Geschichte der...

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4 Geschichte der Infinitesimalrechnung 4.1 Antike und Mittelalter Vorläufer der Infinitesimalrechnung sind bereits in der Antike zu finden, insb. Flächen- und Volumsbestimmungen (bzw. in der Sprechweise der Antike: Quadratur- und Kubaturmethoden), also Vorläufer der Integralrechnung. Vorläufer der Differenzialrechnung gibt es erst ab dem 17. Jh. Erste Flächenberechnungen gab es bereits in der vorgriechischen Antike. Bei geradlinig begrenzten Flächen war das relativ einfach und (meist?) ohne infinitesimale Überlegungen, die Berechnungsmethoden („Formeln“ im heutigen Sinn gab es ja keine) waren meist richtig, manchmal nur näherungsweise bzw. nur in Sonderfällen richtig. Schwieriger war das schon beim Kreis; da konnte man nur Näherungswerte angeben, die in den verschiedenen Kulturen unterschiedlich gut waren. Vermutlich anhand der neben stehenden Figur fanden die Ägypter, dass ein Kreis mit dem Durchmesser d einen Flächeninhalt 2 2 2 2 2 1 2 7 4 2 3 9 9 d d d d d = = Wegen 2 2 2 2 7 63 64 8 9 81 81 9 d d d d = = hat also ein Kreis mit dem Durchmesser d einen Flächeninhalt, der ungefähr gleich dem eines Quadrats mit der Seitenlänge 8 9 d ist. Dies entspricht also einem Näherungswert für π: Ägypt 3,16049... π = Die Griechen wollten sich nicht nur mit Näherungswerten zufrieden geben, sondern versuchten aus einem gegebenen Kreis (bzw. dessen Durchmesser bzw. Radius) ein flächengleiches Quadrat zu konstruieren („Quadratur des Kreises“). Sie wurden in der Annahme, dass dies möglich sein müsste, dadurch bestärkt, dass es Hippokrates von Chios (5. Jh. v. Chr.) gelang, die „Möndchen“ exakt in eine flächengleiche geradlinig begrenzte Figur (Dreieck, Quadrat, >) überzuführen, d.h. sie zu „quadrieren“. Aufgabe: Führen Sie die Berechnungen aus!

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4 Geschichte der Infinitesimalrechnung

4.1 Antike und Mittelalter

Vorläufer der Infinitesimalrechnung sind bereits in der Antike zu finden, insb. Flächen- und Volumsbestimmungen (bzw. in der Sprechweise der Antike: Quadratur- und Kubaturmethoden), also Vorläufer der Integralrechnung. Vorläufer der Differenzialrechnung gibt es erst ab dem 17. Jh.

Erste Flächenberechnungen gab es bereits in der vorgriechischen Antike. Bei geradlinig begrenzten Flächen war das relativ einfach und (meist?) ohne infinitesimale Überlegungen, die Berechnungsmethoden („Formeln“ im heutigen Sinn gab es ja keine) waren meist richtig, manchmal nur näherungsweise bzw. nur in Sonderfällen richtig. Schwieriger war das schon beim Kreis; da konnte man nur Näherungswerte angeben, die in den verschiedenen Kulturen unterschiedlich gut waren. Vermutlich anhand der neben stehenden Figur fanden die Ägypter, dass ein Kreis mit dem Durchmesser d einen Flächeninhalt

2 2 22 21 2 7

42 3 9 9

d d dd d

− ⋅ ⋅ = − =

Wegen 22 2 27 63 64 8

9 81 81 9

d d dd

= ≈ = ⋅

hat also ein Kreis mit dem Durchmesser d einen Flächeninhalt, der ungefähr gleich

dem eines Quadrats mit der Seitenlänge 8

9d⋅ ist.

Dies entspricht also einem Näherungswert für π:

Ägypt 3,16049...π =

Die Griechen wollten sich nicht nur mit Näherungswerten zufrieden geben, sondern versuchten aus einem gegebenen Kreis (bzw. dessen Durchmesser bzw. Radius) ein flächengleiches Quadrat zu konstruieren („Quadratur des Kreises“). Sie wurden in der Annahme, dass dies möglich sein müsste, dadurch bestärkt, dass es Hippokrates von Chios (5. Jh. v. Chr.) gelang, die „Möndchen“ exakt in eine flächengleiche geradlinig begrenzte Figur (Dreieck, Quadrat, >) überzuführen, d.h. sie zu „quadrieren“.

Aufgabe: Führen Sie die Berechnungen aus!

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Demokritos von Abdera (~460 bis ~370 v. Chr.): gilt als Begründer der atomistischen Auffassung der Materie; ermittelte Volumina von Pyramide und Kegel mit Methoden, die dem Cavalierischen Prinzip (vgl. später!) ähnlich sind.

Eudoxos von Knidos (~408 bis ~355 v. Chr.): Ihm gelang ein erster entscheidender Schritt bei der Bewältigung des Unendlichen. Neben der Verallgemeinerung der Proportionenlehre formulierte er auch das so genannte Exhaustionsprinzip (der Name „Exhaustionsprinzip“ bzw. „Exhaustionsmethode“ wurde allerdings erst im 17. Jh. geprägt).

Proportionen: Die pythagoreische Definition proportionaler Größen passte nur für kommensurable Strecken:

a : b = c : d wenn es (natürliche) Zahlen m und n gibt mit � = � ∙�

� und � = � ∙

� .

Demgegenüber definierte Eudoxos (sinngemäß, d.h. in unserer Bezeichnungsweise):

a : b = c : d wenn für alle (natürlichen) Zahlen m und n gilt:

ma > nc ⇒ mb > nd und ma = nc ⇒ mb = nd und ma < nc ⇒ mb < nd

(D.h. für jedes Paar (m, n) gilt genau eine dieser Beziehungen.)

Diese Definition ist logisch äquivalent zur Definition reeller Zahlen mittels Dedekind’schen Schnitten.

