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16 kritik der wertkritik kritik der kritik der wertkritik herrschaft, befreiung und gedächtnis fordismus und familiensystem bonjour tristesse - verlorene zukunft außerdem: buchbesprechngen, paris-riots grundrisse zeitschrift für linke theorie & debatte winter_2005 preis_euro_4.80 anmerkungen zur grammatik der multitude gespräch mit toni negri

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16kritik der wertkritik

kritik der kritik der wertkritik

herrschaft, befreiung und gedächtnis

fordismus und familiensystem

bonjour tristesse - verlorene zukunft

außerdem: buchbesprechngen,paris-riots

grundrisse

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gespräch mit toni negri

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Die offenen Redaktionstreffen der grundrisse finden jeden 2. und 4. Montag im Monat um 19 Uhr in derMartinstraße 46, 1180 Wien, statt. Interessierte LeserInnen sind herzlich eingeladen.

Weitere Infos unter: www.grundrisse.net und unter [email protected] Jahresabo kostet für 4 Nummern Euro 18,-, das 2-Jahres-Abo nur 33,- Euro!

Bestellungen entweder an [email protected] oder an K. Reitter, Antonigasse 100/8, A-1180 WienBankverbindung: Österreich: BAWAG Konto Nr. 03010 324 172 (K. Reitter), Bankleitzahl 14000. International: BIC = BAWAATWW, IBAN = AT641400003010324172, Empfänger = K. Reitter,Zahlungszweck: Abo ab Nr. xx

Impressum: Medieninhaberin: Partei grundrisse Antonigasse 100/8, 1180 WienHerausgeberin: Redaktion grundrisse (Wolfgang Bacher, Martin Birkner, Bernhard Dorfer, Robert Foltin,Birgit Mennel, Franz Naetar, Paul Pop, Karl Reitter, Andrea Salzmann, Klaus Zoister)MitarbeiterInnen dieser Nummer: Jürgen Albohn, Stefan Almer, Klaus Neundlinger, Stefan Nowotny,Gerold Wallner, Claudia WratschkoGraphikkonzept: Harald MahrerErscheinungsort: Wien. Herstellerin: Digidruck, 1030 WienOffenlegung: Die Partei grundrisse ist zu 100% Eigentümerin der Zeitschrift grundrisse. GrundlegendeRichtung: Förderung gesellschaftskritischer Diskussionen und Debatten. Copyleft: Der Inhalt der grundrisse steht unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation.

Inhaltsverzeichnis

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Die Redaktion Inhaltsverzeichnis

1

[ 1 ] Impressum Seite 2

[ 2 ] Editorial Seite 3

[ 3 ] Martine Lemire und Nicolas Poirier: Gespräch mit Toni Negri Seite 7

[ 4 ] Theorie ohne revolutionäre Praxis ist Opium fürs Volk - Eine Kritik der Wertkritik [Jürgen Albohn] Seite 17

[ 5 ] Si tacuisses! (Eine Antwort auf Jürgen Albohn) [Gerold Wallner] Seite 26

[ 6 ] Kollektives Gedächtnis, Herrschaft und BefreiungTheoretische und persönliche Überlegungen [Nemo Klee] Seite 32

[ 7 ] Fordismus und Familiensystem [Robert Foltin] Seite 41

[ 8 ] Bonjour, Tristesse... Stéphane Beauds und Michel Pialouxs Studie,,Die verlorene Zukunft der Arbeiter“ [Slave Cubela] Seite 48

[ 9 ] Zwei Anmerkungen zur Grammatik der Multitude [Paolo Virno] Seite 53

[10] Buchbesprechungen Seite 59

ISSN: 1814-3156Key title: Grundrisse (Wien, Print)

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Editorial

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Die Redaktion Editorial u.v.a.m.

Liebe Leserinnen, liebe Leser!

Erst kommt die Werbung, dann das Editorial:Um unserer Freude über das Erscheinen der deut-schen Übersetzung von Paolo Virnos �Grammatikder Multitude�*) Ausdruck zu verleihen und sie mitunserer Freude über das eine oder andere neue Abokombinieren zu können, präsentieren wir hiermitdas vorweihnachtliche Besinnungsangebot: Zu allenneuen Zweijahresabos, die bis zum hohen Feste beiuns einlangen, verschenken wir eine Grammatik!

So, jetzt geht´s aber los: Wie mittlerweile fastzur Gewohnheit geworden, ist auch dieses Editorialwieder ein Patchwork verschiedener Texte. Aberauch die Textarten dieser grundrisse, mit der wirden vierten Jahrgang unseres Zeitschriftenprojektsabschließen, sind dermal (noch) vielfältiger: DenAnfang macht die Übersetzung eines längerenGesprächs von Martine Lemire und Nicolas Poirermit Toni Negri, welches ursprünglich in der franzö-sischen Zeitschrift �Le Philosophoire� publiziertwurde. Es folgt eine Kritik der Wertkritik vonJürgen Albohn sowie eine Antwort darauf vonGerold Wallner, Mitglied des wertabspaltungskriti-schen Exit-Projekts. Um den Zugang zu dieserDebatte zu erleichtern, haben wir weiter einführen-de Bemerkungen der Redaktion dazu verfasst. Ihrfindet diese weiter unten.

Nemo Klee stellt �theoretische und persönlicheÜberlegungen� zu den Verbindungen und Ver-strickungen kollektiver Gedächtnisformen hinsicht-lich von Herrschaft und Befreiung an, Robert Foltinwiederum erinnert sich an das Familiensystem imFordismus. �Bonjour, Tristesse...� von Slave Cubelawidmet sich in seinem Essay einer Studie zweierBourdieu-Schüler über die Transformation vonArbeiterInnenklasse, Organisationsform, Bildungund Industriestuktur in der französischen Auto-industrie.Paolo Virnos Buch �Die GrammatikderMultitude� ist, wie oben bereits erwähnt, nun end-lich auch auf Deutsch erschienen. Wir freuen unsbesonders, euch �Zwei Anmerkungen� vom Autordazu präsentieren zu können (ihr findet übrigens un-ter http://not.priv.at/keineuni/Paolo_Virno aktuelleInformationen über den grundrisse-workshop imRahmen des KeineUni-Projektes). In den

Buchbesprechungen setzen wir uns mit Karl-HeinzRoths �Zustand der Welt� und einem imWestfälischen Dampfboot Verlag erschienenenSammelband zu Sozialen Bewegungen in Latein-amerika auseinaner.

Doch zurück zum Patchwork. Die Aufstände inden Pariser Banlieues dominierten auch hierzulandedie Medien. Vom rechtskonservativen Feuilleton bishin zu etatistisch linksradikalen trotzkistischenKleingruppen wurde �falsche Politik� konstatiert,wo doch deren jeweils �richtige� sich auf längstüberkommene gesellschaftliche Zustände orientie-ren sollte. Wir dokumentieren dagegen ein Flugblattder �Indigenen der Republik� - mit einer kurzenEinleitung.

Nicht zuletzt werdet ihr vielleicht schon etwaseigenartiges inmitten dieses Heftes bemerkt haben.Unser einzigartiges, nur einem Teil der Auflage bei-gefügtes Poster �dokumentiert� Streetart ausVienna, so auch die Bildleisten im Heft. Wohl be-komms! - und beachtet bitte die diesbezüglicheWerbeeinschaltung auf der hinteren innerenUmschlagseite ... Und weil wir gerade beim Werbensind: Die grundrisse sind seit kurzem Mitglied imInternetkooperationsprojekt www.linksnet.de.

Abschließend noch vielen Dank an: StefanAlmer und Stefan Nowotny für die Übersetzungdes Gesprächs mit Toni Negri, Claudia Wratschkofür jene des MIR-Flugblattes, Klaus Neundlingerfür die der beiden Anmerkungen Paolo Virnos.Ohne euch wäre der von uns als notwendig erachte-te Blick über den deutschsprachigen Tellerrand be-deutend mühsamer!

Dieses war der erste Streich, gutes Lesen, gutesFeiern und alles Gute wünscht sogleich

die gundrisse-redaktion

Bemerkungen zum Artikel von Jürgen Albohn& zur Antwort von Gerold Wallner

In diesem Heft findet ihr einen Artikel vonJürgen Albohn, der die Grundlagen der so genann-ten Wertkritik selbst einer kritischen Betrachtungunterzieht, sowie eine Antwort von Gerold Wallner(Exit), der diese auf unser Angebot, eine Replik zuverfassen, geschrieben hat (Von der ebenfalls zurAntwort eingeladenen Krisis-Gruppe erhielten wir

*) Paolo Virno: Grammatik der Multitude / Die Engel und derGeneral Intellect. Übersetzt von Klaus Neundlinger. Turia + Kant,Wien 2005, 14 Euro

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keinen Text).Wer nun mit diesem Diskurs wenigvertraut ist, wird möglicherweise Probleme haben,Kritik und Antwort entsprechend einzuordnen odernachzuvollziehen. Daher seien hier ein paar klären-de Worte angebracht.

Wie Albohn richtig ausführt, ist der Ausdruck�Wertkritik� ein Oberbegriff, auf den sich inzwi-schen die unterschiedlichsten politischen Gruppenberufen, die mittlerweile ein ausgesprochen polemi-sches, ja feindseliges Verhältnis zueinander pflegen.Auf die Wertkritik beruft sich einerseits die anti-deutsche Initiative Sozialistisches Forum Freiburg,die ideologisch und personell eng mit dem ça ira-Verlag verbunden ist. Anderseits auch die seit ihrerSpaltung keineswegs freundschaftlich verkehrendenZeitschriftenredaktionen von Krisis (in Österreich�Streifzüge�) und Exit. Zudem haben sich die ver-schiedenen Gruppen durchaus sehr unterschiedlichentwickeltet und mehrmals den Schwerpunkt ihrerArgumentationen verschoben.

Auch wenn innerhalb des wertkritischen Milieusgerne darauf gepocht wird, sie hätten �nichts� mit an-deren Tendenzen gemeinsam, so muss dies doch rela-tiviert werden. Zumindest als geteilter Ausgangs-punkt für später divergierende Entwicklungen sindzweifellos bestimmte theoretische Momente festzu-stellen, und nicht zufällig berufen sich fast alleWertkritikerInnen auf das Buch von Moishe Postone,�Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft� (Inder Nr. 10 der grundrisse findet ihr dazu eine aus-führliche Kritik). Diese gemeinsamen Momente, dieAlbohn durchaus trefflich in seinem Artikel heraus-arbeitet, lassen sich schlagwortartig folgendermaßenzusammenfassen: Die Kritik an der kapitalistischenGesellschaft wird fast ausschließlich auf Basis des er-sten Abschnitts des Marxschen �Kapitals� � insbe-sondere des Fetischkapitels � entwickelt. So, als seimit der Kritik an Ware, Wert und Geld schon allesWesentliche gesagt. Aus dieser Verkürzung resultiertauch eine eigentümliche Sprachregelung. Wert-kritikerInnen sprechen kaum vom Kapitalverhältnissondern bevorzugen Ausdrücke wie �warenförmigeVergesell-schaftung�, �subjektlose Herrschaft�,�Warenpro-duktion� oder �Arbeitsgesellschaft�, mit-hin alles Begriffe, die ausschließlich auf die Kritik vonGeldzirkulation und Arbeitsethos abzielen. Klassenund Klassenkampf werden als notwendiges�Zubehör� der kapitalistischen Vergesellschaftungangesehen, jedenfalls nicht und niemals in der Lage,den Kapitalismus zu überwinden und deshalb von sogeringem Interesse, dass es sich kaum lohnt, des-wegen den Kopf zu heben.

Wenn nun Gerold Wallner in seiner Antwortdarauf hinweist, Albohn hätte die jüngstenEntwicklungen der nun mehr Wertabspaltungskritik

nicht berücksichtigt, so ist dies zweifellos zutref-fend. Es ist aber eine Sache, die � wenngleich auchinzwischen historischen � Grundlagen der Wert-kritik kritisch darzustellen, eine andere, auf dieWeiterentwicklung eben dieser Grundlagen einzu-gehen. Zweifellos hat sich der Diskurs derKrisisgruppe, insbesondere nach der Spaltung inKrisis und Exit, transformiert. Während etwa nochim 1999 erschienenen �Manifest gegen die Arbeit�der kommende Zusammenbruch des Kapitalismusauf ganzen Kontinenten und in wichtigen Sektorenbeschworen wird � (�Es ist nur eine Frage der Zeit,bis auch die Finanzmärkte der kapitalistischenZentren in den USA, der EU und Japan kollabieren.�http://www.krisis.org/diverse_manifest-gegen-die-arbeit_1999.html, abgefragt am 5.12.05) � ver-schiebt sich, insbesondere im Umfeld der Exit-Redaktion, der Diskurs in Richtung einer sehr allge-meinen und klassenübergreifenden Kritik amVergesellschaftungsmodell des �warenproduzieren-den Patriarchats�. Der von Wallner favorisierteBegriff des �modernen Ensembles� soll offenbar einTheorieprojekt anzeigen, das die (Waren)Gesell-schaft als totalitären Zusammenhang interpretiertund als dessen konstituierende Momente, insbeson-dere �Subjekt�, �Wert� und �Arbeit�, zu dechiffrie-ren wären.

Vorbemerkung zum Flugblatt der M.I.R.

�Denn die einen sind im DunkelnUnd die andern sind im Licht.Und man siehet die im Lichte

Die im Dunkeln sieht man nicht.�(Bert Brecht, Dreigroschenoper)

Zur Topographie jeglicher Herrschaft zählen un-abdingbar Zonen der Unsichtbarkeit und derLautlosigkeit. Wer das Pech hat, in eine solche Zonegestellt zu sein, der und dem wird der Subjektstatusabgesprochen. Abgesehen von den subversivenMöglichkeiten, die das auch beinhaltet, bedeutet dasjedoch vor allem, zum Objekt polizeilicher, büro-kratisch-sozialstaatlicher, pädagogischer, psycholo-gischer und sozialarbeiterischer Aktivitäten degra-diert zu sein. Werden solche Zonen zuProblemzonen für die Herrschaft, irrlichtern dieScheinwerfer der Öffentlichkeit kurzfristig über dasGelände bis sie zur nächsten Sensation desNachrichtengeschäfts weiterziehen.

Auch das grelle Licht solcher temporärenNachrichtenhypes ändert jedoch nichts an dieserGrundverfasstheit. In den Diskursen über die not-wendige Reorganisation der Herrschaft zeichnetsich gerade auch der so genannte moderate Flügelder Machtelite durch striktes Festhalten an denStrukturen der Repräsentation aus:

Die Redaktion Editorial u.v.a.m.

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�Sie� bekommen nicht das, was sie wollen undfordern, und was ihnen selbstverständlich zusteht,sondern das, was �wir� ihnen in unendlicherGroßzügigkeit gnadenhalber gewähren und als für�sie� gut erachten. Auch wenn vorgeblichVerständnis heischend davon gesprochen wird, dassbrennende Autos eben die Sprache der Sprachlosenseien, ist das nicht nur empirisch Unsinn � die über-wiegende Mehrheit in den Banlieues spricht ganzausgezeichnet Französisch �, sondern bringt vor al-lem das Festhalten an der überkommenenVerteilung der Sprecherpositionen zum Ausdruck.Das Problem ist ganz und gar nicht die vermeintli-che Sprachlosigkeit der Subalternen undAusgegrenzten, sondern die �Gehörlosigkeit� der

Machteliten, wenn andere als die lizensiertenVerdächtigen die Stimme erheben.

Die grundrisse dokumentieren dagegen einFlugblatt des �Mouvement des Indigènes de laRépublique� (�Bewegung der Indigenen derRepublik�), das diese ziemlich zu Beginn derRebellion publiziert haben. Es ist durch eine Reihevon Zufällen in unsere Hände gelangt und kannselbstverständlich nicht als die maßgebliche Stimmeder Bewegung gelten. Es ist aber in jedem Fall eineStimme eines Teils der Bewegung, die gehört wer-den soll, wenn es darum geht, neue Sprachen zu ent-wickeln, die für das Hervorbringen einer anderenWelt unverzichtbar sind.

Die Redaktion Editorial u.v.a.m.

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Von den �Indigenen der Republik� am Mittwoch, den 9. November 2005 in Umlauf gebracht:

Die permanente Brutalität der Polizei, die Verachtung für den Schmerz der Menschen nach dem Tod der Jugendlichen,dem Tränengasangriff auf eine Moschee, den unverantwortlichen Äußerungen der Staatsautoritäten, die Provokationen derMachthaber, die nur aus politischem Kalkül heraus handeln und deren Interesse sich auf Wahlergebnisse beschränkt, habendie Rolle des Sprengmeisters übernommen, Feuer an die Lunte gelegt und die Sache zur Explosion gebracht. Sie haben dieRevolte ausgelöst, die schon lange unter den indigenen und indigenisierten Jugendlichen der Armenviertel geschwelt hat.Man spricht nun davon, Truppen in die Viertel zu schicken, um die Revolte niederzuschmettern. In der Logik einesBürgerkrieges wird Repression gegen die Revolte erwogen.

Opfer vielfacher Diskriminierungen, Objekte von sozialer Verachtung und Polizeigewalt werden ihrer Zukunft beraubt,deklassiert und zurückgesetzt. Sie werden durch das Schulsystem in Bildungssackgassen manövriert und dürfen sich nichtversammeln, werden stets verdächtigt, an allem Übel schuld zu sein, kurz sie werden ihres Rechts auf Respekt und Würdeberaubt. Die Jugendlichen drücken mit ihrer spektakulären Revolte aus: �Wir haben kein anderes Mittel uns Gehör zu ver-schaffen!� Gegenüber dieser unerträglichen institutionalisierten sozialen Gewalt ist ihre Revolte mehr als legitim, ja heilsam.Es ist eine politische Reaktion. Wenn das aber als Verbrechen dargestellt wird, brutale Repression als Antwort kommt unddazu dann auch noch die Verachtung hinzukommt, so wird von den Machthabern noch Öl ins selbst entfachte Feuer ge-schüttet.

Die Revolte bestätigt die Analyse, die die Bewegung der Indigenen der Republik bereits in ihrem Gründungsappell imJänner 2005 vorgeschlagen hat. Die Antwort der staatlichen Institutionen auf die gegenwärtige Situation ist nur ein weite-res Beispiel für die koloniale Verwaltung der immigrierten Bevölkerung, und zwar unabhängig davon, ob sich das herr-schende Regime als rechts oder links versteht. Dominique de Villepin ist die aktuelle Inkarnation dieses Prinzips. So hat derPremierminister den Ausnahmezustand ausgerufen und damit den Präfekten die Möglichkeit gegeben, Ausgangssperrenüber die Armenviertel zu verhängen. Er stützt sich dabei unmittelbar auf ein Kolonialgesetz, das 1955 beschlossen wordenist, um die algerische Nationalbewegung niederzuschlagen. Es ist dasselbe Gesetz, das benutzt wurde, um dieDemonstrationen der Algerier am 17. Oktober 1961 im Blut zu ersticken und das 1984 unter der sozialistischen Regierungvon Laurent Fabius in Kanaky ebenfalls angewandt wurde. Wir müssen die Kontinuität dieser Praktiken daher nicht be-weisen. Es ist dieselbe ideologische Matrix, die die Kolonialverbrechen ermöglicht hat, die auch die Art und Weise struk-turiert, wie die Bevölkerung aus den ehemaligen Kolonien, die in diesen Vierteln zu wohnen gezwungen ist, gesehen wer-den und wie die Institutionen mit ihnen umgehen.

In diesem Kontext ist auch der neuerdings aufgetauchte Vorschlag zu sehen, schon mit 14 eine Lehre beginnen zu kön-nen, was die gesetzliche Schulpflicht bis 16 in Frage stellt. Diese Errungenschaft versucht die Rechte schon seit langem zuunterwandern und sie erkühnt sich jetzt, das als eine Maßnahme zugunsten der Enterbten zu präsentieren. In Wirklichkeitist das aber nichts anderes als die zynische Ankündigung, dass die Sklaven von heute auch die Sklaven von morgen sein wer-den. Die Form, die die Revolten angenommen haben, führt zu Gewaltanwendungen und Schäden, deren Opfer wiederum

Nein zur kolonialistischen Ausgangssperre! Es ist kein Verbrechen zu revoltieren! Die wirklichen Brandstifter sind die Machthaber!

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die Bevölkerung der Armenviertel ist. Wir möchten den Betroffenen und denen, deren Güter beschädigt oder zerstört wur-den, unsere volle Solidarität ausdrücken. Der für die Situation verantwortliche Staat soll sie unverzüglich für die gesamtenerlittenen Schäden entschädigen. Die Jugend der Armenviertel besteht auf ihrer Würde und fordert ihr Recht, in legalenVerhältnissen leben zu können und dass ihr mit Respekt begegnet wird. Das ist eine hochpolitische soziale Forderung, dievon ihrem Prinzip her völlig richtig und auf die eine politische Antwort zu finden notwendig ist.

Im Folgenden sollen nun gewisse Forderungen erhoben werden:

! Selbstverständlich muss der Innenminister aus der Regierung geworfen werden, wenn er nicht von selbst demissio-niert. Das gilt auch für den Premierminister, der die Repression öffentlich gutheißt, die sein Regierungskollege organisiert.Wir machen uns jedoch keine Illusionen über die Effekte solcher Demissionen. Wenn es auch ein notwendiger symboli-scher Akt ist, so ist es doch keine Lösung und es ist schon gar nicht das wichtigste Ziel unseres Kampfes. Wir kämpfennicht für einen Clan der Machtelite gegen den anderen! Wir machen uns keinerlei Illusionen über die tatsächlichen Zieleund Absichten der Politik, sei sie nun rechts oder links, da sie ohnehin nur auf die Macht schielt und ihr geistiger Horizontbei den nächsten Wahlen endet.

! Hunderte Jugendliche sind im Zuge der Ereignisse bereits durch die Kräfte der Polizei angehalten und inhaftiert wor-den. Wir fordern ihre sofortige Freilassung. Es muss anerkannt werden, dass die Vorwürfe, die ihnen gemacht werden, ei-nen rein politischen Charakter haben. Die gerichtliche Verfolgung dieser Jugendlichen, die eine Provokation darstellt, istsofort einzustellen. Die Revoltierenden sind weder �Abschaum� noch �Gesindel�, sondern sie müssen als das verstandenwerden, was sie sind. Es darf daher auf eine politische Revolte auch nur eine politische Antwort geben.

! Große Teile von Seine-Saint Denis und anderen städtischen Gebieten werden gemäß einer Logik des Bürgerkriegsvon tausenden CRS-Einsatzgruppen und anderen bewaffneten Kräften regelrecht okkupiert. Wir fordern den sofortigenAbzug der Repressionskräfte. Die Anwesenheit dieser Repressionskräfte und � noch extremer � des Militärs tragen nichtzur öffentlichen Sicherheit bei, sondern sie fachen die Krawalle nur weiter an. Sie zielt auf die Würde und stellt gleichzei-tig eine Kollektivbestrafung dar, die wir ablehnen.

! Hunderte Bewohner aus den revoltierenden Vierteln haben große Schäden erlitten. Sie müssen sofort entschädigtwerden. Das ergibt sich logisch aus der Legitimation der Intervention durch die Staatsmacht, die ja beansprucht, dass dieVerantwortung für die derzeitige Situation zur Gänze dem Staat zuzukommen hat.

! Es ist unumgänglich, Licht in die Vorkommnisse zu bringen, die die Revolte ausgelöst haben, also die Wahrheit überden Tod von Zyad Benna und Bouna Traoré und die Tränengasattacke auf die Moschee von Clichy-sous-Bois herauszu-finden. Eine unabhängige Untersuchungskommission muss gebildet werden, der Vertreter der Bewohner und Akteure desFeldes angehören. Die Arbeit dieser Kommission, die Licht in die Handlungsweise der Polizei während der Dauer derVorfälle bringen soll, muss finanziell gewährleistet werden.

! Die Ausrufung des Notstands verstärkt auf skandalöse Art und Weise Isolierung und Einhegung der Armenviertel.Dem muss unverzüglich ein Ende gesetzt werden. Die Bewegungsfreiheit muss wiederhergestellt werden und garantiertbleiben.

! Die auf den Gesetzen Perben, Sarkozy, Chevènement und Vaillant beruhenden Sicherheitsmaßnahmen müssen auf-gehoben und die Gesetze selbst müssen zurückgenommen werden.

Wir fordern eine entschiedene Politik des Kampfes gegen die Diskriminierung in allen Bereichen und sofortigeMaßnahmen gegen Prekarität, Arbeitslosigkeit und Ghettoisierung:

! Schaffung qualitätvoller und stabiler Arbeitsplätzen sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich, ! Garantie realer Gleichheit in Erziehung und Fortbildung,! Maßnahmen zur Verbesserung der Wohnbedingungen und der Lebensqualität in den Armenvierteln, unter anderem

eine Anbindung an ein öffentliches Verkehrsnetz, das diesen Namen auch verdient und daher gratis zur Verfügung gestelltwird,

! Wahlrecht und Bürgerschaft für Nichtfranzosen und Legalisierung aller Sans Papiers.

Wir laden dazu ein, überall wo es möglich ist, Diskussionen und öffentliche Versammlungen abzuhalten, um alle not-wendigen Vorkehrungen zur Koordination von Aktionen zu treffen, die geeignet erscheinen, die Regierung in die Knie zuzwingen.

Die Redaktion Editorial, u.v.a.m.

2

1 Das französische Bildungswesen ist in der Grundstufe egalitärer struk-turiert als hierzulande: Die Schulpflicht beginnt in Frankreich mit dreiJahren. Bis sechs gehen die Kinder ganztags in die �ecole maternelle�(mütterliche Schule), dann folgt die Gesamtschule bis 16 als Hauptform.Nach einer zentralisierten Abschlussprüfung folgt eine so genannteOrientierungsphase, in welcher die Jugendlichen über ihren weiterenBildungsweg �beraten� und nur mehr wenige für die extrem elitär hier-archisierte höhere Bildung selektiert werden. Die Flucht vor einer als,unbefriedigend angesehenen �Arbeitswelt� ins Bildungswesen wird al-so bereits in einem vergleichsweise frühen Lebensalter unterbunden.

Paris, am 9. November 2005

Kontakt: Mouvement des Indigènes de la RépubliqueE-mail: [email protected]: www.indigenes.org

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Le Philosophoire: Ihr intellektueller Werdegangweist eine starke Kohärenz auf � das Projekt, dieImmanenz des Realen auf der Grundlage einer ma-terialistischen �Methode� zu denken: Wenn SieEnde der 70-Jahre mit dem Marxismus gebrochenhaben, so deshalb, weil diese Denkweise IhresErachtens in einem dogmatischen Diskurs erstarrtwar, der die Kategorien des Kapitals im Raster einerverkürzenden und verarmenden Lektüre der Weltverdinglicht hatte und infolgedessen unfähig war,der Tätigkeit der revolutionären SubjektivitätRechnung zu tragen.

Das Werk, das Sie 1979 veröffentlichten, Marxoltre Marx2 (Marx über Marx hinaus) stellte in dieserHinsicht einen Versuch dar, den Kern einer �materi-alistisch-subjektivistischen� Methode freizulegen,die sowohl den objektiven historischen Veränderun-gen als auch dem Selbstkonstituierungsprozess derArbeiterInnenklasse als revolutionärer Klasse Auf-merksamkeit widmete: �Die materialistischeMethode � in genau jenem Maße, wie sie sich gänz-lich subjektiviert findet, völlig offen nach vorne ge-richtet, schöpferisch � kann in keinerlei Form von di-alektischer Totalität oder logischer Einheit einge-schlossen werden.�3 Dieses �Über Marx hinaus� seiletztendlich bei Marx selbst zu entdecken, insoferneine bestimmte Dimension des Marx�schen Denkensauf einen allgemeineren revolutionären Materialis-mus hindeutet, der schon bei Machiavelli undSpinoza gegenwärtig ist. Ist der Sinn Ihres Bruchsmit dem Marxismus auf diese Weise zu verstehen?

Den Marxismus aufgeben, oder sogar Marx selbst,um den �wahren� Materialismus wiederzufinden?

