dem Hintergrund der Zerschlagung der freiheitlich republikanischen Ordnung zog und um die Entpflichtung von seinem akademischen Lehramt bat. Skizzenhaft sollen in dem folgenden Beitrag die Lebenslinien und wissen- schaftlichen Leistungen jenes bemerkenswerten deutschen Rechtsgelehr- ten nachgezeichnet werden, der für die demokratischen Prinzipien der viel geschmähten Weimarer Republik jederzeit unerschrocken eintrat. ::- Der Verfasser ist Professor für Deutsche Rechtsgeschichte an der Juris- tischen Fakultät der Universität Heidelberg und Präsident der "Hei- delberger Rechtshistorischen Gesellschaft (HRG)". Von 1974 bis 2006 war er Chefredakteur der Zeitschrift "Juristische Schulung QuS)" in Frankfurt am Main.

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StudZR

Klaus-Peter Schroeder::·

Gerhard Anschütz (1867-1948) Lehenslinien eines deutschen Staatsrechtslehrers

Abstract

1/2008 69

Zu den "Klassikern" der Verfassungskommentare zählt bis heute der Kommentar zur Weimarer Reichsverfassung ("Die Verfassung des Deut-schen Reichs vom 11. August 1919") aus der Feder des Heidelberger Staatsrechtslehrers Gerhard Anschütz, dessen letzte Auflage noch nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten im Frühjahr 1933 er-scheinen konnte. Obgleich die Weimarer Verfassung längst außer Kraft getreten ist, war sie doch Vorbild und Mahnung für die Autoren des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland von 1949. Musterhaft war auch die Haltung von Gerhard Anschiitz in den ersten Monaten der beginnenden Hitlerei, als er 1933 die persönlichen Konsequenzen vor dem Hintergrund der Zerschlagung der freiheitlich republikanischen Ordnung zog und um die Entpflichtung von seinem akademischen Lehramt bat. Skizzenhaft sollen in dem folgenden Beitrag die Lebenslinien und wissen-schaftlichen Leistungen jenes bemerkenswerten deutschen Rechtsgelehr-ten nachgezeichnet werden, der für die demokratischen Prinzipien der viel geschmähten Weimarer Republik jederzeit unerschrocken eintrat.

::- Der Verfasser ist Professor für Deutsche Rechtsgeschichte an der Juris-tischen Fakultät der Universität Heidelberg und Präsident der "Hei-delberger Rechtshistorischen Gesellschaft (HRG)". Von 1974 bis 2006 war er Chefredakteur der Zeitschrift "Juristische Schulung QuS)" in Frankfurt am Main.

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I. Die Universität Beideiberg im Sommersemester des Jahres 1933

Als Illusion erwies sich die Hoffnung, dass die Heidclberger Universitättrotz aller Turbulenzen die Stürme der Zeit unversehrt überstehen würde, nachdem die Reichs-gründungsfeier im Januar 1933 noch ohne Zwischenfälle verlaufen war. 1 Der AStA befand sich seit den Wahlen zu Beginn jenes verhängnisvollen Jahres fest in der Hand des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes (NSDStß), an dessen Spitze der Medizinstudent Gustav AdolfScheel stand.

Mit Brachialgewalt versuchten Angehörige des NSDStß bereits die erste Sitzung der Juristischen Fakultät, welche in der Augustinergasse 9 tagte, nach der Machtergrei-fung Anfang des Sommersemesters 1933 zu sprengen; dies fiel ihnen umso leichter, als allen badischen Studenten Straffreiheit von sämtlichen Disziplinarmaßnahmen zugesichert worden war, die im Zusammenhang mit ihrem "Kampf in der vordersten Linie" standen.2 Die gewalttätigen Ausschreitungen und lautstarken Proteste der Studenten richteten sich insbesondere gegen den berühmten Romanisten Ernst Levy,

der im Wintersemester 1932 turnusgemäß für ein Jahr das Dekanat übernommen hatte. Einen Juden an der Spitze der Juristischen Fakultät wollte man nicht dulden. Levy, demangesichtsder studentischen Agitationen eine ordnungsgemäße Amtsfüh-rung unmöglich war, resignierte und verzichtete im Verlauf jener denkwürdigen Sit-zung auf das Dekanat. Gewählt wurde der Arbeitsrechtier Wilhelm Groh, von dem man als politisch rechts stehend keine Schwierigkeiten zu erwarten hatte.

Letztlich beschämend hilflos standen die Mitglieder der Juristenfakultät den provo-zierenden Aktionen und herabwürdigenden Diffamierungen der national-antisemi-tisch beeinflussten Studentenschaft gegenüber. Man diskutierte zwar über Einzel-heiten der Taktik, die dem studentischen Terror entgegengesetzt werden sollten. Niemand besaß aber den Mut, sich offen gegen die rechtsfeindliche Stimmung zur Wehr zu setzen. Einzig der bereits im 67. Lebensjahr stehende Staatsrechtslehrer Ger-

hard Anschiitz verkündete seinen Kollegen, dass er unter dem 31.3.1933 bei dem "Herrn Minister (Staatskommissar) des Kultus und Unterricht" um die vorzeitige Emeritierung nachgesucht habe.3 Mit ebenso deutlichen wie klaren Worten zog er seine persönlichen Konsequenzen vor dem Hintergrund des sich abzeichnenden Un-tergangs der freiheitlichen republikanischen Ordnung Weimars: "Mein Lehrauftrag erstreckt sich in erster Linie auf das Deutsche Staatsrecht. Dieses Fach stellt nach mei-ner von jeher bestätigten Überzeugung, für die ich die Zustimmung des Herrn Minis-ters erbitte, an den Dozenten Anforderungen, die nicht nur rechtswissenschaftlicher, sondern auch politischer Natur sind. Aufgabe des Staatsrechtslehrers ist nicht nur, die

Vgl. D. Mußgnug, Die Universität Beideiberg zu Beginn der nationalsozialistischen Herr-schaft, in: Doerr u. a. (I-Irsg.), Semper Apertus, Bd. 3, 1985, S. 464 ff. ( 467).

2 D. Mußgrmg (Fn. I), S. 464 ff. ( 479). 3 Diese Anrede in seinem Emeritierungsgesuch nimmt Bezug auf die gewaltsame Absctzung der

amtierenden Minister durch Reichskommissar Wagner am 11.3.1933. - Zu der Sitzung der Engeren f'akultät vom 31.3.1933 vgl. U nivcrsitätsarchiv Beideiberg (U AI-I), H- II -111/131.

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Studierenden die Kenntnis des deutschen Staatsrechts zu übermitteln, sondern auch, die Studierenden im Sinn und Geist der geltenden Staatsordnung zu erziehen. Hierzu ist ein hoher Grad innerlicher Verbundenheit des Dozenten mit der Staatsordnung nötig. Die mir obliegende Pflicht zur Aufrichtigkeit fordert von mir, zu bekennen, daß ich diese Verbundenheit mit dem jetzt im Werden begriffenen neuen deutschen Staatsrecht zur Zeit nicht aufbringen kann. Dabei will ich anerkennen, daß dieses neue Staatsrecht in einigen Punkten, wie insbesondere die unbedingte Überordnung des Reichs über die Länder und die tunliehst unitarische Gestaltung des Verhältnisses zwischen Reich und Ländern Ziele verfolgt, die ich auch meinerseits stets vertreten habe. Ich fühle mich aus den oben vorgetragenen Gründen verpflichtet, der Staatsre-gierung mein Amt zur Verfügung zu stellen, um ihr eine geeignete Neubesetzung zu ermöglichen."4 Nur zwei Wochen später, am 12.4.1933, beschloss das Staatsministe-rium, d. h. der Beauftragte des Reichs, "Geh. Hofrat Dr. Anschütz seinem Ansuchen entsprechend auf den 1. April 1933 von seinen Amtspflichten zu entbinden. "5 Seine Emcritieruugsbezi.ige wurden jedoch um ein Viertel gekürzt.