Exhaustionsprinzip: Eudoxos erkannte:

„Zieht man von irgend einer Größe einen Teil ab, der nicht kleiner als die Hälfte der Größe ist, vom Rest einen Teil, der nicht kleiner als die Hälfte (des Restes) ist, und so weiter, so bleibt schließlich eine Größe übrig, die kleiner als jede vorgegebene Größe der selben Art ist.“

Verwendet man unsere vertraute Symbolik, so erkennt man, wie „nahe“ Eudoxos bereits an einer Grenzwertdefinition war:

X > gegebene Größe

R1 := X - q⋅X (1/2 ≤ q <1)

R2 := R1 - q⋅ R1 = R1⋅(1 – q) = X⋅(1 – q)2

>>

Rn = X⋅(1 – q)n

„> jede vorgegebene Größe >“ = ε

Also besagt das Exhaustionsprinzip: ∀ε>0 ∃ n0∈N ∀n≥n0: Rn < ε

Dieses Prinzip wurde in der Folge von Euklid und insbesondere von Archimedes angewandt. Archimedes bestimmte damit den Flächeninhalt des Kreises (d.h. einen

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Näherungswert für π, nämlich 3�

�≤ � ≤ 3

�� ), den Flächeninhalt des

Parabelsegments, sowie Volumina von Kegel, Zylinder und Kugel. Es ist dabei zu erwähnen, dass Archimedes, der ja meist nur aus der Physik und als Erfinder (Kriegsgeräte) bekannt ist, höchste Ansprüche an die Exaktheit seiner Beweise stellte und somit als einer der bedeutendsten Mathematiker des Altertums gilt.

Auch die Araber lieferten Beiträge zu Flächen- und Volumsberechnungen (etwa Volumina von Rotationskörpern):

Thabit ibn Qurra (Ende 9. Jh.), Ibn Sina (auch als Avicenna bekannt, Enkel von Thabit ibn Qurra), Ibn al-Haittam (auch: Alhazen, um 1000)

4.2 Die Entwicklung der Infinitesimalrechnung vor dem historischen und kulturellen Hintergrund der beginnenden Neuzeit (Renaissance, Barock)

Philosophie und Mathematik zu Ende des Mittelalters

Im Mittelalter wurde (theoretische) Mathematik im Wesentlichen von scholastischen Philosophen betrieben – oder besser: sie bewahrten und kultivierten die Mathematik und die Philosophie der Antike. Das Hauptinteresse der Scholastiker galt dabei Überlegungen über die Natur Gottes, über das Unendliche, das Kontinuum und auch – im Zusammenhang mit Letzterem – über Bewegungen. Die scholastischen Philosophen, insbesondere Thomas von Aquin, übernahmen von Aristoteles die Auffassung, dass das Unendliche nicht „aktual“ existiert. („Infinitum actu non datur.“ Vgl. Struik 1972, S. 93.) Sie betrachteten eine Strecke als potentiell unbegrenzt teilbar, es gab für sie keine kleinste Strecke, denn jede Teilstrecke ist wieder eine Strecke und daher unbegrenzt oft teilbar. (Vgl. die Idee der Selbstähnlichkeit in der fraktalen Geometrie!) Damit kann aber nach ihrer Auffassung ein Punkt nicht Teil einer Strecke sein, da der Punkt ja unteilbar ist. („Ex indivisibilibus non potest compari aliquod continuum.“ Vgl. Struik 1972, S. 93.) Ein Punkt kann aber durch Bewegung eine Strecke erzeugen.

Überlegungen dieser Art hatten Einfluss auf die Begründer der Infinitesimalrechnung im 17. Jahrhundert, etwa auf Cavalieri oder auf Leibniz; dieser meinte:

„Man muss wissen, dass eine Linie nicht aus Punkten zusammengesetzt ist, auch eine Fläche nicht aus Linien, Körper nicht aus Flächen, sondern eine Linie aus Linienstückchen, eine Fläche aus Flächenstückchen, ein Körper aus Körperstückchen, die unendlich klein sind.“

(Zitiert nach Gericke 1984, S. 48f.) Neben dieser „scholastischen Mathematik“ gab es außerhalb der Universitäten ein praktisches Interesse am Rechnen (Arithmetik und Algebra), das im Wesentlichen von Rechenmeistern betrieben wurde.

Die Renaissance und der Aufschwung der Naturwissenschaften

Die zunehmende Bedrohung der Stadt Konstantinopel und schließlich ihr Fall im Jahre 1453 veranlasste viele griechische Gelehrte, nach Westen zu ziehen,

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insbesondere nach Italien. Durch sie wurden viele griechische Originaltexte (nebst anderen, vor allem arabischen Quellen) verfügbar, das Interesse an diesen wuchs und konnte auch befriedigt werden. Bis dahin war kaum ein entscheidender Schritt über den Wissensstand der Griechen und Araber hinaus gelungen. Erst Anfang des 16. Jahrhunderts begann man (vor allem in Oberitalien), neues mathematisches Wissen, vor allem auf dem Gebiet der Auflösung von Gleichungen höheren Grades, zu schaffen.

Auch Maler der Renaissance beschäftigten sich mit Mathematik, insbesondere mit der (räumlichen) Geometrie, was zur Entwicklung der Perspektive führte.

Erfindungen (z. B. die Erfindung der Buchdruckerkunst) und Entdeckungen (vor allem die Entdeckung Amerikas) prägen diese Zeit und bestärken die Menschen in ihrem Bestreben, Neues zu schaffen. Gleichzeitig mit diesem Bestreben stiegen auch die Anforderungen und die Motivation, sich mit Naturwissenschaften und auch mit Mathematik zu beschäftigen, in denen man die Möglichkeiten und Voraussetzungen für weitere Neuerungen und Verbesserungen sah; Probleme dieser Zeit waren etwa der Bau ozeantauglicher Schiffe, Instrumente und Methoden der Navigation, präzise Zeitmessung, der Bau von Kanälen, Windmühlen, Feuerwaffen, die Weiterentwicklung von Maschinen und Geräten, wie etwa Pumpen und Aufzüge für Bergwerke u. Ä.

Insbesondere die Vervollkommnung der Uhren erregte allgemeine Bewunderung und Wertschätzung durch große Teile der Bevölkerung. Die Uhr prägte sogar die philoso-phische Einstellung: Sie wurde als ein Modell des Universums angesehen und war das Symbol für das mechanistische Weltbild.

