Geschlossene Unterbringung

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Geschlossene Unterbringung Annäherungen an eine Innensicht Die im vergangenen Jahr zunächst durch Veröffentlichungen in der Presse bekannt gewordenen Vorkommnisse in geschlossenen Einrich- tungen der Kinder- und Jugendhilfe der Haasenburg GmbH irritierten und erschütterten Öffentlichkeit und Fachwelt in einer neuen Form. Hierbei ging es in erster Linie nicht um das Für und Wider Geschlossener Unterbringung (GU) von jungen Menschen im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe, sondern der Blick richtete sich auf das Innenleben dieser Einrichtungen. Dabei wurde offenbar, dass Kinder und Jugend- liche, die in geschlossenen Einrichtungen un- tergebracht sind, ihren Alltag sehr bewusst er- leben. Und es erschreckte, dass ihnen in einer übermächtigen Struktur der Institution absolu- te Anpassung bis hin zu Aufgabe ihrer Persön- lichkeit abverlangt wurde, dass ihnen Unrecht geschah und dass sie Zwang und Gewalt erleb- ten. Diese Erkenntnis war Anlass, das Thema „Blackbox GU“ zum Schwerpunkt einer Sozi- al-Extra-Ausgabe zu machen, in dem das Erle- ben und die Sichtweise der von GU betroffenen Kinder und Ju- gendlichen beleuchtet werden. Junge Menschen, die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Anspruch nehmen, haben ein Recht auf Förderung ihrer Ent- wicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. So ist es im § 1 SGB VIII/ KJHG geregelt. Dieser Anspruch fordert Fachkräfte, Träger, Or- ganisationen und Politik, Einrichtungen und Settings (soziale Or- te) zu schaffen und zu gestalten, an denen junge Menschen sich po- sitiv entwickeln und entfalten können. Vor diesem Hintergrund stellen sich Fragen wie Welche Erfahrungen machen junge Menschen in (stationären) Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe? Was lernen sie dort und wie entwickeln sie sich weiter? Welche Wirkungen entfalten Einflüsse des Hilfesystems im weiteren Lebensverlauf und wie werden diese biografisch re- flektiert? Wie werden Kinder und Jugendliche in (stationären) Einrich- tungen des Jugendhilfesystems geschützt? Diesen Fragen müssen sich alle Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe stellen - auch diejenigen, die geschlossen sind. Im Zentrum der nachfolgenden Beiträge stehen also nicht die sozialpädagogischen Intentionen geschlossener Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe (die beispielsweise in Konzeptionen nachlesbar sind), sondern die Alltagserfahrungen in einer GU, die Sichtweise und Einschätzung der betroffenen jungen Menschen sowie die Folgen. In zwei kontrastierenden Texten wird dieser Fokus aufgegriffen: in dem Beitrag von Nina Oelkers, Annika Gaßmöller und Nadi- ne Feldhaus mit Aussagen junger Menschen, die gegenwärtig in einer GU untergebracht sind und die sich im Rahmen eines For- schungsprojektes mitgeteilt haben und in dem Beitrag von Son- ja Djurovic, die in den 60er Jahren in einem geschlossenen Mäd- chenheim untergebracht war. Sie schildert den damaligen Alltag und beschreibt die Folgeschäden der Erfahrungen, die sie in einer machtvollen Institution gemacht hat, die von Elementen der An- passung, des Zwangs, von Bestrafungen, der Isolation und fehlen- der Entscheidungsmöglichkeiten strukturiert war. In beiden Beiträgen werden junge Menschen als handelnde Sub- jekte sichtbar, die ihre Umwelt und die darin agierenden Men- schen – auch Fachkräfte in GU-Einrichtungen – sehr genau wahrnehmen und durch die Alltagserfahrungen lernen. Es bleibt fraglich, wie Kinder und Jugendliche durch Erfahrungen von Un- freiheit und Einschluss eine eigenständige Persönlichkeit entwi- ckeln, demokratische Bürgerrechte lernen und leben und später Teilhabe an der Gesellschaft entfalten sollen. Der Beitrag von Friedhelm Peters stellt diese Aspekte heraus und zeigt Alternativen zur GU auf, die dem Anliegen folgen, Lernpro- zesse und biografische Entwicklungen durch Interventionen der Kinder- und Jugendhilfe zu fördern. Dabei geht es auch darum, Beschädigungen der Betroffenen durch GU sowie (Re-) Trauma- tisierungen zur vermeiden. Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe – und dies gilt auch für GU-Einrichtungen - müssen sich u.a. folgenden Kriterien und Anforderungen stellen: Abstract / Das Wichtigste in Kürze Blick auf das Innenleben geschlossener Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe; Einführung in den Themenschwerpunkt. Keywords / Stichworte Geschlossene Unterbringung, Perspektive von Kindern und Jugendlichen Regina Rätz *1970 Prof. Dr. phil, Hochschul- lehrerin für Soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendhil- fe an der Alice Salo- mon Hochschule Berlin. [email protected] 36 Sozial Extra 2 2014: 36-37 DOI 10.1007/s12054-014-0021-1 Durchblick Geschlossene Unterbringung