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Die Juristische Fakultät unter ihrem neuen Dekan Wilhclm Groh dankte Gcrhard Anschütz in einem ausführlichen Schreiben für die Verdienste, welche er sich um ihr hohes wissenschaftliches Ansehen in den Jahren seiner Zugehörigkeit erworben hatte. Auch der Rektor Willi Andreas verabschiedete ihn "mit tiefer Bewegung" und fügte hinzu: "Der Engere Senat muss die Grösse Ihres freien Entschlusses und die Gewichtigkeit Ihrer Gründe anerkennen." Wie stark sich Anschiitz aber seiner Fa-kultät weiterhin verbunden wusste, dokumentieren die Zeilen eines Schreibens an Dekan Engisch anlässlich dessen Gratulation zu seinem 70. Geburtstag unter dem 14.1.193 7: "Möge das hohe wissenschaftliche Ansehen, das unsere Fakultät seit jeher genossen hat,- möge der Geist kollegialischer, kameradschaftlicher Eintracht, der bei uns stets, soweit ich zurückdenken kann, geherrscht hat,- möge Beides immerdar er-halten bleiben! Das ist mein tiefgefühlter Wunsch, mein Glückwunsch in Erwide-rung des Ihrigen. Der Einzelne vergeht, die Gemeinschaft besteht!".7

II. Stationen einer akademischen Karriere

Seit dem Sommersemester 1900 hatte Anschiitz der berühmten Heidclberger Juris-tenfakultät angehört; in Heidelberg blieb er, mit Ausnahme der Jahre 1908-1916, bis an sein Lebensende. Geboren wurde Gerhard Anschiitz am 10.1.1867 als Sohn von August Anschiitz, Professor des Deutschen Rechts an der Universität Halle und seit

4 Zit. nach Anschiitz, Aus meinem Leben (herausgegeben und eingeleitet von Pauly), 1993, S. 328 f.; vgl. in diesem Zusammenhang auch den konzisen Artikel von Laufs, Anschütz, Ger-hard, in: Ottnad (Hrsg.), Badische Biographien, Neue Folge, Bd. 3, 1990, S. 6 ff.

5 UAH, PA 735. 6 Abgelehnt hatte das Ministerium die Forderung der Studentenschaft, sein Ruhegehalt gänz-

lich zu streichen, vgl. D. Mttßgnug, Die Juristische Fakultät, in: Eckart/Sellin/Wolgast

(Hrsg.), Die Universität Beideiberg im Nationalsozialismus, 2006. S. 261 ff. (262). 7 UAH, PA 735.

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1864 Herausgeber des "Archivs für die civilistische Praxis". Nach dem Abitur stu-dierte er Rechtswissenschaften in Leipzig, an dessen Hoher Schule ihn unter den großen Persönlichkeiten der glänzend besetzten Juristenfakultät insbesondere Kar!

Binding als Lehrer beeindruckte. Nur wenige Semester studierte er auch an derbe-rühmten Berliner Friedrich-Wilhclm-Universität, dann führte ihn der Weg wieder in die Heimatstadt zurück, wo er als 22jähriger das Erste Staatsexamen ablegte; 1894 bestand er das Zweite Staatsexamen mit der Note "gut". Schon am 10.1.1891 war Gerhard Anschiitz bei Edgar Loening in Halle mit einer Aufsehen erregenden Dis-sertation "Kritische Studien zum Begriff des Rechtssatzes und des materiellen Geis-tes" promoviert worden. Gegenstand der konzisen Abhandlung ist das heftig um-strittene Problem des Umfangs der parlamentarischen Mitwirkung beim Erlass von Staatswillensakten; konkret geht es um nichts weniger als die von Anschiitz bestritte-ne Befugnis der Regierung zum selbstständigen Erlass von Rcchtsverordnungen.8

Die sich entspinnende Kontroverse, die mit einer weiteren Schrift von Anschütz über "Die gegenwärtigen Theorien über den Begriff der gesetzgebenden Gewalt und den Umfang des Königlichen Verordnungsrechts nach Preußischem Staatsrecht"9 einen neuen Höhepunkt fand, berührte letztlich die Eckpfeiler der preußischen Verfassung und bezog hieraus ihre Brisanz.10 Die kontrovers diskutierte Abhandlung basierte auf seinem Habilitationsvortrag, den er 1896 vor den ordentlichen Professoren der Berliner Juristischen Fakultät in der Privatwohnung des damaligen Dekans, des Rechtshistorikers Heinrich Brunner, gehalten hatte. Mit seiner eigentlichen Habilita-tionsschrift griff er ein bis auf den heutigen Tag aktuelles Thema auf: "Der Ersatzan-spruch aus Vermögensbeschädigung durch rechtmäßige Handhabung der Staatsge-walt- drei öffentlich-rechtliche Studien" .11 In den Kreisen der Staatsrechtslehrer war man nun aufmerksam geworden auf jenen jungen Berliner Privatdozenten und seine außergewöhnlichen Abhandlungen, die gleichfalls überaus sorgfältig den histori-schen Entwicklungen der jeweiligen Thematik nachspürten. Er selbst sah sich nicht nur als Staatsrechtslehrer, sondern gleichrangig daneben als Verwaltungsrechtler;12

untermauert wurde dieser Anspruch mit einer großen Anzahl verwaltungsrecht-licher Arbeiten, unter denen die Studie "Allgemeine Begriffe und Lehren des Verwal-tungsrechts nach der Rechtsprechung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts" einen besonderen Rang einnimmt. 13

8 Vgl. Pauly, in: Anschütz (Fn. 4), S. XV. 9 1. Auf!. 1900, 2. Auf!. 1901.

10 Ausführlich zu dieser Problematik Forsthoff, Gerhard Anschütz, in: Doerr u. a. (Hrsg.), Semper Apertus, Bd. 3, S. 175 (176 ff.); Pauly, in: Anschütz (Fn. 4), S. XV ff.

11 Veröffentlicht im VerwArch 5 (1897), S. 1-136. Zu dieser Abhandlung Pauly, in: Anschiitz (Fn. 4), S. XXI ff.

12 Vgl. in diesem Zusammenhang Ule, Gerhard Anschütz. Ein liberaler Staatsrechtslehrer des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, Der Staat 33 (1994), S.104 (106f.).

13 In: Preussische Verwaltungsblätter 22 (1900/1901), S. 83- 90; vgl. ebenso in diesem Zusam-menhang seine Studie "Die im Jahre 1897 veröffentlichte Rechtsprechung des Königlich Preußischen Obervcrwaltungsgerichts", publiziert in Vcrw Arch 6 (1898), S. 593-649.