Toni Negri: Tatsächlich habe ich viel in derWirklichkeit der Kämpfe gelebt; ich war einAgitator, ich habe bereits Anfang der 60er-Jahre da-mit begonnen, mich politischen Aktivitäten zu wid-men. Ich kam aus einer klassischen philosophischenAusbildung und bereitete meine Abschlussarbeitüber den jungen Hegel bei Hyppolite vor; anschlie-ßend habe ich über Kant und die Weiterent-wicklungen des kantischen Formalismus in derRechtsphilosophie gearbeitet. Ich habe auch überden deutschen Historismus gearbeitet � besondersDilthey und Weber. Von den 60er-Jahren an habe ichPolitik zu machen begonnen, auf eine Art, die sichvon dem, was die �offizielle� Partei und dieArbeiterInnenbewegung machten, einigermaßenunterschied: Es ging darum, in die Fabriken zu ge-hen und zu schauen, was sich dort abspielte.

Zum selben Zeitpunkt habe ich angefangen,Marx wiederzulesen � ihn wiederzulesen, denn ichhatte Marx, ohne ihn in Wirklichkeit zu lesen, be-reits davor gelesen gehabt: Ich war Kommunist, be-vor ich Marxist war, ein Kommunismus, den ich inden Kibbuzen in Israel entworfen hatte, wo ich, alsich jung war, gelebt hatte. So fing ich also an, Marxwiederzulesen, indem ich praktische Untersuchungenund Forschungen betrieb, �Untersuchungen-mit�,wie es damals hieß, Untersuchungen mit denArbeiterInnen: Wir gingen in die Fabriken, um zu

Lemire/PoirierGespräch mit Toni Negri

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Martine Lemire und Nicolas Poirier:Gespräch mit Toni Negri1

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sehen, wie die Produktion vonstatten ging, wie sichdie Beziehungen zwischen den Menschen gestalte-ten, wie ein Diskurs aufgebaut werden konnte, wieder Arbeitstag erlebt wurde. Es handelte sich um ei-ne Untersuchung der Dispositive, die � in derGesellschaft ebenso wie in der Fabrik � dasArbeiterInnenleben aufrechterhielten und die vonunten her rekonstruiert werden mussten. Das wares, was die Grundlage meiner Relektüre desMarxismus abgab; ich las die großen Marx�schenWerke wieder, die historischen ebenso wie die theo-retischen, und versuchte zu begreifen, wie dieAusbeutung der Arbeitskraft und die auf dieReproduktion dieses Lebenssystems ausgerichtetesoziale Organisation installiert wurden, und zwarvom subjektiven Standpunkt aus, denn inWirklichkeit konnte allein der subjektiveStandpunkt tatsächlich die Kämpfe bestimmen.

Mein Problem mit dem Marxismus bestandnicht darin, Gesetze zu entdecken, die die Gesell-schaft im Allgemeinen regeln konnten, sondern zubegreifen, wie die Leute in diesem System der of-fenkundigen Ausbeutung daran zu denken begin-nen konnten, sich zu befreien, vitale und politischeAlternativen aufzubauen. Für mich war dieRelektüre des Marxismus, und vor allem seineNeuerfindung, also eine fundamentale Angelegen-heit, jedoch gemeinsam mit vielen anderenGenossInnen � ich bin kein Philosoph, ich bin je-mand, der immer in kollektiven Situationen gelebthat, ich arbeitete mit vielen anderen Leuten: Seit1956, das heißt seit der ungarischen Revolution so-wie der Krise, die es in der italienischenKommunistischen Partei und in den Gewerk-schaften gegeben hatte, haben sich viele zu fragenbegonnen, ob es nicht eine andere Art und Weisegab, sich den Sozialismus vorzustellen, die Kämpfe,die Organisation � allgemeiner gesprochen, dasProjekt einer Transformation der Gesellschaft.

Im Übrigen glaube ich, dass Castoriadis Ihnendas besser als ich erklären hätte können, denn es istderselbe Weg, den Socialisme ou Barbarie verfolgte �oder auch Leute, die die Entwicklung vom Struk-turalismus zum Poststrukturalismus in Frankreichmiterlebt haben: Es gab diese große Konvergenz,diese allgemeine Koalition des Denkens in den 50er-und 60er-Jahren, bis zum Jahr 1968. Mai �68 istnicht die Revolution der StudentInnen, es ist eineRevolution, die an die allgemeine Interpretation derGesellschaft rührte, die damals bestand; es ist �glaube ich � die erste große kollektive Krise desMarxismus als Theorie der Gesellschaft.

Ich habe also die Marx-Lektüre wieder aufge-nommen, und ich habe gegen 1962/63 mehr oderweniger zu schreiben aufgehört, es sind meine letz-

ten Texte, die eben an Hegel, an Kant, an die deut-sche Philosophie anknüpften � all das, was meineAbschlussarbeit betraf. Ich habe 1968/69 wieder zuschreiben begonnen, ausgehend von dieser neuenMarx-Lektüre: Es begann mit einer Relektüre vonKeynes, dessen, was Reformismus des Kapitals ge-nannt wurde, des �New Deal�, der ganzen Ent-wicklung des amerikanischen Kapitalismus und derKlassenkämpfe in Amerika. Danach bin ich zu einerRelektüre der Grundrisse übergegangen. Undschließlich wurde ich 1977, als ich mich in Frankreichbefand, weil man mich in Italien mit einem gewissenArgwohn zu betrachten begann, von Althusser ein-geladen, Vorlesungen am ENS-Ulm zu halten; dorthabe ich diese Lehrveranstaltung zum Thema �Marxüber Marx hinaus� organisiert: Ich begann an denGrundrissen � einem Werk, das das Kapital vorberei-tet und das in begrifflicher Hinsicht sehr viel turbu-lenter ist, mit vielen Hypothesen, die noch nicht ineiner definitiven Sprache geschlossen und verschlos-sen sind � nachzuvollziehen, wie z. B. die historischeAnalyse direkt in der Begriffskonstruktion sowie derKonstruktion des Marx�schen Projekts zum Tragenkommt. Von hier ausgehend habe ich begonnen, denBegriff der Ausbeutung, den Begriff derArbeiterInnenklasse, und auch jenen derGlobalisierung neu zu definieren, all die Konzepte,die in der Folge in den aufeinander folgenden Phasenmeiner Arbeit verknüpft bleiben werden.

Zum selben Zeitpunkt habe ich mich wieder derLektüre von Spinoza zugewandt. Er war ein wichti-ger Autor in dieser Periode � um �68 oder nach �68�, es gab die Lesart, die Deleuze von Spinoza gege-ben hatte, etwas, was mich sofort berührt hat;Alexandre Matheron hatte ebenfalls gerade sein gro-ßes Buch über Spinoza herausgebracht, und sogarAlthusser interessierte sich für Spinoza. Es gabauch eine ganze Literatur sehr viel akademischerenStils, Gueroult insbesondere, die hinter all demstand. Für mich war die Bezugnahme auf Spinozamit der Notwendigkeit verbunden, einen neuen, sa-gen wir �subjektiven� Interpretationsrahmen zu be-haupten, selbst wenn der Begriff �subjektiv� viel zuviele Dinge bedeutet und etwas vage bleibt:Subjektivität bedeutet für mich immer ein Ensemblevon Singularitäten, die sich in präzise bestimmtenMomenten und Ereignissen finden, oder vielmehreine Reihe von singulären Entscheidungen, die anAugenblicke des Bruchs rühren, kollektiveBewegungen, in denen die Subjektivität transindivi-duell wird und die konstitutive Momente darstellen.Viel mehr als die Subjektivität ist es dieKonstitutivität des Subjekts oder der Singularität,die mein Problem bildet.

Aus diesem Grund kann ich, was bestimmtePunkte angeht, Marx wieder aufnehmen, vor allem

Lemire/Poirier Gespräch mit Toni Negri

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die Idee, dass es die Kämpfe, die großen hi-storischen Bewegungen sind, die selbst dieKontrollstrukturen schaffen, von denendiese abhängig sind und die immer wichti-ger werden. In einer solchen Konstruktionwird die historische Veränderung als eineKonfrontation interpretiert, die geradenicht mehr dialektisch ist, das ist evident,denn wenn es die Subjektivitäten oder diehandelnden, konstitutiven Singularitätensind, die die historischen Erschütterungenbestimmen, dann kann keine Teleologie an-gesetzt werden; bestimmend ist vielmehrdas Risiko, der Kampf, der Augenblick derEntscheidung, das, was ich in der Folge denKairos genannt habe.

Es handelt sich also um eine Lektürevon Marx, die in diesem historischen Klimaeiner Revision, einer Überarbeitung destraditionellen Marxismus verortet werdenkann, die jedoch von einer anderen Seiteher Marx treu bleibt, denn das Problem be-stand � und besteht nach wie vor � darin,die Ausbeutung zu erklären sowie das zuverstehen, was auf eine radikale Transfor-mation der Welt, zum Widerstand, zurZurückweisung hindrängt. In den 60er-Jahren hatte ich viele kleine Essays ge-schrieben, Texte, die zur Hälfte philoso-phisch, zur Hälfte direkte Agitation sind:Es gab in dem, was ich machte, daher im-mer einen kontinuierlichen Austausch zwi-schen der politischen und der theoretischenWirklichkeit der Bewegung. Ich habe übri-gens in der Folge bei Foucault eine ziemlichähnliche Methode wiedergefunden, undeben deswegen war Foucault, glaube ich, inWirklichkeit mit denselben Problemenkonfrontiert wie wir, mit Problemen, diewir gegenwärtig immer noch haben.

Le Philosophoire: Sie verwenden häufigdas Wort �Tumult�, das Machiavelli ent-lehnt ist. Bei Machiavelli, in den Erörterungenüber die ersten Dekade des Titus Livius(Discorsi), ist der Begriff mit der Restau-ration oder der Erfindung der Freiheit inMomenten politischer Erneuerung verbun-den. Der Tumult begleitet jeden Ausbruchschöpferischer Freiheit bzw. der Erschaf-fung von Freiheit. Die Unruhe, dieErregung und, auf derselben semantischenLinie, die Unordnung, die Schreie und derLärm stehen in Verbindung mit der politi-schen Krise, der Problematik der Revo-lution. �Wenn man die Unruhe verdammt,verdammt man das Prinzip der Freiheit�,

schreibt Machiavelli in Kapitel 4. �Die Auf-stände eines freien Volkes�, fährt er fort,�sind selten verderblich für seine Freiheit.Sie sind gemeinhin durch die Unter-drückung veranlasst, die es erträgt, oderdurch die Furcht, unterdrückt zu werden.�Die Multitude manifestiert sich in Zeitender Unruhe, beispielsweise im Moment derStreitigkeiten zwischen den Untertanenund dem Senat in der Römischen Republik.Die Multitude ist dann, ich zitiere, �starkvon der Notwendigkeit der Veränderungergriffen�. Sie selbst sprechen vom �Projektder Multitude� als konstituierender Macht.

Aber was kann, außerhalb einesMarx�schen Klassenkampfzusammenhangs,die Glieder dieser konstituierenden Machtmiteinander verbinden, auf welchemTerrain können sie sich treffen, wenn derBegriff der gemeinsamen Interessen, der ei-ne vertragstheoretische Machtkonzeption,die Transzendenz des Staates sowie die Ideeeiner koordinierenden Souveränität voraus-setzt, unangemessen ist? Wenn dasGemeinsame durch Praxen, Affekte,Begehrensweisen, Austauschformen pro-duziert wird, ohne deshalb � zumal es nichtvon einem Identitätsprinzip aus wirksamwird � einen politischen Körper zu bilden,wie manifestiert sich dann konkret seinWiderstand gegen die Unterdrückung so-wie die Erfindung neuer Werte, seineTransformationsenergie? Wie kann derIndividualismus des Begehrens, selbst wennes eine Kohärenz oder eine Gemeinschaftvon Begehrensweisen gibt, ein kollektivesFunktionsgesetz werden, ein Bündnisse ge-nerierendes Zukunftsprinzip, wie kann ereine historische Kraft konstituieren bzw.die Singularitäten solidarisieren? Hinzukommt der Befund, dass die sozialen Bandeheute immer weniger territorialer Art sind,dass die Tendenz, der technischen Entwick-lung folgend, auf eine Deterritorialisierungder affinitiven Netzwerke hingeht. Welchekollektive Verantwortung kann also dieseneue Art des In-der-Welt-Seins begleiten?

Toni Negri: Es gibt diese Idee beiMachiavelli, das scheint offensichtlich � ei-ne Idee, die nicht nur den Erhalt derFreiheit oder ihre Bekräftigung betrifft,sondern die auf etwas sehr Materielles hin-weist, wie z. B. den Kampf der Wollarbeiterfür den Erhalt dieser Freiheitsmacht, mit-hin den Kampf einer der am meisten ausge-beuteten Klassen der florentinischen

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Gesellschaft des 13. und 14. Jahrhunderts. Ich glau-be, dass es eine Art von materialistischer Dialektikgibt im Diskurs Machiavellis, der unter diesemGesichtspunkt sehr stark erscheint, obwohl ich ihnheute nicht mehr �dialektisch� nennen würde: dieIdee eines extrem starken Antagonismus, gestütztzudem durch die Analyse, die Machiavelli von derRömischen Republik, insbesondere dem Verhaltender römischen Plebs gibt, eine Analyse der Strukturdieser Republik sogar, in der die Aufrechterhaltungder Freiheit durch die Komitien, die Volksversamm-lungen hindurch erfolgt ist.

All das ist, glaube ich, Teil jener großen Traditiondes Materialismus, jener großen Geschichte, die niegeschrieben wurde. Denn der Materialismus hat nie-mals eine Geschichte gehabt, die Philosophie-geschichte kennt keine Geschichte des Materialismus.Der Materialismus wird immer als ein Denken inOpposition vorgebracht, ein Denken des Paradoxen,das zur dominanten, durch die Ausfaltung derTranszendenz charakterisierten Philosophie imWiderspruch steht. Für mich war es sehr wichtig, die-se materialistischen Elemente wiederzuentdecken, inder Perspektive einer Konstruktion der Immanenz inder politischen Philosophie, vor allem wenn man be-rücksichtigt, dass die gesamte metaphysische und on-tologische Geschichte in Wirklichkeit eine politischeGeschichte ist.

Man müsste auf eine gewissermaßen phänome-nologische Weise versuchen, die verschiedenen sub-jektiven Kerne des Materialismus festzuhalten, dieje nach Epoche sehr unterschiedlich sind: Denn esist offensichtlich, dass die Wollarbeiter im Florenzdes 14. Jahrhunderts nicht dasselbe sind wie dieArbeiterklasse im 19. Jahrhundert oder die Leute,die sich im 17. Jahrhundert im Holland Spinozas fürdie Freiheit schlugen.

Es gilt die spezifischen Arbeits- und Aus-beutungsformen freizulegen; das ist für mich funda-mental, und unter diesem Gesichtspunkt bin ichnoch immer Marxist. Für mich bleibt in der Tat dasWissen darum, wer das Subjekt ist, sowie dasVerständnis der Art und Weise, wie dieses Subjektmateriell organisiert ist, von zentraler Bedeutung:Um welche Achse herum organisiert sich seinWille? Wie strukturiert sich seine Sprache? WelcheArt der gegenseitigen Implikation charakterisiertseine Bedürfnisse, seine Begehrensweisen? Anhand

dieser Fragen können wir zu einer Definition desMultitude-Begriffs gelangen, der in den verschiede-nen Epochen niemals der gleiche ist: Was fürMachiavelli die Multitude war, ist nicht dieMultitude von heute; die Multitude ist ein histori-scher Begriff und muss deshalb wie jeder historischeBegriff bestimmt werden. Gewiss bedeutete dieMultitude für Machiavelli einen Zusammenhangvon nahezu professionellen Arbeitern, die eine ge-wisse Befähigung zur ordentlichen Verarbeitungvon Wolle und Seide besaßen; heute hätten wir ehervon extrem hochqualifizierten Arbeitsfähigkeitenauszugehen.

Le Philosophoire: Was ist es dann also, das IhresErachtens heute all diese Singularitäten, die dieMultitude konstituieren, miteinander verbindenkann?

Toni Negri: Für die ArbeiterInnenklasse bei-spielsweise scheint das sehr klar zu sein: DieArbeiterInnenklasse ist eine der Formen derMultitude, die sich gegen die Macht aufgelehnt ha-ben. Diese Form von ArbeiterInnenschaft ist natür-lich sehr singulär: Es handelt sich um eine massifi-zierte, undifferenzierte Arbeit. Die Form ihrer pro-duktiven Organisation ist ihr von außen auferlegt,und deshalb ist die Form ihrer Vereinigung alsMasse außerhalb ihrer selbst zu suchen. EineErfindung wie jene der Partei in der Geschichte derArbeiterInnenbewegung war von der Form abhän-gig, in der sich die Arbeit entwickelte: Die Arbeiterhatten nicht die Möglichkeit, autonom zu sein; siebrauchten eine Leitung, eine Avantgarde, also etwas,was von außen kam.

Die Frage heute ist, ob in Verhältnissen, in denensich die Multitude als Ensemble von Singularitätenausformt � immaterielle, intellektuelle, affektive, re-lationale Arbeit �, die Fähigkeit, sich selbst zu lei-ten, nicht der Form innewohnt, in der sie produ-ziert. Ich will damit sagen, dass die heutigeMultitude durch diese neue soziologische Form von�Vergemeinschaftung� charakterisiert ist, die nichtmehr dieselbe ist wie die der ArbeiterInnenklasse.Für diese war das Gemeinsame eine Wirklichkeit,die durch etwas anderes ausgedrückt werden mus-ste: ein Ideal der Machtergreifung, eines sich entfal-tenden Programms, mithin einer Teleologie, die sichaußerhalb der ArbeiterInnenklasse herstellt � eineArt Weg, der zurückgelegt werden muss.

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Tendenziell gesehen ist die heutige Situationnicht mehr die gleiche: Neue Formen zeichnen sichab, in denen die singulären subjektiven Energien ihrSchicksal, ihr Projekt, ihre Zukunft selbst in dieHand zu nehmen beginnen. Das ist heute ein grund-legender Tatbestand: Die politische Konstitutioninterveniert nicht mehr von außen, sondern wird imInneren produziert; man könnte dies als Selbst-produktion bezeichnen, die Produktion seinerselbst als kollektiver Körper, als multitudinärerKörper, und diese Selbstproduktion wird geradedurch den Tatbestand der Produktion im biopoliti-schen Sinn des Begriffs ermöglicht, der Produktioneiner Lebensform also. Heutzutage ArbeiterIn zusein bedeutet, OperatorIn einer Transformation derNatur oder der Materialien zu sein, die man vor sichhat, das heißt sich in einer Welt zu bewegen, woErfindung und Kommunikation den Ausgangsstoffbilden; all das hängt letztlich damit zusammen, dasswir es sind, die dies bewirken, die Intervention derArbeiterIn selbst ist bestimmend in diesem Prozess.Das ist es, was ich Subjektivität nenne.

Le Philosophoire: Ist der Widerstand nichttrotzdem ein Wiederaufleben des Interesses undschlussendlich der Sieg eines Klassenkampfes, vondem sie gesagt haben, es handle sich nur um ein�winzig kleines Konzept�? Wenn das Gemeinsamehistorisch und politisch produziert wird und vonsoziologischen Bestimmungen abhängt, kann manden Begriff des Klassenkampfs dann wirklich hintersich lassen, und liegt darin nicht die Gefahr, dieGeschichte auszublenden? Welcher Platz wäre dem-nach der Soziologie einzuräumen?

Toni Negri: Ich glaube, dass der Klassenkampf �man kann ihn auch anders nennen � das grundle-gende Prinzip des Kampfes bleibt. Traditionell wur-de der Klassenkampf in Wirklichkeit in dialekti-schen Begriffen gedacht, als etwas, das eine Über-schreitung des Klassenkampfs mit sich bringt undsomit den Triumph einer gewissen Rationalität her-beiführt, die Erfüllung seines Schicksals durch dieArbeiterklasse. Ich glaube, dass all das heute vielschwieriger zu denken ist. Ich weiß daher nicht, obder Klassenkampf überholt ist, ich weiß einfach nur,dass der Begriff der Multitude gleichwohl einKlassenbegriff bleibt, weil er an die Idee der Arbeit,an den Widerstand gegen die Ausbeutung gebundenbleibt, und das ist etwas, was zusehends konstitutivwird. Auf dem Spiel steht nicht nur die Beseitigung

des Elends, sondern die aktive Herstellung einerneuen Welt. Das Problem der Machtergreifung umeiner anderen Form der Verwaltung des Kapitalswillen ist heute nicht das fundamentalste Problem;worauf es ankommt, das ist die Herstellung einerandersartigen Macht und Dynamik, die wir in derkapitalistischen Produktion bereits vorfinden. Esgilt jedes Mal zu entdecken, was vor sich geht:Niemand erfindet die Wirklichkeit, das Äußerste,was sich tun lässt, ist, Begriffe zu erfinden, um jenekontinuierliche Veränderung zu beschreiben, die dasReale mit den ihm eigenen Kräften ist. Nicht wirsind es, die die Welt verändern, es ist die Welt, diesich selbst verändert, und nach und nach muss manin der Lage sein, diesen Wandel zu verstehen.

Das Problem, wie sich die Multitude eint, stelltsich daher nicht: Die heutige Multitude ist nicht dieArbeiterInnenklasse, die der Einigung bedurfte �eben weil sie eines äußeren Projekts, einer Avant-garde bedurfte �, sondern eine Macht, die tatsäch-lich hin auf eine Vervielfältigung der Singularitätenund ihrer Fähigkeiten gehen kann. Es handelt sichalso nicht um ein Problem der Einigung, sondernum ein Expansionsproblem. Viele Leute stellen mirständig Fragen zur Multitude, als ob �Multitude�einfach nur der neue Beiname der Arbeiter-Innenklasse wäre. Das ist jedoch nicht das Problem:Die Multitude ist heute gerade eine neue Weise zuarbeiten, eine neue Form des �sozialen Lebens�, ei-ne neue Ausdrucksform, die die Politik selbst kon-stituiert. Es sind alle Momente des Lebens, die derEinigung der Macht entgegnen.

Le Philosophoire: Sie haben auf Castoriadis ver-wiesen. Gibt es einen Zusammenhang zwischendem Begriff der konstituierenden Macht und derIdee eines instituierenden Imaginären, von derCastoriadis spricht und die er als Vermögen derSelbstschöpfung und des Auftauchens des Neuen inder gesellschaftlich-geschichtlichen Welt definiert?

Toni Negri: Ich war mit Castoriadis sehr gut be-freundet, ich habe mit ihm also sehr ausführlichüber all diese Dinge gesprochen. Ich beziehe michin meinem Buch Il potere costituente4 (Die konsti-tuierende Macht) tatsächlich auf den Imaginations-begriff, den ich reichlich verwende und der vonSpinoza kommt � auf einen Begriff ontologischerund konstitutiver Imagination. Aber er ist nichtsde-stotrotz sehr verschieden von Castoriadis� Begriff.

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Es gibt in Wirklichkeit zwei Dinge beiCastoriadis, die ich nicht akzeptiere: Das erste istein gewisser Jungianismus, das heißt dieKonzeption einer kollektiven Psychologie, eineskollektiven Unbewussten, eines kollektiven Imagi-nären. Ich habe nicht wirklich eingesehen, wie das ineinem kollektiven Projekt funktionieren kann. Derzweite Punkt betrifft seine Idee von der griechi-schen Polis: Ich hatte immer den Eindruck, dass essich um ein Demokratieideal handelt, das einerseitspolitisch und andererseits pazifiziert ist. Für michgibt es diese Abschließung im historischen Prozessnicht. Außerdem machte Castoriadis vielleicht denFehler, seine Reflexionen zu stark an die Kontingen-zen des Kalten Krieges zu binden; auf einer gewis-sen Ebene waren seine Konzepte wirklich un-brauchbar. Devant la guerre war kein nützlichesBuch, verglichen mit den tiefgründigeren Dingen,die ansonsten bei ihm zu finden waren.

Abgesehen davon gibt es den absolut bewun-dernswerten und konstruktiven Aspekt vonCastoriadis, sein Bemühen in Socialisme ouBarbarie, den Marxismus neu zu entwerfen, vor al-lem die Idee des kollektiven Kapitals, all die Ideen,die er mit Lefort und anderen ausgearbeitet hat, dieauch in der Frankfurter Schule wiederzufinden wa-ren und an denen sich der Situationismus inspirierthat. Das sind für mich sehr wichtige Dinge, insbe-sondere die Idee der konstitutiven Imagination, inder nicht nur die Werte des Widerstands gegen dieAusbeutung zu finden sind, sondern die auch einekonstruktive Idee der Gesellschaft enthält.

Le Philosophoire: Was Sie ebenfalls vonCastoriadis unterscheidet, ist, dass es Ihres Erach-tens keinen wirklichen Grund gibt, an die Existenzdes Unbewussten zu glauben.

Toni Negri: Ich habe immer gesagt, dass ich keinUnbewusstes habe � das ist ein bisschen ein Scherz.Aber tatsächlich glaube ich nicht an dieProduktivität der Psychoanalyse in den Sozial-wissenschaften. Im Gegenteil: Auf der Grenze, aufden inneren Blockaden des menschlichen Seins undseiner Ausdrucksfähigkeiten zu beharren � was, wieich glaube, grundlegende freudianische Elementesind, wenn ich auch andererseits nicht sagen möch-te, dass es ein ursprüngliches Übel im Sinne der ana-lytischen Ideologie gibt � bedeutet meines Erach-tens, sich der Möglichkeit zu begeben, die Befreiungunter einem kollektiven und selbst individuellenGesichtspunkt zu denken; man findet sich in einerSituation, in der selbst die Ausübung der Imagi-nation schwierig wird. Was diesen Punkt betrifft,bin ich durch und durch Spinozist, und wenn es imLeben Übel, Grenzen, Blockaden gibt, dann nicht indem Sinn, denke ich, dass diese dem Sein einge-

schrieben wären, sondern im Sinn von etwas, dassich von außen auferlegt. Jedes Mal, wenn dieEntwicklung des Seins blockiert ist, liegt dies an an-deren, von außen kommenden Kräften.

Le Philosophoire: Könnten Sie die wichtigeRolle präzisieren, die sie in Ihrem Denken derSprache, den sprachlichen Elementen in der Krisedes Kommandoverhältnisses zumessen? Inwieweithat die performative Funktion der Sprache für Sieeine politische Dimension?

Toni Negri: Ich glaube, dass die Sprache zu ei-nem produktiven Element geworden ist, beispiels-weise in der Informatikindustrie oder allgemeiner inden Wissenschaften, die sich auf die Kommuni-kation und die sprachliche Erarbeitung gründen; sieist eine der machtvollsten Maschinen für dieProduktion. Andererseits gibt es in dem Maße, wiedie Arbeit zusehends immateriell, intellektuell, af-fektiv wird � und über die von der Maschinen-effizienz besetzten Räume hinausgeht �, offenkun-dig soziale Räume, die von der Sprache alsBeziehungsform dominiert werden, und auf derGrundlage dieser Beziehungen erscheint eine ganzeReihe von Werten (z. B. affektive Werte), die für dieReproduktion der Welt von zunehmenderBedeutung sind.

Drittens ist die Sprache das Bild � und im Übri-gen nicht nur das Bild, sondern auch die Ein-bildungskraft bzw. die Imagination �, die Form, inder sich die Konstitution einer intersubjektivenBeziehung imaginieren und leben lässt. Wenn jederund jede von uns eine Singularität ist, so werden wirin der Sprache und dem Kontakt mit den anderen zueiner Realität jenseits des Ereignisses unsererExistenz. Eine Singularität ohne Sprache ist unvor-stellbar, so wie eine reine Monade unvorstellbar ist.Die Monade existiert nur, weil sie in die Sprache ein-gefügt und eingetaucht ist. Was bedeutet, dass wirdurch eine Sprache konstituiert sind, dass wir ohneeine vorgängige Sprache, die uns rekonstituiert, mo-difiziert, verändert, nicht existieren würden. DieSprache ist so gesehen sehr bedeutsam, sie ist einArbeitsinstrument, eine Kommunikationsform, ei-ne Seinsweise im spinozistischen Sinn.