Das Interesse an der Weiterentwicklung von Maschinen führte zur verstärkten Beschäftigung mit der theoretischen Mechanik und insbesondere zum Studium von Bewegungen. Galilei trug entscheidend zum Ausbau der Mechanik, aber auch zur Verteidigung des kopernikanischen Weltbildes bei. Darüber hinaus trat er in seinem Hauptwerk, den „Discorsi“ (1638), bewusst gegen die aristotelische und scholastische Wissenschaftsauffassung auf. Dies äußerte sich in der Propagierung der Wechselwirkung zwischen Experiment und (mathematisch formulierter) Theorie wie auch in der Verteidigung des Aktual Unendlichen. Obwohl Galilei keine systematische Darstellung seiner Überlegungen zur Infinitesimalrechnung veröffentlichte, entnimmt man den Werken seiner Schüler Torricelli und Cavalieri, dass er wesentliche und originelle Beiträge auf diesem Gebiet einbrachte.

Die Mathematik der Renaissance und des Barocks; Vorstudien zur Infinitesimalrechnung

Durch den Buchdruck wurde die Verbreitung von Wissen, von neu geschaffenem wie auch von dem der antiken Autoren, erleichtert. Vor allem die Herausgabe der Werke Archimedes' machte dessen Überlegungen zur Infinitesimalrechnung, insbesondere Flächen- und Volumsberechnungen, einem größeren Kreis von Interessenten zugänglich. Der neue Geist der Renaissance führte aber dazu, die Schriften der Klassiker nicht nur zu konsumieren, sondern auf der Basis dieser Ergebnisse und Methoden nach neuen Erkenntnissen zu streben. Dieser Wunsch führte sogar dazu, die Strenge, die die Werke Archimedes' und Euklids auszeichnete, nicht mehr in dem Ausmaß nachzuahmen. Man gab sich vielfach auch mit heuristischen Ansätzen und Begründungen zufrieden.

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Für Kepler etwa war die Kreisfläche aus „unendlich vielen Dreiecken mit gemeinsamer Spitze im Kreismittelpunkt“, oder die Kugel aus „unendlich vielen Pyra-miden mit Spitze im Kugelmittelpunkt“ zusammengesetzt.

Analog kann man auch im 3-dimensionalen Raum das Volumen einer Kugel als aus kegel-bzw. pyramidenförmigen Körpern zusammengesetzt denken, die alle die Spitze im Kugelmittelpunkt haben und die Summe aller Grundflächen gerade die Oberflächer der Kugel ergibt.

Aufgabe: Führen Sie die entsprechenden Überlegungen durch!

Kepler war sich dessen voll bewusst, dass diese Begründungen nicht den Anforderungen an Strenge genügen, denen sich Archimedes unterwarf. Er hielt Archimedes‘ Argumentation für „absolut und in jeder Beziehung vollkommen, aber er überlasse sie den Leuten, die durchaus exakten Beweisen frönen wollten“. (Zitiert nach Struik 1972, S. 107; vgl. auch Bos 1978, S. 70f.)

Ein berühmtes Werk Keplers ist „Nova stereometria doliorum vinariorum“ („Neue Stereometrie der Weinfässer“, Linz 1615). Als er anlässlich seiner bevorstehenden Hochzeit Wein kaufen wollte, bemerkte er, dass die Weinbauern das Volumen der Fässer bzw,. die Menge des darin enthaltenen Weines mit einer Messrute bestimmten, d.h. mit einer Stange, die sie oben beim Spundloch bis zum am weitesten entfernten Punkt hineinsteckten. Kepler erkannte, dass diese Methode wegen der unterschiedlichen Gestalten der Fässer nicht genau sein konnte und nahm dies zum Anlass um über die Ermittlung des Volumens von fässern nachzudenken. Insbesondere kommt daher auch die „Kepler’sche Fassregel“:

Für die Berechnung des Volumens des Fasses ging Kepler folgendermaßen vor: Im ersten Schritt approximierte er das Fass von außen durch und einen Zylinder und von innen durch zwei Kegelstumpfe. Im nächsten Schritt berechnete er die

Flächeninhalte des Rechtecks und der beiden Trapeze. Am Ende bestimmte Kepler die, durch Rotation des Rechtecks und der Trapeze entstehenden, Volumina des Zylinders und der Kegelstumpfe:

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( )RechteckA h f m= ⋅

Approximation durch einen Zylinder

4

)()((2

)()(

2

2

)()(

2

)(

)(

)(

sfrfhA

sfmfhA

mfrfhA

rsTrapez

msTrapez

rmTrapez

++⋅=

+⋅=

+⋅=

Approximation durch zwei Kegelstumpfe

Um die Volumina zu bestimmen ließ Kepler die Flächen

um die −x Achse rotieren:

V>Volumen des Fasses,

Vrm> Volumen des Kegelstumpfes, der durch die Punkte R und M begrenzt ist

Vms> Volumen des Kegelstumpfes, der durch die Punkte M und S begrenzt ist

VKS>gemeinsames Volumen der beiden Kegelstumpfe

)(2)((

6

)()()((

6

)()()((

)(

22

2

2

2

mfrfhV

sfmfmfhV

mfrfrfhV

hmfV

KS

ms

rm

Z

+⋅+⋅⋅=

⋅+⋅⋅=

⋅+⋅⋅=

⋅=

π

π

π

π

++⋅+⋅⋅=

+⋅+⋅⋅⋅

=

=+⋅

=

9

()()(5)(

6

)()(2)((2

3

2

222

222

fsfmfrfh

sfmfrfh

VVV ZKS

π

π

Für die bei einem Fass in der Regel gültigen Bedingung

das Volumen:

⋅⋅⋅=

2hV π

Ähnlich wie Kepler argumentierte auch erschienenen Werk verwendete er den Begriff „indivisibilis“ für „unendlich dünne Gebilde“, etwa „Fäden“, aus denen Flächen bestehen, oder Blätter, aus denewie ein Buch – ein Körper zusammensetzt. Mit Hilfe des Cavalieri‘schen Prinzips konnten richtige Ergebnisse erzielt werden, Schnitte in gleicher Höhe Flächen gleicher Größe liefern, gleiches Volumen haben. Berühmtestes Beispiel: Das Volumen der Halbkugel ist gleich dem Volumen des kegelförmig ausgebohrten Zylinders. (Rechnen Sie nach!)