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111. Die ersten Heidelberger Jahre

Schon drei Jahre nach seiner Habilitation führte ihn der erste Ruf an die Karls-Eber-hard-Universität zu Tübingen, die er aber rasch wieder verließ, als ihm die Heidcl-berger Fakultät die Nachfolge auf den Lehrstuhl des Ende Februar 1900 im Alter von nicht einmal 60 Jahren plötzlich verstorbenen Georg Meyer anbot. In der "Aller-höchsten Staatsministerial-Entschließung" vom 30.7.1900 wird ausgeführt: "Seine Königliche Hoheit, der Großherzog habe ... gnädigst geruht, den Professor Dr. Ger-hard Anschütz an der Universität Tübingen zum ordentlichen Professor der deut-schen Staats- und Rechtsgeschichte und des deutschen Reichs- und Landesstaats-rechts einschließlich des Verwaltungsrechts und der Polizeiwissenschaft, sowie des Kirchenrechts an der Universität Heidelberg zu ernennen, demselben einen Tag vor Dienstantritt beginnenden Gehalt von jährlich 6000 Mk ... zu bewilligen." 14

Beideiberg sollte ihm zur zweiten Heimat werden. Rasch lebte er sich in die akademi-sche Geselligkeit der Neckarstadt ein, die ihm vielerlei Anregungen in den freund-schaftlichen Begegnungen mit dem Historiker Erich Marcks und dem Pharmakologen Rudolf Gottlieb vermittelte. 15 Von seinen Heidelberger Fakultätskollegen, die durch-weg eine Reihe von Jahren älter waren als er, galt- neben dem Strafrechtslehrer Karl

von Lilienthal- seine größte Hochachtung Georg ]ellinek. Äusserst positiv hatte sich jellinek bereits zu der Doktorarbeit von Anschiitz geäußert und ihm eine splendide Zukunft als Rechtslehrer prophezeit. Er war es auch gewesen, welcher die Berufung von Anschütz nach Heidelberg kraftvoll unterstützt hatte, kannte er doch aus eigener Anschauung das geistige Potenzial und die reichen Anlagen des jungen Tübinger Pro-fessors. ]ellinek konnte sich niemand anders als eben Anschiitz als würdigen N achfol-ger seines so unerwartet verstorbenen, eng ihm freundschaftlich verbundenen Georg

Meyer vorstellen. 16 Ohne zu zögern übernahm Anschiitz auch die Bearbeitung des be-rühmten "Lehrbuch(s) des Deutschen Staatsrechts" aus der Feder seines Vorgängers, das 1905 in sechster Auflage erschien. 0 hnehin wusste er sich Georg M eyer, einem der angesehensten Rechtsgelehrten, methodisch eng verbunden. 17 Wie Georg M eyer

fühlte sich auch Anschiitz dem geltenden positiven Recht verpflichtet; offen äußerte er seine Abneigung gegenüber jeglichen metaphysischen Erörterungen, insbesondere politischen Optionen und sozialethischen Kalkülen. 18 Nach seinem eigenen Bekun-den bekannte er sich zu einem historisch-positivistischen Rechtsverständnis, dessen wesentlichen Merkmale strikte Orientierung am vorgegebenen, staatlich gesetzten Recht bei strikter individueller Wertungsaskese sind.19 Das positive Gesetz bildete für ihn die zentrale Grundlage einer wortlautorientierten und das historisch gewachsene Recht einbeziehenden Rechtsbetrachtung.20 Geschichtliche Rückblicke sind bei An-

14 UAH, PA 3133 15 Anschiitz (Fn. 4 ), S. 79 f. 16 Vgl. Anschütz (Fn. 4), S. 75 f. 17 S. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2, 1992, S. 351 ff. 18 Vgl. nur Forsthoff(Fn.10), S. 177. 19 Im einzelnen Dreier, Ein Staatsrechtslehrer in Zeiten des Umbruchs: Gerhard Anschiitz

(1867-1948), ZNR 20 (1998), 5.28 (34ff.). 20 Dreier (Fn. 19), S. 36; Stalleis (Fn. 17), S. 353.

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schütz aber kein Selbstzweck, sondern dienen ausschließlich einem nachhaltigen Ver-ständnis der jeweiligen Norm. Vor diesem Hintergrund übernahm er die Darstellung des deutschen Staatsrechts im vierten Band der Holtzendorff-Kohlerschen Enzyklo-pädie der Rechtswissenschaften,21 die wegen ihrer Konzentration auf das Wesentliche, der transparenten Systematik und der klaren Diktion als ein "Meisterstück" gelobt wurde.22 Ebenso genial sein glänzender, aber unvollendet gebliebener "Kommentar für Wissenschaft und Praxis" zu der Verfassungsurkunde für den PrcuEisehcn Staat vom 31.1.1851.23 Präzise Information, knappe Darstellung des Sach- und Meinungs-standes, klare Diktion und argumentative Hinführung zu praxisnahen Ergebnissen zeichnen diesen wissenschaftlichen Verfassungskommentar aus, mit dem gleichzeitig eine neue Literaturgattung begründet wurde: "Es gibt Ereignisse in der Geschichte der Wissenschaft, die neue Maßstäbe, Dimensionen oder Weisen der Beurteilung set-zen, hinter die man nicht mehr zurückgehen kann. Der Kommentar von Anschütz aus dem Jahr 1912 ist ein solches Ereignis. "2

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IV. Ein Intermezzo in Berlin- Die Rückkehr nach Heidelberg

Niedergeschrieben wurde der auf diese Weise gerühmte Kommentar in der Haupt-stadt des Deutschen Reiches, in Berlin. 1908 hatte er den ehrenvollen Ruf an die Ber-liner Friedrich-Wilhelm-Universität angenommen und war in die Reichshauptstadt übergesiedelt.25 Hier fehlte ihm aber, der im Großherzogtum Baden heimisch gewor-den war, das in der bürgerlichen Gesellschaft Süddeutschlands so ausgeprägte liberale Moment. Nach eigenem, sympathisch anmutenden Bekunden stellte sich bei ihm in der turbulenten Metropole des deutschen Kaiserreichs "bitteres Heimweh" ein, so dass er gerne den Rückruf nach Beideiberg annahm. Frei geworden war im Jahr 1915 durch den Weggang Fritz Fleiners in seine schweizerischen Heimat- er folgte einem Ruf an die Universität Zürich26

- wieder der Lehrstuhl, den Anschütz 1908 verlassen hatte. Mit freundlicher Verbindlichkeit und vornehmer Noblesse hatte sich insbe-sondere Richard Thoma, seit 1911 Inhaber eines weiteren Lehrstuhls für öffentliches Recht an der Ruperto-Carola, für ihn eingesetztY Einhellig sprach sich dann auch die Fakultät, nachdem die nicht unerheblichen Zweifel einzelner Kollegen an einer Rückkehr von Anschütz nach Beideiberg ausgeräumt waren, für die erneute Beru-fung von Gerharcl Anschiitz aus. 28 Unter dem 24.12.1915 teilte ihm das Karlsruher

21 J: v. Holtzendorff-]. Kahler, Enzyklopädie der Rechtswissenschaft, Bd. IV, 1914, S. 1-192. 22 Forsthoff (Fn. 1 0), S. 178. 23 Bd. 1, 1912, 643 S. 24 Forsthoff (Fn. 10), S. 179; Friedrich, Geschichte der deutschen Staatsrcchtswissenschaft,

1997, s. 338. 25 Unter dem 22.4.1908 teilte Anschiitz dem Prorektor der Rupcrro-Carola mit, "daß ich eine

Berufung nach Bcrlin als ordentlicher Professor des Staats- und Verwaltungsrechts zum Herbst d. J. erhalten und angenommen habe." (UAH, PA 3133).

2(, Vgl. R. Müller, Verwaltungsrecht als Wissenschaft- Fritz Fleiner 1867-1937, 2006, S. 19 ff. 27 Anschiitz (Fn. 4 ), S. 173 f. 28 Vgl. das Dankesschreiben vom 27.11.1915 an Thoma (UAH, PA 735).