Le Philosophoire: Zur Frage der Biomacht: InNummer 10 der Zeitschrift Réfractions entwickeltFabio Ciaramelli eine Kritik am Begriff derBiomacht, den er für insofern inkohärent hält, alsdieser Begriff die Frage der Institution ausblendet.Dank der Biomacht werde ein Zusammenhang zwi-schen Natur und Kultur, Bios und Polis zu denkenversucht, ohne die Vermittlung der gesellschaft-lichen Institution zu bedenken, die allein das Lebenmenschlich zu machen in der Lage ist, und zwar in

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dem Maße, wie sie den Individuen die gesellschaft-lichen Bedeutungen zur Verfügung stellt, die ihrergemeinsamen Existenz Sinn geben. Dieser Versucheiner Naturalisierung der Macht sei, so Ciaramelli,sinnbildlich für eine Weigerung, die konstitutiveRolle der Geschichtlichkeit für das gesellschaftlicheLeben zu denken. Es entsteht in der Tat derEindruck, dass beispielsweise für Agamben, der inHomo Sacer diese Logik bis zum Äußersten treibt,die Geschichte komplett verschwindet, insbesonde-re die Geschichte des Kampfes der Unterdrücktengegen die Macht: Die Tätigkeit der Individuen inder Geschichte und ihre Rückwirkung hinsichtlichder tatsächlichen Realität der Macht ist vollkommenabwesend, man hat den Eindruck, dass die Biomachtvom Himmel fällt. Und diese Tendenz ist im Übri-gen auch bei Habermas zu finden, der die Freiheitauf der Basis von kommunikativen Anlagen, die dermenschlichen Gattung zueigen sind, zu begründenversucht und aus der Sprache eine transhistorischeUniversalie macht, die der genetischen Ausstattungvon naturhaft auf wechselseitige Kommunikationangelegten Individuen eingeschrieben ist.

Gibt es bei Ihnen nicht eine analoge Tendenz da-zu, die Frage des Gesellschaftlichen und Politischenschlicht auf das Problem einer dem Leben selbst im-manenten Organisation zu reduzieren?

Toni Negri: Bei Agamben ist die Konzeptionder Biomacht eine im Grunde naturalistischeKonzeption, naturalistisch auf eine ziemlich merk-würdige Art und Weise, weil sie so naturalistisch wiemystisch ist. In Wirklichkeit gibt es bei Agambeneine extrem zweideutige Entwicklung: Agamben istgegenwärtig damit beschäftigt, das, was der mysti-sche Grund der Autorität ist, in einen lebendigenund biopolitischen Grund zu transformieren.Hinter dieser Vorstellung von Biomacht liegt eineschmittianische Konzeption der Macht: Es ist alsozutreffend, dass es bei Agamben an der Stelle, wodie Foucault�sche Konzeption der Biomacht und derBiopolitik historisch bestimmt war, eineDehistorisierung der Biomacht gibt.

Ich für meinen Teil benütze den Begriff derBiomacht in einem historischen Sinn. Als ich diesenBegriff in meiner Arbeit eingeführt habe, wollte ichdamit die reale Subsumption der Gesellschaft unterdas Kapital ausdrücken, denn es gibt einen Augen-blick, wo das Kapital eine fast totalitäre, allgemeine,

verallgemeinerte Macht über das Gesellschaftlichehat. Und ich verweigerte mich gerade sowohl denHabermas�schen Lösungen � das heißt transzenden-talen Lösungen, die eine Neudefinition der Machtim Sinne von auf ein kantianisches transzendentalesVermögen gegründeten Kommunikationsnetz-werken versuchen � als auch den Benjamin�schenLösungen � die ein wenig so wie bei Agamben aus-sehen.

Agamben ist einer meiner besten Freunde, ichspreche mit ihm ständig darüber: Er ist meinesErachtens in einer Art antitotalitärem Delirium be-fangen, das ihn die Welt auf ein Vernichtungslagerreduzieren lässt, in dem allenfalls extreme Spiel-räume verbleiben, in einem gänzlich dialektischennegativen Denken, das nur dann, wenn man alles er-lebt hat, zum Vorschein kommt, das nur an derGrenze auftaucht. Das ist ein wenig das, was in derPostmoderne geschieht: Die Postmoderne hat inWirklichkeit diese Idee der Subsumption, das heißtder Kontrolle, der Kolonisierung des Lebens durchdas Kapital, für eine fundamentale phänomenologi-sche Aussage genommen, indem sie die Schluss-folgerungen der Epigonen des traditionellenMarxismus, wie etwa der Frankfurter Schule, in eineweniger an Marx orientierte und allgemeinereSprache übersetzte.

Ich denke, dass diese ganze Entwicklung inWirklichkeit von einem Antagonismus beherrschtist: Das Kapital ist ein Verhältnis, es ist keinKommando, oder genauer: Es ist ein Kommando,das sich auf ein Verhältnis bezieht. Das Kapital exi-stiert nicht ohne Ausbeutung, und die Ausbeutungist immer das In-Arbeit-Setzen der lebendigenEnergien. Vor dem Kapital gibt es immer eine le-bendige Arbeit, und diese lebendige Arbeit leidetoffensichtlich, und zwar eben insofern sie lebendigist. Das Leiden und die Ausbeutung existieren, weildas Kapital irgendwo an das Lebendige rührt: Dasist es, was das biopolitische Gewebe bildet, über dasdie Biomacht in der Tat eine totalitäre Macht zu ent-falten versucht, ohne dass sie das aber jemals zu-stande brächte; gelänge es ihr nämlich, so bedeutetedies ihre Negation. Es verhält sich wie mit derAtombombe: An jenem Tag, an dem sie abgeworfenwird, stirbt alles, selbst der, der sie abwirft.

Das ist die Kritik, die ich an Agamben üben wür-de, auch wenn in der Entwicklung seiner Thesen ei-

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ne Eleganz liegt, eine Fähigkeit, die Vielfalt derLebensformen und Lebensweisen sowie möglicherAlternativen wirklich zu verstehen. Das Problemist, dass man angesichts der ganzen Geschichte desAgamben�schen Denkens von seinem Anfang bisheute bemerkt, dass es auf diesem Terrain extremäquivok ist. Ich habe gerade einen Artikel für einBuch über Agambens Denken geschrieben, das inItalien erscheinen wird, und ich sage am Ende desArtikels, dass sein Denken mich an jenes eines car-tesianischen Philosophen des 17. Jahrhunderts er-innert, nämlich das Denken Arnold Geulincx�, derbehauptet, dass alles, was geschieht, sich im WillenGottes hält, selbst das Übel. Das ist das Paradox ei-nes allmächtigen Gottes, der alles beherrscht, imVerhältnis zu dem die einzige mögliche Lösung dar-in besteht, sich dem Schicksal anzuvertrauen.Andererseits gibt es bei Agamben dieseHeidegger�sche Basis, die ihn letztlich blockiert.

Le Philosophoire: Aber gibt es bei Ihnen nichtebenfalls eine gleitende naturalistische Bewegung,zumal Sie doch behaupten, zwischen Natur undKultur sei kein Unterschied zu machen?

Toni Negri: Was diesen Punkt angeht, so glaubeich, dass wir tatsächlich in postmoderne Verhält-nisse eingetreten sind � ich sage postmodern, weilwir uns nicht in jener Hypermoderne befinden, vonder Beck spricht �, und ich denke, dass wir eine ech-te Zäsur erleben; eine Zäsur, die genau durch die re-ale Subsumption des Kapitals, durch den Triumphdes Kapitalismus charakterisiert ist, einen gleich-wohl zweideutigen Triumph, denn der Kapitalismusist gezwungen, die ganze Welt unter seineVormundschaft zu stellen � in dem Maße, wie derWiderstand universal wird. Wenn das Kapital aberein Verhältnis zwischen einer toten Arbeit und einerlebendigen Arbeit ist, wenn das Kapital dieKontrolle von allem übernimmt, dann diffundiert esdieses Verhältnis auch, und deshalb finden wir über-all Widerstände, in allen Räumen des Lebens, dennkein Raum entgeht mehr der Ausbeutung. DieNatur selbst wird samt und sonders unter dasKommando des Kapitals genommen.

Das Leben, auf der anderen Seite, was lässt es an-deres übrig als eben den Widerstand von etwas, dasaußerhalb des Kapitals steht? Aber außerhalb desKapitals zu stehen, heißt das nicht, in das Spiel dervom Kapitalismus bestimmten Verhältnisse einzu-treten? Wenn Sie in die Toskana oder nach Burgundfahren und sich umsehen, dann sehen Sie, dass allesdurch die menschliche Arbeit bestimmt ist: DieNatur sehen Sie nicht mehr, außer in der Gestalt, dieder Mensch ihr gegeben, in die er sie verwandelt hat.Diese Transformation der Natur ist etwas Grund-legendes, und was uns angeht, verhält es sich ganz

genauso: Wie ließe sich ein Leben von der Geburtbis zum Tod führen, wenn nicht in diesem aufsEngste verflochtenen Verhältnis von Natur undKultur? Genau deshalb ist von Biopolitik die Rede,weil die Politik sich gänzlich in die Form einge-schaltet hat, welche das Leben angenommen hat.

Le Philosophoire: In der Perspektive, die Sieeinnehmen, betonen Sie die historische Chance desIndividuums, seine kritischen Fähigkeiten und er-finderischen Praktiken freizusetzen, und zwar überdie Ausübung einer wirklich partizipativenDemokratie sowie insbesondere dank der Dezen-tralisierung der Macht und der netzwerkartigenKommunikation. Während Sie von Marx bestimmtkonzeptuelle Einsätze (wie etwa Tendenz, Antago-nismus, Produktion von Subjektivitäten) wiederauf-nehmen, grenzen Sie sich von ihm gleichzeitig überdie Weigerung ab, die Notwendigkeit in dieGeschichte einzuführen � deren Motor sei vielmehrdas gesellschaftliche Begehren verbunden mit derFähigkeit zur Neuerung. Es handelt sich also um ei-nen Aufruf zum Ausdruck, zur Machtsteigerung(im spinozistischen Sinn), zur Deliberation undzum gemeinsamen Handeln.

Die neue Welt könnte allerdings auch nichtkommen. Denn es besteht die Gefahr einerKonzentration der Souveränität durch jene selbentechnologischen Werkzeuge, aus denen SieInstrumente einer möglichen Befreiung machen. ImÜbrigen sind die Ungleichheit der Austausch-formen, die Verbreitung der Sicherheitsideologiesehr wohl Realitäten. Die Tertiärisierung der postin-dustriellen Gesellschaft � das, was manche eine ma-nageriale Verwaltung der Welt nennen � verwandeltnicht zwangsläufig die immaterielle Arbeit, derenEntfremdungscharakter Sie einräumen, in eine krea-tive intellektuelle Arbeit. Eine merkantile und kon-sumistische Konzeption der Freiheit scheint sichdurchzusetzen, samt der drohenden Homogeni-sierung und Massifizierung, die damit einhergeht.Sind die zahlreichen Widerstandsformen nichtBrüche von bloß lokaler Fruchtbarkeit, eine Vielheitvon versetzten Geschichten, fortgerissen von der all-gemeinen Expansionsbewegung des Kapitalismus?Oder aber stellt die �universelle merkantileRepublik� � um auf die Formel von Adam Smith zu-rückzugreifen � über die Spezifizierung der Märktetatsächlich und paradoxerweise die Bedingungen fürden Erhalt der kulturellen Diversität, die Aner-kennung der Alteritäten bereit, sodass hierin derAusgangspunkt für das Handeln sowie dieNeudefinition von Handlungsbedingungen undDenkkategorien läge?

Unter welchen Bedingungen kann man aus demFortschrittsgedanken noch ein begriffliches

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Werkzeug machen, und zwar außerhalb jedes teleo-logischen Horizonts, zumal Sie dessen Not-wendigkeit ja zurückweisen?

Toni Negri: Ich habe niemals Prognosen darüberabgegeben, was geschehen wird, ich habe lediglichgewisse Verhältnisse dargestellt, die mir ganz und garAntagonismen zu erzeugen scheinen. Aus diesemGrund sehe ich die Globalisierung positiv, denn siezerstört eine ganze Reihe von Mythen und bewirkteine Freisetzung der Subjektivität in Reaktion aufdie kapitalistische Herrschaft. Es ist offensichtlich,dass das Kapital die Globalisierung nicht gewollt hat.Das Kapital befand sich in Wirklichkeit vier oderfünf Jahrhunderte lang in einer absolut vollständigenSymbiose mit dem Nationalstaat: Der Nationalstaatbildete die wahrlich perfekte Dimension seinerEntwicklung, seiner Fähigkeit, gesellschaftlicheRegeln aufzustellen, seines Reproduktionsver-mögens. Die Tatsache, dass das Kapital nicht mehrdie Möglichkeit hat, die Entwicklung auf gesell-schaftlichem Terrain zu kontrollieren, treibt es dazu,immer höhere Kontrollpunkte zu bestimmen � bei-spielsweise die Arbeitsorganisation zu verändern, dieimmaterielle Arbeit im Sinn eines Produktions-zentrums als grundlegendes Element anzuerkennen.Die immaterielle Arbeit ist nichts, was durch dasKapital gewünscht würde, Letzteres ist sich desUmstands sehr bewusst, dass die immaterielle Arbeitungeahnte Freiheitsmöglichkeiten mit sich bringt.Die immaterielle Arbeit ist zwar als solche nicht zu-reichend, um eine Freiheitsalternative zu schaffen,aber ebenso wahr ist es, dass immaterielle, intellek-tuelle, wissenschaftliche, sprachliche Arbeit ohne ei-nen bestimmten Grad von Freiheit nicht möglichsind. Wir befinden uns also in einer extrem kompli-zierten Situation, in der wir von einer Phase zurnächsten übergehen, von der Moderne zurPostmoderne: Wir befinden uns gewissermaßen wiezwischen Mittelalter und Neuzeit, in einer Art�Interregnum�, samt all den Gefahren, die dieseSituation erzeugt.

Deshalb glaube ich z. B., dass es heute, in unse-rer Situation, nicht möglich ist, unsere Zukunft voneinem theoretischen Gesichtspunkt aus zu ersinnen,ohne die Hilfe der großen Kämpfe, der großen Aus-drucksformen der wirklichen Bewegung. Wir befin-den uns in einer Situation, in der wir uns vorstellenkönnen, dass bestimmte Wege möglich sind, dassBefreiung eher möglich ist als in früheren Zeiten;denn es hat eine Wiederaneignung der Produktions-mittel stattgefunden, die wir nun mit uns tragen,beispielsweise in unserem Gehirn. Es ist nicht mehrdas Kapital, das uns die Produktionsmittel bereit-stellt, im Gegenteil, wir sind es, die sie entwickeln.Das Kapital ist nicht mehr imstande, die Mobilitätder Bevölkerungen von vornherein zu bestimmen,

die Arbeitskraft in der Welt nach Nationalitäts-niveaus bzw. kolonial bestimmten Räumen zu hier-archisieren; es gibt diese Bewegungen, die dabeisind, alles zu erschüttern, und hierin liegt diePositivität der Globalisierung. Die Globalisierungwurde dem Kapital in Wirklichkeit durch dieKlassenbewegungen aufgezwungen. In dieser Trans-formation haben sich neue Kräfte, neue Subjek-tivitäten zu bilden begonnen � die Multituden. Dasist eine vielleicht chaotische Bewegung, hinsichtlichderer es sehr schwierig ist, zu begreifen, was ge-schehen wird, aber die Virtualitäten und Potenziali-täten in ihr werden zusehends stärker.

Ich komme aus dem Iran zurück, wo ich etwazehn Tage verbracht habe; es war das erste Mal, dassich dort hingefahren bin. Es ist beeindruckend, hin-ter einem �theologisch-politisch-kapitalistischen�Regime sowie den schrecklichen, traurigen und bös-artigen Priestern, die diese Gesellschaft befehligen,eine unvorstellbare gesellschaftliche Revolution amWerk zu sehen, nämlich die Revolution der Frauen �der Fortbestand der traditionellen Disziplin, die dieFrauen am Herd und unter dem Tschador hält, istder kritische Gegenstand dieser Gesellschaft. Hierist eine globalisierte gesellschaftliche Revolution amWerk: einerseits eine in einem islamischen Landnicht auszudenkende sexuelle Revolution; und an-dererseits das Internet, die verallgemeinerteKommunikation, und zwar mit Hilfe desPersischen, das vielleicht eine der dominantenSprachen in der ganze Region geworden ist. Dassind wirklich großartige Dinge, denn es ist unsicher,ob im Iran Möglichkeiten zur schnellen Transfor-mation eines nach wie vor diktatorischen Regimesbestehen, und es sind nicht die AmerikanerInnen,die Freiheit und Demokratie bringen werden. Aberes gibt jene großartige Bewegung, die durch dieGlobalisierung existiert.

Le Philosophoire: Zu Recht erinnern Sie daran,dass es keine rein theoretische Arbeit sein kann, dieGeschichte zu denken, und dass das historischeWerden ständig durch die Praxen neu erfundenwird, dass es also notwendig ist, auf Vorher-sagbarkeit zu verzichten und die Möglichkeiten of-fen zu lassen.

Könnte man nicht gleichwohl in den Blick zunehmen versuchen, was das Gemeinsame, das selbsthervorgebracht ist, seinerseits hervorbringen kann,wenn die Wirkungskraft des politischen Handelnsund des kreativen Widerstands nicht mehr von de-ren territorialen Verankerung abhängt, wenn die �traditionellerweise national konzipierte � Staats-bürgerInnenschaft nur eine überkommene histori-sche Bedingung ist? Ist das vielleicht der Frieden,ein dauerhafter Frieden?

Lemire/PoirierGespräch mit Toni Negri

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Toni Negri: Ich bin davon überzeugt, dass wiruns heute in einer Situation des permanentenKrieges befinden. Diese Situation entsteht aus derTatsache, dass die Funktion der Biomacht immermehr eine rein repressive und unter diesemGesichtspunkt parasitäre Funktion ist. Der Krieg istalso im Begriff, in diesem Übergang von derModerne zur Postmoderne zum fundamentalenOrdnungselement zu werden. Es gibt keine Mög-lichkeit mehr, den Wert nach klassischer Manier zubetrachten: Der Wert war eine bestimmte Zeit, diein Arbeit umgesetzt wurde, und auf der Grundlagedieser Zeit ließen sich Reichtümer erpressen. Heuteist das alles vorbei: Die Innovation wird durch dieErfindung, durch die Wissenschaft hervorgebracht.Wir verorten uns zusehends auf biopolitischemTerrain � ich denke an die informatischeProduktion, an die Produktion des Lebendigen, andie Lebensindustrien, an die Techniken undTechnologien des Lebens �, und auf diesem Terrainwerden die Kontrolle und die Partizipation derMenschen absolut fundamental. All das lässt uns ineiner Situation zurück, in der gerade das traditionel-le Fundament in einer Krise ist, und zwar in einerradikalen Krise: Wir sind im Begriff, eine andereWelt zu erleben. Eine andere Welt ist bereits da � esist die Welt der Kooperation, der Enteignung desKapitals und seiner Produktionsmittel, mithin derRückgewinnung der Produktivkräfte.

Doch es ist auch eine tragische Welt, denn es istoffensichtlich, dass die ArbeitgeberInnen, dieAusbeuterInnen, kurzum das Kapital sich nicht allesgefallen lassen. In dieser tragischen Welt ist dasWiederergreifen der Tugendkraft und der Ethik vonSeiten des Subjekts von grundlegender Bedeutung.Der Widerstand, die Militanz, die Ausübung gesell-schaftlicher Liebe als einer ontologischen Kraft desAufbaus von Beziehungen und Sprache sind funda-mentale Angelegenheiten; ebenso wie dieSelbstproduktion als Subjekt und als Kollektiv. Wirbefinden uns in der Mitte dieses ungeheuren Über-gangs, in dem die Biopolitik, die Biomacht denKrieg als Ordnungsform betreibt.

Aus dem Französischen von Stefan Almer undStefan Nowotny

Lemire/Poirier Gespräch mit Toni Negri

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Anmerkungen:1 Die französische Originalversion dieses Gesprächs ist in Nr. 24

(Frühjahr 2005) des Webzines Le Philosophoire (www.webzine-maker.com/lephilosophoire/) bzw. auf der Website der ZeitschriftMultitudes (multitudes.samizdat.net/article.php3?id_article=1928)erschienen.

2 T. Negri: Marx oltre Marx: quaderno di lavoro sui Grundrisse,Milano: Feltrinelli 1979.

3 Hier zitiert nach der französischen Ausgabe: Marx au-delà deMarx: cahiers du travail sur les �Grundrisse�, Paris: ChristianBourgois 1979, S. 34.

4 T. Negri: Il potere costituente. Saggio sulle alternative del moder-no. Carnago: SugarCo 1992.

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Die Wertkritik erfreut sich in linken Zusammen-hängen ungebrochen großer Beliebtheit. Auch nachdem Ausschluss ihres prominentesten VertretersRobert Kurz aus dem Krisisprojekt ist eher eineErweiterung bzw. Verdopplung der Bedeutung die-ser marxistischen Denkrichtung zu erwarten, da derAuschluss von Robert Kurz, Roswitha Scholz u.a.,so wird aus Insider-Kreisen berichtet, primär mitinternen persönlichen Querelen denn mit inhalt-lichen Differenzen innerhalb der Krisis-Gruppe zutun hat. Anlass genug, sich einmal mit den grund-sätzlichen Merkmalen und Basiskategorien diesesDiskurses kritisch auseinanderzusetzen. Der vorlie-gende Aufsatz versucht in einer Auseinanderset-zung mit grundlegenden Arbeiten der Krisis-Gruppe Nürnberg, welche im Jahre 1986 alsHerausgeberIn der Zeitschrift �Marxistische Kritik�ihre Arbeit begann, aber auch in einer mit dem ISF(Initiative Sozialistisches Forum) Freiburg, aufzu-zeigen, dass zentrale theoretische Inhalte der spezi-fischen Marxinterpretation dieser Wertkritik keinePraxisimplikation besitzen, mehr noch den Prozessemanzipativer Praxis in Hinblick auf das Wider-spruchsverhältnis Kapital und Arbeit theoretischblockieren.

Einleitung

Die Marxsche Kategorie des Werts, wie sie an-knüpfend an Ricardo formuliert wurde, muss als ei-ne verstanden werden, die sich nicht als eine überhi-storische zu postulieren anschickt. Der Wert, im ka-pitalistischen Produktionsprozess geschaffen, reali-siert sich erst im Tausch. Werte werden so ver-gleichbar durch die abstrakt menschliche Arbeit, diein ihnen steckt. In diesem Sinne ist der Kapitalismusnicht nur eine ungeheure Ansammlung von Warensondern auch von Tauschprozessen. Der Tausch derWerte ist das omnipräsente Geschehen in der kapi-talistischen Welt und der spezifische Charakter, denalle Gegenstände annehmen, nämlich Ware undWert zu sein, durchdringt auch die allgemeineQualität von Beziehungsformen zwischen Indivi-duen. Auch diese (menschlichen Beziehungen) wer-den ihrer Struktur nach ins warenförmige hineinüberformt bzw. dahingehend destruiert und neuformiert. Allen Dingen innerhalb kapitalistischerVerhältnisse haftet so ein Fetischcharakter an, derFetischcharakter des Werts bzw. der Waren. DerAustausch der Werte kann schließlich als eine denRaum der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft

Jürgen Albohn Eine Kritik der Wertkritik

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Jürgen Albohn

Theorie ohne revolutionäre Praxis ist Opiumfürs Volk ~ Eine Kritik der Wertkritik

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konstituierende spezielle Form der Wechselwirkungzwischen Individuen betrachtet werden. Damitstellt der Wert, wie er im Fetischkapitel (Kap. 1.4 inMEW23, Marx, 1988, S. 85-98) dargestellt wird, et-was ähnliches dar wie die Macht bzw. der Macht-begriff bei Foucault, wie er beispielsweise in�Mikrophysik der Macht� (Foucault, 1976, S. 114)entworfen wird. Dieser Zusammenhang oder viel-mehr der Vorgang des Verstehens dieses Zusammen-hangs, dem Marx immerhin ein ganzes Unterkapitelwidmet, so einfach er sich auch in kurzen Sätzen zu-sammenfassen lässt, begeistert die Apologeten undAdepten der Wertkritik.

Erfreut darüber, diese Abstraktionsleistung voll-zogen zu haben, wird die Tatsache der spezifischenBedingtheit, der Beschaffenheit des kapitalistischvergesellschafteten Raums als die zentrale Kategoriedargestellt und als eigentlicher Kern des Wesens desKapitalismus postuliert, den es zu überwinden gilt.In diesem Zusammenhang wird gerne von einem�unbegriffenen� Vergesellschaftungszusammen-hang gesprochen.

Dies geschieht gebetsmühlenartig in fast jedemArtikel, Interview und Abstract, der uns ausNürnberg (Krisis) und von anderswo zu diesemThema erreicht (siehe zB. Editorial � MarxistischeKritik, 1988, S. 6; Stahlmann, 1988, S.38-39; Kurz,1989, S. 13). Ernst Lohoff spricht in diesem Kontextvon den Schönheiten der Wertformanalyse (Lohoff,1988, S. 63). Dass dieser gesellschaftliche Raum, derdurch den Wert konstituiert wird, gerichtet ist, alsoeine Fließrichtung von über Produktionsmittelnicht verfügenden (ArbeiterIn) zum Produktions-mittelbesitzer (Kapitalist) aufweist, die Tatsache al-so, dass es Klassen gibt, wird von der Wertkritik alssekundäres bzw. Oberflächenphänomen kapitalisti-scher Vergesellschaftung dargestellt oder wahlweiseauch als Soziologismus denunziert (siehe Tomazky,1989, S. 88; Kurz, 1989, S. 10, S. 12).

Wer nicht nur über wertförmige Vergesell-schaftung sonntäglich philosophieren und lamentie-ren will, sondern diese Vergesellschaftungsformausgehend von ihrer Dichotomisierung in Klassendurch Klassenkampf beseitigen/aufheben will, derwird von Robert Kurz und anderen, gleich obSozialdemokratIn, organisierte KommunistIn oderOperaistIn, als ewiggestriger Arbeiterbewegungs-marxist klassifiziert und abgestempelt.

Wertförmige Vergesellschaftung und SubjektloseHerrschaft

Über Kritik, Scheitern und Integration der klas-sischen Linien der ArbeiterInnenbewegung brau-chen wir mit den Wertkritikern keinen Disput aus-zufechten. Hier besteht im großen und ganzenKonsens. In dieser Hinsicht ist an der Kritik derKrisis-Gruppe am klassischen Arbeiterbewegungs-marxismus, an der Politik der II. und III.Internationale, der klassischen Arbeiterparteien, we-nig auszusetzen. Die Konzeption der Theorie insge-samt wird allerdings unsinnig, wenn sie selbst dieautonome Eigenbewegung der Klasse, auf welchesich beispielsweise der Operaismus (vgl. Rinaudo,1988, S. 37) bezogen hat, theoretisch negiert.

Wer mit Robert Kurz, Ernst Lohoff und ihrenGefolgschaften durch den Wald der Wertkritikzieht, bemerkt die Bewegung der Klasse nicht unddas ist kein Zufall. Es ist gerade diese Bewegung derKlasse bzw. in ihrer verallgemeinerten Konzeptionder Multitude (Negri), die das Kapital permanent indie Krise treibt, vor der das Kapital im Moment derKrise immer wieder ausweichen muss. Auch derÜbergang vom Manchester Kapitalismus in denSozialstaat am Ende des 19. Jahrhunderts oder vomFordismus zum Postfordismus, muss in dieserHinsicht verstanden werden. Der Sozialstaat ist inerster Linie als Reaktion des Kapitals auf die sozia-len Kämpfe zu verstehen, um die ArbeiterInnenwieder �einzufangen und produktiv einzuschließen�(Bonefeld, 2004, S. 11). In dieser Hinsicht ist auchder Übergang vom Fordismus mit tayloristischenProduktionsprozessen zum Postfordismus und derdamit sich durchsetzenden toyotistischen Organi-sation der Produktion zu verstehen. Hier geht esneben der Ausdehnung der Wertschöpfung auf alle(gesellschaftlichen) Fähigkeiten und sozialenKompetenzen der ArbeiterInnen auch darum, einebestehende politische Zusammensetzung der Klasseaufzubrechen und unter veränderten Arbeits-bedingungen neu bzw. modernisiert zu integrieren.