Approximation durch einen Zylinder

))(2 mf⋅+

Kegelstumpfe

Um die Volumina zu bestimmen ließ Kepler die Flächen

, VZ>Volumen des Zylinders,

> Volumen des Kegelstumpfes, der durch die Punkte R und M begrenzt ist

elstumpfes, der durch die Punkte M und S begrenzt ist

>gemeinsames Volumen der beiden Kegelstumpfe

6

))()()()()(

))()

))(

2

2

2

mfsfmfrfsf

sf

mf

⋅+⋅+

+

+

⋅+⋅

=

⋅+

⋅+⋅+

)()()()(

3

)())()()()( 2

mfsfmfr

hmfmfsfmfrf

π

Für die bei einem Fass in der Regel gültigen Bedingung ()( frf =

⋅⋅+⋅+⋅

9

)()(2)(5)( 22 mfrfmfrf

Ähnlich wie Kepler argumentierte auch Bonaventura Cavalieri. nenen Werk verwendete er den Begriff „indivisibilis“ für „unendlich dünne

Gebilde“, etwa „Fäden“, aus denen Flächen bestehen, oder Blätter, aus deneein Körper zusammensetzt. Mit Hilfe des Cavalieri‘schen Prinzips

se erzielt werden, wie etwa dass zwei Körper, deren ebene Schnitte in gleicher Höhe Flächen gleicher Größe liefern, gleiches Volumen haben.

erühmtestes Beispiel: Das Volumen der Halbkugel ist gleich dem Volumen des kegelförmig ausgebohrten Zylinders. (Rechnen Sie nach!)

> Volumen des Kegelstumpfes, der durch die Punkte R und M begrenzt ist

elstumpfes, der durch die Punkte M und S begrenzt ist

)(s ergibt sich für

In seinem 1635 nenen Werk verwendete er den Begriff „indivisibilis“ für „unendlich dünne

Gebilde“, etwa „Fäden“, aus denen Flächen bestehen, oder Blätter, aus denen sich – ein Körper zusammensetzt. Mit Hilfe des Cavalieri‘schen Prinzips

wie etwa dass zwei Körper, deren ebene Schnitte in gleicher Höhe Flächen gleicher Größe liefern, gleiches Volumen haben.

erühmtestes Beispiel: Das Volumen der Halbkugel ist gleich dem Volumen des

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Aufgabe: Führen Sie diese Rechnungen durch!

Mit Hilfe der Indivisibilienmethode erarbeitete Cavalieri Erkenntnisse, die man in heutiger Schreibweise so beschreiben würde:

b b

a a

k f (x) dx k f (x) dx⋅ = ⋅∫ ∫

Die unscharfe Erklärung des Begriffs der Indivisibilien (oder: Indivisiblen) erlaubt aber auch „Anwendungen“, die zu offensichtlich falschen Ergebnissen führen.

Der Kreis mit doppeltem Radius besteht aus unendlich vielen doppelt so langen Strichen; also müsste er auch doppelt so groß sein.

Oder: Das Dreieck ADC müsste flächengleich dem Dreieck DBC sein, da beide Dreiecke aus „den selben“ Strecken bestehen.

Galileo Galilei (1564 – 1642): Bei seinen Studien von

Bewegungen erkannte er:

1 1v g t s A t v t g t

2 2∆= ⋅ ⇒ = = ⋅ ⋅ = ⋅ ⋅ ⋅

Die Methoden Archimedes' wurden in der Folge auch von Paul Guldin in seinem Werk „Centrobaryca“ (1641) aufgegriffen. Darin finden sich auch die Guldin‘schen Regeln (die allerdings schon dem antiken Mathematiker Pappos bekannt waren).

Die Weiterentwicklung der Infinitesimalrechnung wurde durch eine neue, bessere mathematische Schreibweise bzw. Symbolik stark begünstigt, nämlich die Einführung von Variablen (Buchstaben), die im Wesentlichen auf F. Viète („In artem analyticam isagoge“, 1591) zurückgeht und im Rahmen der Begründung der analytischen Geometrie durch R. Descartes („Géométrie“, 1637) und anderen ausgiebig

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verwendet wurde. So wurde immer mehr Verfahren zur Quadratur für verschiedene Kurven entwickelt:

Fermat: Parabeln der Form xp = A⋅yq und Hyperbeln der Form xp⋅yq = C

John Wallis: y = xk, vorerst für k ∈ N, dann anschließend Versuch, eine ähnliche Methode auch für k ∈ Q zu finden.

William Neil: Rektifikation der Kurve y2 = x3 („Neil’sche Parabel“)

Mehrere Mathematiker gelangten – unabhängig voneinander und jeder auf seine Art – zu Formeln, die wir heute in der Form

x dxa

mm

a m

0

1

1∫ =+

+

schreiben würden.

Evangelista Torricelli (1608 – 1647; ebenfalls meist nur aus der Physik bekannt, und kaum jemand weiß, dass er auch Mathematiker war) berechnete ein „uneigentliches Integral“:

Torricelli dachte sich den Körper aus unendlich vielen unendlich dünnen konzentrischen Zylindermantelflächen zusammengesetzt.

Jede dieser Flächen hat einen Flächeninhalt 2xπy = 2π·2k2. Diese Flächen

übereinander gestapelt ergeben einen Körper mit der Höhe OA . Durch Vergleich mit

einem Quader mit der Grundfläche G=2π·2k2 und der Höhe OA und somit Volumen

4πk2OA und Anwendung des Cavalierischen Prinzips Hat auch der unendlich lange

Rotationskörper das selbe Volumen. (Rechnen Sie selbst mit Integralrechnung nach!)