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Kultusministerium mit, dass er mit Wirkung vom 1.10.1916 "unter Verleihung des Titels Geheimer Hofrat zum ordentlichen Professor des öffentlichen Rechts "bei einem Gehalt in Höhe von 9400 M. jährlich" ernannt worden sei.29 Sein Lehrgebiet umfasste die alten Fächer; nach dem Tode des Rechtshistorikers Richard Schroeder

im Jahr 1917 vertrat Anschiitz im Rahmen eines Lehrauftrags gleichfalls das Fach Deutsche Rechtsgeschichte.30 Einbußen finanzieller Natur nahm Anschiitz klaglos hin, denn er wusste, dass das bescheidene Großherzogtum Baden ihm nicht das bieten konnte, was Preussen seinen Universitätslehrern an der angesehensten Hoch-schule des Reiches an Salär zur Verfügung stellte. Hinzu kamen ebenso noch erheb-liche Einbußen an Kolleggeldern. Freilich übertrafen die Einnahmen an Promotions-gebühren an der Ruperto-Carola die in Berlin um ein Vielfaches und boten einen geringfügigen Ausgleich.31 Aber Anschiitz war bereit, alldiese Einschränkungen und finanziellen Verluste hinzunehmen, um nur nach Heidelberg zurückkehren zu kön-nen. Angelangt in seinem am Ncckar gelegenen - während der gesamten Berliner Jahre beibehaltenen- Haus32 durchschritt er die Zimmer "eines nach dem anderen, in wacher Erinnerung und stiller Selbstbesinnung, mit einem unschildcrbaren Gefi.ih\ von Wiedersehensfreude, Zugehörigkeit, Verbundenheit." 33 In dem Dankschreiben an den Prorektor der Universität spricht Anschiitz noch einmal seine Empfindungen aus: "Möge meine Rückkehr, die ich in jedem Sinn als Heimkehr empfinde, niemand enttäuschen, möge es mir vergönnt sein, das hohe Vertrauen, das die Großherzog-liehe Regierung und die Fakultät mir entgegenbringen, zu rechtfertigen." 34

V. Die Heidelberger Juristenfakultät

Manchem alten Fakultätskollegen aus den früheren Jahren begegnete Anschiitz bei der Ankunft in seiner alten wissenschaftliche Heimstatt wieder: Kar! von Lilienthal,

Karl Heirzsheimer und Friedrich Endemann. Verstorben waren Immanuel Bekker, dessen Lehrstuhl man seinem Schüler Otto Gradenwitz übertrug, und Georg ]elli-

nek. Nachfolger des Rechtshistorikers Richard Schroeder, welcher 1917 verstarb, wurde noch im gleichen Jahr der Schweizer Rechtsgelehrte Hans Fehr, der 1924 aber einem Ruf nach Bern folgte. Ersetzt wurde er durch den jungen Rechtshistoriker Heinrich Mitteis, welcher aus Köln kam. Nachfolger des gleichfalls 1924 emeritierten Kar! von Lilienthais wurde der Strafrechtslehrer Alexander von Dohna-Schlodien,

der 1919/20 als Abgeordneter der Verfassungsgebenden Nationalversammlung in Weimar angehört hatte. Sein Lehrstuhl wurde 1926 dem in Heidelberg bei Kar! von

29 UAH, PA 3133. 30 Späterhin wurde diese Lehrveranstaltung Professor Dr. Eberhard von Kiinßberg, Leiter des

"Deutschen Rechtswörtcrbuchs", übertragen. 31 "Juristische Doktorprüfungen waren zu meiner Zeit in Berlin eine Seltenheit .... Der Grund

dieser ... Erscheinung lag darin, daß die von der Fakultät an die Prüfungskandidaten gestell-ten Anforderungen außerordentlich hoch waren." (Anschiitz [Fn. 4], S. 137).

32 Ziegelhäuser Landstrasse 35. 33 Arzschütz (Fn. 4), S. 176. 34 Unter dem 31.8.1915 (UAH, PA 3133).

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Lilienthai habilitierten Gttstav Radbruch übertragen, der in den Jahren 1921122 und von August bis November 1923 als Reichsjustizminister in den Kabinetten ]oseph

Wirthund Gustav Stresemann geamtet hatte. Es war eine glänzend besetzte Fakultät, welche den Vergleich mit keiner anderen im Deutschen Reich scheuen musste. We-sentlich unterschied sie sich aber von den übrigen Schwesterfakultäten durch ihre ausgesprochen liberale Grundposition nach dem Untergang des Kaiserreichs in der für Deutschland so schwierigen Epoche der Weimarer Republik. Während viele Professoren, verbittert und radikalisert durch den Kriegsverlauf, keine Bereitschaft erkennen ließen, die durch die "Novemberrevolution" und durch das "Versailler Diktat" geschaffenen Realitäten zu akzeptieren, stellte sich der Großteil der Heidel-berger Rechtsgelehrten auf den Boden des Weimarer Staates. Im Rahmen ihrer Mög-lichkeiten versuchten sie, nach dem Umsturz der alten monarchischen Ordnung der Weimarer Demokratie und ihrer Verfassung zu dienen. Anschütz, von dem schon 1915 das preußische Dreiklassenwahlrecht als ungerechtes Recht anprangert worden war, hatte sich in einem allmählichen Wandel seiner politischen Grundpositionen zu einem nationalen und liberalen Demokraten entwickelt.35 Vergebens bemühte sich aber Hugo Preuß, ihn 1919 als Leiter der Verfassungsangelegenheiten innerhalb des Reichsinnenministeriums zu gewinnen;36 Anschütz war nicht bereit, seine erst kürz-lich wieder erlangte Heidelberger Professur gegen das Berliner Amt einzutauschen.

VI. Ein Demokrat in einer Demokratie ohne Demokraten

1922 wählte ihn der Große Senat der Ruperto-Carola für ein Jahr zu ihrem Rektor. Seine viel beachtete Rektoratsrede "Drei Leitgedanken der Weimarer Verfassung", ein Jahr später zum Druck befördert, missfiel weiten Kreisen der Studentenschaft, die mit Fußscharren die Thesen von Anschiitz quittierten; offene Tumttlte konnten noch verhindert werden. Ablehnend stand man insbesondere der von ihm propa-gierten Synthese von Demokratie und Nationalismus gegenüber: "Die Demokratie, fast noch mehr das Wort als die Sache, wirkte auf das Bürgertum und seine Söhne ... wie das rote Tuch auf den Stier. "37 Es sollte sich noch verhängnisvoll auswirken, dass in der Bevölkerung und ihrer studierenden Jugend die Weimarer Konstitution als die Verfassung des bürgerlichen Staates mit ihren Leitgedanken der Demokratie, des Liberalismus und der parlamentarischen Regierungsweise keine Wurzeln schlagen konnte. Vorbereitet war damit der Boden für die Partei, welche den Umsturz des Weimarer Verfassungssystems als ihr erklärtes Ziel propagierte. Anschütz jedoch be-gleitete mit innerer Anteilnahme den bewegten Gang der Verfassung in den Jahren ihres Bestehens mit seiner Kommentierung, deren vierte und letzte Bearbeitung als 14. Auflage im Frühjahr 1933- kurz nach der Machtergreifung durch die National-sozialisten - erschien: "Dieses Werk war in spezifischer Weise dem rechtswissen-

35 Vgl. insb. Böckenförde, Gerhard Anschütz 1867-1948, in: Dörr u. a. (Fn. 1), S. 167 (172 f.). 36 Zu 1-!ugo Preuß und dem Prozess der Verfassungsgebung s. Stolleis, Geschichte des öffent-

lichen Rechts in Deutschland, Bd. 3, 1999, S. 80 ff. 37 Anschiitz (Fn. 4), S. 279.