Die Wertkritik, genauer gesagt die Krisis (bis1989 �Marxistische Kritik�) kann in diesem langenVerlauf von Klassenkämpfen und deren Integrationnur die endgültige Disqualifikation von Klassen-kämpfen an sich erkennen und diese nur im Sinneeiner stabilisierenden Modernisierung und Verall-gemeinerung des Systems dechiffrieren (vgl.

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Lohoff, 1996, S. 58). Robert Kurz behauptet:�Somit kann der Klassenkampf nur die immanenteFormbewegung des Kapitalverhältnisses sein, nichtaber die Bewegung zur Aufhebung des Kapital-verhältnisses� (Kurz, 1996, S. 45). Damit ist genaudas Kapitalverhältnis gemeint, dessen Totenglockendie Krisis Gruppe seit geraumer Zeit läuten sieht.Von der Überlegung, dass dieser Zustand desSystems durch soziale Kämpfe im allgemeinen unddurch Klassenkämpfe im speziellen erreicht wurde,ist die Krisis-Gruppe weit entfernt. In den Textender Krisis-Gruppe ist lediglich von objektivenTendenzen der kapitalistischen Krise zu lesen. DieseTendenzen sind in den Marxschen Begriffen derÜberakkumulation und des tendenziellen Falls derProfitrate (vgl. z.B. Kurz, 1989b, S. 12), im Prinzipschon zusammengefasst. Dazu kommt noch die inKrisis16/17 (Kurz, 1995, S. 21) diagnostizierteHimmelfahrt des Geldes, d. h. die Abkoppelung der(im bürgerlichen-ökonomischen Sinne) �Wert�schöp-fung von der realen Verwertung menschlicherArbeitkraft, welche den Imaginärteil des Geldes unddamit auch seinen Nennwert (=Preis) in immerschwindelerregendere Höhen gleiten lässt. DieserSachverhalt ist im Prinzip auch nichts neues, auf dieTendenz der Entkopplung zwischen realer Ver-wertung und Geld machte Christian Marazzi bereitsin den 70er Jahren, in dem Artikel: �Das Geld in derWeltkrise� (Marazzi, 1977, S. 241) aufmerksam. Allediese von der Wertkritik als �objektive Tendenzen�des Kapitalismus abgehandelten empirischenTatsachen sind nicht zuletzt Ausdruck der sozialenKampfsituation im Antagonismus zwischen Kapitalund Arbeit.

Wohingegen die Regulationsschule in ihrerVerbindung von Keynesianismus und Marxismus imRun durch die Akkumulationsregime von einemFindungsprozess spricht, in dem soziale Kämpfemitgedacht sind, reduziert die Wertkritik dieDynamik des Kapitalismus auf den Begriff des�automatischen Subjekts�. Es wird versucht, quasiaus der Vogelperspektive, eine Theorie des Kapitalis-mus außerhalb der realen Bewegungen der Klasse zufinden, was nach Karl Korsch (Marxismus undPhilosophie, 1923) �einfache idealistische Meta-physik� wäre.

Auch wenn das Freiburger ISF die Krisis Gruppenicht mag und Robert Kurz allen ernstes�Marxismus-Leninismus, nur ohne revolutionäresSubjekt� (Bruhn, 2004, S. 3) vorwerfen, blasen siean dieser Stelle in dasselbe Horn derHypostasierung des Kapitalismus als �automati-sches Subjekt� (vgl. Behre, 2001). Der scheinbareSelbstlauf in der Entwicklung, Ausbreitung undReproduktion des Kapitalverhältnisses, von Marxselbst an einer Stelle mit �automatischem Subjekt�

(Marx, 1988, S. 169) gekennzeichnet, kann in die-sem Sinne nur durch die permanente Fähigkeit desKapitals funktionieren, die ArbeiterIn bzw. dieArbeiterInnenklasse anzukoppeln und einzubinden,egal ob durch Gewalt und Zwang, Ideologie oderPartizipation. Autopoietisch mag der Prozess kapi-talistischer Verwertung und Vergesellschaftung bloßuns erscheinen. Gerade die Mechanismen Ideologieund Partizipation bzw. das Vertrauen der Arbeiter-Innenklasse auf Partizipation funktionieren so per-fekt, dass sie im Laufe der nationalkorporatistischenKlassenkämpfe auch im Bewusstsein der Arbeiter-Innen tief verankert sind. Dazu kommt dasKonkurrenzverhältnis nicht nur der ArbeiterInnen,sondern auch der Kapitalisten untereinander. Diesemüssen bei Strafe ihres Untergangs permanent zurReproduktion des Kapitalverhältnisses dieses vordem Hintergrund der konkreten KampfsituationKapital � Arbeit, aber auch in Abgrenzung undWettbewerb gegeneinander, erneuern (Reinvestitio-nen) und modernisieren. Auf der Grundlage dieserVerhältnisse von kapitalistischer Vergesellschaftungzu sprechen ist sicherlich legitim, der Begriff �auto-matisches Subjekt� drängt sich einem geradezu auf,bringt das Projekt der Emanzipation jedoch derartmissverstanden und hypostasiert um nichts weiter.Die real existierende Wertkritik fetischisiert denBegriff des �automatischen Subjekts� und siehtpraktisch nur noch ein Subjekt, das Kapital selber.Vor den Ruinen des reformistisch integrierten undstalinistisch verbrannten Klassenkampfs flüchtet dieWertkritik in eine Vorstellungswelt, die den sozialenAntagonismus, die Existenz von Klassen nur als se-kundäre Erscheinung, als Oberfläche kapitalisti-scher Vergesellschaftung sieht und alle sich daraufbeziehende Theorie als �Klassenkampf-Fetisch�theoretisch entsorgt (vgl. Kurz, 1989, S. 10). Einsolcher Marxismus bemerke �gar nicht, dass er miteiner solchen Diktion völlig an einer Kritik derFundamentalkategorien des Kapitals vorbeizieht�(Kurz, 1989, S. 11). Und diese Fundamental-kategorie ist für die Wertkritik der Wert an sich undnichts weiter. Die Begriffe Mehrwert, Klasse undSubjekt spielen in dieser verschrobenen Metrik kei-ne Rolle mehr. Damit wird aus dem Wert faktischgenau das was Robert Kurz den Poststrukturalistenund ihren Konzeptionen Macht (Foucault) und Text(Derrida) vorwirft, nämlich der Entwurf einer�Äthertheorie� (Kurz, 2002, S. 92). So nimmermü-de die Wertkritik die historisch-spezifische d.h.nicht ontologische Formbestimmtheit des Wertsherausstellt, in ihrem theoretischen Gesamtentwurfist kein Moment impliziert, das die Wertvergesell-schaftung stoppen könnte außer, das Kapital (daseinzige Subjekt, das die Wertkritik noch sieht) ver-schluckt sich �an sich selber�. Was Wertkritik nichtleistet, und somit auch gar nicht leisten kann: in denKrisenmomenten des Systems die Bewegungen der

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Klasse und nicht nur der Klasse, sondern derSubjekte im allgemeinen sichtbar zu machen.

In diesem Sinne ist für Joachim Bruhns vom ISFdie Sache klar: der Kapitalismus �wird scheitern,aber an sich selbst, an seiner inneren, an seiner logi-schen wie historischen Unmöglichkeit� (Bruhn,1995, S. 9). Dann bräuchte man ja in der Zwischen-zeit nur noch weiterarbeiten und abwarten bis dasKapitalverhältnis irgendwie von sich aus verdampft:Revolution als (intellektuelles) Pfingsterlebnis.

Um diesen �revolutionären� Attentismus zu le-gitimieren wird die im Prinzip strukturalistischeDarstellung des Werts herangezogen, wie Marx sieim Fetischkapitel (Kapital Bd. 1 Marx, 1988, S. 85-98) erläutert. Aus ihm heraus wird die vermeintlicheOberflächlichkeit des Klassenverhältnisses abgelei-tet und versucht zu begründen. Dies wird wie ein-gangs bereits erwähnt in nimmer müde werdenderEmsigkeit von Artikel zu Artikel (Bsp. Editorial-Marxistische Kritik, 1988, S. 6; Stahlmann, 1988, S.38-39; Kurz, 1989, S. 13) ausgewalzt und kommt imEndeffekt einer Fetischisierung des Fetischkapitelsbei Marx gleich. Der Begriff des Wertes als gesell-schaftlicher Vermittlungszusammenhang wird hy-postasiert, der Begriff des Wertes als analytischeKategorie, die Ausbeutung sichtbar machen kannund will (nicht umsonst nimmt sich Marx einigeKapitel im Kapital Raum, um den Wert der Arbeitdahingehend zu definieren) wird auf der Rückseitedessen fallen gelassen. Zugleich mit dem Begriff derAusbeutung wird dann derjenige der Klasse prak-tisch mit entsorgt. An Stelle der Subjekte, welchedie Geschichte machen wird der Kapitalismus alsautomatisches Subjekt (Kurz, 1990, S. 105; Lohoff,1990, S. 136,147) gesetzt (vgl. auch ISF, 2000, S. 20).Auch wenn es der Krisis-Gruppe und den Wert-kritikerInnen im allgemeinen sicherlich um dieÜberwindung des Kapitalismus geht, die Theorie,die sie dazu entfalten ist eine Theorie des Kapitals.

Wert und abstrakte Arbeit

Die Wertkritiker haben den Wert nur verschiedeninterpretiert, es kommt aber darauf an...

Joachim Bruhns vom ISF in Freiburg geht in die-ser Hinsicht noch �weiter�. Kurz wisse auch �nichtwas das sein soll �Wert�, was das heißen soll: �ab-strakte Arbeit� und �automatisches Subjekt� [...] undzwar deshalb, weil Marx das nicht wusste, und des-halb, weil man das gar nicht wissen können kann.(sic!) Jede Rede vom Wert, die ihren Gegenstand alstheoriefähigen Gegenstand fasst und also aufDefinitionen bringt, ist nach Marx antikritisch undalso Ideologie� (Bruhn, 2004, S. 4,7). Hier wird -was den Begriff des Werts anbelangt - eine marxsche

Kategorie, die im Sinne naturwissenschaftlicherBestimmtheit nicht exakt positivistisch fassbar,nicht messbar ist, fallen gelassen und ihrerseits inein positivistisch-philosophisches Nirwana aufge-löst. Das Freiburger ISF, von Lohoff/Kurz als�Hausmeister der Kritischen Theorie� (Lohoff,1998) bezeichnet, exerzieren uns vor, wie manmittels des Tickets kritischer Theorie, in der an sichlobenswerten Haltung, Kritik als normativesKonzept zu praktizieren (vgl. ISF, 2000, S. 38-39),den Standpunkt maximaler kritischer Kraft in Bezugauf die konkreten materiellen (Herrschafts-)Verhältnisse verlässt. Das Frankfurter �GrandhotelAbgrund� (Lukacs) schrumpft in punkto Marxismusbzw. �Wertkritik� zur Freiburger �Pension Sack-gasse�.

Bei der wissenschaftlich präzisierten Ver-wässerung der marxschen Begriffe Wert und ab-strakte Arbeit stehen Krisis und ISF aber nicht al-leine da. Michael Heinrich, der sicherlich nicht zumeigentlichen Kreis der Wertkritik zu zählen ist,kommt in dieser Hinsicht, was den Begriff desWerts bzw. den Begriff der abstrakten Arbeit (wel-che den Wert konstituiert) anbelangt, in seinenAnstrengungen mit dem Begriff �nicht substanziali-stische-Substanz� (Heinrich, 2001) zum Stillstand.Ein einziger Blick in die Warenwelt der Gegenwartlässt erkennen: abstrakte Arbeit und Wert sind - sokonkret wie nur irgendetwas � Substanz! Trotz derForm der Darstellung der Ware und des Werts alsgesellschaftliches Verhältnis (Marx, 1988, S. 85-98;vgl. auch Marx, 1987, S. 30-31) beschreibt Marx denWert der Waren wie folgt.: �Betrachten wir nun dasResiduum der Arbeitsprodukte. Es ist nichts vonihnen übrig geblieben als dieselbe gespenstischeGegenständlichkeit, eine bloße Gallerte unter-schiedsloser menschlicher Arbeit, d.h. der Veraus-gabung menschlicher Arbeitskraft ohne Rücksichtauf die Form ihrer Verausgabung. Diese Dinge stel-len nur noch dar, dass in ihrer Produktion mensch-liche Arbeitskraft verausgabt, menschliche Arbeitaufgehäuft ist. Als Kristalle dieser ihnen gemein-schaftlichen gesellschaftlichen Substanz sind sieWerte � Warenwerte� (Marx, 1988, S. 52; vgl. auchMarx, 1987, S. 4).

Auch die Zeitschrift Grundrisse aus Wien, wel-che keinesfalls zum Umfeld der Wertkritik zu zäh-len ist und im Editorial der 1. Ausgabe schreibt�Letztlich sollen aber alle Beiträge in den Grundrissendazu dienen, die Reflexion der gesellschaftlichen � ge-schichtlichen Entwicklung im Hinblick auf derenemanzipatorische Überwindung voranzutreiben�(Editorial-Grundrisse, 2002, S. 3) und MichaelHeinrich in dankenswerter Weise dahingehend kri-tisiert, dass er mit seiner �strukturale[n] Methode[(vgl. Heinrich, 1999, S. 208ff)], der er sich bedient,

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[...] zwar die wissenschaftliche Präzision�verbessere, aber das Element der Praxis zu-gunsten dieser Wissenschaftlichkeit tilgebzw. verschweige (Birkner, 2002, S. 38),tappt im Hinblick auf den Begriff des Wertsin die gleiche Falle. In dem Artikel über ab-strakte Arbeit schreibt Karl Reitter: �Mirging es darum zu zeigen, dass einigeFormulierungen, insbesondere die physio-logische Definition der abstrakten Arbeit,die Verausgabung von Muskel, Nerv undGehirn, zu unsinnigen und widersprüch-lichen Konsequenzen führen müssen. Kurzgesagt liquidiert diese Fehldeutung die tiefeGeschichtlichkeit des Marxschen Denkens,sie verwischt die historischen Besonder-heiten der sozialen Beziehungen imKapitalismus und schreibt der Arbeit ansich die geradezu magische Fähigkeit zu,�Wert� zu produzieren. Damit ist der Wegverbaut, im Wert ein gesellschaftliches Ver-hältnis zu erkennen, und auch kritisieren zukönnen� (Reitter, 2002, S. 16). Immerhinmuss mensch den Grundrissen aus Wieninsgesamt zugute halten das sie dasProblem der fehlenden Praxisimplikationdieser Werttheorie in der Auseinander-setzung mit Michael Heinrich erkannt ha-ben. Davon ist die Krisis Gruppe noch weitentfernt. Ernst Lohoff (Krisis) bezichtigt,in genau dieser für die Wertkritik typischenundialektischen Haltung die klassischenMarxisten, sie seien verliebt �in die Auf-lösung von Wert in menschliche Arbeit�und würden sich so systematisch den Wegzur Wertformanalyse vermauern (Lohoff,1988, S. 63). In völliger Kohärenz dazu be-merkt das ISF, dass �die Rede von abstrak-ter Arbeit als Wert stiftend durchEnergieverausgabung irreführend [sei],denn diese bestimmt weder Form nochGröße des Werts einer Ware� (ISF, 2000, S.34) und statt dessen sei der �Wert alsInbegriff der Vermittlung der sozialenTotalität� (ISF, 2000, S. 33) zu begreifen.

Angesichts dieser, in einseitiger Hin-sicht auf die gesellschaftliche Strukturenbildende Eigenschaft des Werts abzielendenHaltung, fragt es sich, ob es tatsächlich soschwer sein kann, für Leute die eigentlichwissen was Dialektik bedeutet, dualistischzu denken und dabei noch hinter dieAbstraktionsfähigkeit der positivistischenWissenschaften - beispielsweise der Physik- am Anfang des 20. Jahrhunderts zurük-kzufallen. Es ist heutzutage eine Binsen-weisheit der Quantentheorie, dass, ob

Elektronen oder Licht, beide Welle oderTeilchen sein können. Es gibt zahlloseExperimente und Naturerscheinungen, de-ren korrekte Beschreibung im Teilchenbildgelingt und ebenso zahllose, deren korrek-te Beschreibung im Wellenbild gelingt.Dieser Widerspruch ist bis heute nicht dia-lektisch aufhebbar, ohne das sich nochirgendein Naturwissenschaftler daran stört.Wieso soll also der Wert (auch als historisch-spezifische, nicht-ontologische Kategorie)nicht ein dualistisch zu begreifendes Dingsein, in dem menschliche Arbeit angehäuftist und gleichzeitig eine den Raum der ka-pitalistischen Gesellschaft konstituierendeForm darstellen. Gerade die nicht von derHand zu weisenden Oszillationen in dermarxschen Art der Darstellung des Wertssind als Versuch zu sehen, zwischen diesenPolen begrifflich zu vermitteln ohne dabeiden einen oder den anderen Aspekt fallenzu lassen. Der Begriff �abstrakte Arbeit�mit all seinen Implikationen ist einAusdruck der theoretischen Anstrengun-gen Marx� diese Stereophonie begrifflichauf einen Nenner zu bringen.

Die lachenden Dritten dieser verkürz-ten �Wertkritik� und dieser �Wissenschaftvom Wert� sind die bürgerlichen Ökono-men und deren Ideologie mit ihren ver-dinglichten Kategorien wie beispielsweise�Lohn� und �Gewinn�, die es ja, so sollteman meinen, mit den Begriffen v (variablesKapital) und m (Mehrwert), zu desavouie-ren gilt. Trotz der Vielschichtigkeit derMarxschen Argumentation war es ein zen-trales Anliegen seiner Arbeiten in der�Kritik der bürgerlichen Ökonomie� imKapitalverhältnis Ausbeutung als analyti-sche Kategorie, über das moralische hinaus-gehend, sichtbar und benennbar zu ma-chen.

Dichotomie von Gebrauchswert undTauschwert und soziale Praxis

Ein weiteres Problem, welches die�Wertkritik� schafft, ist die apodiktischeSetzung der Trennung zwischen Gebrauchs-wert und Tauschwert. Selbstverständlich er-geben diese von Marx aufgezeigten Kate-gorien nicht nur hinsichtlich der histori-schen Entstehung kapitalistischer Produk-tionsverhältnisse einen Sinn sondern esgeht letztendlich um die Zurückführungder Ökonomie in die Gesellschaft (Polanyi)und somit um die Aufhebung kapitalisti-

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scher und in diesem Sinne warenförmigerVergesellschaftung. Die apodiktische Tren-nung dieser letztlich auch zusammengehö-renden Formen Tauschwert und Gebrauchs-wert (es gibt keinen Tauschwert ohneGebrauchswert) steht der Praxis derAneignung von Produktionsmitteln und derÜbernahme der Produktion in Arbeiter-Innenselbstverwaltung, welche innerhalb derVerhältnisse kapitalistischer Vergesell-schaftung zwangsläufig beginnen muss, abertheoretisch im Wege (vgl. Kurz, 1986;Lohoff, 1988, S. 59-65). Dazu ein Beispiel:

Im Zeitraum 2003/2004 waren inArgentinien und Brasilien hunderte vonFabriken besetzt. Der Umstand innerhalbeiner kapitalistischen Gesamtumgebung inArbeiterInnenselbstverwaltung zu produ-zieren, was in dieser Hinsicht insbesondereüber die Sphäre der Vermittlung und den indiesem Zusammenhang möglicherweisestattfindenden ungleichen Tausch auchSelbstausbeutung bedeuten kann, stelltselbstverständlich ein Problem dar. Auchwenn das Kapitalblatt �The Economist�(9.11.2002) gelassen bemerkt, dass �dieseBewegung keine Bedrohung für kapitalisti-sche Unternehmen darstellt�, so wird docheingeräumt, dass man von einer �Erosionder Eigentumsrechte� sprechen kann. DieBesetzungen, so wird aus Argentinien be-richtet �entstehen als Überlebensprojekt ineiner defensiven Situation. Aber sie werfenFragen auf, die weit über das unmittelbareZiel, den Erhalt der eigenen Arbeitsplätze,hinausgehen� (Wildcat-Beilage, 2004, S.26). Mehr als 10.000 ArbeiterInnen habenin Argentinien das Privateigentum prak-tisch in Frage gestellt, und sie müssen sichteilweise noch heute handgreiflich gegendie Staatsgewalt durchsetzen. �Sie machendie Erfahrung, dass sie in der Lage sind, dieProduktion selbst zu organisieren. In derFabrik ohne Chefs ist plötzlich nichts mehrselbstverständlich, nichts muss als gegebenhingenommen werden. Es gibt keineVorarbeiter und Meister mehr; die Arbeiter-Innen verändern Arbeitszeiten und -organi-sation entsprechend ihrer eigenen Bedürf-nisse und entscheiden in Versammlungen,was und wie produziert wird. Nicht mehrProfit und Gewinnmaximierung sind dasZiel der Produktion, sondern Einkommenfür möglichst viele Menschen und dieHerstellung nützlicher Dinge unter erträg-lichen Bedingungen� (Wildcat-Beilage2004, S. 26). Trotz alledem stehen die

ArbeiterInnen, die sich z. T. rätedemokra-tisch organisieren (vgl. Fernandes, 2003),mit ihren Fabriken in einem gesamtgesell-schaftlich-kapitalistischen Kontext, der diebeschriebenen neu gewonnen Freiheitenbegrenzt und einschränkt. Dieses Problem,dem sich die ArbeiterInnen zweifelsohnebewusst sind, wird aber nicht kleiner, wennsie vor oder während der Fabrikbesetzungdas Fetischkapitel im Kapital Band 1 lesenoder die Krisis im Abo beziehen und damiteinerseits über die vermeintliche Totalitätwertförmiger Vergesellschaftung und ande-rerseits über den soziologisch oberfläch-lichen Charakter dessen was sie da geradetun - nämlich als Klassensubjekte zu kämp-fen - informiert sind. So aufschlussreich underhellend das Verständnis um den Fetisch-charakter der Waren ist, er bringt denProzess der Emanzipation in dieser Hinsichtnur mittelbar weiter. Würde mensch jedochdas von der Wertkritik aufgespannteTheoriegebäude hier konsequent zur An-wendung bringen, so könnten die Arbeiter-Innen aus den Fabriken ruhig wieder rau-skommen, weil sie dort natürlich Produkteherstellen, die weniger den Charakter vonGebrauchswerten, sondern eher den vonTauschwerten hätten. Sie hätten dann ent-lang der wertkritischen Hypostasierung desFetischcharakters der Waren und der letzt-lich noch nicht geknackten Warenform ihrerProdukte (nämlich immer noch Tauschwertezu sein) den kapitalistischen Vergesell-schaftungszusammenhang bzw. den �feti-schistischen Ware-Geld Nexus� (Kurz,1990, S. 115) noch nicht einmal auf ihremeigenen Terrain angekratzt. Auch an diesemeinfachen Beispiel wird das Spröde der the-oretischen Metrik der Wertkritik sichtbar.Sie hat in dem von der Krisis-Gruppe oderdem ISF konzipierten theoretischen Argu-mentationszusammenhang keine Praxis-implikation.

Marx beschreibt im Kapital zu recht, dasssich der Gegensatz zwischen Gebrauchswertund Tauschwert auch mit dem Gang dertechnologischen Entwicklung vertieft hat.Ist �Große Maschinerie� erst einmal durch-gesetzt (so gewaltsam dieser Prozess auchgewesen sein mag), so wird auch unterBedingungen einer nur in etwa zu antizipie-renden ArbeiterInnenselbstverwaltung derProduktion ein zurück zur klassischenSubsistenzwirtschaft wohl kaum wün-schenswert sein und die damit verbundeneProduktion von phasenreinen Gebrauchs-

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werten wird es in diesem Sinne in �entwickelten�Gesellschaften nicht oder kaum mehr geben.Dennoch stellen die Fabrikbesetzungen wie sie inArgentinien und Brasilien von statten gingen undgehen sicherlich einen Bruch mit dem Schema G �W - G (Geld � Ware � Geld) und insbesondere G �W � G�, hin zur eigentlichen Tauschform W � G � Wdar. Nach ihrem stofflichen Inhalt ist das dieBewegung W � W (vgl. Marx, 1988, S. 120). Marxstellt diese Bewegung in seiner Schrift �Zur Kritikder politischen Ökonomie� folgendermaßen dar:�Betrachten wir nun das Resultat von W � G � W, sosinkt es zusammen in den Stoffwechsel W � W. Wareist gegen Ware, Gebrauchswert gegen Gebrauchs-wert ausgetauscht worden, und die Geldwerdungder Ware, oder die Ware als Geld, dient nur zurVermittlung des Stoffwechsels. [...] Das Geld ist nurdas Mittel und die bewegende Kraft, während diedem Leben nützlichen Waren das Ziel und derZweck sind� (Marx, 1990, S. 77).

Der Tausch von �Waren� ob mit oder ohne Geld(vgl. Allgemeine Wertform, Marx, 1988, S. 79 undGeldform, Marx, 1988, S. 84) wird sicherlich auch ineiner nachkapitalistische Ära noch von statten gehen.Keine ArbeiterIn und kein Kollektiv wird gleichzei-tig Keramikkacheln, Lebensmittel und Eisenbahn-waggons herstellen. Trotzdem ist jede besetzteFabrik ein Schritt zur Destruktion des Geldes, die inihrer Funktion als schärfste und unmittelbarsteKommandoform Arbeit in Wert setzt. Dieser Kampfin der sich entwickelnden ArbeiterInnenautonomie,so eingezwängt in den kapitalistischen Gesamtzu-sammenhang er auch immer sein mag, wird automa-tisch, ausgehend von der eigenen Subjektivität derArbeiterIn, auch ein Kampf gegen die Arbeit als ent-fremdete Arbeit sein. Es wird sich ein neuer Typusvon Produkten/�Waren� bilden, der in denMarxschen Kategorien von Gebrauchswert, Tausch-wert und Wert nur noch bedingt abbildbar ist. DieserProzess ist offen. Die Wertkritik blockiert jedochtheoretisch mit ihrer apodiktischen Fassung desVerhältnisses von Gebrauchswert und Tauschwert(es gibt kein richtiges Leben im Falschen) denProzess der Aneignung und den Kampf um selbstbe-stimmte Produktion, der im Beispiel derFabrikbesetzungen in Argentinien auch ein Kampfder ArbeiterInnen ist, ihr Überleben zu sichern.

Der, wenngleich auf dem bürgerlichen Ökono-men Ricardo fußende Vorschlag von Marx , denWert einer Ware über die in ihr steckenden Arbeits-zeit zu messen, kann auch für die nachkapitalisti-sche Ära, in der die Produktion unter Arbeiter-Innenselbstverwaltung nach tatsächlichen Bedürf-nissen ausgerichtet ist, von Bedeutung sein.Insbesondere wenn es daran geht, verschieden her-gestellte oder herzustellende Produkte in Kontrast

zur subjektiven Wertlehre und zum Nutzenkalkülder Neoklassik, gerecht zu bewerten bzw. zu ver-mitteln, wird auf werttheoretische Überlegungenkaum zu verzichten sein. Die von Marx explizit alshistorisch-spezifisch konzipierte Kategorie desWerts von Waren bzw. von Produkten könnte in die-sem Sinne durchaus überhistorische Qualität gewin-nen, d. h. über den kapitalistischen Vergesellschaf-tungszusammenhang hinausweisen (vgl. dazu auchHaug, 1976, S. 119).