Neben Volums- und Schwerpunktbestimmungen interessierte man sich – motiviert durch Probleme der Himmelsmechanik, der Ballistik und der geometrischen Optik – mehr und mehr für das Problem der Bestimmung von Tangenten an eine gegebene Kurve. P. Fermat fand 1638 eine Methode zur Bestimmung von Maxima und Minima (vgl. später), und eine ähnliche Methode verwendete er zur Bestimmung der Tangente in einem gegebenen Punkt einer Parabel. Später wurde diese Methode (vom Holländer Jan Hudde, 1658) auf allgemeinere algebraische Kurven ausgedehnt. Man beschäftigte sich in dieser Zeit fast ausschließlich mit algebraischen Kurven, insbesondere mit Kurven, die durch Gleichungen wie

1b

y

a

x.bzw

b

y

a

xnmnm

=

=

gegeben sind. (Ausnahme: die Zykloide; vgl. Winter 1992!)

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Obwohl etliche Mathematiker Tangenten bestimmten und Flächeninhalte bzw. Volumina ermittelten, erkannte erst 1670 Isaac Barrow, der Lehrer Isaac Newtons, dass hier zueinander inverse Rechenoperationen vorliegen. Auch James Gregory stellte ähnliche Überlegungen auf geometrischem Wege an. (Über die Entwicklung des Calculus vor Newton und Leibniz siehe auch Nikiforowski/Freiman 1978!)

Im Wissenschaftssystem ist in dieser Zeit eine wesentliche Änderung gegenüber früher zu bemerken: im Gegensatz zu den „Einzelkämpfern“ (bzw. Schulen) früherer Zeiten arbeiteten nun etliche Wissenschaftler an verschiedenen Orten Europas an ähnlichen Problemen, griffen Ergebnisse auf, verallgemeinerten sie usw. Für die Verbreitung von Erkenntnissen stand noch kein Zeitschriftenwesen zur Verfügung. Abgesehen von den relativ wenigen Büchern spielte sich wissenschaftliche Kommunikation praktisch nur in Form von persönlichen Gesprächen (verbunden mit mühsamen Reisen) oder in Form eines Briefwechsels ab. Einige Wissenschaftler entwickelten sich zu wahren Informationszentren; den Minoriten-Pater Marin Mersenne etwa besuchte praktisch jeder, der an einem mathematischen Gedankenaustausch interessiert war, denn es galt: „Mersenne über eine Entdeckung zu informieren war gleichbedeutend damit, sie in ganz Europa bekannt zu machen.“

Aus solchen Diskussionszirkeln – bzw. aus den Bedürfnissen nach solchen – ent-wickelten sich im 17. Jahrhundert die Akademien, zuerst in Italien, später, aber von nachhaltiger wissenschaftsgeschichtlicher Bedeutung, 1660 die Royal Society in England (1662 vom König anerkannt) und 1666 die Académie des sciences in Frankreich. Die finanzielle und ideelle Förderung der Akademien durch den Staat bzw. den König sowie der Schutz vor kirchlicher Verfolgung erfolgte in der Hoffnung auf wirtschaftlich und militärisch nutzbare Erfindungen. Im Gegenzug verpflichteten sich die Akademien aber zu weltanschaulicher und religiöser Neutralität, insbesondere zum Verzicht auf aufklärerische Absichten.

Die Extremwertmethode von Fermat

Auf Pierre Fermat (1607–1665) geht eine Überlegung zur Berechnung von Extremwerten zurück, die dieser selbst an folgendem Beispiel zu erläutern versuchte.

Gegeben sei eine Strecke [A,C] mit der Länge b. Diese ist durch einen Punkt B so in zwei Teile zu teilen, dass das Produkt der Längen der Teilstrecken ein Maximum wird.

Fermat argumentiert nun folgendermaßen: Angenommen der Punkt B und somit die Länge der einen Teilstrecke a wäre bereits bekannt, d. h. es wäre a · (b – a) maximal. Dann würde eine geringfügige Änderung von a sich auf den Wert des Produkts kaum auswirken:

a · (b – a) ≈ (a + e) · (b – a – e) (e << a)

Daraus erhält man:

ab – a² ≈ ab – a² – ae + eb – ea – e²

eb ≈ 2ae + e²

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Nun dividiert man durch e (und setzt somit voraus, dass e ≠ 0 ist):

b ≈ 2a + e

Da nun – so argumentierte Fermat – e beliebig klein sein kann, muss gelten:

b = 2a

also: a = b

2

Das Wesentliche an diesem historischen Beispiel ist nicht so sehr die Aufgabenstellung selbst (solche Aufgabenstellungen sind im üblichen Mathematikunterricht ohnehin vorhanden), sondern vielmehr die Argumentation Fermats – und vor allem die Ähnlichkeit zu Newtons und Leibniz' Argumentation (vgl. oben!).

Anwendung der Fermat‘schen Methode zur Bestimmung von Parabeltangenten

Das Tangentenproblem war eine der Wurzeln der Differenzialrechnung. Bereits vor Newton und Leibniz beschäftigten sich Mathematiker mit diesem Problem. Meist waren die Betrachtungen auf Kurven eines speziellen Typs beschränkt. Es war ja gerade die Leistung Newtons und Leibniz', das Gemeinsame in diesen Vorarbeiten erkannt und eine über einzelne Kurven bzw. Funktionstypen hinausreichende Methode entwickelt zu haben.

Fermat führte in seiner Arbeit „Über Tangenten und Kurven“ aus, wie man die zuvor skizzierten Überlegungen zur Bestimmung der Tangenten einer Parabel verwenden kann.

„Wir betrachten zum Beispiel die Parabel BDN, mit

dem Scheitel D und dem Durchmesser DC ; sei B

der Punkt, durch den die Gerade BE Tangente an die Parabel ist und den Durchmesser in E schneidet.

Wir wählen auf der Strecke BE einen Punkt O, in

dem wir die Ordinate OI ziehen; auch konstruieren

wir die Ordinate BC im Punkt B. Dann haben wir:

CD

ID

BC

OI>

2

2

da der Punkt O außerhalb der Parabel liegt. Es ist aber

BC

OI

CE

IE

2

2

2

2=

wegen der Ähnlichkeit der Dreiecke. Daher ist

CD

ID

CE

IE>

2

2

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Sei nun der Punkt B gegeben, also auch die Ordinate BC , folglich auch

der Punkt C, also auch CD . Sei CD = d diese gegebene Größe. Wir

setzen CE = a und CI = e; wir erhalten: d

d e

a

a e ae−>

+ −

2

2 2 2

Wir bringen die Nenner weg:

da de dae da a e2 2 2 22+ − ≈ −

Nun gehen wir gemäß der beschriebenen Regel vor: Durch Herausnehmen der gemeinsamen Ausdrücke finden wir:

de a e dae2 2 2+ ≈

Wir dividieren alle Ausdrücke durch e:

de a da+ ≈2 2

Nimmt man de heraus, so bleibt a da2 2= , folglich ist a = 2d.