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schaftliehen Positivismus zugeordnet, der das juristische Denken der Zeit bestimm-te und in dem allgemeinwissenschaftlichen Positivismus und den geistigen Anschau-ungen, die auch und gerade die Universität Beideiberg zu dieser Zeit prägten, seinen Rückhalt fand. "38 In großer Klarheit und mit überzeugender Systematik stellte er schon in der ersten, 1921 publizierten Auflage das Gerüst der Weimarer Verfassung dar. 39 Ihm ging es einzig und allein um die wissenschaftliche Erschließung der neuen Verfassungsordnung, für deren demokratisch-republikanischen Grundlagen er vor-behaltlos eintrat. Die zahlreichen Streitfragen wurden von ihm komprimiert heraus-gearbeitet und einer überzeugenden, von souveräner Stoffbeherrschung zeugenden Lösung zugeführt, ohne abweichende Auffassungen zu diskreditieren oder zu über-gehen. Detailliert - und unter Verzicht auf jegliche Polemik - setzte er sich mit abweichenden Meinungen in Literatur und Rechtsprechung auf hohem wissen-schaftlichem Niveau auseinander.4° Kategorisch lehnte er aber jegliche Berücksichti-gung rechtspolitischer Erwägungen bei der Interpretation der Verfassungsbestim-mungen wie auch bei den großen Auseinandersetzungen der Weimarer Zeit über die Bedeutung des richterlichen Prüfungsrechts, des Gleichheitsgrundsatzes und über die Grenzen der Verfassungsänderung ab.

Sein Kommentar "Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919", der trotz der zahlreichen Neuauflagen das handliche Format eines einbändigen Werkes beibehielt, avancierte rasch zu dem "Klassiker" innerhalb der Kommentarliteratur. Welche hohe Wertschätzung der Kommentar in ganz Deutschland genoß, zeigt bei-spielhaft ein scheinbar unbedeutender Vorgang innerhalb der Heidelberger Fakultät Ende der zwanziger Jahre auf: Als Anschiitz um ein Forschungssemester nachsuchte, schrieb Walter jellinek in seiner Eigenschaft als Dekan an das Karlsruher Kultusminis-terium unter dem 1.5.1930: "Beiliegendes Gesuch des Geheimen Justiz-Rats Professor Dr. Anschütz auf Gewährung eines Urlaubs für das Winterhalbjahr 1930/31 befürwor-tet die Fakultät wärmstens. Der Anschützsche Kommentar zur Reichsverfassung ist ein nationales Werk, dessen Fortführung im Interesse ganz Deutschlands liegt."41

Wie auch die Weimarer Verfassung, der Gegenstand seines Kommentars, durch die politischen Ereignissen der Jahre nach 1933 zerstört wurde, so traf ebenso das ge-meinsam mit Richard Thoma von ihm herausgegebene "Handbuch des Deutschen Staatsrecht" die Ungunst der Bedingungen.42 Publiziert wurde das zwei Bände um-fassende Werk in den Turbulenzen der Präsidialdiktaturen Brünings und Papens.43

Obgleich es nicht mehr die Verfassungswirklichkeit jener unruhigen Jahre der er-löschenden Weimarer Zeit widerspiegelt, erwarb es rasch den Rang eines Standard-werks zum Staatsrecht der Weimarer Republik und ihrer Länder. Zu dem überragen-den Erfolg, der noch in der Diskussion über die Verfassung der Bundesrepublik

38 So treffend Böckenförde (Fn. 35), S. 167. 39 Vgl. Ule (Fn. 12), S. 104 ff. 40 Vgl. nur Stalleis (Fn. 36), S. 96 f.; Dreier (Fn. 19), S. 30 ff. 41 UAH, PA 735. 42 Zu diesem Handbuch vgl. Stalleis (Fn. 36), S. 99 f. 43 1930/32.

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Deutschland weiterwirkte, trugen die zahlreichen, an dem zweibändigen Handbuch mitarbeitenden Vertreter des Faches bei. Aus der Feder von Anschiitz stammt der einführende historische Abriss über die Verfassungsbewegung des 19.Jahrhunderts und des Norddeutschen Bundes; in weiteren Beiträgen widmet er sich u. a. der Reichsaufsicht, der Reichsexekution und der Religionsfreiheit. Sein Fakultätskollege Gustav Radbruch ist mit einer Abhandlung über die politischen Parteien in dem Buch vertreten.

VII. Richard Thoma - Freund und Weggefährte

NebenAnschütz firmierte als weiterer Herausgeber des Gemeinschaftswerks - ge-rühmt als die "beste redaktionelle Kollektivarbeit der deutschen Rechtswissen-schaft" (Hermarm Mosler)- Richard Thoma, dem er sich nicht allein freundschaft-lich, sondern auch wissenschaftlich und polirisch verbunden wusste.44 Wesentlich Thomas Engagement war die Rückberufung von Gerhard Anschiitz nach Heidclbcrg zu verdanken: "Er ist mir, dem nach Heidelberg Zurückgekehrten, ein wertvoller Fachgenosse und bald auch ein lieber Freund geworden, mit dem ich 12 Jahre lang-er ging im Jahre 1928 von Heidclberg nach Bonn- in mir unvergesslicher Weise zu-sammengearbeitet habe." 45 1911 hatte Thoma, nach- einem kurzen Zwischenspiel am Hamburger Kolonial-Institut und an der Ti.ibinger Hohen Schule- den Ruf an die Ruperto-Carola als Nachfolger des hoch angesehenen, allzu früh verstorbenen Georg Jellinek angenommen.46 Sein Lehrgebiet umfasste Allgemeine Staatslehre, Staats- und Verwaltungsrecht sowie Völkerrecht. Gleich Anschütz trat auch Thoma

als einer der wenigen Demokraten in der "Demokratie ohne Demokraten" vorbe-haltlos für den neuen Staat ein und bemühte sich, dessen Lebensfähigkeit und At-traktivität durch verfassungspolitische Verbesserungsvorschläge zu erhalten. Beide betrachteten als Anhänger eines demokratischen Nationalstaatsgedankens den neuen Weimarer Staat als die Wiedergeburt der Nation durch die demokratische Neugestal-tung Deutschlands. In der DDP, der Deutschen Demokratischen Partei, fand das liberal-demokratische Denken der Weimarer Zeit seinen parteipolitischen Zusam-menhalt. Zu den "Mitgliedern der ersten Stunde" gehörten auch Anschütz und Tho-ma, die in dieser Partei ihre politische Heimat fanden. Während aber Anschütz sich ihr lediglich "gesinnungsmäßig" verbunden wußte, beteiligte sich Thoma aktiv an der Parteiarbeit.47 Wesentlich getragen wurde die DDP als "fruchtbarer demokrati-scher Neubeginn des Liberalismus"48 von einem Freundes- und Gesinnungskreis, dessen Mittelpunkt eine nicht geringe Anzahl jüngerer und älterer Hochschullehrer

44 Vgl. Friedrich (Fn. 24), 5. 339 f. 45 Anschütz (Fn. 4), S. 171. 46 S. Rath, Positivismus und Demokratie- Richard Thoma 1874-1957, 1981, 5. 21 ff. 47 Vgl. Anschütz (Fn. 4), S. 180. 48 So Albertin, Liberalismus und Demokratie am Anfang der Weimarer Republik. Eine verglei-

chende Analyse der Deutschen Demokratischen Partei und der Deutschen Volkspartei, 1972, s. 29.