Das entscheidende ist neben den Eigentums-verhältnissen das Kommando über den Mehrwert,der in den Betrieben geschaffen wird. Liegt diesesKommando bei den ArbeiterInnen, die ihn erarbei-tet haben und gibt es in diesem Sinne keine Klassenmehr, so ist dem �Wert�, sofern man dann über-haupt noch von �Wert� reden kann, der dämonischeCharakter genommen - der Kapitalismus ist erlo-schen. Das einige hundert besetzte Fabriken nochkeine Revolution bedeuten, ist eine trivialeFeststellung. Die Menschen setzen sich jedochnicht nur in Argentinien und Brasilien gegenAusbeutung zur Wehr. Sie tun dies überall und inden verschiedensten Formen. An den so gesetztenPraxispunkten im Antagonismus Kapital Arbeit giltes diese Bewegungen theoretisch/kritisch und auchbegrifflich zu flankieren und dahingehend zu radi-kalisieren, dass die Subjekte den kapitalistischenGesamtzusammenhang erkennen und die langeGeschichte reformistischer Integration untersKapitalverhältnis durchbrechen. Dies gilt geradeauch für die Situation in den Metropolen. In dieseRichtung hat die freundliche Fratze des janusköpfi-gen Spätfordismus einiges an falschem Bewusstseinerzeugt und hinterlassen.

Die inhärenten Widersprüche der „Wertkritik“

Eine dennoch verbleibende Restsympathie fürdie Krisis-Gruppe speist sich einzig und allein ausihren eigenen Widersprüchlichkeiten. Es scheint, alswürde ihnen im Gegensatz zum Freiburger ISFirgendwie dämmern, dass ihre Theorie insgesamtden Raum einer �revolutionären� Wartehalle auf-spannt. Im Verlauf dieser Dämmerung kommen siezu seltsamen Vorstellungen. Wie bereits geschildertnegieren Kurz/Lohoff und andere die Kategorie des(revolutionären) Subjekts insgesamt. Der Ausweg-losigkeit dieser Konstruktion scheinen sie sich den-noch irgendwie bewusst zu sein und phantasierensich in ihrer enormen Schreibwut - quasi als (vir-tuellen?) Ersatz - eine �Antiklasse� (Kurz, 1989, S.38-41) herbei, welche den kapitalistischen Wertver-gesellschaftungszusammenhang, den Ware-GeldZusammenhang (vgl. Kurz, 1990, S. 115) irgendwiezerstören soll. Gleichzeitig denunzieren sie aberlinksradikale Bezüge wie z.B. die der �Autonomie

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Neue Folge� auf die Kämpfe im außerkapitalisti-schen Milieu bzw. an den Rändern der Inwert-setzungszonen. Diese Kurz/Lohoffsche Kategorieder Antiklasse ist so nicht haltbar. Wenn es �inner-halb� des kapitalistischen Zusammenhangs keineSubjekte mehr geben kann und auch der Bezug aufdie Kämpfe im außerkapitalistischen Milieu negiertwird, stellt sich die Frage, woraus denn so eine�Antiklasse� entspringen könnte. Der schwäbischeAutonome, der in Kreuzberg bei Kaisers dieSonderangebote klaut oder was soll das sein? Nichtsgegen den Bezug auf neue soziale Bewegungen undden Prozess der Aneignung, aber dann kann derauch so benannt werden. Aus den Texten der Krisis-Gruppe geht jedoch deutlich hervor, dass sie wederdie Autonomen (Editorial - Marxistische Kritik,1986) noch die Zeitschrift �Autonomie NF� (vgl.Tomazky, 1989, S. 86) besonders schätzen.

Ein besonderes Schmankerl ist dann noch dieTatsache, dass sich auf der von positiven Bezügenauf revolutionäre Subjekte und Klassenkampf an-sonsten gründlich gesäuberten Homepage derKrisis ein Link zur Wildcat-Homepage, zum eigent-lich, so sollte man meinen, dreifach verbotenenHort des Operaismus und Klassenkampfs in derBRD findet. Hier beißt sich die Katze endgültig inden Schwanz und es scheint als wären den Gehirnender �Wertkritiker�, in ihrer �theoretischenWartehalle der Revolution� beim hegelianischenFormbestimmen des Werts und dem langen Wartenauf den großen Knall, mit der Zeit doch Zweifel ameigenen theoretischen Entwurf eindiffundiert.

Wenn die Krisis den Klassenkampf nur im Sinneeiner systemimmanenten Verallgemeinerung undAusweitung, sprich Modernisierung des Kapitalis-mus, dechiffrieren kann (vgl. Lohoff, 1996, S. 58-59), dann stellt die Aussage, dass der �wertimma-nente Interessenkampf� (Lohoff, 1998) nicht ein-fach preiszugeben sei, einen Widerspruch dar. Vonder Einsicht jedenfalls, dass proletarisches Handelnin seiner ganzen Widersprüchlichkeit �kapitalimma-

nent und systemüberwindend zugleich sein kann�(Hüttner, 1995 S. 19) und dass eine bloße Gemein-schaft der Einsichtigen, den Wertvergesellschaf-tungszusammenhang des �automatischen Subjekts�durchschauenden als �praktische soziale Bewegung�(Kurz, 2004, S. 5) etwas dürftig ist, scheint dieKrisis-Gruppe noch weit entfernt zu sein.

Schluss

Wenngleich der Wert der Waren über diemenschliche Arbeitszeit, die darin verausgabt ist,exakt im positivistisch-naturwissenschaftlichemSinne nicht messbar, nicht quantifizierbar ist, ver-wendet Marx doch einige Kapitel im Kapital daraufden Wert von Waren in diesem Sinne zu definieren.In den Begriffen des variablen Kapitals und desMehrwerts findet die Überlegenheit der marxschenKritik gegenüber der bürgerlichen Ökonomie ihrenAusgangs- und Kernpunkt. In diesem Sinne ist dieKategorie des Wertes die Kategorie mit der die bür-gerliche Ökonomie kritisiert wird. Neben derTatsache der Raumkonstitution durch den Wertwird dadurch Wertraub bzw. Ausbeutung sichtbarund begreifbar. Wichtiger noch als die Gewissheit,dass Wert- und Warenaustausch den Raum der bür-gerlich-kapitalistischen Gesellschaft strukturieren,ist die Tatsache, dass durch den damit faktisch ver-schränkten Wertraub (Ausbeutung) und durch dieso bedingte Akkumulation des Kapitals, Herrschaftkonstituiert wird. Diese Verschränktheit derMarxschen Kategorien, wie sie sich auch in derDarstellung der �Kritik der bürgerlichen Ökono-mie� in ihrer Gesamtheit feststellen lassen, musstheoretisch sichtbar bleiben. In dieser Hinsichtmarxsche Kategorien gegen das KapitalverhältnisArbeit und Kapital oder konkreter noch �Arbeiterund Kapital� (Tronti) permanent in Stellung zubringen muss Aufgabe jeder linksradikalen, marxi-stischen und sozialrevolutionären Theorie undPraxis sein.

E-mail: [email protected]

Jürgen Albohn Eine Kritik der Wertkritik

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Lohoff, 1990 Ernst Lohoff, �Die Inflationierung der Krise� in: Krisis8/9(1990)136,147 Krisis Verlag Erlangen

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Wildcat�Beilage, 2004 �Eine Fabrik in Patagonien � Zanon gehörtden Arbeitern� in: Beilage zur Wildcat 68(2004)26

Jürgen Albohn Eine Kritik der Wertkritik

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Die Redaktion der Zeitschrift �grundrisse� hat an�Exit!� ein Schreiben gerichtet. Darin wird uns dieAnkündigung einer kritischen AuseinandersetzungJürgen Albohns mit der Wertkritik in einer der näch-sten Nummern mitgeteilt und angefragt, ob wir dazuStellung nehmen möchten. Nun, beides ist geschehenund hier steht also, was Jürgen Albohn in etwa zu er-widern wäre.

In etwa deswegen, weil es ein wenig schwer fällt,auf die Kritik einzugehen, die von sich behauptet,sich auf die Wertkritik zu beziehen. Das beginntschon damit, dass der Aufsatz Albohns sich auf al-les mögliche bezieht, das er undifferenziert Wert-kritik nennt und dabei einen Stand der Ausein-andersetzung kennt, der vor zehn Jahren aktuellwar. Wenigstens was �Krisis� betrifft, kann aber ei-ne Entwicklung des Diskurses durch eine sich er-weiternde Thematik festgestellt werden, die dannauch zu Auseinandersetzungen und Brüchen ge-führt hat, auf die Albohn nicht weiter eingeht.Ausgehend von der fundamentalen Wertkritik (wiesie in Krisiskreisen und zu Krisiszeiten damals sobezeichnet wurde) hat sich ein diskursiver Bogender Theoriebildung gespannt, der über die Kritikund historischen Redefinitionen der fundamentalenKategorien von Marx� Werk zu einer Beschreibungdessen führt, was ich das �moderne Ensemble� nen-nen möchte. Über die Kritik der politischen Öko-nomie hinaus wurden Beiträge abgeliefert, die sichmit der Konstitution dieses modernen Ensemblesbefassen; namentlich die Aufsätze und Bücher von

Roswitha Scholz zur Abspaltung brachten den fe-ministischen Diskurs aus einer Abgeschlossenheitheraus, die auf das theoretische Dilemma �Gleich-heit oder Differenz� beschränkt war und es nichtüberwinden oder auflösen konnte.

Konfrontiert mit der fundamentalen Wertkritik,in der Theorie wie Autorin zunächst nur eine rand-ständige Rolle gespielt hatte, führte die Abspal-tungstheorie (von den wertkritischen Männern alsTheorem diminuiert), wie sie Roswitha Scholz aus-zuformulieren begonnen hatte, zu einer Verschär-fung der Auseinandersetzung und zu einer Neude-finition des Diskurses. Unterstützt wurde diesdurch Robert Kurz, der einerseits mit einem Auf-satz zur �Subjektlosen Herrschaft� einen erstenSchritt in Richtung einer Metatheorie machte (ichspreche manchmal scherzhaft und in Anlehnung andie Probleme der Physik von der Formulierung ei-ner Grand Unified Theory) und andererseits durchdie Beiträge von Roswitha Scholz, die im wertkriti-schen Diskurs vehement dafür eintrat, dieVerfasstheit bürgerlicher Subjektivität anhand vonRassismus, Antisemitismus und deren Ausformun-gen in den real uns begegnenden Charakteren undTypen zu einem Thema zu machen, das nicht mehrakzidenziell zur politischen Ökonomie hinzutrat,sondern die Konstitution des bürgerlichen Subjektsselbst zum Inhalt hatte.

Dies kulminierte in Artikeln und Ausein-andersetzungen mit der Aufklärung und der Kritik

Gerold Wallner Si tacuisses!

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Gerold WallnerSi tacuisses! (Eine Antwort auf Jürgen Albohn)

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an ihr, gleichzeitig setzte sich der Begriffder Wertabspaltung durch, der das Wortvom Abspaltungstheorem ablöste. DieserBegriff deutete wiederum darauf hin, dasseine Gesamtheit des Modernen Ensemblesin den Mittelpunkt des Theoriebildungs-prozesses gerückt ist � Wertabspaltung istnun so zu lesen wie Raumzeit in der Physikund ist die Darstellung eines gesellschaft-lichen Prozesses, der durch den FetischWert ebenso konstituiert ist wie durch diegeschlechtliche Abspaltung, an die allesverwiesen wird, was an gesellschaftlichenTätigkeiten und Notwendigkeiten in derSelbstbewegung des Werts, in der Ver-wertung seiner selbst nicht aufgeht. Dass da-mit begriffliche Hierarchien und Ableitun-gen zertrümmert wurden, dass nun Begriffewie Gebrauchswert einer Neudefinitionharrten, dass die Frage nach der Konsti-tution dieses Modernen Ensembles auf dieTagesordnung gesetzt wurde, versteht sichvon selbst.

Es war unvermeidlich, dass dieser Pro-zess nicht ohne Auswirkungen auf die anihm Beteiligten blieb. Die Aufgabe sicherenTerrains, das die fundamentale Wertkritiknoch bereitgestellt hatte (mit sozusagen ge-pflegten Auseinandersetzungen mit einemtraditionellen akademischen oder proleta-risch-bewegten Marxismus und dem sorg-sam gehüteten Ansehen des �buntenVogels�), und der großtheoretische An-spruch, die gesamte Welt zu erklären zu ver-suchen oder dies Unterfangen wenigstens zubeginnen, führte zur bekannten Spaltung der�Krisis�-Redaktion und der Neuformierungim �Exit!�-Zusammenhang. Wie sehr sichinnerhalb des wertabspaltungskritischenDiskurses die Gewichte verschoben haben,kann in den bis jetzt erschienenen Ausgabendieser Zeitschrift (Jahrbuch wäre mehr an-gemessen) gesehen werden. Wohin die Reisegeht, ist noch nicht abzusehen, wenn auchdie Richtung fest steht.

Der von Jürgen Albohn vorgelegteArtikel beschäftigt sich nun gerade nichtmit der hier in aller Kürze skizziertenEntwicklung des Diskurses. Unser Autorbleibt gleich in den Anfängen hängen. DieFormulierung der Abspaltungskritik ist fürihn kein Thema, ebenso ignoriert er die Aus-einandersetzungen mit der Aufklärungs-kritik. �Exit!� mit seinen Beiträgen, die neueThemen anreißen, kommt bei ihm über-haupt nicht vor. Es scheint mir, als hätte

unser Autor � und auch die angegebeneLiteratur deutet in diese Richtung � schonvor Jahren den Stab über die Wertkritik ge-brochen und erzählte nun mit einigerVerspätung davon. Was soll ich also nun da-zu sagen? Abgesehen von einem bombasti-schen Titel, der bloß das Ressentiment un-seres Autors ausdrückt, bleibt nicht viel,das einer Antwort lohnt. Versuchen wir estrotzdem.

Ohne jetzt auf Exegesen der von ihm zi-tierten Marxstellen eingehen zu wollen(denn diese Exegesen sind das Grundübelder herkömmlichen Marxrezeption über-haupt; wäre etwa die Evolutionsbiologiemit ihrem Darwin ähnlich exegetisch um-gegangen, hätte sie sich nie weiter entwik-keln können. Aber der alte Karl Marx wirdnach wie vor so behandelt, als würde seineunbestrittene Bedeutung gleichzeitig einVerbot aussprechen, auf seinem Werk fu-ßend eigene Gedanken zu formulieren oderBehauptungen, die sich der Mitte des neun-zehnten Jahrhunderts verdanken, zu ver-werfen) � also ohne die zitierten Stellenjetzt exegetisch zu behandeln und falscheoder richtige Interpretation durch unserenAutor zu konstatieren, möchte ich zu-nächst einmal festhalten, dass er durchgän-gig Wert und Werte nebeneinander stellt.Dies deutet auf einen Empirizismus hin,der Wert nur begreift als konkretisiertenReichtum, als tauschbare oder schon ge-tauschte Produkte, als Waren, die schon amIndividuum Reichtum dargestellt und ange-häuft haben.

So kommt er auch zur Aussage, dass �derWert eine Fließrichtung hat, nämlich vomProduktionsmittelnichtbesitzer (Arbeiter-In) zum Produktionsmittelbesitzer (Kapita-list)�. Damit behauptet er: �Dass es Klassengibt, wird (also) von der Wertkritik als se-kundäres bzw. Oberflächenphänomen kapi-talistischer Vergesellschaftung dargestellt�.Was die �Fließrichtung� betrifft, so hat un-ser Autor die zitierten Texte nicht sorgfäl-tig gelesen und verwickelt sich selbst inWidersprüche dort, wo er einerseits dieMarx�sche Kategorie des Werts aufrecht er-halten und verteidigen will, andererseits sieaber in �Werte� zerlegt, die �vergleichbar(werden) durch die abstrakt menschlicheArbeit, die in ihnen steckt�. Diese Plurali-sierung macht aus dem Wert, dem empi-risch nicht fassbaren Wert, dem Wert desFetischkapitels (und auf all das bezieht sich

Gerold WallnerSi tacuisses!

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Albohn auch) eine Ansammlung konkreter � nen-nen wir es so � Reichtümer, die einem Teil derMenschen, nämlich der einen Klasse vorenthaltenwerden und zwar von der anderen Klasse. So kon-stituieren die Werte also in ihrer �Fließrichtung�Ausbeutung � unser Autor spricht von �Wertraub��, während der Wert als �Marx�sche Kategorie�irgendwo ein unkommentiertes Dasein fristet.

Die Werte aber tummeln sich auf einer ebensounkommentierten begrifflichen Ebene. Das führtdazu, dass laut unserem Autor �in diesem Sinne (�)der Kapitalismus nicht nur eine ungeheure An-sammlung von Waren, sondern auch von Tausch-prozessen� sei. Ich bin bis jetzt davon ausgegangen,dass der Kapitalismus eine Produktionsweise ist, de-ren Reichtum sich als Anhäufung von Waren aus-drückt, wobei die Größe der Anhäufung keine Rollespielt, sondern die Tatsache, dass außer dem waren-förmigen kein Reichtum denkbar und in dieserProduktionsweise möglich ist. Die Waren aber sindkeineswegs Dinge, Güter oder Dienstleistungen, diediese Tauschprozesse erst vor sich haben, vielmehrwurden sie schon als Waren produziert, und dass wirihrer nur durch diese ominösen Tauschprozessehabhaft werden können, heißt nicht, dass sie erst imTausch als Träger von Wert in die Welt treten. Esheißt vielmehr, dass der in ihnen geronnene Wert(ausgedrückt in einem Quantum toter, abstrakterArbeit) nur so die fetischhafte Verbindung zwi-schen Produktion und Reproduktion herzustellenim Stande ist; produziert werden aber Waren alsWaren im Hinblick auf die Herstellung undBefestigung dieser gesellschaftlichen Verhältnisseund Beziehungen, nicht im Hinblick auf eineBereicherung in einem späteren Tauschprozess. Esgeht also nicht um Werte, die sich erst im Tausch re-alisieren, wie uns der Autor weismachen will, son-dern um den Wert, der die Gesellschaft des moder-nen Ensembles, die bürgerliche Gesellschaft, denKapitalismus organisiert und antreibt.

Dies wäre nun eine Aussage, die aus denErfahrungen und Traditionen des wertabspaltungs-kritischen Diskurses entstanden ist. Ich gesteheJürgen Albohn durchaus zu, dass über sogetaneAussagen trefflich zu disputieren wäre. Aber was eranbietet, ist kein Einstieg in einen Disput, da er jadie Positionen der Wertabspaltungskritik nur ver-kürzt oder gar nicht darstellt. Dazu kommt eine et-was ärgerliche Verwirrung, die aus den Plurali-

sierungen von Begriffen herrührt. Nehmen wir unsein weiteres Beispiel, wenn unser Autor uns unterdem Zwischentitel �Dichotomie von Gebrauchs-wert und Tauschwert und soziale Praxis� folgendesnahe bringt: �Würde man jedoch das von derWertkritik aufgespannte Theoriegebäude hier kon-sequent zur Anwendung bringen, so könnten dieArbeiterInnen aus den Fabriken ruhig wieder rau-skommen, weil sie dort natürlich Produkte herstel-len, die weniger den Charakter von Gebrauchs-werten, sondern eher den von Tauschwerten hät-ten.� Wir erinnern uns, es geht um eine Würdigungder Fabriksbesetzungen in Argentinien, die zumZeugnis dafür genommen werden, dass dieWertkritik (und damit auch die nicht erwähnte,nicht studierte, nicht zitierte, wohl auch nicht be-griffene Wertabspaltungskritik) zu diesen Vor-gängen kein Verhältnis hätte, schlimmer noch, dasswir dem Proletariat rieten, erst gar nicht zu kämpfenund solchen Unfug sein zu lassen.

Ja, nun ist die Angelegenheit etwas komplizier-ter. Daraus, dass wir die Auseinandersetzungen zwi-schen den Klassen als Binnenverhältnis desModernen Ensembles beschreiben und verstehen �wir bestreiten ja keineswegs die Existenz vonKlassen, wir halten lediglich den Begriff der Klasseder Entwicklung der modernen Wissenschaften ge-schuldet und ihrer Beschreibung mit ihren Mitteln�, daraus also zu folgern, wir würden gesellschaftli-che Praxis ablehnen und ein Eintreten für Interessenschon für falsch halten, daraus zu folgern, wir wür-den soziale Kämpfe, die sich inhaltlich, wenn auchnur in nuce, den Aporien des Kapitalismus entgegenstellen, nicht unterstützen, daraus zu folgern, wirhätten kein Verhältnis zur Praxis, ist hanebüchenerUnsinn. Eher wäre es hier angebracht, zwischen so-zialen Kämpfen, die sich aus den Widersprüchlich-keiten der Gesellschaft entwickeln (und wozu imÜbrigen auch und gerade der Theoriebildungs-prozess gehört), und Klassenkämpfen, die sich alsein Moment dieser Bewegung, als Teil derDurchsetzungsgeschichte der Moderne darstellen,zu unterscheiden. Dies tut aber unser Autor nichtund das macht es auch so ärgerlich schwer, das vonihm Vorgelegte zu kritisieren. Er wirft uns ja vor,das zu tun, von dem wir behaupten, dass wir es tun,nämlich einen theoretischen Diskurs zu führen undTheoriebildung voran zu treiben. Ist aber dieseBeschäftigung, der wir uns unterziehen, keinePraxis? Das wäre so, bezogen etwa auf einen

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Betrieb, als wäre die Abteilung Forschung undEntwicklung von der Produktion abgeschnitten undhätte mit ihr nichts zu tun, würde behaupten, dieProduktion selbst wäre unnötig.

Jedenfalls geht der zitierte Vorwurf ins Leere. Dasbedeutet aber umgekehrt nicht, dass wir, wie es unsJürgen Albohn unterstellt, die Arbeiterinnen undArbeiter aus ihren besetzten Fabriken nach Hauseschicken würden. Es bedeutet jedoch, dass wir dieUnterstützung, die ihnen von Leuten wie unseremAutor zuteil wird, dahin gehend überprüfen und di-sputieren, wie weit sie nutzbringend ist oder ob siebloß auf einem empathischen Zuspruch beruht, derauf einer affirmativen Ebene verbleibt, ohne das ge-sellschaftliche Geschehen zu durchdringen.

Da gibt es zu der inkriminierten Stelle ausAlbohns Aufsatz einiges zu bemerken. Zunächst istauffällig, dass er von Gebrauchswerten spricht, alsowieder der Pluralisierung verfällt. Wie ich weiteroben festgestellt habe, nimmt der Reichtum in derbürgerlichen Welt, in der kapitalistischen Produk-tionsweise, im Modernen Ensemble die Warenforman. Die Ware wiederum ist Träger von Gebrauchs-wert wie von Tauschwert. Wir können es uns nunerlauben, Gebrauchswert und Tauschwert mit ihremWortbestandteil �Wert� ernst zu nehmen, das heißtwir gehen über die Einleitungssätze des �Kapitals�hinaus und wollen den Begriff Gebrauchswert theo-retisch füllen. So gehen wir über die schiereNützlichkeit eines hergestellten Gegenstands hin-aus. Wir betrachten �Wert� als den Vergleich und�Gebrauch� als die gesellschaftlich unhintergehba-ren Formen der Anwendung; so ist es auch derGebrauchswert einer Ware � neben der Garantie,mit der Ware, ist sie erst rechtmäßig erworben, ma-chen zu können, was gerade beliebt (im Rahmen der� wiederum � bürgerlichen Rechtsform) �, dass sieeben als Ware zu behandeln ist, wofür sie ja herge-stellt wurde. Dies mag nun tautologisch klingen,aber auf dieser Tautologie beruht ja auch die ganzeSache mit dem �besonderen Gebrauchswert derWare Arbeitskraft�.

Deren �Besonderheit� � so gesehen � liegt ebennicht nur in der Fähigkeit, Mehrwert zu produzie-ren (also sich ausbeuten zu lassen, in traditionellexegetisch marxistischen Kriterien), sondern ihrGebrauchswert tritt auch als �Allgemeines� auf, dasfür den gesellschaftlichen Verkehr durchgehend giltund die Warenproduktion und die Wege derSelbstverwertung des Werts garantiert ebenso wiedie Zustimmung der Gesellschaftsmitglieder, dasssich eben �Proletarier� nicht nur als ausgebeutet se-hen und darstellen können, sondern auch als wert-voll und nützlich; Gebrauchswert bezieht sich alsoauf den Gebrauch, den diese spezifische, historisch

beschreibbare Gesellschaft von sich selbst und ihrenProdukten in ihrer eigenen Weise macht. Dies hatmit der kruden Nützlichkeit von Eisen oder Weizennichts zu tun, denn wenn eine Ware als Gebrauchs-wert und als Tauschwert auftritt, so tun diesGebrauchswert und Tauschwert gemeinsam � eskönnen also nicht eher Gebrauchswerte oder eherTauschwerte produziert werden, solange Waren pro-duziert werden. Denn der Gebrauchswert bestimmtüber das Dasein eines Guts als Ware genauso wie derTauschwert und ist dem Inhalt des Guts gegenübergenauso neutral. Der Gebrauchswert legt fest, dassetwas nur als Ware zu gebrauchen ist, dass etwas nurals Ware auf seine Nützlichkeit hin überprüft wer-den kann, wie etwas in den gesellschaftlichenVerhältnissen, die durch Wert und Abspaltung kon-stituiert werden, eine Gestalt als Lebensmittel an-nehmen kann.

Der Gebrauchswert also bestimmt, grob gesagt,die Trennung von Produktion und Reproduktion,rechtfertigt die Abspaltung des Weiblichen, defi-niert die Repräsentanz, organisiert den sozialenKonsens � kurz, er zeigt Nützlichkeit nicht amstofflichen Inhalt eines Guts, sondern an derGesellschaft des Modernen Ensembles überhaupt.

Auch dies wäre wieder ein Satz, der bloß ausdem wertabspaltungskritischen, theoretischenDiskurs zu verstehen ist. Jürgen Albohn könntehier durchaus ansetzen mit Fragestellungen, ob wirhier nicht etwas ausblenden, was für die Menschen,seit es Menschen gibt, konstitutiv und verbindendist, etwa dass Dinge eben immer nützlich sind odernützlich gemacht werden. Er könnte unsereStellung zu Ontologie und Geschichte, zuKontinuität und Einzigartigkeit hinterfragen undandere Gewichtungen in den Vordergrund schieben;er könnte diskutieren, ob die Geschichte alsGeschichte von Klassenkämpfen nicht doch einVerbindendes in der Geschichte der Menschheitdarstellt. Aber zu so einem Verständnis von Wert-kritik ist unser Autor ja gar nicht vorgestoßen undes ist die Frage, ob er das überhaupt vorhat. SeinSatz von den Gebrauchswerten jedenfalls kritisiertweder unsere Position noch erhellt sie seine eigene.

Was hier übrig bleibt, als Residuum seinesVortrags, ist, dass Jürgen Albohn eine Präferenz fürpolitisches Handeln erahnen lässt, das sich auf eineKlasse bezieht, die ihr Handeln autonom gestaltet,die andere Klasse (die in dieser Darstellung nichtmehr benannt und beschrieben wird � hier verfälltunser Autor bezeichnender Weise in eine Singulari-sierung) zu Reaktionen veranlasst und dies schonfür eine Errungenschaft in der gesellschaftlichenBewegung hält. Dieses politische Handeln würdenwir zwar noch immer als Binnenverhältnis in der

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bürgerlichen Gesellschaft halten, was uns aber nichtder Aufgabe enthebt, zu bestimmen, wie und warumdieses moderne Ensemble im Hinblick auf seineÜberwindung zu kritisieren ist. Welche Vorsichtnun bei Aneignungsaktionen, bei Aufbrüchen in so-ziale Experimente zu beachten, welche Konse-quenzen und Erfahrungen aus vorangegangenenKämpfen zu ziehen sind, muss in diesem Sinn in ei-nem wertabspaltungskritischen Diskurs eine promi-nente Stellung haben. Welche Identitäten in der bür-gerlichen Subjektivität aufgebrochen werden müs-sen, in rassistischer, sexistischer, wissenschaftlicher,soziologischer Hinsicht, wie dieses Aufbrechenüber �Klassen� hinweg fegen muss (so wie sich fran-zösische Adlige in der Zeit der Großen Revolutionnun als Angehörige des Dritten Standes sahen, diealten Identitäten der Standesordnung aufbrachenund einer Klassengesellschaft den Weg bereiteten)und nun beide Klassen zu gemeinsamer Überwin-dung der alten Verhältnisse zwingen wird, dies um-fasst ein Gebiet gesellschaftlicher Praxis, das theo-retisch beschrieben werden muss wie es auch prak-tisch sich erst entwickeln wird.