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Geschlossene UnterbringungAnnäherungen an eine Innensicht

Die im vergangenen Jahr zunächst durch Veröentlichungen in der Presse bekannt gewordenen Vorkommnisse in geschlossenen Einrich-tungen der Kinder- und Jugendhilfe der Haasenburg GmbH irritierten und erschütterten Öentlichkeit und Fachwelt in einer neuen Form. Hierbei ging es in erster Linie nicht um das Für und Wider Geschlossener Unterbringung (GU) von jungen Menschen im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe, sondern der Blick richtete sich auf das Innenleben dieser Einrichtungen.

Dabei wurde o�enbar, dass Kinder und Jugend-liche, die in geschlossenen Einrichtungen un-tergebracht sind, ihren Alltag sehr bewusst er-leben. Und es erschreckte, dass ihnen in einer übermächtigen Struktur der Institution absolu-te Anpassung bis hin zu Aufgabe ihrer Persön-lichkeit abverlangt wurde, dass ihnen Unrecht geschah und dass sie Zwang und Gewalt erleb-ten. Diese Erkenntnis war Anlass, das Thema „Blackbox GU“ zum Schwerpunkt einer Sozi-al-Extra-Ausgabe zu machen, in dem das Erle-

ben und die Sichtweise der von GU betro�enen Kinder und Ju-gendlichen beleuchtet werden.Junge Menschen, die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe

in Anspruch nehmen, haben ein Recht auf Förderung ihrer Ent-wicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. So ist es im § 1 SGB VIII/KJHG geregelt. Dieser Anspruch fordert Fachkräfte, Träger, Or-ganisationen und Politik, Einrichtungen und Settings (soziale Or-te) zu scha�en und zu gestalten, an denen junge Menschen sich po-sitiv entwickeln und entfalten können.

Vor diesem Hintergrund stellen sich Fragen wie •Welche Erfahrungen machen junge Menschen in (stationären)

Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe? •Was lernen sie dort und wie entwickeln sie sich weiter? •Welche Wirkungen entfalten Ein�üsse des Hilfesystems im

weiteren Lebensverlauf und wie werden diese biogra�sch re-�ektiert?

•Wie werden Kinder und Jugendliche in (stationären) Einrich-tungen des Jugendhilfesystems geschützt?

Diesen Fragen müssen sich alle Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe stellen - auch diejenigen, die geschlossen sind.

Im Zentrum der nachfolgenden Beiträge stehen also nicht die sozialpädagogischen Intentionen geschlossener Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe (die beispielsweise in Konzeptionen nachlesbar sind), sondern die Alltagserfahrungen in einer GU, die Sichtweise und Einschätzung der betro�enen jungen Menschen sowie die Folgen.In zwei kontrastierenden Texten wird dieser Fokus aufgegri�en:

in dem Beitrag von Nina Oelkers, Annika Gaßmöller und Nadi-ne Feldhaus mit Aussagen junger Menschen, die gegenwärtig in einer GU untergebracht sind und die sich im Rahmen eines For-schungsprojektes mitgeteilt haben und in dem Beitrag von Son-ja Djurovic, die in den 60er Jahren in einem geschlossenen Mäd-chenheim untergebracht war. Sie schildert den damaligen Alltag und beschreibt die Folgeschäden der Erfahrungen, die sie in einer machtvollen Institution gemacht hat, die von Elementen der An-passung, des Zwangs, von Bestrafungen, der Isolation und fehlen-der Entscheidungsmöglichkeiten strukturiert war.In beiden Beiträgen werden junge Menschen als handelnde Sub-

jekte sichtbar, die ihre Umwelt und die darin agierenden Men-schen – auch Fachkräfte in GU-Einrichtungen – sehr genau wahrnehmen und durch die Alltagserfahrungen lernen. Es bleibt fraglich, wie Kinder und Jugendliche durch Erfahrungen von Un-freiheit und Einschluss eine eigenständige Persönlichkeit entwi-ckeln, demokratische Bürgerrechte lernen und leben und später Teilhabe an der Gesellschaft entfalten sollen.Der Beitrag von Friedhelm Peters stellt diese Aspekte heraus und

zeigt Alternativen zur GU auf, die dem Anliegen folgen, Lernpro-zesse und biogra�sche Entwicklungen durch Interventionen der Kinder- und Jugendhilfe zu fördern. Dabei geht es auch darum, Beschädigungen der Betro�enen durch GU sowie (Re-) Trauma-tisierungen zur vermeiden.Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe – und dies gilt auch

für GU-Einrichtungen - müssen sich u.a. folgenden Kriterien und Anforderungen stellen:

Abstract / Das Wichtigste in Kürze Blick auf das Innenleben geschlossener Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe; Einführung in den Themenschwerpunkt.