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an der Heidelberger Universität bildete. Zu nennen sind die Namen von Max und Alfred Weber, die unmittelbar an der Gründung der Partei beteiligt waren, der Histo-riker H ermctnn Oncken wie auch der Theologe Ernst Troeltsch. Ihr Kern bildete aber die demokratische Professorengruppe der Heidclberger Juristischen Fakultät, zu der gleichfalls der Zivilist Kar! H einsheimer, Alexander Graf ztt Dohna und die Ende der zwanziger Jahre nach Hcidelberg berufenen Rechtslehrer Gttstav Radbmch, Walter

jellinek und Max Gutzwiller zählten. So verwundert es nicht, dass gleichfalls an der Begründung des Weimarer Kreises verfassungstreucr Hochschullehrer Heidelberger Professoren führend beteiligt waren.49 Mit aller Entschlossenheit bekannten sie sich als "staatsbcwußte Vorhut des gesamten deutschen Staatsvolks" zur ncuen Staats-form der Weimarer Republik.50 In dieser "akademischen Hochburg des neuen Deutschland" verharrten die Anhänger der Rechtsparteien am Rand des spezifischen politischen Spektrums Heidelbergs.51 Carl Zuckmayer, welcher als Student der Germanistik in diesen Jahren an der Ruperto-Carola studierte, beschrieb die Heidel-berger Hohe Schule in seinen Memoiren als die "fortschrittlichste und geistig an-spruchvollste Universität Deutschlands". Aber nicht allein die Gleichartigkeit der politischen Gesinnung verband Anschiitz mit Thoma, sondern ebenso das wissen-schaftlichen Selbstverständnis: Zentrale Grundlage ihrer Rechtsbetrachtung bildete das positive Gesetz als Ausdruck des Staatswillens.52 Beide lehnten jegliches Natur-recht, von ihnen als "Wunschrecht" bezeichnet, kategorisch ab. Weltanschaulicher Positivismus verbanden sich bei Thoma und Anschiitz mit einer liberaldemokrati-schen Grundhaltung. Unmöglich war es daher für sie, die revolutionäre Umgestal-tung der Rechtsordnung entsprechend den nationalsozialistischen Vorstellungen auf der Basis eines konsequenten Rechtspositivismus durchzuführen. 53 Rasse, Volksgeist und Führerwille als dem Gesetz überlegene Rechtsquellen waren mit dem von Thoma und Anschiitz vertretenen Rechtspositivismus nicht vereinbar.

Trotz vielfältiger Übereinstimmung blieb für den langjährigen wissenschaftlichen Weggefährten Richard Thomct, der 1928 den Ruf an die Universität Bonn angenom-men hatte, das Gesuch seines erheblich älteren Freundes Gerhard Arzschiitz um Emeritierung im Frühjahr 1933 nur schwer nachvollziehbar. Thoma selbst behielt seinen Lehrstuhl während der gesamten Zeit der nationalsozialistischen Diktatur bei, verlagerte seine Vorlesungen und wissenschaftliche Tätigkeit aber auf das poli-tisch unauffälligere Gebiet des Verwaltungsrechts.54 In einen an Anschiitz gerich-teten Brief rechtfertigte er sein Verhalten, beschuldigte ihn aber gleichzeitig der "unbedachten Rücksichtslosigkeit gegenüber jüngeren (zum Teil nicht einmal ruhe-gehaltsberechtigte) Kollegcn." 55 Anschiitz jedoch konnte und wollte sich nicht mit

49 Vgl. Döring, Der Weimarer Kreis- Studien zum politischen Bewu!hsein Verfassungstreuer Hochschullehrer in der Weimarer Republik, 1975, S. 82 ff.

50 Schustereit, Linksliberalismus und Sozialdemokratie in der Weimarer Republik, 1975, S. 195. 51 Zit. nach Wolgast, Die Universität Beideiberg 1386-1986, 1986, S.127. 52 Vgl. nur Dreier (Fn. 19), S. 36 ff.; Forsthoff (Fn. 10), S. 183 f. 53 S. insb. Franssen, Positivismus als juristische Strategie, JZ 1969, S. 766 ff. (768). 54 Vgl. Rath (Fn. 46), S. 25 f. 55 V gl. l'auly, in: Anschiitz (Fn. 4 ), S. XLII i. V. mit Fußn. 150.

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den neuen Machthabern arrangieren; er scheute sich nicht, die Inhaftierung der so-zialdemokratischen Reichstagsabgeordneten öffentlich als rechtswidrig zu bezeich-nen:56 "Aber für ihn, den Nestor der deutschen Staatsrechtswissenschaft, konnte es in dieser Zeit kein Wirken geben. Das fühlte er mit sicherem Instinkt, dass sein Werk bleiben musste, wie es war." 57

VIII. Die Jahre der Hitlerei

Weiterhin bildete für Anschiitz aber die Heidclberger Ruperto-Carola "eine commu-nio omnis vitae, die nur mit meinem Leben erlöschen wird." 58 Auch nach seinem Aufsehen erregenden Schritt verzichtete die Fakultät keineswegs auf den Rat von Anschiitz, der während seiner zweiten Heidclberger Periode dreimal die Dekanatsge-schäfte geführt und einmal als Rektor der Alma Mater in schwierigen Zeiten geamtet hatte ( 1922/23 ).59

Man beschloss in der Sitzung vom 24.5.1933, ihn bei der Regelung der Nachfolge auf seinem Lehrstuhl zu konsultieren.60 Gänzlich einverstanden erklärte sich denn auch Anschiitz mit der am 19.6.1933 erstellten Berufungsliste, über die ihn Walter Jellinek

als Dekan informierte. Außergewöhnlich an dieser Liste war, dass vor dem traditio-nellen Dreiervorschlag Carl Schmitt (Köln) angeführt wurde, erst danach folgten Otto Koellretttter Qena), ]ohannes Hecke! (Bonn) und Arnold Koettgen (Greifs-wald).61 Anschütz bemerkte dazu: "Ob man C. Schmitt formell vorschlagen, oder ihn nur nennen will, um ihn gleichzeitig als nicht erreichbar zu bezeichnen, ist eine takti-sche Frage, zu der ich nicht Stellung nehmen möchte. Schlägt man ihn vor, so dürfte ihm die erste Stelle gebühren. "62Aber die Liste "platzte", da alle drei den Ruf nach Heidelberg ablehnten. Nicht mehr beteiligt war dann aber Anschiitz bei den nachfol-genden Schwierigkeiten und Querelen um eine angemessene personelle Besetzung seines Lehrstuhls. Die neue Vorschlagsliste, welche Rektor Groh am 12.11.1934 dem Unterrichtsministerium unterbreitete, nannte an erster Stelle Carl Bi/finger (Halle), es folgten die Professoren Schönborn (Kiel) und Ritterbusch von der Universität Breslau. Sie fand aber nicht die Billigung des Rektors und des badischen Unterrichtsministeri-ums, welche den Privatdozenten Reinhard Höhn favorisierten. Er hatte sich im Som-mersemester 1934 mit einer von Heinrich Mitteis äußerst kritisch beurteilten Schrift

56 S. hierzu Vezina, "Die Gleichschaltung" der Universität Heidelberg im Zuge der nationalso-zialistischen Machtergreifung, 1982, S. 49.

57 So sein ehemaliger Fakultätskollege Eugen Ulmerinder am 19.4.1948 gehaltenen Trauerrede (zit. nach Pauly, in: Anschütz [Fn. 4], S. XLI Fufln. 146).

58 In einem Brief an den Rektor Willy Andreas drei Tage nach seinem Emeritierungsgesuch (zit. nach Pauly, in: Anschütz [o. Fn. 4], S. XLI Fufln. 146).

59 Aaü. (Fn.4), 5.271; nach Drüll, Heidelberger Gelehrtenlexikon 1803-1932, 1986, S.4 nur zweimal.

60 UAH, I-I- II- 111/131.- Ausführlich zu der Besetzung des früheren Lehrstuhls von An-schütz die Studie von Vezina (Fn. 56), S. 125 ff.