Aber auch davon ist bei Jürgen Albohn nicht dieRede. Es beschleicht mich der Verdacht, dass dievorgelegte Kritik sich darauf beschränkt, eineZurückweisung eines theoretischen Diskurses, einBehaupten eines Wissensstandes und eines Praxis-segments, eine alltagskämpferische Identität, diesalles schon vor längerer Zeit gewonnen und heraus-gebildet, zu rechtfertigen und dafür zu werben. Wiegesagt, dies ist nichts, was ich unserem Autor zumVorwurf mache. Was ich ihm vorwerfe, ist, dass erKritik nennt, was bloß Apologetik seiner eigenenExistenz ist.

Es bleibt ihm unbenommen, sich auf die Seite ei-ner Klasse zu schlagen und deren Aktivitäten wieauch immer praktisch und theoretisch zu begleitenund gut zu heißen; wie es auch uns unbenommenbleibt, an den Satz von der Geschichte alsGeschichte von Klassenkämpfen die Frage danachanzuschließen, was denn Klassen seien, wie, wozuund wann dieser Begriff als wissenschaftlichesInstrumentarium entwickelt wurde und zu welcherBeschreibung welcher gesellschaftlichen Zuständeer nun taugt.

Was ich aber vehement zurückweisen muss, istdie bösartige und nicht begründete Behauptung, wirwürden auf Grund unserer Theorie Klassenkämpfeneine Absage erteilen und es damit bewenden lassen,dass der Kapitalismus ohnehin zusammenbreche. Soeine Aussage ist mit dem wertabspaltungskritischenDiskurs nicht vereinbar und in unseren Publi-kationen auch nicht zu finden. Keins von uns hat jediese Behauptung aufgestellt.

Aber eines sollte in diesem Zusammenhang un-bedingt Erwähnung und Erwägung finden, um un-sere Position klar dargestellt zu wissen, wenn JürgenAlbohn schon diese Darstellung in seiner �Kritik�schuldig bleibt. Ein Bezug auf Klassen, so wie er imtraditionellen Marxismus gemacht wird, stelltgleichzeitig einen Bezug zur Arbeit her. Dabei wirddie Anstrengung, die Marx gemacht hat, um zu ei-ner kritischen Beschreibung und Durchdringungder kapitalistischen Verhältnisse zu gelangen, ver-kürzt und auf den Kopf gestellt. Um auf ein Beispielaus dem besprochenen Aufsatz heranzuziehen:Wenn Kapitalismus als eine Ansammlung vonTauschprozessen dargestellt wird, so ist dieGrundlage für so eine Darstellung, dass nämlich erstder Tauschprozess den Wert, richtiger in AlbohnsBehauptungen die Werte, realisiere, ein schon aufder Ebene der Produktion angesiedelter ursprüng-licher Tauschprozess. Der allerdings bezieht sichdarauf, dass für die Ware Arbeitskraft nun ein Preisbezahlt werde, der nicht der von der Arbeitskrafthergestellten Menge an Werten entspricht - dieserursprüngliche Tausch, ein vorgeblich ungerechter,konstituiert das Herrschafts- und Ausbeutungs-verhältnis unserer Gesellschaft. So die traditionelleDarstellung akademischer oder proletarischerMarxrezeption.

Ausgeblendet bleibt dabei aber, dass dieserTausch nur vorgeblich ungerecht und nur vorge-blich Tausch ist. Es wird hier nämlich ein Verhältniskonstituiert und das besteht darin, dass Arbeit �und zwar schon als abstrakte Arbeit � gegen dieGarantie des Erhalts der gesellschaftlichen Verhält-nisse �getauscht�, richtiger mit der Garantie desErhalts gesetzt wird. Arbeit lässt sich so gesehennicht als Eigenschaft des Proletariats verorten, nichtals Tätigkeit einer sozial definierbaren Klasse, auchnicht als ontologisches Tätigsein der Menschheitschlechthin, das nur im Kapitalismus seine perver-tierte Gestalt erhält, sondern als Verhältnis, das alleBeteiligten umfasst, welche konkrete Ausformungauch immer die je konkrete Unternehmung oderLohnarbeit der einzelnen Mitglieder der Gesell-schaft � der Subjekte also � , annehmen mag. Wirdaber Arbeit so nicht gesehen, also nicht als etwas,was diese Gesellschaft konstituiert und dies nur, in-dem sie als abstrakte und damit vergleichbare Arbeitalle gesellschaftlichen Prozesse einer bestimmten,historisch einmaligen Situation (meinetwegen�Produktionsordnung�) aufeinander bezieht, so er-scheint sie als etwas Immerwährendes, Ewiges, als�Stoffwechsel mit der Natur� anstatt alsStoffwechsel mit der Gesellschaft, die sie hervor-bringt und antreibt, erscheint sie dann unter eineHerrschaft unterworfen, grad so, als wollten sichLeute anschicken, zu herrschen und zu diesemZweck den Kapitalismus in die Welt setzen.

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Was wir nun sagen, ist, dass der Kapitalismus aninhärente, innere Grenzen stößt, seine eigene inne-re Schranke hat, an der er mit sich selbst inWiderspruch gerät; und selbst diese Behauptung istin den Debatten um Marx� Werk nichts Neues.Über diese unsere Aussagen und Beschreibungenverliert aber Jürgen Albohn kein Wort, dabei wärehier genau der Punkt, an dem sich Dispute undDebatten lohnten: wie weit nämlich und über wel-che Verhältnisse hinaus sich Kämpfe entfalten müs-sen. Was bis jetzt unberücksichtigt und unbegriffengeblieben ist in den revolutionären Aktivitäten, wiesie deswegen zum Scheitern verurteilt waren, wel-che Auswirkungen, Stagnationen und Rückschrittedies in der Linken ausgelöst hatte, wäre Thema einerkritischen Auseinandersetzung mit der Wert-abspaltungskritik, auch wie weit sie versucht, daraufAntworten zu geben, wie weit sie damit bis jetzt er-folgreich war oder auch nicht. Wenn nun imZentrum unserer Überlegungen neben einer aktuel-len Formulierung der Kritik der politischen Ökono-mie auch die Subjektkonstitution steht, durch dieArbeiten von Roswitha Scholz ein Weg freigeschla-gen wurde, die bürgerliche Gesellschaft als totalitä-res Ensemble zu sehen, in dem die Abspaltung desWeiblichen nicht als untergeordneter, abgeleiteterWiderspruch begriffen wird, auch nicht als das an-dere Entgegengesetzte, hoffnungsfroh Transzen-dierende, sondern als mit dem Fetisch Wert gleich-zeitig und gleichsam �gleichräumig� die Gesamtheitder Gesellschaft bestimmt, dann sind dies Themen,die die Kämpfe und auch die Neugestaltung betref-fen.

Jürgen Albohn aber sieht das anders. Er tritt anmit dem Vorhaben, nachzuweisen, �dass zentraletheoretische Inhalte der spezifischen Marxinter-pretation dieser Wertkritik keine Praxisimpli-kationen besitzen, mehr noch den Prozess emanzi-pativer Praxis im Hinblick auf das Wider-spruchsverhältnis Kapital und Arbeit theoretischblockieren�. Je nun; diesen Nachweis führt er nicht.Vielmehr bleibt er auf der Ebene soziologischerBeschreibungen hängen, wenn er Kapital und Arbeitals Widerspruchsverhältnis beschreibt. Dass Kapitalund Arbeit einander bedingen, ja, das das eine dasandere ist, wird zwar erhellend, wenn dieAbstraktionsebene weit genug vorangetrieben wur-de, aber das ist ja nicht unseres Autors Anliegen. Erordnet einfach Kapital und Arbeit klassenmäßigdefinierten, soziologisch-empirisch erfasstenMenschengruppen zu, ohne auch nur einenGedanken daran zu verschwenden, dass dieseMenschengruppen ja auch abstrakt beschriebenwerden, wenn es um die Gesamtheit des ModernenEnsembles und der Bewegung der Wertverwertung,um die Wertabspaltung geht. Da aber ist es durchausmöglich und geschieht im übrigen auch, dass so ei-

ne empirische Gesellschaftsklasse als Kapital be-schrieben erscheint, als variables Kapital. Ebensowürde jedes Mitglied einer anderen empirischenGesellschaftsklasse, der Bourgeoisie, empört undentrüstet die Unterstellung zurückweisen, es würdenicht arbeiten.

Die (revolutionäre) Praxis aber, die JürgenAlbohn der Theorie zur Seite stellen will und dieTheorie dafür kritisiert, dass sie diesen Praxisbezugnicht aufweise, kommt ihm unter der Hand wiedernur als die empirische Tätigkeit, als das empirischesoziale Verhalten definierter Gruppen, als Agierenund Reagieren daher. Wenn wir aber die Aporienvon Kapital und Arbeit, um in diesem Bild zu blei-ben, überwinden wollen, so wollen wir nicht einse-hen, warum ausgerechnet bloß eine Art von Klasseunter den Zumutungen leidet, die diese Gesellschaftbereit hält. Alle oder keins � so beantworten wir dieFrage nach denen, die diese gesellschaftlichenVerhältnisse umstoßen müssen; und danach richtenwir auch die Frage, was denn nun revolutionärePraxis sei.

Jürgen Albohn schweigt sich hier aus. Die inne-re Schranke � ein zentraler Bestandteil unseres the-oretischen Diskurses � kommt bei ihm nicht vor.Die Abspaltung � unbekannt und unkommentiert.Subjektkonstitution, Aufklärungskritik, Moderneund Vormoderne � für unseren Autor unbeschriebe-ne oder richtiger ungelesene Blätter. Wie also sollich auf eine so geartete Kritik, die nur unterAnführungszeichen so genannt werden kann reagie-ren? Ich hätte ihm ja erst die Argumente in denMund legen müssen, die gegen unseren Diskurs alsKritik ins Treffen geführt werden könnten. Ich hät-te ja ihm die Feder führen müssen, mit der erArgumente aus unseren Diskussionen aufgreift, umsie an den eigenen Argumenten zu prüfen. Aber ichkenne ja seine Argumente gar nicht, die sich auf et-was beziehen, was wir geschrieben haben.

Ich habe es wenigstens versucht. Nicht verheh-len möchte ich aber, dass ich der Meinung bin undwar � und dies auch der Redaktion der �grundrisse�mitgeteilt habe, bevor ich mich an die Antwort ge-macht habe �, dass sie weder sich selbst noch JürgenAlbohn einen guten Dienst mit dem Abdruck seinesAufsatzes erwiesen hat. Diskussionen, so denke ich,sollten anders geführt werden; hier aber sieht es da-nach aus, dass zwei Kontrahenten in den Ring ge-schickt werden zum Gaudium des Publikums. Wasdann dabei heraus kommt, ist bloß Schattenboxen,und ich hoffe, dass es in diesem Rahmen das letzteMal war.

E-mail: [email protected]

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Erinnerungen an Vergangenes sind für jedeHerrschaft, aber auch für Widerstand von zentralerBedeutung. Mit Denkmälern, Jahrestagen, Straßen-namen, Schulbüchern, Bildern oder Fernsehsendun-gen versucht der Staat bestimmte Ereignisse in un-serem Gedächtnis zu etablieren. Er stellt sich in ei-ne legitimierende Kontinuität, dass seine Herrschaftvernünftig und das notwendige Ergebnis derGeschichte ist. Widerstand kann sich hingegen nichtnur über eine versprochene bessere Zukunft legiti-mieren, sondern muss auch versuchen, dieEreignisse, die uns die Herrschaft vergessen machenwill, erinnerbar zu machen. Zum Beispiel kämpftder Grundrisse-Redakteur Robert Foltin (2004) ge-gen das Vergessen der subversiven Bewegungen inÖsterreich nach 1945. Nein, �Und wir bewegen unsdoch�, setzt er der herrschenden Gedächtnislückeentgegen. Der Kontinuität der Herrschaft tritt dieKontinuität des Widerstandes gegenüber.

Die revolutionäre Linke hätte aber auch Gründegenug, ihre Reihe schmerzhafter kollektiver undpersönlicher Niederlagen aufzuarbeiten. Sie neigtnicht weniger zur Verdrängung als die Herrschaftselbst. In diesem Artikel sollen Theorien zurFunktionsweise des kollektiven Gedächtnisses dar-gestellt werden. Vor dem Hintergrund der Gedächt-nistheorien von Walter Benjamin und FriedrichNietzsche wird die Frage aufgeworfen, welche Rolledie Aneignung von Erinnerungen im Kampf für dieBefreiung vom Kapitalismus spielen kann. Dieser

Artikel hat eher fragmentarischen Charakter undstellt Fragen, auf die ich momentan noch keine voll-ständigen Antworten geben kann.

A. Herrschaft und Gedächtnis

In der westlichen Welt findet seit den 80erJahren ein wahrer Memory-Boom statt. Erinnerungund kulturelles Gedächtnis sind Lieblingswörter derFeuilletons. Mensch streitet über das Holocaust-denkmal, die alliierte Bombardierung Deutschlandsoder den 8.Mai. In Österreich ließ die Regierungmit großem Aufwand 2005 den 50.Jahrestag desStaatsvertrages feiern. Der Zeitzeuge hat denHistoriker fast schon aus den TV-Dokumen-tationen verdrängt. Erinnern ist �in�. Was sind nundie oft undefinierten Begriffe kollektives und kultu-relles Gedächtnis und wie funktionieren sie? DasGedächtnis ist keine Festplatte, auf der Ereignissewirklichkeitsgetreu abgespeichert werden und perKlick wieder abgerufen werden können. DieseErkenntnis ist nicht neu. Maurice Halbwachs ver-suchte in den 20er Jahren des letzten Jahrhundertsdie Fragen nach dem Inhalt und der Funktionsweisedes Gedächtnisses zu beantworten.

1. Das kollektive Gedächtnis und seine sozialenRahmenbedingungen

Der Soziologe Maurice Halbwachs (1877-1945)entwickelte in Abgrenzung zu Freud und seinem

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Nemo KleeKollektives Gedächtnis, Herrschaft und BefreiungTheoretische und persönliche Überlegungen

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ehemaligen Lehrer Henry Bergson eine Theorie des�kollektiven Gedächtnisses�. In seiner zentralenSchrift �Das Gedächtnis und seine sozialen Bedin-gungen� von 1925 stellt er die These auf, dass �dasgesellschaftliche Denken wesentlich ein Gedächtnisist, und dass dessen ganzer Inhalt nur aus kollekti-ven Erinnerungen besteht, dass aber nur diejenigenvon ihnen und nur das an ihnen bleibt, was dieGesellschaft in jeder Epoche mit ihrem gegenwärti-gen Bezugsrahmen rekonstruieren kann� (Halb-wachs 1985: S.360). Die Geschichte wird vonEpoche zu Epoche neu retuschiert, um sie den ak-tuellen Denkweisen der Menschen und ihrenVorstellungen von Vergangenheit anzupassen(ebenda: S.231). Die verschiedenen Gruppen derGesellschaft, wie Familie, Religionsgemeinschaftenoder Klassen, haben jeweils ihr eigenes kollektivesGedächtnis. Das Individuum braucht diese sozialenRahmen, um sich erinnern zu können und machtsich den Standpunkt der Gruppe zu eigen (ebenda:S.199). Zerbricht eine Gruppe, verschwinden diemit ihr verbundenen Erinnerungen. Verändern sichdie sozialen Rahmen, passt sich die Konstruktionder Erinnerungen an (ebenda: S.350).

Jede Familie schafft sich durch Erinnerungen ih-re eigene Identität, die sich von anderen unterschei-det. Religiöse Gemeinschaften versuchen durchRituale, Texte und Traditionen ihre Vergangenheitimmer wieder zu rekonstruieren (ebenda: S.296).Bei den gesellschaftlichen Klassen sieht Halbwachsden Adel während des ancien regimes als Grund-pfeiler des kollektiven Gedächtnisses, weil der Titelund die damit verbundene Familiengeschichte vonGeneration zu Generation weiter vererbt wurde unddiese Klasse legitimierte (ebenda: S.378). Auch dasaufsteigende Bürgertum musste sich zunächst legiti-mieren, indem es sich wie die Adeligen eine glorrei-che Familiengeschichte zulegte.

In dieser Schrift �Stätten der Verkündigung imHeiligen Land� machte Halbwachs eine Anmer-kung, wie Konflikte durch Erinnerungen auftretenkönnen. Er nahm an, dass die Gegner des Christen-tums versuchten, Orte zu entstellen, die zumZeichen des christlichen Glaubens wurden. �Es wä-re dies ein ganz ähnlicher Vorgang wie jener, beidem eine Ordnungsmacht in einer frühern aufrüh-rerischen Großstadt ganze Viertel zerstört, Herdedes Aufstands oder Schauplätze revolutionärerKämpfe, die dort breite Prachtstraßen anlegt, großeöffentliche Gebäude errichtet, um alle Erinnerun-gen auszulöschen, die diese Orte überschatten�(Halbwachs 2005: S.166f.). Diese Stelle ist wohl of-fensichtlich eine Anspielung auf Paris nach derPariser Kommune von 1871. Erinnerungen anAufstände werden schwächer, wenn die mit ihnenverbundenen Orte einfach verschwinden.

Halbwachs unterstrich in der Schrift �Das kol-lektive Gedächtnis� die räumliche Einbettung desGedächtnisses. Wenn zum Beispiel ein Gewerk-schaftsfunktionär an einer Fabrik vorbei geht undsich ihre Lage vergegenwärtigt, so ist das für ihn nurein Teil eines ausgedehnten Raumes, der alleFabriken umfasst und Erinnerungen an Lohn-verträge und Streitigkeiten wach ruft (Halbwachs1967: S.140). Die Erinnerungen von Bauern in tra-ditionellen Agrargesellschaften sind an den Bodenund den Familienbesitz gebunden und bleiben be-sonders gut bewahrt, da sich die Umgebung mit dersie verbunden sind, kaum verändert (ebenda: S.139).Auch eine Familie richtet ihre Umgebung so ein,dass Gegenstände Erinnerungen repräsentieren.Versucht jemand von außen diese materielleOrdnung, zum Beispiel durch den Abriss vonHäusern und Straßen zu verändern, wird er auf denWiderstand der Gruppe stoßen, da diese Räumlich-keit die Macht der lokalen Traditionen undErinnerung repräsentiert (ebenda: S.134).

Halbwachs, der stark von Emil Durkheim beein-flusst wurde und gemäßigter Sozialist war, entwirftmit seinen Thesen zum sozialen Charakter vonErinnerungen keinesfalls eine marxistische Theorie,dass Erinnerungen Klassencharakter hätten und umdas Gedächtnis der verschiedenen Klassen einKampf ausgetragen würde. Die Gruppen erscheinenals abgeschlossene Zirkel und ihr gesellschaftlichesSein spiegelt sich in ihrem Bewusstsein, sprichGedächtnis, nicht einfach wieder, sondern dasIndividuum kann durch die Kommunikation mit derGruppe sein/ihr Gedächtnis überhaupt erst herstel-len. Erinnerungen sieht Halbwachs relativ konflikt-frei, weil sie ja immer so konstruiert werden, dass sieden aktuellen Vorstellungen und Konventionen derGruppen entsprechen, scheinbar ohne Beein-flussung von außen. Auch in stark hierarchischenOrganisationen, wie z.B. die christlichen Kirchenrekonstruiert die Gruppe ihr Gedächtnis selbst, oh-ne dass Halbwachs zwischen oben, dem bürokrati-schen Apparat und unten, den Gläubigen, unter-scheidet. Konflikte treten erst dann auf, wenn räum-liche und soziale Bezugsrahmen von außen zerstörtwerden.

2. Das kulturelle und kommunikative Gedächtnis

Der Ägyptologe Jan Assmann (1999) untersuchtin seinem in Fachkreisen berühmten Buch �Das kul-turelle Gedächtnis� die Erinnerungen in den frühenHochkulturen Ägyptens, Israels und Griechenlandsunter besonderer Berücksichtigung der Rolle derSchrift. Bei der Entwicklung seiner eigenenGedächtnis-Theorie knüpft er positiv an Halbwachsan und versucht das heute noch gültige an dessenThesen herauszuarbeiten. Was Assmann vor allem

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von Halbwachs übernimmt, ist der �sozial-konstruk-tivistische� Ansatz (Assmann 1999: S.47) der sozia-len Bedingtheit der Vergangenheit. Anknüpfend andiese Erkenntnisse differenziert Assmann denBegriff des kollektiven Gedächtnisses weiter aus.

Das kommunikative Gedächtnis entsteht natur-wüchsig aus der Interaktion von Individuen, die derMensch mit seinen ZeitzeugInnen teilt. Es ist weniggeformt und nicht kanonisiert. Diese meist münd-lich weitergegebene Geschichte reicht höchsten 80bis 100 Jahre zurück. Mit dem Tod ihrer Träger-Innen stirbt auch das Gedächtnis (ebenda: S.50).�Die Teilhabe der Gruppe am kommunikativenGedächtnis ist diffus. Zwar wissen die einen mehr,die anderen weniger, und das Gedächtnis der Altenreicht weiter zurück als das der Jungen. Aber es gibtkeine SpezialistInnen und ExpertInnen solcher in-formellen Überlieferungen, auch wenn sich Ein-zelne mehr und besser erinnern als andere� (ebenda:S.53). Im Unterschied dazu ist das kulturelleGedächtnis hierarchisch. Seine Träger sind�ExpertInnenen� wie SchamanInnen, Künstler-Innen, PriesterInnen oder Geschichtsprofessor-Innen. Diese Elite versucht jenseits der Alltäglich-keit eine absolute Geschichte zu wahren. In schrift-losen Gesellschaften spielen Mythen, Feste undRiten eine wichtige Rolle bei der Festigung des kul-turellen Gedächtnisses. Allgemein hat es aber einehohe Affinität zur Schriftlichkeit. Mit Fest-schreibung ist Interpretation verbunden, die vonExpertInnen vorgenommen wird. Vor diesemHintergrund kann auch Geschichtsschreibung alsTeil des kulturellen Gedächtnisses definiert werden.Die absolute Gegenüberstellung von Gedächtnisund Historie stammt aus der Zeit des preußischenHistorismus und basierte auf einem Objektivismus,der heute überholt ist.

3. Herrschaft, Erinnerungen und Vergessen

�Staat und Schrift gehören zusammen und bil-den zusammen das Symbolsystem der kulturellenMemoria sowie die Rahmenbedingungen seinerStabilisierung. Der Staat und das heißt: die Un-gleichheit, die Unterwerfung unter ein hierarchi-sches System von Befehl und Gehorsam, ist derPreis, den die Menschheit für die Humanisierungdes kulturellen Gedächtnisses zu zahlen hatte�(Assmann 1999: S.56f.). So glaubte mensch imägyptischen Altertum, dass ohne den Staat, der dasVergessen unter Strafe stellte, die Gesetze der Mit-menschlichkeit aus der Erinnerung verschwindenwürden. So ist Gedächtnis auch immer mit sozialenVerpflichtungen für die Gegenwart verbunden.Verlust von Vergangenheit wurde mit dem Ver-schwinden von sozialen Tugenden, Gemeinsinn undGerechtigkeit gleichgesetzt.

Der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche er-kannte diesen Zusammenhang zwischen Moral undErinnerungen. Nietzsche will den Menschen aberim Gegenteil aus diesen sozialen Verstrickungen be-freien, da dieses Gedächtnis durch Rituale,Verstümmelungen und Opfer den Menschen einge-brannt wurde. In seiner Schrift �Genealogie derMoral� von 1887 preist Nietzsche die Vergesslich-keit, weil damit wieder Platz für Neues und fürRegieren sowie Vorausbestimmen geschaffen werde(Nietzsche 1999: S.291f.). Die Vergesslichkeit sei ei-ne �Aufrechterhalterin der seelischen Ordnung�,ohne die es kein Glück und keine Gegenwart gäbe.Ein Mensch, dessen Hemmungsapparat beschädigtwerde, wird mit nichts mehr fertig. Nietzsche sieht,dass Erinnerungen ebenso wie das schlechteGewissen, welche durch Strafen geschaffen wurde,ein Mittel sind, natürliche Instinkte nicht nach au-ßen zu verlagern, sondern nach innen, gegen sichselbst (ebenda: S.322). So schaffe sich die staatlicheOrdnung furchtbare Bollwerke gegen die altenInstinkte der Freiheit. Nur was nicht aufhört, wehzu tun, würde ins Gedächtnis eingebrannt werden�Es ging niemals ohne Blut, Martern, Opfer ab,wenn der Mensch es nötig hielt, sich ein Gedächtniszu machen; die schauerlichsten Opfer und Pfänder(wohin die Erstlingsopfer gehören), die widerlich-sten Verstümmelungen (zum Beispiel die Castra-tionen), die grausamsten Ritualformen aller religiö-sen Culte (und alle Religionen sind auf dem unter-sten Grund Systeme von Grausamkeiten) � alles dashat in jenen Instinkten seinen Ursprung, welche imSchmerz das mächtigste Hülfsmittel der Mnemonikerrieth� (ebenda: S.295). Nietzsche nimmt hier mitseinen wenigen Ausführungen zwei Theorieansätzeder Postmoderne vorweg: Die Körperlichkeit vonErinnerungen, sowie die Verinnerlichung der staat-lichen Gewalt durch die Individuen selbst. Auchden Gedanke von Adorno / Horkheimer, dass derMensch sich furchtbares antun musste, bevor erzum zivilisierten Wesen wurde, hat Nietzsche hierschon formuliert. Interessant ist, dass er damitschlechtes Gewissen mit Erinnerungen und Strafenin Verbindung bringt. So hätten sich besonders dieDeutschen mit furchtbaren Mitteln ein Gedächtnisgemacht, um pöbelhaften Grund-Instinkten undbrutaler Plumpheit Herr zu werden (ebenda: S.296).Nur ein Mensch, der sich aus der Zwangsjacke desGedächtnisses und des schlechten Gewissens be-freit, hat die Fähigkeit und den Willen zur Macht.

Schon in der Abhandlung �Vom Nutzen undNachteil der Historie für das Leben� beschäftigtsich Nietzsche mit der Rolle von Erinnerungen. Erwendet sich gegen die Mumisierung des Lebensdurch die Historie. Das Leben soll über die Historiezur Gericht sitzen und in seinem Interesse mit un-nützer Vergangenheit brechen, anstatt sie wie eine

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Kuh immer wiederzukäuen. Hier spricht ersich für ein aktives Vergessen aus, in dem derMensch bewusst versucht, Perioden undIdeen aus seinem Gedächtnis zu streichen:�Mitunter aber verlangt eben dasselbeLeben, das die Vergangenheit braucht, diezeitweilige Vernichtung dieser Vergessen-heit; dann soll es eben gerade klarwerden,wie ungerecht die Existenz irgendeinesDinges, eines Privilegiums, einer Kaste, einerDynastie zum Beispiel ist, wie sehr diesesDing den Untergang verdient. Dann wirddie Vergangenheit kritisch behandelt, danngreift man mit dem Messer an seine Wurzel,dann schreitet man grausam über allePietäten hinweg� (Nietzsche 2000: S.119).Dieser Prozess sei aber für die Menschennicht ungefährlich, da sie selbst Produktedieser Vergangenheit sind. Die neue Natur,die die Menschen dadurch nehmen, könnteauch schwächer sein als die alte.