Somit haben wir bewiesen, dass CE das Doppelte von CD ist – das ist das Ergebnis.“ (Zitiert nach Kaiser/Nöbauer 1984, S. 186.)

4.3 Newton und Leibniz; der Prioritätsstreit

Newton und Leibniz werden häufig als die Begründer der Differenzial- und Integral-rechnung bezeichnet. Tatsächlich hatten sie eine Menge Vorläufer, auf deren Teilergebnissen sie aufbauen konnten. Ihre Leistung bestand darin, aus den bisherigen Methoden, die sich meist jeweils nur auf bestimmte Funktionstypen anwenden ließen, eine einheitliche Methode geschaffen zu haben. (Vgl. dazu die Anekdote über Newton in Kapitel 15!)

Newton besaß diese Erkenntnisse zuerst (1665/66), Leibniz entwickelte seine Methode – unabhängig von Newton – erst später, etwa um 1673 bis 1676, und zwar in Paris, unter dem Einfluss von Christiaan Huygens und nach dem Studium der Werke von Descartes und Pascal. Er hörte, dass Newton bereits im Besitz einer solchen Methode sei, an der Leibniz eben arbeitete. Er publizierte seine Ergebnisse schließlich 1684 bis 1686, während Newton, der seine Terminologie nicht für ausgereift hielt, vier Versionen verfasste und schließlich erst die letzte 1704/36 publizierte. Es erhob sich im Folgenden der berühmte Prioritätsstreit, der mehr politisch-nationalistisch motiviert war als wissenschaftlich. Im 18. Jahrhundert versuchte man in England, aus eben diesen nationalistischen Erwägungen heraus die eher umständliche Newton‘sche Terminologie beizubehalten, und verschloss sich der weitaus eleganteren Darstellung Leibniz', die auf dem Kontinent fast aus-schließlich verwendet wurde. Die Mathematiker der Familie Bernoulli sowie Leonhard Euler trugen neben anderen zu einem raschen Ausbau dieses mathematischen Teil-gebiets bei. England bezahlte seine nationalistisch motivierte Isolation auf mathematischem Gebiet mit einem deutlichen Rückstand gegenüber dem Kontinent. Lediglich Brook Taylor (1685 – 1731, Schüler Newtons) und Colin McLaurin (1698 – 1746) sind von größerer Bedeutung.

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Insbesondere Leonhard Euler (1707–1783) sei hier besonders hervorgehoben. Nicht nur, weil er einer der kreativsten Mathematiker aller Zeiten war, was den Umfang seines Opus anlangt, sondern auch, weil auf ihn eine große Zahl von auch heute

noch verwendeten Symbolen zurückgeht (f(x), e, Σ, i, ∫ , ...). Symbole sind ein

wichtiges Werkzeug – und „Denkzeug“ – des Mathematikers; ein besseres Werkzeug führt oft zu einem Entwicklungssprung. (Beispiele: Axiomatik bei den Griechen, Einführung der Variablen durch Viète, heute: der Computer.)

Newtons Zugang (und Probleme)

Die Argumentation Newtons zur Differentiation der Funktion x x֏ 3 verlief rechnerisch etwa so:

Statt des Ausdrucks z x

z x

3 3−

− verwendete er

( ) ( )x o x

x o x

x o x

o

+ −

+ −=

+ −3 3 3 3

, wobei o als

eine (sehr kleine) von 0 verschiedene Größe gedacht war, die nach 0 strebt. Im Vergleich zu unserer Vorgangsweise ist o = z – x. Wenn sich also z unbegrenzt der Zahl x nähert, nähert sich o unbegrenzt der Zahl 0. Man bezeichnete o als „Zuwachs von x“ und (x + o)³ – x³ als „Zuwachs von x³“. (Die Größe x bezeichnete Newton als „fließende Größe“, da sie durch einen kleinen Zuwachs von o verändert werden kann.)

Der Ausdruck o

xox 33)( −+ kann umgeformt werden zu:

3 3 3 2 2 3 3 2 2 33 3 3 3(x o) x x x o xo o x x o xo o

o o o

+ − + + + − + += =

Dividiert man nun durch o (es ist ja o ≠ 0 vorausgesetzt), erhält man:

3x² + 3xo + o² (1)

Setzt man nun o = 0, so ergibt sich als Ableitung: 3x² (2)

Bei dieser Argumentation wird zuerst o ≠ 0 vorausgesetzt, da sonst der Differenzen-quotient nicht gebildet werden kann. Anschließend wird aber doch o = 0 gesetzt, um die Ableitung zu erhalten. Man sprach damals davon, dass sich „o dem Wert 0 immer mehr nähert, es im Endlichen aber nie erreicht"; erst beim „Grenzübergang“ wird o gleich 0. Dazu bemerkte der Theologe George BERKELEY (1685–1753) kritisch und spöttisch:

„Bisher [gemeint ist: bis zur Zeile (1)] habe ich vorausgesetzt ..., dass x einen wirklichen Zuwachs hat, dass o etwas ist [gemeint ist: o≠ 0]. Und ich bin durchweg von dieser Voraussetzung ausgegangen, ohne die ich nicht imstand gewesen wäre, einen einzigen Schritt zu tun. Von dieser Voraussetzung aus komme ich zu dem Zuwachs von xn [bei uns x3], sodass ich ihn mit dem Zuwachs von x vergleichen und so das Verhältnis

der beiden Zuwüchse [den Quotienten ( )x o x

o

+ −3 3

] finden kann. Ich bitte

dann um die Erlaubnis, eine neue Voraussetzung machen zu dürfen, die der ersten entgegenkommt; d. h. ich will jetzt voraussetzen, dass es keinen Zuwachs von x gibt oder das o nichts ist [gemeint ist: o = 0], welche zweite Voraussetzung meine erste zerstört und mit ihr