61 Vgl. D. Mußgnug (Fn. 6), S. 267 ff. 62 UAH, I-I-Il-563/3.- Zit. nach D. Mußgnug (Fn. 6), S. 268 i. V. mit Fufln. 67.

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"Der individualistische Staatsbegriff und die Entstehung der Staatsperson im souverä-nen Fürstenstaat. Eine historisch dogmatische Untersuchung" nur mit Mühe in I-Iei-dclberg habilitieren können. Auch die Fakultät lehnte eine Bestallung Höhns ab, wo-bei Dekan Kar! Engisch dezent darauf abhob, "dass es ein bewährterBrauch ist, nicht einen jungen Privatdozenten in einen offen gewordenen Lehrstuhl seines Fachs bei derselben Universität zu berufen."63 Mittlerweile war das Reichsministerium für Wis-senschaft, Erziehung und Volksbildung zuständig für die Besetzung der Lehrstühle an den jeweiligen deutschen Universitäten. Kar! August Eckhardt, der maßgebliche Re-ferent im Ministerium, konnte sich jedoch nur dazu entschließen, Höhn ein Extraor-dinariat anzubieten, das er auch sofort annahm. Offen blieb aber weiterhin die Nach-folgeregclung für den Lehrstuhl von Anschütz. 1935 musste der zweite Lehrstuhl für Öffentliches Recht besetzt werden, nachdem Walter ]ellinek als Nichtarier von seinen amtlichen Verpflichtungen entbunden worden war.64 Vergebens plädierte Höhn für eine Besetzung der Lehrkanzel mit dem von ihm favorisierten Friedrich Poetzsch-

Heffter. Die Fakultät hielt sich zunächst mit eigenen Vorschlägen zurück. Als Höhn

aber zum Wintersemester 1935 den Lehrstuhl von Rudolf Smend an der Juristischen Fakultät der Friedrich Wilhelm- Universität Berlin übernahm, benannte die Fakultät -wie auch schon 1934- Carl Eilfing er; diesmal hatte man Rücksprache mit Anschütz

genommen, welcher ihn bereits aus dem 1932 vor dem Staatsgerichtshof durchgeführ-ten "Preussenschlag-Verfahren" kannte, bei dem Anschütz als Rechtsvertreter Preus-sens agierte.65 Gegen die Person Eilfingers bestanden beim Reichswissenschaftsminis-terium und dessen Referenten Eckhardt keine Bedenken; Eilfinger nahm auch den Ruf an und wurde am 1.4.1936 zum planmäßigen ordentlichen Professor an der Ru-perto-Carola ernannt. Pür das durch den Weggang von Höhn freigewordene Extraor-dinariat brachte die Fakultät in Verbindung mit dem immer noch vakanten Lehrstuhl von Anschütz zunächst Ernst Rttdolf J-!teber von der Kieler juristischen "Stoßtrup-pen"-Fakultät in Vorschlag. Das Reichswissenschaftsministerium lehnte aber eine Freigabe von Huber ab, regte jedoch gleichzeitig die Besetzung des Extraordinariats mit dem Privatdozenten Herbert Krüger an. Nachdem sich die Fakultät diesem Vor-schlag angeschlossen hatte, wurde Krüger am 1.7.1937 zum außerordentlichen Profes-sor für Öffentliches Recht und Kirchenrecht ernannt. Der seit der Emeritierung von Anschütz nicht besetzte Lehrstuhl für Öffentliches Recht wurde zunächst von den am 29.9.1933 ernannten ordentlichen Professor Wilhelm Groh geführt, da ein Ordinariat für das Gebiet des von ihm gelehrten Paches Arbeitsrecht an der Universität nicht be-stand. Groh, der wenige Tage später sein Amt als Rektor der Ruperto-Carola antrat, folgte 1939 einem Ruf an die Berliner Universität.66 Nun wurde der frühere Lehrstuhl von Gerhard Anschütz wieder dem Öffentlichen Recht zugeordnet und Professor Krüger als Ordinarius zum 1.5.1940 übertragen. 67

63 Zit. nach D. Mußgnug (Fn. 6), S. 269. 64 D. Mußgnug (Fn. 6), S. 273. 65 S. nur Stalleis (Fn. 36), S. 120 ff. 66 Zu seiner Amtszeit als Rektor der Ruperto-Carola vgl. Sellin, Die Rektoren Andreas, Grob

und Kricck 1933-1938, in: Eckart u. a. (Fn. 6), S. 5 (15 ff.). 67 Vgl. zu den verschlungenen Wegen bei der Besetzung des Lehrstuhls von Anschiitz die Stu-

die von Vezina (Fn. 56), S. 127 ff., und D. Mußgnug (Fn. 6), S. 287 ff.

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Die Kontakte zur Fakultät rissen auch in den Jahren nach seiner Emeritierung nicht ab. Als Gerhard Buchda in seiner Eigenschaft als Dekan der Hallenser Juristenfakul-tät in Heidelberg nachfragte, ob irgendwelche Bedenken gegen eine Erneuerung des Doktordiploms aus Anlass des goldenen Doktorjubiläums bestünden, verneinte dies Eugen Ulmer: "Nur würde ich von einer Veröffentlichung in der Presse Abstand nehmen. "68 Nicht vergessen hatten wohl einige Redakteure von NS-Gazetten die überaus kritische Haltung von Anschütz gegenüber der nationalsozialistischen Be-wegung, die er 1930 in einem Gutachten zum Problem der Verfassungsfeinde im Be-amtentum als "umstürzlerisch in ihren Zielen" und "verbrecherisch in ihren Mitteln" gebrandmarkt hatte.69 Gut in Erinnerung war gleichfalls noch seine Rolle, die er im "Fall Gumbcl" spielte. Erneut stand nach den skandalösen Auseinandersetzungen im Jahre 1925 jener Privatdozent für Statistik, Jude, Kriegsfreiwilliger von 1914 und überzeugter Pazifist vor dem Untersuchungsausschuß der philosophischen Fakul-tät.70 In einer Veranstaltung der politischen Arbeitsgemeinschaft der Sozialistischen Studentenschaft im Frühsommer 1932 hatte Emil Gumbel eine riesige Kohlrübe -das Hauptnahrungsmittel im "Kohlrübenwinter" 1917/18 -in satirisch überspitzter Form als beziehungsreiches Denkmal des Krieges propagiert und damit die nationa-len Empfindungen der Studentenschaft und großer Teile der Professoren- und Bür-gerschaft tief verletzt. Nun sah man eine günstige Gelegenheit, Gumbel endgültig von der Universität zu entfernen. Zwar bejahte Anschütz als Vorsitzender des Unter-suchungsausschusses mit Beschluss vom 2.7.1932 die Voraussetzungen zur Entzie-hung der venia legendi Gumbels. Telephonisch jedoch protestierte er im Rektorat gegen eine "Anti-Gumbcl-Veranstaltung" in der Stadthalle und forderte eine Ehren-erklärung der Universität für Gttmbef.1 1 Anfang August 1932 entzog das Karlsruher Kultusministerium Gumbel die Lehrbcfugnis; ein als Rechtsmittel eingelegter Re-kurs blieb erfolglos.