Assmann kritisiert an Nietzsche, dassihm die Möglichkeit eines rettendenCharakters von Erinnerungen entgangen sei(Assmann 1988: S.73). Gibt es einen staat-lich festlegten verbindlichen Kanon, dannheißt erinnern gehorchen. Es gibt aber auchein subversives und alternatives Gedächtnisvon unten. Mit ihm kann Erinnerung einenbefreienden Charakter haben, in dem sichdas �Volk� als geschichtliches Subjekt legiti-miert. Assmann spielt hier auf die jüdischeErinnerungskultur an. Aber auch jede ande-re Gruppe, die sich gegen existierendeHerrschaftsverhältnisse stellt, schafft sichihre Gegenerinnerung, sucht in derGeschichte Alternativen und stellt sich inTraditionen. Nietzsche könnte mensch auchentgegnen, dass gerade das Vergessen be-stimmter schmerzhafter Ereignisse imInteresse der staatlichen Gewalt liegt. AuchAssmann weist darauf hin, dass es im Fallevon Verbrechen gegen die Menschlichkeit,wie den Holocaust, nicht von der heilendenKraft des Vergessens gesprochen werdenkann. Das Schweigen ist in diesen Fällen ei-nes von TäterInnen gegenüber ihrenOpfern, die versuchen den Genozid durcheinen �Memozid� dem Vergessen preis zugeben.

Der Zusammenhang zwischenGedächtnis und (staatlicher) Gewalt seiHalbwachs, der Nietzsche nie rezitierte, ent-gangen, lautet ein Kritikpunkt von Ass-mann. Ein gemachtes oder angezüchtetesGedächtnis, das durch Fremdeinwirkung

geschaffen wurde, kommt bei Halbwachsnicht vor. Bei ihm entsteht das Gedächtnisvielmehr �autopoietisch� durch dieKommunikation der Gruppe (ebenda: S.59).In seinem theoretischen Konzept gäbe esdeshalb kein kulturelles Gedächtnis. Ass-mann weist hier sicherlich auf einen zentra-len Schwachpunkt in Halbwachs� Theoriehin: Den Staat, der mit Denkmälern,Feiertagen oder Schulbüchern versucht, dashistorische Gedächtnis seiner BürgerInnenzu formen, ignoriert Halbwachs weitge-hend. Er macht dabei keinen Unterschiedzwischen der rekonstruierten Vergangenheiteiner Familie und einer Religionsge-meinschaft wie dem Christentum. Da Halb-wachs Staat und Herrschaft in seinerTheorie der kollektiven Erinnerungen igno-riert hat, wurde ihm die politische Brisanzdes Themas nicht deutlich.

B. Befreiung und Erinnern

Der Post-Operaist Antonio Negri emp-fahl 1981 der Linken das Vergessen. Mit demVergessen ihrer schmerzhaften Niederlagen,vor allem in Italien, bekäme die Linke wiedereine gesunde Psyche und Kraft für neueKämpfe. Ewiges Kopfzerbrechen undWiederkäuen der Vergangenheit sei kontra-produktiv. Das Proletariat könne seinVerhältnis zur Vergangenheit nur über dieArbeit herstellen, deshalb erinnere es sich inerster Linie an Entfremdung. Bezogen aufdie revolutionäre Jugendbewegung der da-maligen Zeit glaubte Negri, dass eineGeneration ohne Gedächtnis revolutionärerwäre. �Die bestehenden Erinnerungen an1968 und an die zehn Jahre danach sind heu-te nur noch die Erinnerungen des Toten-gräbers (�). Die Jugendlichen von Zürich,die Proletarier von Neapel und die Arbeitervon Danzig brauchen keine Erinnerung(�), kommunistischer Übergang bedeutetdie Abwesenheit der Erinnerung� (zitiertnach Wright 2005: S.188). Negri warf damalsseinen ehemaligen GenossInnen vor: �EuerGedächtnis ist eurer Gefängnis geworden�(ebenda: S.188).

So versuchen Negri und Hardt im�Empire� auch die ganze Welt zu erklären,nicht aber die Gründe für die Niederlagender KommunistInnen aller Facetten im20.Jahrhundert. Ganz ohne geschichtlichenBezug kommen sie dann aber doch nichtaus, wenn sie im letzten Kapitel denHeiligen Franz von Assisi, die antifaschisti-

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schen WiderstandkämpferInnen und den Aktivisten-Innen des IWW (Industrial Workers of the World) inAbgrenzung zu den ParteibürokratInnen derKommintern hinstellen (Negri /Hardt 2003: S.418f.).

1. Erwachen als Wiederaneignung der Geschichte

Im Gegensatz zu Negris Appell zum Vergessenentwickelte Walter Benjamin eine Theorie vonErinnerung, die er ganz in den Dienst der Befreiungder Menschheit und der Utopie stellte. Benjamingehörte zum Kreis um das Institut für Sozial-forschung und somit zur Frankfurter Schule umAdorno und Horkheimer. Das Thema Erinnerun-gen beschäftigte Benjamin über 10 Jahre. Sowohl inder �Berliner Chronik� von 1932 als auch in demunvollendeten Passagen-Werk spielen sie eine wich-tige Rolle. Nach seiner Flucht vor der deutschenWehrmacht nach Frankreich und kurz vor seinemSelbstmord schrieb er 1940 die berühmten�Geschichtsphilosophischen Thesen�. Dieser Textgilt als einer der schönsten, aber auch rätselhafte-sten, philosophischen Texte des 20.Jahrhunderts.

Vor dem Hintergrund der Niederlage derArbeiterbewegung und dem Sieg des National-sozialismus versuchte er den historischenMaterialismus neu zu bestimmen, da der Sieg derBarbarei über die Zivilisation mit der herkömm-lichen marxschen Geschichtstheorie nicht mehr zuerklären war. Vor allem verabschiedete sichBenjamin von dem Geschichtsbild der deutschenArbeiterbewegung, die an die kontinuierlicheEntwicklung des Fortschritts glaubte und führte ei-nen neuen Zeitbegriff ein.

Nicht in der Zukunft, sondern in der Geschichteund in den Erinnerungen sah Benjamin dasPotenzial für die Befreiung der Menschheit. Es kön-ne für die revolutionäre Klasse, das Proletariat nichtdarum gehen, objektive Entwicklungsgesetze zuvollstrecken, sondern im Gegenteil das Kontinuumder Geschichte aufzusprengen (Benjamin 1969:S.276). Revolutionen sah Benjamin nicht alsLokomotiven der Geschichte, sondern als ihreNotbremsen. Bei der Sprengung des Kontinuumssollen Erinnerungen helfen. Über die jüdischeGedächtniskultur schrieb er: �Die Thora und dasGebet unterweisen sie dagegen im Eindenken.Dieses entzaubere ihnen die Zukunft, der die verfal-len sind, die sich bei den Wahrsagern Auskunft ho-

len. Den Juden wurde die Zukunft aber darum dochnicht zur homogenen und leeren Zeit. Denn in ihrwar jede Sekunde die kleine Pforte, durch die derMessias treten konnte� (ebenda: S.279). ImPassagen-Werk zitierte Benjamin den jungen Marx:�Die Reform des Bewusstsein besteht nur darin,dass man die Welt ... aus dem Traum über sich selbstaufweckt� (zitiert nach Benjamin V I, 1982: S.570).Erinnerung und das Erwachen als Form derBewusstwerdung des Vergangenen bieten dieMöglichkeit, vergangene Glückserfahrungen zu ak-tualisieren und gegen die offizielle Überlieferung zubewahren, sowie sich alle Ereignisse zu vergegen-wärtigen, um der Herrschaft jeden Sieg in Frage zustellen (Opitz /Wizisla, Band I, 2000: S.290).Erinnerungen waren für Benjamin aufblitzendeBilder. �Das wahre Bild der Vergangenheit huschtvorbei. Nur als Bild, das auf Nimmerwiedersehenim Augenblick seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt,ist die Vergangenheit festzuhalten� (Benjamin 1969:S.270). Die Bilder, die wir nie sahen, ehe wir uns ih-rer erinnern, gestalten die Vergangenheit in neuerForm (Opitz / Wizisla, Band I, 2000: S.265). DieseVergangenheit war nie so aktuell wie im Momentdes Erinnerns, deren Auslöser für Benjamin vor al-lem Momente der Gefahren waren. Die Bilder seinereigenen Kindheit versuchte Benjamin hingegen aufSpaziergängen durch Berlin wiederzugewinnen.

Neben diesen spontan aufblitzenden Bildernsprach Benjamin aber auch von der Möglichkeit einesaktiven Erinnerns, das einem Graben in den Schich-ten der Vergangenheit gleiche. �Denn Sachverhaltesind nur Lagerungen, Schichten, die erst der sorg-samsten Durchforschung das ausliefern, was die wah-ren Werte, die im Erinnern stecken, ausmacht: dieBilder, die aus früheren Zusammenhängen losgebro-chen als Kostbarkeiten in den nüchternen Gemäldenunserer späten Einsicht (�) stehen. Und gewiss be-darf es, um Grabungen mit Erfolg zu unternehmen,eines Planes� (zit. nach ebenda: S.266). Durch das be-wusste Erinnern können sich die Menschen dasWertvolle der eigenen Vergangenheit wieder aneig-nen.

Vor dem Hintergrund der Neubestimmung deshistorischen Materialismus zog Benjamin denSchluss, dass die unterdrückte Klasse nicht mehr imNamen der Zukunft kämpfen kann. Sie tritt alsSubjekt der historischen Erkenntnis als rächendeKlasse auf, �die das Werk der Befreiung im Namen

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von Generationen Geschlagener zu Ende führt�(Benjamin 1969: S.275). Erst eine befreite Mensch-heit hätte eine zitierbare Vergangenheit erkämpft(ebenda: S.269). Benjamins Erinnerungstheoriewurde lange nicht wahrgenommen und erst mit demMemory-Boom seit den 80er Jahren erforscht.

Nach der abstrakten theoretischen Ebene möch-te ich nun das Problem der Erinnerung auf einerpersönlichen Ebene behandeln.

2. Haben wir (k)eine Tradition und (k)ein kollektivesGedächtnis?

Für mich spielte Geschichte in Form des kollek-tiven Gedächtnisses immer eine wichtige Rolle. Inder Anfangsphase meines politischen Engagementsging es mir darum, die Darstellungen der Schul-bücher in Frage zustellen. Ich wollte den anderenJugendlichen zeigen, welche Leichen die Sozial-demokratie im Keller hat, welche Revolutionen undRevolutionärInnen ausgelassen wurden und warum.Gegen die �Geschichtsfälschung� der Herrschaft(LehrerInnen) sollte die wahre Geschichte derRevolutionen und des Antifaschismus gestellt wer-den. Uns in der Gruppe gab das zwar Kraft, aberden anderen SchülerInnen fehlten die �sozialenRahmen�, um mit diesem kollektiven Gedächtnisetwas anfangen zu können. Auf der Suche nach al-ternativen Darstellungen landeten wir bald bei derDDR-Geschichtsschreibung und damit bei einerLegitimationswissenschaft.

In der zweiten Phase änderte sich meinVerhältnis zur Geschichte völlig. Nun ging es nichtmehr darum, sich die RevolutionärInnen insGedächtnis zu rufen und zu verteidigen, sonderndie Ursachen ihrer Niederlagen wissenschaftlich zuanalysieren. Die Frage der Tradition wurde ausge-spart und die Fakten der sozialgeschichtlichen �bür-gerlichen� Forschung zusammengetragen stattwiderlegt, um zu begreifen, warum der Sozialismusscheiterte. Ich trat nun von außen an die Geschichteheran, als wenn ich selbst nicht Teil von ihr wäre.Warum beschäftige ich mich eigentlich immer mitGeschichte? Weil es dort Kämpfe gab, die in mei-nem Leben nicht stattfanden?

Geschichte und kollektives Gedächtnis spieltenin der kommunistischen Linken oft die Rolle derSelbsttäuschung. Auf dem Boden eines orthodoxenVerständnisses des Historischen Materialismus sahes so aus, als ob die Geschichte auf der eigenen Seitemitkämpfe. Entweder weil mensch glaubte, histori-sche Gesetzmäßigkeiten zu vollstrecken oder sichin Endzeiten wie der �Fäulnis des Imperialismus�oder �Spätkapitalismus� zu befinden. Eine ähnlicheunrühmliche Rolle spielten Traditionen, besonders

in den K-Gruppen der 70er Jahre. Sie fühlten sich we-niger klein und bedeutungslos, weil sie in derTradition der KPD Ernst Thälmanns mit MillionenAnhängern standen oder sich auf die GenosseInnenan der Macht bezogen. So stritten sie sich um dasErbe der revolutionären ArbeiterInnenbewegung derZwischenkriegszeit, deren Konkurrenzmasse in densozialdemokratisierten KP�s eine schmählicheKarikatur abgab. Die 68er hatten sich noch als �NeueLinke� bezeichnet, das war aber den K-Gruppen an-scheinend zu wenig an Identität. Nach dem Scheiterndes Staatssozialismus 1989 versuchten viele ost- undwestdeutsche Linke, die DDR in ihren Erinnerungenzu retten, indem sie ihre Ausführung mit dem Satz,�In der DDR war ja nicht alles schlecht�, begannen,statt eine Flasche Sekte aufzumachen.

Heute müssen wir mit der Tradition desStaatssozialismus restlos brechen. Der Versuch denSozialismus als Staat zu denken (zentralisierteKommandowirtschaft basierend auf Staatseigentummit dem Herrschaftsmonopol einer Kaderpartei) istkläglich gescheitert und konnte nicht zur Befreiungund Emanzipation der ArbeiterInnenklasse führen.Der Staatssozialismus löste noch nicht einmal seinVersprechen ein, rationaler, effektiver und sozialerals der Kapitalismus zu sein. Wer die Welt verändernwill, ohne die Macht zu übernehmen, der kann sichnicht in die Traditionen von Staaten oderInstitutionen stellen. Ebenso wenig macht es Sinn,heute nach alternativen Traditionen zu suchen, weilder Linkskommunismus oder Anarchismus nur un-mittelbar nach der Novemberrevolution eine Rollespielte und Kinder ihrer Zeit waren.

Sind wir deswegen unbeschriebene weiße Blätterohne Traditionen und kollektives Gedächtnis? Eineandere Möglichkeit wäre sich in die Tradition derRebellion und des Widerstandes gegen Unter-drückung von Staat und Kapital zu stellen. Wirkönnten uns auf alle Revolten von der Oktober-revolution 1917, Spanien 1936 über die Befreiungs-bewegungen in der �3.Welt� bis zu den Aufständenvon Budapest 1956, Paris 1968, Italien 1969 sowiePeking 1989 stellen. Ausgangspunkt dieses Bezugeswäre dann der kategorische Imperativ des jungenMarx, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen derMensch ein geknechtetes Wesen ist. DieseEreignisse sprengten, um mit Benjamin zu spre-chen, das Kontinuum der Herrschaft für blitzartigeMomente auf.

Ist es nicht anderseits anmaßend sich in dieTradition von Kämpfen zu stellen, für die wir als�Revolutionäre in einer nicht revolutionären Zeit�nicht unsere Knochen hinhalten mussten? Wir soll-ten zumindest das kollektive Gedächtnis an dieMöglichkeit des Widerstands wach halten. All diese

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Bewegungen und Aufstände warenMomente, in denen sich Menschen gegendie Macht erhoben und diese nur für kurzeZeit als �Papiertiger� erscheinen ließen.Außerdem demonstrierten sie das �Lob derDialektik�. Einige Monate vor den Erhebun-gen wäre jedeR, der sie voraussagt hätte,zum Geisteskranken erklärt worden. Heutewollen uns die Herrschenden vergessen ma-chen, dass es Momente der Rebellion gab,wenn es sich auf ihre eigene Geschichte be-zieht. Andere Möglichkeiten sind Verein-nahmung oder Dämonisierung. Wie schonLenin schrieb, werden RevolutionärInnennach ihren Tod entweder mit zügellosenLügen verleumdet oder in �harmloseGötzen� verwandelt, denen mensch die �re-volutionäre Spitze� abbricht. So wird heuteversucht, die 68er Bewegung zu dämonisie-ren als GeburtshelferInnen des Terrorismusoder mit ihren netten Anekdoten dieGeschichte der BRD etwas aufzupeppen.Aus Rosa Luxemburg wird eine linkssozial-demokratische Frauenrechtlerin.

Beim Rückblick auf die Geschichte gehtes nicht darum, nostalgisch zu seufzen undein �Ach, damals� auszustoßen. Wenn wirmit dem heutigen Bezugsrahmen vergange-ne Ereignisse rekonstruieren, dann geht esdarum, daraus einen Nutzen für den Kampfin der Gegenwart zu ziehen. Auch wennwir in keiner Tradition stehen, müssen wirnicht alles neu erfinden. In der Geschichtekönnen wir unzählige Formen von Wider-stand gegen den Kapitalismus finden:Demonstrationen, ziviler Ungehorsam,Sabotage, Befehlsverweigerung, Ausstieg,Boykott, unterschiedliche Formen vonAufständen und Streiks sowie Angriffe aufIdeologie in Form von Kunst. Um zu ent-scheiden, welche Kampfformen noch heuteeffektiv oder uneffektiv sind, müssen wirsie erst einmal kennen. Auch Erfahrungenmüssten nicht immer wieder neu gemachtwerden. Wir wissen auch vor dem erstenSchuss, dass die Herrschenden überLeichen gehen werden, um ihre Macht zuverteidigen.

Für die Erforschung von Widerstands-formen von unten bietet sich Oral History(mündliche Befragung von Zeitzeugen) an.Ohne mündliche Quellen werden wirGeschichte immer nur durch die Brille vonStaaten, Organisationen und Parteien se-hen. Außerdem waren und sind dieseInstitutionen oft nicht in der Lage, ver-

deckten Widerstand überhaupt zu doku-mentieren. Was für die Widerstandsformengilt, gilt auch für die Theorie. Ein �Zurückzu Marx� oder �Zurück zu X� ist heute zuwenig. Dennoch wurden bei Marx, denLinkskommunistInnen, AnarchistInnen,im westlichen Marxismus, im Operaismusoder in der Kritischen Theorie Debattengeführt, aus deren Splittern wir Bausteinefür eine Theorie der Befreiung zusammen-setzen können. So muss gerade das theoreti-sche Wissen aufgearbeitet und erinnert wer-den. Dabei kann es nicht darum gehen, dieseTheorien bis in kleinste Detail mit all ihrenWidersprüchen und unterschiedlichenPhasen zu rekonstruieren. Ausgangspunktsind die Fragestellungen der heutigen Zeit.

Um eine Analyse der Gründe für dieNiederlage des Kommunismus im 20. Jahr-hundert werden wir nicht vorbei kommen.Die Herangehensweise �hätte Lenin nurdiesen oder jener Fehler nicht gemacht�oder �es war einfach noch zu früh� könnenwir uns sparen. Geeigneter wäre dieHerangehensweise Benjamins, der 1940 er-kannte, dass die Niederlage, der Sieg desFaschismus und der Hitler-Stalin-Pakt, zueiner grundlegenden Neubestimmung derTheorie führen müsste. Auf die Frage nachden Ursachen der Niederlage muss die the-oretische Neubestimmung folgen.

3. Brauchen wir (k)eine Identität?

Kollektives Gedächtnis ist laut Halb-wachs eine Konstruktion auf dem Bodender gegenwärtigen Bedürfnisse einerGruppe. Wenn wir uns in keine Traditionvon vergangenen Staaten oder Bewegungenstellen, so heißt das, dass wir auch ihreIdentitäten nicht übernehmen. John Hollo-way begreift Identität in erster Linie nega-tiv. Die Herrschaft möchte, dass wir derIdentität entsprechen, die sie uns vorgibt:�JedeR an seinem Platz� und �Nicht aus derReihe tanzen�. Wir sind zwar die Arbeiter-Innenklasse, aber wollen sie nicht sein.Rebellion ist nach Holloway Widerstandgegen Identität.

Auch linke Politik wurde in identitäreFormen gekleidet, die einem Kleingärtner-verein in Nichts nachstanden. DieAutonomen hatten Anfang der 90er Jahreeinen strengeren Dress- und Geschmacks-code als jede Yuppie-Disko. KurzgeschoreneHaare, blaue oder schwarze Kapuzenpullis,

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Aufnäher auf dem Rucksack, Punk-Musik im Ohrund schlechte Ernährung galten als Tugend. Die ei-nen borgten ihre Identitätssymbole von Punkbe-wegung und Intifada, die KommunistInnen aus deruntergegangenen AbeiterInnenbewegung. Menschschuf sich seine Parallelwelt, wo mensch sich im�warmen Mief der Gruppe� wohl fühlte und sichvom Rest der Gesellschaft immer mehr isolierte.

Viele Dinge sollten wirklich im Museum für dieGeschichte der ArbeiterInnenbewegung verschwin-den. Das Hammer- und Sichelsystem ist heute nichtnur durch die Verbrechen des Staatssozialismus dis-kreditiert, sondern antiquiert, weil die EU-subven-tionierten Bauern nur ein paar Prozent derBevölkerung ausmachen, weltweit die Stadt-bewohnerInnen die Mehrheit bilden und dieBedeutung von körperlicher Arbeit im Post-fordismus zunehmend geringer wird. VieleArbeiterInnenlieder preisen die Arbeit und wir wur-den nicht �in düstern Kinderjahren früh schon alt�.Die heutige Gesellschaft hat keinen �sozialenBezugsrahmen� zu diesen Symbolen. Warum solltemensch versuchen, diese untergegangene Weltwiederherzustellen?

Eine neue revolutionäre Bewegung mussSymbole neu erfinden. Wir wollen aus den verschie-denen Teilen der Gesellschaft an gemeinsamenKämpfen und Debatten teilnehmen und keine neueständische Parallelwelt, heute auch Subkultur ge-nannt, aufbauen. Ohne jegliche Identität undSymbole wird eine revolutionäre Bewegung abernicht auskommen.

4. Das autobiographische und kommunikativeGedächtnis als Auseinandersetzung mit der eige-nen Geschichte

Statt uns nur über die Gedächtnislücken derEliten zu ereifern, sollten wir auch über unsere eige-nen nachdenken. Neben dem kollektiven Gedächt-nis des Widerstandes gibt es auch das autobiogra-phische Gedächtnis jedes/r Einzelnen. Auch dieswird laut Halbwachs in Bezug zu unseren sozialenRahmen immer wieder neu �upgedated� und ist aufdie Kommunikation mit Anderen angewiesen. Sosind auch unsere Erinnerungen verformt, durchVergessen, Verdrängen oder durch Übertragung un-seres heutigen Wissens in die Vergangenheiten.Selbst Erlebtes, Angelesenes und Gehörtes vermi-schen sich zu einem Brei, der nur schwer wieder zuzerlegen ist. Da unsere Geschichte von Niederlagenund Irrtümern geprägt ist, beinhaltet sie vielSchmerzhaftes: Hoffnungen wurden enttäuscht,Freundschaften und Beziehungen gingen kaputtoder Berufschancen wurden zerstört. Wie alleMenschen neigen auch wir dazu, eine �Fluss-

begradigung� durchzuführen. �In der Rückschauwird der nahezu unüberschaubar mäandrierende,sich in einer Vielzahl von Seitenarmen ergießende,mal aufgestaute und dann wieder voranstürzendeStrom des eigenen Lebens kanalisiert zu einem brei-ten, geraden und gleichmäßigen dahin fließendenWasserlauf� (Wischermann 2002: S.94). So erscheintin den Erinnerungen alles Vergangene nur als not-wendige Vorgeschichte zu unserem heutigenVerständnis. Chaos, Sinnlosigkeit und Diskonti-nuität verschwinden.

Wenn wir versuchen, diese �Flussbegradigung�zu überwinden, können wir wahrscheinlich viel ausunseren Alltagserfahrungen in der Linken lernenund kritisch reflektieren, warum wir so gewordensind, wie wir sind. Welche Fehler wurden imUmgang mit Menschen oder bei Aktionen ge-macht? Wie und warum sind bestimmte Hierarchienin Gruppen entstanden? Wie und warum kammensch zu bestimmten Positionen? GenossInnen,die früher in gleichen Organisationen waren, wer-den schnell merken, wie selektiv ihr Gedächtnis ist,wenn sie mit anderen ZeitzeugInnen sprechen.Langfristig wäre es nicht schlecht, wenn es Oral-History-Projekte gäbe, um so die Geschichte desWiderstandes und Erinnerungen kritisch aufzuar-beiten. Kommunikatives Gedächtnis kann es nurgeben, solange ZeitzeugInnen noch am Leben sind.Die bürgerliche Öffentlichkeit hat schon mit derHistorisierung von 68 begonnen. Vielleicht könntenwir dem etwas entgegensetzen.

Wenn nämlich alle die alten Broschüren wegwer-fen und schweigen, kann die Geschichte nicht mehrals Geschichte von unten rekonstruiert werden.Unsere kritischen Maßstäbe gegenüber der Gesell-schaft sollten wir auch bei uns selbst anlegen. Sokann die Auseinandersetzung mit unser autobiogra-phischen Geschichte und Erinnerung dazu dienen,unsere Identität kritisch zu reflektieren.

5. Freude und Trauerarbeit

�Am Anfang war der Schrei�. Holloway hat dieGefühle wieder zum berechtigten Teil des Kampfesgemacht. Wer kann gegen das Unrecht kämpfen,der/die es nicht im tiefsten Inneren empfindet?Gefühle können eine wichtige Kraftquelle sein. Derkommunistische Vorbild-Kader der Komintern hat-te keine Gefühle oder hatte sie zumindest fest imGriff. Ob Streikorganisation oder Liquidierung von�AbweichlerInnen�, er setzte die Entscheidungender Partei unabhängig von den eigenen Empfindun-gen um. Gefühle waren Schwächen oder chaotischeElemente. Mitleid, Liebe oder Freundschaft warendem Klassenkampf unterzuordnen. Die Geschichtehat gezeigt, dass sich solche �stahlharten� Kader zu

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Instrumenten für irrationale Verbrechen instrumen-talisieren ließen. Auch die AkademikerInnen deswissenschaftlichen Sozialismus glaubten Gefühleüberwunden zu haben. Wenn wir uns Erinnerunganeignen wollen, müssen wir lernen, wieder zu emp-finden. Für die abermillionen Menschen, die imNamen des Kommunismus ermordet worden sind,ist Trauerarbeit angebracht. Für die Verbrechen, dievon Kapitalismus, Kolonialismus und National-sozialismus begangen wurden, müssen wir Wutempfinden können und sie nicht nur als rationaleArgumente gegen Krieg und Herrschaft anführen.

Neben Trauer kann Geschichte aber auch Quellevon Freude sein. Die schönen Momente derGeschichte versetzen mich in diese Freude. WelcheFrauen sind schöner, als die drei Partisaninnen aufdem Plakat, die 1945 mit Gewehr selbstbewusstdurch Mailand stolzierten. Was war jemals so witzigund entlarvend wie das Gesicht des chinesischerFührers Li Peng bei den Verhandlungen mitStudentInnenvertreterInnen der Demokratie-bewegung 1989. Der im Schlafanzug des Hunger-streiks sich auf den Sesseln der Großen Halle desVolkes herumlümmelnde StudentenInnenvertreter,Wu Erkaixi, fuhr Li Peng bei der TV-Live-Übertra-gung über dem Mund und gab ihm zu verstehen, erwolle sich die ganze Scheiße nicht mehr anhören. LiPeng war so geschockt, dass ihm die Kinnlade her-unter fiel. So hatte noch niemand mit einem chine-sischen Staatschef gesprochen.

Sich Geschichte anzueignen, heißt für michauch, sie wieder empfinden zu können.

Schluss: Brauchen wir die Zukunft?

Walter Benjamin setzte bei seiner Befreiungs-theorie ganz auf die Vergangenheit. Auch die bür-gerliche Gesellschaft beschäftigt sich ausgiebig mitErinnerung. Vielleicht hängt die ständige Themati-sierung der Geschichte auch mit mangelndenZukunftsperspektiven zusammen. Agenda 2010oder Harz IV reißen als Zukunftsvisionen nieman-den vom Hocker. Keine Partei tut auch nur so, alswenn sie die grundlegenden Probleme derGesellschaft lösen könnte.

An Stelle der Programme und Ideologie ist diereine Notwendigkeit als Begründung getreten aufGrund der Zwänge der Globalisierung, zurSicherung des Standortes usw. Versprachen die�Volksparteien� in den 50er Jahren noch �Wohl-stand für alle� hier und jetzt, so begründen sie heu-te schmerzhafte Sparprogramme im Namen künfti-ger Generationen, denen mensch keine zu großenStaatsschulden hinterlassen oder zu viele zu versor-gende Rentner aufhalsen möchte. Indem Francis

Fukuyama (1992) das Ende der Geschichte verkün-dete, verkündete er im Grunde das Ende derZukunft. Kapitalismus und Demokratie hättenweltweit gesiegt, nun sei nichts mehr Neues zu er-warten.