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unverträglich ist und deshalb mit allem, was sie voraussetzt. Ich bitte nichtsdestoweniger um die Erlaubnis, n⋅xn-1 [bei uns 3x²] zu-rückzubehalten, welches ein Ausdruck ist, der vermöge meiner ersten Vor-aussetzung erhalten wurde, ja welcher notwendig eine solche Voraussetzung voraussetzt und nicht ohne sie erhalten werden könnte. All das scheint eine sehr widerspruchsvolle Art der Argumentation zu sein, so wie sie in der Theologie nicht erlaubt wäre ... Ich gebe zu, dass man ein Zeichen entweder etwas oder nichts bezeichnen lassen kann und dass folglich, in der ursprünglichen Bezeichnungsweise x+o, das o entweder einen Zuwachs oder ein Nichts bezeichnet haben mag. Aber welches von diesen ihr es auch bezeichnen lasst, ihr müsst widerspruchsfrei argumentieren mit einer solchen Bezeichnung und dürft nicht gestützt auf einen Doppelsinn voranschreiten; denn das wäre ein offenbares Sophisma. Mögt ihr mit Worten oder Symbolen argumentieren, die Regeln richtigen Denkens sind immer dieselben. Noch kann man annehmen, dass ihr in der Mathematik das Privileg verlangt, von ihnen ausgenommen zu sein ... Und was sind diese verschwindenden Zuwüchse? Sie sind weder endliche Größen, noch unendlich kleine Größen noch auch nichts. Dürfen wir sie nicht die Gespenster abgeschiedener Größen nennen?"

Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) verwendete zwar eine andere, auch heute noch sehr gebräuchliche Schreibweise: Differenziale. Seine Schwierigkeiten bei der Argumentation waren aber ähnlich wie bei Newton

Leibniz bezeichnete beim Differenzenquotienten f x f x

x x

y y

x x

( ) ( )2 1

2 1

2 1

2 1

−=

−, die

Differenzen im Zähler bzw. Nenner mit ∆x bzw. ∆y, also: y y

x x

y

x2 1

2 1

−=∆

Zur Berechnung der Ableitung überlegte Leibniz so: Nähert sich der eine x-Wert dem anderen, so wird ∆x immer kleiner. Ebenso wird ∆y immer kleiner. Schließlich erhält man „unendlich kleine Größen“, die Leibniz mit dx und dy bezeichnete und Differenziale nannte. Die Zahl, der sich der Quotient der Differenzen ∆y und ∆x nähert, wurde als Quotient der Differenziale angesehen, deshalb auch der Name

Differenzialquotient genannt und mit dy

dx bezeichnet.

Das Problem der Überlegungen von Leibniz ist Folgendes: Was sind „unendlich kleine Größen“? Wie kann man aus zwei unendlich kleinen Größen deren Quotienten berechnen? Obwohl Leibniz dies nicht näher erklären konnte, verwendete man doch

weiterhin die Bezeichnung dy

dx für die Ableitung und tut dies auch heute noch. Da

jedoch die Ausdrücke „dx“ bzw. „dy“ für sich nicht definiert werden, zumindest nicht als reelle Zahlen, darf dieses Symbol auch nicht als Bruch von zwei reellen Zahlen

verstanden werden, sondern ist nur als Ganzes sinnvoll. dy

dx wird auch nicht „dy

durch dx“ gelesen, sondern „dy nach dx“.

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(Es ist möglich, Differenziale „dx“, „dy“ usw. auch für sich in sinnvoller Weise zu

definieren – wenn auch nicht als reelle Zahlen – und dann dy

dx als Bruch anzusehen.

Eine Möglichkeit der Definition von Differenzialen läuft darauf hinaus, zusätzlich zu den reellen Zahlen so genannte „unendlich kleine Größen“ als Rechenelemente einzuführen. Diese unter dem Namen „Nonstandard Analysis“ bekannte Methode wurde erst in den letzten Jahrzehnten entwickelt und kann als nachträgliche Rechtfertigung der Leibniz‘schen Denkweise angesehen werden.)

4.4 Die Exaktifizierung der Analysis

Die Erfolge, die die Mathematiker mit der neuen Methode in den Anwendungen (vor allem in der Physik) verzeichnen konnten, täuschen etwas darüber hinweg, dass Berkeleys Kritik an der Verwendung der „unendlich kleinen Größen“ streng genommen noch immer aufrecht war. Neben der Verallgemeinerung der Infinitesimalrechnung auf R

n und C sowie vielfältigen Anwendungen (Differenzialgleichungen, Fourierreihen, ...) galt das Interesse vieler Mathematiker auch einer exakteren Fundierung, um sie gegenüber Kritikern wie Bischof Berkeley unangreifbar zu machen. Wunschtraum war, dieses Gebiet „more geometrico“, also im axiomatischen Stil von Euklids „Elemente“, aufzubauen.

Cauchy gelang es schließlich zu Beginn des 19. Jahrhunderts, durch die Einführung des Begriffs „Grenzwert“ (Limes) die Differenzial- und Integralrechnung auf eine hinreichend exakte Basis zu stellen. In seinem berühmten Buch Cours d'Analyse (1821) definierte er: „Wenn die sukzessiven Werte, die einer Variablen erteilt werden, unbeschränkt gegen einen festen Wert streben, indem sie letzten Endes von ihm um so wenig abweichen, wie man will, so heißt dieser letztere der Limes aller anderen.“ (Zitiert nach Stewart 1990, S. 98)

Damit war es Cauchy möglich, den Begriff der „unendlich kleinen Größe“ auf eine exaktere Basis zu stellen: „Man sagt, dass eine variable Größe unendlich klein wird, wenn ihr Zahlenwert in solcher Weise unbeschränkt abnimmt, dass er gegen den Limes 0 konvergiert.“ (A. a. O., S. 98)

Eine infinitesimale Größe ist nach Cauchy also eine Variable und nicht eine (unendlich kleine positive) Konstante. Entsprechend ist „Unendlich“ keine Konstante, sondern eine Variable, die unbeschränkt große Werte annehmen kann. (Hier lebt also wieder der aristotelische Begriff des potentiell Unendlichen auf!)