Auch noch nach seiner Emeritierung zog Gcrhard Anschütz den Hass nationalso-zialistischer Studenten auf sich. In einem Artikel des "Heidelberger Student", ein Mitteilungsblatt der Studentenschaft, aus dem Sommersemester 1934 wurde mit un-verhohlener Häme gegen Anschiitz agitiert: "Republikaner heute. Ein jedermann kennt den Kronjuristen unserer herrlichen vergangenen Republik, jeder weiß, daß dieser Mann in zahlreichen Gutachten die staatsfeindliche Haltung der NSDAP ,be-wies', aber vor allem kennt ihn der Heidclberger Student, wie er in einigen Diszipli-narverfahren stets besonders bemüht war, das siechende System vor jungen Studen-ten zu schützen. Wie traten seine Augen hervor, als von der Ehre der Studenten gesprochen wurde, wie unvorsichtig wies Ge.-Rat Anschütz seinem Denken freien Lauf, dem Disziplinargericht einen schwarz-roten Anstrich zu verleihen ... Sollte er es noch nicht aufgegeben haben, sein Glück in Heidelberg zu suchen, denn peinlich wirkt auch noch heute sein stets sich wiederholender Besuch der Universitätsge-

68 Schreiben vom 24.1.1941 an Professor Dr. Gerhard Buchda (UAH, PA 735). 69 Zit. nach Pauly, in: Anschütz (Fn. 4), S. XL i. V. mit Fuf\n. 144. 70 Ausführlich hierzu }ansen, Emil Julius Gumbcl- Portrait eines Zivilisten, 1991, S. 35 f. 71 Zu den Vorgängen um Gumbel vgl. Walgast (Fn. 51), S. 133 f.

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bäude und ihrer Umgebung. Si paruisses, philosophus fuisses." 72 Unverzüglich pro-testierte Anschütz bei dem Rektor Wilhelm Groh, welcher dann auch das Pamphlet missbilligte und Anschütz das Recht bestätigte, Universitätsgebäude und Veranstal-tungen zu besuchen.73

Besonders verbunden wusste sich Anschiitz seinem jungen Kollegen Ernst Forsthoff,

der im Frühjahr 1943 als Nachfolger Herbert Krügers von Wien nach Heidclberg be-rufen worden war.74 Nahezu enthusiastisch äußert er sich in einem Schreiben an sei-nen langjährigen Kollegen und Freund Alexander Graf zu Dohna: "Er ist der beste von meinen verschiedenen Amtsnachfolgern, der mir- wissenschaftlich wie mensch-lich - restlos gefällt. "75

IX. Lebensausklang

Wissenschaftlich trat Anschiitz aber nicht mehr hervor: Die einzige Ausnahme bildet die 1940 in der Zeitschrift für öffentliches Recht publizierte, schon 1936 der Redakti-on vorliegende Studie über "Wandlungen der deutschen evangelischen Kirchenver-fassung".76 Abgelehnt wurde jedoch von den Nationalsozialisten die Drucklegung seiner "Lebenserinnerungen", sie erschienen erst im Jahr 1993 auf der Grundlage der noch von Gerhard Anschütz redigierten Endfassung, herausgegeben und eingeleitet von Walter Pauly.77 Im privaten Verkehr verhehlte Anschütz seine Meinung über die Arbeiten einzelner NS-Juristen keineswegs. Als Carl Schmitt im Frühsommer 1934 eine fünfzig Seiten umfassende verfassungshistorische Abhandlung "Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches. Der Sieg des Bürgers über den Soldaten" veröffentlichte, nach deren Schlussthese erst die NS-Bewegung die historisch zerris-sene deutsche Vergangenheit wieder zusammenführt und vereint, war es der Berliner Historiker Fritz Hartung, der die Schrift scharfsinnig kritisierte.n Mit "grimmiger Freude" beglückwünschte Anschütz den von ihm hoch geschätzten Hartung zu der fulminanten Besprechung und schrieb an ihn: "Es wäre schlimm, es wäre eine Ar-mutszeugnis für die Geschichts- wie für die Rechtswissenschaft gewesen(- vielleicht hätte es auch einen Mangel an Schneid u. Zivilkurage bedeutet), wenn sich Niemand gefunden hätte, der ausgerüstet mit voller Sachkenntnis u. Urteilskraft, die Schrift Ihres Gegners als das gekennzeichnet hätte, was sie ist, nämlich als eine jedes Anhalts

72 Unter dem 27.7.1934, Nr. 6, S. 2. 73 UAH- H- li- 03112; 74 Zu Forsthoff s. D. Mußgnug (Fn. 6), S. 288 f. 75 Zit. nach Pauly, in: Anschütz (Fn. 4), S. XLIV 76 ZöR 20 (1940), S. 244; zu dieser Abhandlung vgl. Pauly, in: Anschütz (Fn. 4), S. XLIII; Ule

(Fn. 12), S. 105 f. 77 Im Verlag von Vitrario Klostermann zu Frankfurt am Main als Sonderheft 59 der "Studien

zur Europäischen Rechtsgeschichte" im Rahmen der Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte Frankfurt am Main.- Vgl. in diesem Zusammen-hang auch die editorische Notiz von Pauly, in: Anschütz (Fn. 4), S. 331, und die Besprechung von Ule (Fn. 12), S. 104 ff. (hierzu wiederum Dreier [Fn. 19], S. 35 f.).

78 Historische Zeitschrift 151 (1935), S. 528-544.

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in den Quellen entbehrende politische Tendenzschrift."79 Klar erkannte Anschiitz,

dass die wenige Monate vor dem Röhm-Putsch publizierte Broschüre zu nichts an-derem dienen sollte, als das NS-Regime und seinen Führer Adolf Hitler gegenüber ri-valisierenden Gruppen in Staat und Partei historisch zu legitimieren und dadurch zu stabilisieren.

Nach dem Ende des Krieges - dessen Ausgang er keineswegs als Befreiung emp-fand81 -wollte man sich bei dem Wiederaufbau des total zerstörten Staates auch der Mitwirkung von Gerhard Anschiitz versichern. Ernannt wurde er 1946 zum Mitglied des Verfassungsausschusses für Württemberg-Baden. Wenige Tage danach verun-glückte Anschiitz bei dem Versuch, auf die Straßenbahn aufzuspringen. Nach über einjährigem Krankenhausaufenthalt verstarb Gerhard Anschiitz wenige Monate nach seinem 81. Geburtstag am 14.4.1948 in seiner geliebten Wahlheimat Heidelberg an den Folgen des Unfalls.

Beschlossen sei die knappe Skizze zu dem Leben und Werk eines der bedeutendsten Staatsrcchtslehrer, bekennenden Demokraten und aufrechten deutschen Patrioten aus der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts mit dem Dankesschreiben aus Anlass der Gratulation des Dekans Eugen Ulmer zu seinem 75. Geburtstag, den er 1942 in der altberühmten Reichsstadt Straßburg beging: "Ihr Telegramm nennt mich Senior der Fakultät; ich sehe in der Wahl dieses Ausdrucks die Anerkennung, daß die Fakultät mich auch nach meiner Emeritierung und trotz der darauffolgenden Tatsache, daß ich - leider - nicht mehr mitarbeiten kann, noch als ganz zugehörig betrachtet. Nichts Schöneres konnte mir gesagt werden! Sie wissen ja, gerade Sie, lieber Herr Ulmer (als der einzige noch lebende Ordinarius, der schon vor meiner Entpflichtung bei uns tätig war), wie innig ich mich der Fakultät stets verbunden fühlte,- fühle und fühlen werde, so lange ich

79 Unter dem 12.5.1935 (zit. nach Grothe, ZNR 29 [2007], S. 66-87 [77]). 80 So Blasius, Carl Schmitt. Preußischer Staatsrat in Hitlers Reich, 2001, S. 127 f.; Grothe

(Fn. 79), S. 74. 81 "Daß die Niederlage uns zugleich von der Barbarei der Hitler-Herrschaft befreit hat, ist für

viele Leute ein Trost-, für mich nicht." (Schreiben an Gräfin Dohna vom 4.9.1945, zit. nach Pauly, in: Anschütz [Fn. 4], S. XLIV).

82 Unter dem 13.1.1942 (UAH, PA 735).