Keywords / Stichworte Geschlossene Unterbringung, Perspektive von Kindern und Jugendlichen

Regina Rätz *1970

Prof. Dr. phil, Hochschul-lehrerin für Soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendhil-fe an der Alice Salo-mon Hochschule Berlin.

[email protected]

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Sozial Extra 2 2014: 36-37 DOI 10.1007/s12054-014-0021-1

Durchblick Geschlossene Unterbringung

•Förderung von Entwicklung und Erziehung junger Menschen;•Initiierung von Lernprozessen (auch durch Alltagserfahrun-

gen), die biogra�sch integriert werden können;•Aufarbeitung und Verstehen der eigenen Lebens- und Fami-

liengeschichte;•Förderung des Erwerbs von persönlichen und sozialen Kom-

petenzen;•Initiierung von Bildungsprozessen;•Unterstützung im Alltag;•Vorbereitung auf ein selbstständiges Leben;•Wirkungen der Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe, die

sich im weiteren Leben der jungen Menschen entfalten;•Gewährleistung des Kindeswohls;•Gewährleistung der Rechte von jungen Menschen, orientiert

an der UN KRK (vor allem aber müssen die Beteiligungsrech-te gem. des SGB VIII/KJHG, insbesondere §§ 8; 36 SGB VIII/KJHG realisiert werden);

Oelkers, Gaßmöller und Feldhaus weisen in ihrem Beitrag dar-auf hin, dass die Sicherung der Rechte von Kindern und Jugend-lichen für alle Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe leitend sein muss. Grenz- und Rechtsverletzungen gegenüber Kindern

und Jugendlichen im sozialpädagogischen Alltag dürfen nicht hin-genommen werden. Deshalb bedarf es Beteiligungsmöglichkeiten für die jungen Menschen sowie Zugang zu Beschwerde- und An-laufstellen (sog. Ombudschaftsstellen), die für die Jugendlichen erreichbar sind. Schon allein diese Kontakte würden einen Aus-tausch zwischen den GU-Einrichtungen und der Außenwelt bie-ten und eine Ö�nung bedeuten. Schließlich bleibt immer noch die Grundfrage, ob die Einschlie-

ßung junger Menschen in Einrichtungen der Kinder- und Jugend-hilfe überhaupt einen hinreichend guten Ort für sozialpädagogi-sche und ggf. auch therapeutische Tätigkeiten bieten kann. Denn: Alle bekannten Konzepte und auch die in diesem Schwerpunkt dargestellten Erfahrungen und Sichtweisen sprechen dagegen. s

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Gesundheitsschutz in der pädagogischen ArbeitJetzt Programmhe� bestellen und anmelden! BGW forum Nord: 13./14. Juni 2014, Bremen • • • BGW forum Süd: 28./29. November 2014, Ulm • • •

Um die Gesundheit im Beruf geht es bei zwei Veranstaltungen für den Bereich pädagogische Arbeit, zu denen die Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) gemeinsam mit den Unfallkassen Bremen und Baden-Württemberg einlädt. Beide Fach-kongresse bieten das gleiche Programm.

Die Zielgruppe: Angesprochen sind pädagogische Fachkräfte in der Sozialwirtschaft, wie Erzieherinnen und Erzieher in Kindertagesein-richtungen oder Beschäftigte in den Bereichen Jugendhilfe, Beratung, Berufsbetreuung, Heilerziehungspflege und berufliche Bildung für das Gesundheitswesen.

Die Vorträge und Workshops helfen, den Gesundheitsschutz der Beschäftigten in die Arbeitsabläufe zu integrieren.

Die Beispiele zeigen praxisnah, wie sich ein langes, gesundes Berufs- leben ermöglichen lässt.

Die Themen reichen von Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz, psychischen Belastungen, Management, Kommunikation und Krisen-management bis zum Umgang mit den Klienten und vielem mehr.

Mehr wissen: www.bgwforum.de, E-Mail: [email protected]

FÜR EIN GESUNDES BERUFSLEBEN