Letzter Stein des Anstoßes in Cauchys Definition war die Floskel „ ... so wenig ab-weichen, wie man will ...“. Diese Schwierigkeit wurde um etwa 1850 von Karl Weierstraß durch die Einführung der „Epsilontik“ behoben. Dennoch ist seine Definition (zitiert nach Stewart 1990, S. 99) im Vergleich zu heute üblichen Formulierungen noch „ungewohnt textreich“:

„Eine Funktion f(x) strebt gegen einen Grenzwert L, falls x gegen einen Wert a strebt, wenn zu einer beliebig vorgegebenen positiven Zahl ε die

Differenz f x L( )− [dem Betrage nach] kleiner als ε ausfällt, sobald nur x–a

[dem Betrage nach] kleiner als eine gewisse Zahl δ ist, die von ε abhängt."

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Hand in Hand mit der Exaktifizierung der Analysis ging die Präzisierung des Begriffs „reelle Zahl“. Ein wichtiger Schritt wurde dabei von Bernard Bolzano (1781–1848) beigesteuert, vor allem mit seiner Arbeit „Rein analytischer Beweis des Lehrsatzes, dass zwischen zwei Werten, die ein entgegengesetztes Resultat gewähren, wenigstens eine reelle Wurzel der Gleichung liege.“ Bolzano, Professor für Religionsphilosophie in Prag, fiel bei der kirchlichen Obrigkeit in Ungnade und wurde mit Publikationsverbot bestraft. Daher wurden einige seiner Werke erst nach seinem Tod herausgegeben.

Weiterer Ausbau der Analysis:

Otto Stolz (1842 – 1905): Differenzierbarkeit im Rn

Stefan Banach (1892 – 1945): Banachraum

Maurice Fréchet (1879 – 1973): Differenzialrechnung in allgemeinen Räumen, Fréchet-Ableitung

Henry Lebesgue (18975 – 1941): Lebesgue-Integral

Eine erste Theorie der reellen Zahlen stammt von Richard Dedekind („Dedekind‘scher Schnitt“). Über die Motivation zur Ausarbeitung dieser Theorie schreibt Dedekind in seinem 1872 erschienenen Büchlein „Stetigkeit und irrationale Zahlen“:

„Die Betrachtungen, welche den Gegenstand dieser kleinen Schrift bilden, stammen aus dem Herbst des Jahres 1858. Ich befand mich damals als Professor am eidgenössischen Polytechnikum zu Zürich zum ersten Male in der Lage, die Elemente der Differenzialrechnung vortragen zu müssen, und fühlte dabei empfindlicher als jemals früher den Mangel an einer wirklich wissenschaftlichen Begründung der Arithmetik. Bei dem Begriffe der Annäherung einer veränderlichen Größe an einen festen Grenzwert und namentlich bei dem Beweise des Satzes, dass jede Größe, welche beständig, aber nicht über alle Grenzen wächst, sich gewiss einem Grenzwert nähern muss, nahm ich meine Zuflucht zu geometrischen Evidenzen. Auch jetzt halte ich ein solches Heranziehen geometrischer Anschauung bei dem ersten Unterrichte in der Differenzialrechnung vom didaktischen Standpunkte aus für außerordentlich nützlich, ja unentbehrlich, wenn man nicht gar zu viel Zeit verlieren will. Aber dass diese Art der Einführung in die Differenzialrechnung keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit machen kann, wird wohl niemand leugnen.“

Nonstandard Analysis

Nach einer Erörterung der Leibniz‘schen Schreibweise, insbesondere der Schwierig-keiten, die mit dem Begriff des Differenzials einhergehen, bietet sich die Möglichkeit, einen Beitrag zur „Zeitgeschichte der Mathematik“ zu leisten, nämlich ein kurzer Bericht über die von A. Robinson (1918–1974) Anfang der Sechzigerjahre entwickelte Nonstandard Analysis (Robinson 1966). Diese Unterrichtseinheit sollte m. E. tatsächlich in erzählender Form und nicht im üblichen Unterrichtsstil, d. h. als Verfahren mit entsprechenden Übungsaufgaben, an die Schüler herangetragen werden.

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Das Problem mit den Differenzialen – darunter stellte man sich zu Leibniz' und Eulers Zeiten unendlich kleine Zahlen ≠ 0 vor – besteht darin, dass es in der Menge der reellen Zahlen keine solchen Zahlen geben kann: eine reelle Zahl ist entweder 0 oder ≠ 0; eine von 0 verschiedene Zahl kann sich zwar von 0 sehr wenig unterscheiden, aber nicht unendlich wenig.

Nun gibt es prinzipiell zwei Auswege:

- Man verwirft das Konzept des Differenzials und versucht andere Wege zu beschreiten, die Differenzialrechnung auf eine begrifflich exaktere Basis zu stellen. Ein solcher Weg wurde im Prinzip zu Beginn des 19. Jahrhunderts, vor allem von A. L. Cauchy beschritten, der durch den Begriff des Grenzwerts den Differenzialbegriff umging.

- Man kann aber auch die Vorstellung von den reellen Zahlen R überdenken und diese durch eine erweiterte Zahlenmenge, das so genannte Nonstandardmodell R* der reellen Zahlen, ersetzen.

Das Nonstandardmodell R* umfasst die Menge R als echte Teilmenge und darüber hinaus noch eine Menge von infinitesimalen Elementen, die den Differenzialen entsprechenden „unendlich kleinen Zahlen ≠ 0“:

Da man in der Menge ∇* unbeschränkt durch alle Zahlen ≠0 dividieren möchte, müssen auch alle Kehrwerte solcher infinitesimaler Elemente in ∇* liegen. (D. h., ∇* soll einen Körper bilden.) Diese Kehrwerte entsprechen (dem Betrage nach) „unendlich großen Zahlen“. Im Gegensatz zu diesen versteht man unter den endlichen Zahlen die folgende Menge:

Nun greift man die bei Leibniz auftretende Idee auf, dass sich zwei Zahlen „unendlich wenig“ unterscheiden können, und führt eine neue „Gleichheitsrelation“ ein:

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