Wir müssen gerade jetzt aufzeigen, dass andereWelten möglich sind. Dabei werden wir ohne dieVergangenheit und ihre aufblitzenden Bilder derMöglichkeit des Anderen nicht auskommen.Gerade weil wir keinen utopischen Blueprint für diekommunistische Gesellschaft haben, stellen wir sieuns als Negation des Kapitalismus, aber auch alsNegation des Staatssozialismus vor. In denErinnerungen an die Momente, in denen Herrschaftüberwunden wurde, liegt die Hoffnung aufBefreiung. Wie beim nächsten Versuch verhindertwerden soll, dass die Decodierung von Herrschaftnicht wieder zu einer neuer Codierung führt, daranmüssen wir arbeiten. Bei diesem Projekt sollten wirNietzsches Warnung beherzigen, dass wir uns nichtvon der Geschichte mumifizieren lassen sollen. DieWiederaneignung von Erinnerung steht im Diensteiner anderen Zukunft.

Literatur:

Assmann, Jan (1999): Das kulturelle Gedächtnis � Schrift,Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen,Verlag C.H. Beck, München.

Benjamin, Walter (1982): Gesammelte Schriften, Suhrkamp Verlag,Frankfurt (M).

Benjamin, Walter (1969): Illuminationen, Suhrkamp Verlag, Franfurt(M).

Foltin, Robert (2004): Und wir bewegen uns doch � SozialeBewegungen in Österreich, edition grundrisse, Wien.

Fukuyama, Francis (1992): Das Ende der Geschichte, Kindler,München.

Halbwachs, Maurice (1985): Das Gedächtnis und seine sozialenBedingungen, Suhrkamp, Frankfurt (M).

Halbwachs, Maurice (2003): Stätten der Verkündigungen imHeiligen Land, UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz.

Halbwachs, Maurice (1967): Das kollektive Gedächtnis, Enke,Stuttgart.

Haug, Frigga (1990): Erinnerungsarbeit, Argument, Hamburg.Holloway, John (2004): Die Welt verändern ohne die Macht zu über-

nehmen, Münster.Negri, Antonio / Hardt, Michel (2002): Empire, Campus, Frankfurt Niethammer, Lutz (2002): Ego-Historie? und andere Erinnerungs-

Versuche, Böhlau Verlag, Wien.Nietzsche, Friedrich (1999): Jenseits von Gut und Böse, Zur

Genealogie der Moral, Deutscher Taschenbuch Verlag, München.Nietzsche, Friedrich (2000): Unzeitgemäße Betrachtungen, Insel

Verlag, Frankfurt (M).Optiz, Michael / Wizisla, Erdmut (Hg.) (2000): Benjamins Begriffe,

zwei Bände, Suhrkamp, Frankfurt (M).Thompson, Paul (1978): The Voice of the Past � Oral History,

Oxford University Press, London.Wischermann, Clemens (Hg.) (2002): Vom kollektiven Gedächtnis

zur Individualisierung der Erinnerungen � Studien zur Geschichtedes Alltags, Franz Steiner Verlag, Stuttgart.

Wright, Steve (2005): Den Himmel stürmen � EineTheoriegeschichte des Operaismus, Assoziation A, Hamburg.

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Weltweit gelten die 50er-Jahre als besonderskonservative Phase im gesellschaftlichen Sinn. DieIdeologie der Kleinfamilie dominierte wie auch ge-sellschaftlicher Konservativismus in Bezug aufSexualität und Autoritarismus. Das fällt zusammenmit einem Ende der revolutionären Hoffnungen inden Metropolen1 und dem beginnenden sozialenAufstieg im Wohlfahrtsstaat. Die Antwort auf dierevolutionären Entwicklungen um 1917 waren nachFaschismus, Nationalsozialismus und Krieg eineDominanz des Nationalstaates mit sozialenElementen (Wohlfahrtsstaat), die Durchsetzung derDisziplinarnormen auf die ganze Gesellschaft unddie Dominanz der Kleinfamilie (vgl. Foltin 2004, S.18ff). Dieser Artikel versucht den Zusammenhangzwischen Kapitalismus und Geschlechterordnungmit Blick auf Fordismus und Kleinfamilie zu be-leuchten.

Geschlechterordnung mit und ohne Kapitalismus

Da der Feminismus der zweiten Frauenbewe-gung zu maßgeblichen Teilen aus einer Kritik an derLinken entstand, bildete ein erster Strang derDiskussion der Geschlechterordnung die Kritik anden blinden Flecken des Marxismus (vgl. Knittler/Birkner 2005). So wurde etwa die operaistischeTheorie in Italien durch die Forderung nach �Lohnfür Hausarbeit� weitergedacht (Dalla Costa 1978).Entwickelt wurde die Kritik am Marxismus auchdurch die Analyse der Subsistenz- und Hausarbeit

durch die �Bielefelderinnen� (etwa Bennholdt-Thomsen et. al. 1983). Die Ignoranz der Linkengegenüber der Geschlechterordnung führte bei denmeisten feministischen Strömungen immer mehrdazu, nur noch Machtverhältnisse zwischenMännern und Frauen zu analysieren und zu kritisie-ren, außerdem in konkreten Projekten bessereLebensbedingungen für Frauen zu schaffen, denKapitalismus also außen vor zu lassen.

Die (nicht nur marxistische) Linke bekämpfteanfangs den Feminismus, später ignorierte sie ihn.Die feministischen Forderungen und die Aus-einandersetzungen mit der Geschlechterordnungwurden an die Frauen delegiert, Männer erspartensich diese Diskussion. Mit den �neuen sozialenBewegungen�, eine davon der Feminismus, und de-ren Institutionalisierung in NGOs und grünen wiealternativen Parteien, dominierte eine Orientierungam Staat: die Institutionen wurden kritisiert,Forderungen an den Staat in Richtung nicht diskri-minierender Gesetze gestellt oder Subventionen fürProjekte gefordert. Andere Teile der Linken, oft ander ArbeiterInnenklasse orientiert, verteidigten denSozialstaat, ohne dessen Macht- und Disziplinierungs-funktionen zu beachten.

Die Kritik an den Machtverhältnissen führtezuerst zu einer Stärkung und Vervielfältigung vonIdentitätskonstruktionen. Die Identität unter-drückter Subjekte (Frauen, Schwule und Lesben,

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Indigenas, Minderheiten, Psychiatriebetroffene,Menschen mit besonderen Bedürfnissen, etc.) wur-de durch diese Bewegungen gestärkt. Aber schonvon Beginn an wurden diese Identitäten (durch dieFeministinnen stärker als in anderen sozialenBewegungen) als neuerlich diskriminierende er-kannt (etwa in der Auseinandersetzung zwischenLesben und Heteras, zwischen Müttern und Nicht-müttern, später besonders zwischen weißen undnichtweißen Frauen). Das führte zu einer Kritik al-ler feststehenden Identitäten innerhalb desFeminismus. Hatte es bis dahin noch einen un-hintergehbaren Rest von Natürlichkeit als Frau ge-geben, so wurde das besonders durch Judith Butler(1991, 1997) in Frage gestellt. Auch das natürlicheGeschlecht (Sex im Gegensatz zum sozialenGeschlecht Gender) wird in unseren gesellschaft-lichen Handlungen tagtäglich erzeugt und existiertso nicht von vornherein. Noch weitergehend, lotetedie Feministin und Wissenschaftskritikerin DonnaHaraway (1995) die Grenzen des Konzepts Menschaus (Cyborg als Hybridwesen zwischen Maschine,Mensch und Tier).

Die sozialen Auseinandersetzungen (etwa derFeminismus und die Lesben- und Schwulenbe-wegung) veränderten den Kapitalismus in Richtung�Postfordismus�. In einer ersten Phase erfolgte die-se Verschiebung durch die staatliche und institutio-nelle Unterstützung vielfältiger emanzipatorischerProjekte, dabei auch solcher, die aus den sozialenMachtstrukturen der Familie hinausführten. Dievorerst oppositionellen, gegen ein Establishmentgerichteten Bewegungen wurden so Teil der herr-schenden Institutionen. In einer nachfolgenden(�neoliberalen�) Phase müssen sich diese Projekteauf dem Markt bewähren. Die Unterwerfung dervielfältigen Bedürfnisse unter den Kapitalismusläuft offensichtlich (fast immer) über eineZwischenstufe einer Institutionalisierung: derKonsum durch den fordistischen Wohlfahrtsstaat,die Reproduktion der Arbeitskraft und der sozialeLebenszusammenhang durch die Familie, dieVielfältigkeit der Lebensformen durch eine Erweite-rung finanzieller Alimentierung durch staatlicheInstitutionen. In einer zweiten Phase wird dieKontrolle durch die Institutionen durch den Zwangzur Verwertung ersetzt, direkter Teil des kapitalisti-schen Wettbewerbs. Die widerständigen Bewegun-gen mussten so immer wieder neu ansetzen. DieIntegration der ArbeiterInnenbewegung in Staatund Kapitalismus provozierte 1968 und danach eineFlucht aus dem Kapitalismus in identitäreBewegungen, die über gesetzliche Veränderungenund monetäre Unterstützung wieder herein geholtwurden. Die steigende Tendenz zur Verwertungrückte wieder den Kapitalismus in den Blick (vgl.auch Klein 2001), damit auch die Frage der Macht

der Männer über die Frauen. Die globale Protest-bewegung um die Jahrtausendwende war dann (inTeilen) antikapitalistisch, ohne dass sie die unter-schiedlichen Bedürfnisse und Wünsche vereinheit-lichen konnte und wollte.

Fordismus

Der Fordismus ist nach Henry Ford benannt,der mit der Produktion seines �Ford T� die Weichenfür die Leitindustrie des 20. Jahrhunderts stellte. Erdachte in Großstrukturen, aber nicht gesamtgesell-schaftlich; das Leben sollte um die Fabrik organi-siert sein. Bei der Produktion des Autos wollte ervorerst den schnellen und günstigen Transport sei-ner ArbeiterInnen in die Fabrik, noch nicht dieMobilisierung der ganzen Gesellschaft. Seine Ideenwaren nichts neues: Wohnraum neben der Fabrikschufen schon die KapitalistInnen in 19. Jahr-hundert, die Massenproduktion auch für dieArbeiterInnen als KonsumentInnen wurde schon inder Textilindustrie eingeführt, das Fließband ent-stand in den Schlachthöfen von Chicago.

Was aber nur als erweiterte Fabrik gedacht war,wurde auf die ganze Gesellschaft ausgebreitet (da-rum wird auch von der �Fabrikgesellschaft� gespro-chen). Lüscher (1988, S. 42) unterscheidet in diesemZusammenhang zwischen dem �Fabrikfordismus�und dem �sozialen Fordismus�. Die �Integrationder Konsumtion in den Zyklus der Kapital-reproduktion� (Lazzarato 1998, S. 53) bedeutete fürdie ArbeiterInnen die Zahlung hoher Löhne, aberauch die Absicherung der Reproduktion außerhalbder Fabrik: durch die Bezahlung eines �Familien-lohns� an den Ehemann als Abgeltung für die gratisgeleistete Hausarbeit und die Gewährung vonSozialleistungen wie Arbeitslosengeld, Kranken-geld, Pensionen etc. für die nicht produktivenLebensphasen. Verbunden war das mit einer stei-genden Bedeutung der Freizeit, um neue Bereichefür den Konsum zu schaffen.

Das kapitalistische Regime des Fordismus (dasnoch nicht zu Ende ist, aber zu großen Teilen inFabriken im Trikont verschoben wurde) hat spezifi-sche soziale Auswirkungen (vgl. Lüscher 1988, S.188ff): Am Fließband kommt es zu einer totalenEnteignung des ArbeiterInnenwissens, dieArbeiterInnen werden tatsächlich Anhängsel derMaschine2. Parallel dazu findet auch eine Requalifi-zierung statt: die Zerlegung der Arbeitsschritte unddie Zusammensetzung der Produkte verlangt nachIngenieurInnenwissen, das auch durch Bildung zurVerfügung gestellt werden muss. Eine Rückkoppe-lung zwischen Konsum und Produktion ist notwen-dig, der Absatz muss durch immer wieder neu pro-duzierte Wünsche gefördert werden. Ständig müs-

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sen mehr Waren verkauft werden. Gesättigte Märkteerfordern entweder kurzlebigere Produkte (der FordT sollte ursprünglich das ganze Leben einer Arbeiter-In halten), neue Märkte oder neue Produkte. DieNachfrage auf Subsistenzniveau genügt nicht mehr,sondern Verschwendung, Luxus für alle, ist das Zieldieses Typs von Kapitalismus. Daraus entsteht einpermanenter Loyalitätskonflikt, die ArbeiterInnenwollen neue Farbfernseher, aber sie wollen nicht(oder nur wenig) dafür arbeiten. Der Lohn alsRegulationsinstrument ist ein zu grobesSteuerungsmittel und so ist es nicht zufällig, dassder Fordismus mit seiner dauernder Umwälzungdes Konsums (revolution of rising expectations) dazuführte, Lohnforderungen zu stellen bis es für denKapitalismus nicht mehr erträglich war. Der not-wendige Konsumwunsch untergrub das Leistungs-denken und die Arbeitsmoral.

Die Betrachtung des Lohns als Regulations-mittel hat mit der Utopie der Planbarkeit zu tun,wie sie in verschiedenen philosophischen und politi-schen Ideen der Moderne verbreitet war (mit star-kem Einfluss auf die Sozialdemokratie). Der Fordis-mus brachte nicht nur die Fabrik hervor, auchElemente staatlicher Organisation wurden durchge-setzt (zur Steuerung von Arbeitskräften und Kon-sum), und auf internationaler Ebene wurden durch�Bretton Woods� die Geldströme gesteuert, derWert des Dollars an den Goldstandard gebunden.

Provozierte der �ungeplante� Kapitalismus dieEntstehung der ArbeiterInnenbewegung und denAufstieg der Sozialdemokratie, so produzierte dieAntwort darauf, das fordistische Regime neuerlichProbleme und Widersprüche. Der Ausgleich zwi-schen Produktion und Konsum durch die Löhnewar zu ungeordnet. Wie sollte der Widerspruch zwi-schen schnellem Spontankonsum und Sparen auflanglebige Konsumgüter verknüpft werden? Wiesollten Menschen in ihren unproduktiven Phasen inden Konsum einbezogen werden? Die monetäreSteuerung durch die Absicherung der Reproduktionwar zu wenig sowohl für die Herstellung derArbeitskraft wie für die aus den Widersprüchen ent-stehende Disziplinlosigkeit. Aber der fordistischeKapitalismus konnte auf ein ideologisches Modellzurückgreifen, das in der bürgerlichen Gesellschaftbereits als Ideal bestand, die Familie.

Die Familie als stabilisierender Faktor (vgl. Lüscher1988).

Die Familie bringt einen stabilen Zeithorizont,sie schafft den Ausgleich zwischen Sparen undschnellem Konsum. Durch die lebenslangePerspektive, etwa den Erwerb eines Autos, einesEigenheims, verschiedenster Haushaltsgeräte sollte

das richtige Maß zwischen Ausgeben undKonsumzurückhaltung erreicht werden. Arbeits-und Konsumverlauf erscheinen synchronisiert, abergerade in diesem Zusammenhang wird dasSpannungsverhältnis zwischen Ausgeben undBudgetzwang in die Familie getragen. Die Liebe be-wirkt, dass der Konflikt nicht in der Familie ausge-tragen wird, sondern in der Hausfrau. Aufgrund derMachtverhältnisse kommt es zu einer Anschmie-gung der Frauen an die Bedürfnisse und Wünschedes einzelnen Mannes (Lüscher 1988). Die Familiesoll auch Spannungen abbauen, die durch die ent-fremdete Arbeit in der Fabrik entstehen. Der Ärgerüber schlechte Arbeitsbedingungen lässt sich nurbegrenzt durch die Lohnhöhe ausgleichen. DerHaushalt soll ein Hort des Ausruhens und derEntspannung für den Mann sein. Da keineIdentifikation mit den erzeugten Produkten statt-findet, wird die Familie zu einer alternativenLoyalitätsquelle. Das Familienleben erhält eine eige-ne Wertigkeit. Wenn Männer nicht für die Familiediszipliniert würden, brächte das Unruhe (vomKonsum von Alkohol3 und Drogen bis hin zu wil-den Streiks wie durch die migrantischen Männer(noch) ohne Familiennachzug in den 1960er und1970ern).

Es ist offensichtlich, dass sich das Konstrukt derFamilie in den 1940er und 1950ern durchsetzte. Dasgilt sowohl für die Ideologien wie auch für dieWünsche der Menschen. Es drückte sich in einerReihe von Symptomen aus: das Alter der Ver-heiratung sank, die Geburtenrate stieg seit Mitte der1940er Jahre massiv an und zeigte damit eine Um-kehrung eines zweihundertjährigen säkularenTrends (Tyler-May 1999, S. 583). Familien �funktio-nierten� nach außen, manchmal auch als Idylle, aberwenn ich mich an meine Generation erinnere (mitder Kindheit in den 1950ern und 1960ern), dannkenne ich dieses Gefühl nicht. Nicht umsonst warein Teil des Widerstands der 1968er gegen diese Artder Familie gerichtet.

Nachträglich lässt sich auch erkennen, wie kurz-fristig dieses Phänomen war, was jetzt nicht heißt,dass es die Wünsche nach einer harmonischenFamilie nicht heute noch gibt. Die Widersprüchedes Fordismus wurden in die Familie hineinverla-gert, die zeitliche Asynchronität erzeugte eine per-manente Krise, die oft leidend ausgesessen wurde.Als die Familien durch die Bewegungen in Frage ge-stellt wurden, führte das zu den steigendenScheidungsraten. Der Exodus der Jugendlichen ausden Familien, aber auch die �Wiederentdeckung�und Neubewertung anderer Lebensformen durchKommunen und Wohngemeinschaften wirkte sichverzögert aus, ebenso der Feminismus und dieLesben- und Schwulenbewegung.

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Die Kleinfamilie war nur ein Durch-gangsstadium zwischen vorkapitalistischersozialer Organisation und den individuali-sierten Lebensformen des Postfordismus.Stabile Familien bestanden in größerer Zahlnur wenige Jahrzehnte (was Einzelfälle zuanderen Zeiten nicht ausschließt). Massen-haft beschränkt sich dieses Phänomen aufdie Generation, die zwischen 1925 und1950 geboren wurde. Lüscher (1988) meint,der Zerfall der Familien würde durch dieweiter fortbestehenden geschlechtlichunterschiedlichen Lohnniveaus aufgehal-ten. Trotz des Profitierens der Männer vonder Familienstruktur und den ungünstigenBedingungen für Frauen in der Welt derLohnarbeit, zerfiel das Familiensystemschneller, als zu erwarten war.

Die Familie als ausgleichende Strukturist natürlich aus dem Blickwinkel des fordi-stischen Regimes zu sehen. Von Feminist-innen wurde aufgeworfen, dass auch dieArbeitskraft, die durch den Kapitalismusvernutzt wird, erzeugt werden muss. Bis ins19. Jahrhundert fand die Produktion vonLeben einfach in vorkapitalistischen Ver-hältnissen statt. Die Wertschätzung vonKindern entstand in der bürgerlichenGesellschaft erst im 19. Jahrhundert (vgl.Badinter 1984) und dieses Denken undFühlen breitete sich mit der Integration derArbeiterInnenklasse ins kapitalistischeSystem auf die ganze Gesellschaft aus. DieProletarierInnen wurden vorher einfachaußerhalb produziert und von der Industrievernutzt. Ähnlich ist es heute noch in denWeltmarktfabriken im Trikont. DieArbeiterInnen arbeiten nur wenige Jahre,den Rest der Zeit (über)leben sie in ihrenDörfern von bäuerlicher Produktion oder inden Slums der Städte von Subsistenz zwi-schen Eigenarbeit, Kriminalität und Klein-unternehmerInnentum.

In der Kleinfamilie wird die Produktionvon Leben zur Reproduktion der Arbeits-kraft innerhalb des kapitalistischenProletariats. Die Familie hat also nicht nurdie ausgleichende Funktion, sondern tat-sächlich die Aufgabe der Herstellung desLebens. Das ist das Gebären, die �Aufzucht�und die Ernährung der Kinder, um sie alsArbeitskräfte zur Verfügung zu stellen, aberauch die Organisation des familiären sozia-len Lebens. Für eine Phase von ein paarJahrzehnten wird die Dominanz des sozia-len Zusammenhalts in die Familie verlagert.

Erst mit Demokratie, Wohlfahrtsstaatund Fordismus wurde die gesellschaftlicheOrganisation des Kapitalismus auf alleStaatsbürgerInnen ausgedehnt. Im 19.Jahrhundert existierten die meisten Men-schen außerhalb einer staatlichen Organi-sation unter persönlichen (feudalistischen)Herrschaftsverhältnissen, nur beachtet,wenn sie rebellierten oder bekämpft undkontrolliert werden mussten. Jetzt wurdensie als Teil des Staatsganzen anerkannt.Damit dehnten sich die Ideologien wie dieder Familie auf alle BewohnerInnen einerNation aus. Der in der Logik von Kauf undVerkauf existierende Kapitalismus konntekeinen Halt für die Bevölkerungen bieten,darum wurde die Familie zur �Keimzelledes Staates�. Die Aufwertung der Familiedrückte sich nicht nur im Zurückdrängenvon Frauen aus dem Arbeitsmarkt aus, son-dern auch in einer veränderten Vaterrolle: imGegensatz zum bürgerlichen Patriarchen, dernichts mit den Kindern zu tun hat, wird jetzteine (nicht minder autoritäre) Fürsorgeideologisch aufgewertet. Väter dürfen nichtallein an eine Karriere denken, sondern sol-len auch Familienmenschen sein (vgl. Tyler-May 1999, S. 587ff).

Die Kontinuität der männlichen Macht

Macht lässt sich sehr schwer darstellen,meist ist es eine Symbolik eines Oben undUnten. Sichtbar wird sie an einer Reihe vonPhänomenen, die aber verschiedene Aus-formungen haben können. Aus diesemGrund verwendet Foucault den Begriff des�Diagramms� als eine Art Modell für dieMachtausübung in einer gesellschaftlichenPhase4. Es ist klar, dass die Unterdrückungder Frauen eine länger andauerndeTradition hat als der Kapitalismus, aber dieErscheinungsformen sind unterschiedlich.Als Diagramm des Patriarchats lässt sichdie Heterosexualität (oder heterosexuelleMatrix5 im Sinne von Butler) sehen. Dieseist eng mit der geschlechteten Formung derKörper verbunden. Die Heterosexualität inder Gesellschaft drückt sich auf vielfältigeWeise aus: immer ist es der im Zentrum ste-hende Mann, dem die weiblichen Körperzugeordnet werden. Frauen sind körper-lich, schön und untergeordnet. Der Mannist Macht, die Frauen repräsentieren dieseMacht. Es sind attraktive Frauen (inzwi-schen auch schon schöne männlicheKörper), die sowohl Politik wie auch Warennach außen verkaufen. Frauen halten die re-

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präsentative häusliche Sphäre sauber6. Sie müssen anihrem Körper arbeiten, um attraktiv zu sein und dasnicht nur verbunden mit dem sexuellen Begehren,sondern auch in ihrer gesellschaftlichen Funktion.

Die unterschiedliche �Funktion� des männ-lichen und des weiblichen Körpers zeigt sich in dergeschlechtlichen Arbeitsteilung. Überall woKörper, Seele und Emotionen eine Rolle spielen,sind es weiblichen Jobs, insbesondere in den per-sönlichen Dienstleistungen, aber selbst in derBranchenverteilung drückt sich das aus. So war dieTextilindustrie immer weiblich, obwohl es durch dieZerlegung der Arbeit keinen Grund gäbe, nichtMänner anzustellen (das Argument der zarterenFinger kann ja heute niemand mehr ernst nehmen).Es hat mit der Kleidung zu tun, die wichtig ist zurProduktion der Körperlichkeit7. Dasselbe in derChef-Sekretärin-Struktur: sie muss körperlich,schön, kommunikativ sein, organisatorisch fitter alsder Chef und ist trotzdem untergeordnet.

Nicht zufälligerweise habe ich bei der Beschrei-bung von Elementen der heterosexuellen Matrixnicht den direkten Sex erwähnt. Es geht mehr umdie allgemeine Beziehungsstruktur als den sexuellenAusdruck8. Weil die verheiratete Frau vom heterose-xuellen �Heiratsmarkt� verschwunden ist, ist dieArbeit am Körper etwas weniger geworden, was einzusätzliches Element der Anziehung der Ehe ist (esgeht eben nicht nur um die �Doppelbelastung�durch Lohnarbeit und Hausarbeit). Im Zerfall derFamilie zeigt sich jetzt, dass Körperarbeit gerade beiälteren Frauen neuerlich gefordert wird (inzwischenaber teilweise auch bei Männern).

Das vorkapitalistische Patriarchat drückte sichdurch den Ausschluss aus der politischen und intel-lektuellen Öffentlichkeit aus. Frauen durften nichtwählen und nicht gewählt werden, sie durften keineBildung erwerben. Für große Teile der (bäuerlichen)Bevölkerung, die ja auch rechtlos waren, waren dieArbeitsteilung, aber auch die Verwandtschafts-beziehungen (Heiratsregeln und Erbrecht) vonBedeutung, in Europa vor Beginn des Kapitalismuseindeutig patrilinear und patriarchal (�Frauen-tausch�). Auch der rechtliche Status der Frauen inund außerhalb der Großfamilien wies unterschiedli-che Möglichkeiten der Autonomie für Männer undFrauen auf (Züchtigungs- und Besitzrecht). DieIndustrialisierung im frühen Kapitalismus brachte

eine Verwertung der Arbeitskraft, die in ihrerGrausamkeit unabhängig vom Geschlecht war. Ausdieser Zeit kommt die Grundüberzeugung derArbeiterInnenbewegung, dass die fortschreitendeKapitalisierung und Proletarisierung zu einemVerdampfen aller Unterschiede führen wird.Tatsächlich setzte sich aber dort eine Arbeitsteilungnach Branchen durch, teilweise willkürlich und zu-fällig, teilweise mit angeblichen natürlichen Eigen-schaften verbunden. So war die Textilindustrie zugroßen Teilen weiblich, die Ziegelindustrie männ-lich. Die FacharbeitER waren männlich, weil die in-dustriellen Strukturen aus männlichen handwerk-lichen Strukturen entstanden, aber auch weil dieAus- und Weiterbildung von Frauen verhindertwurde.

Der Aufstieg der ArbeiterInnenbewegung warverbunden mit Bewegungen der Emanzipation derFrauen (die erste Frauenbewegung), aber auch mitder aufklärerischen Entwicklung in Bezug aufSexualität. So entstand neben den mit der Sozial-demokratie verbundenen sexuellen Reformbewe-gungen auch die erste Homosexuellenbewegung.Die Anerkennung der Frauen erfolgte dann alsAnerkennung der weiblichen Reproduktionsarbeit,die � vom vorherigen patriarchalen System über-nommen � durch die kapitalistische Proletarisierungabgewertet worden war, aber trotzdem gemachtwerden musste. Die bürgerlichen Ideale der nichtarbeitenden Frau wurden übernommen, allerdingsohne die Möglichkeiten des Zurückgreifens aufDienstbotinnen. Die Durchsetzung der Hausfrauerreichte ihr Ziel dann mit den steigenden Löhnendes Wirtschaftswunders, die einen Familienlohn erstmöglich machten. Die Entstehung der Hausfrauenals Massenphänomen lief parallel mit derEinführung von Haushaltsgeräten (die allerdingsdie Arbeit für die Frauen nicht verringerten, vgl.Fischer-Kowalski 1980, S. 201), als Konsumgüterneben Autos und Unterhaltungselektronik.

Ging es vor dem Familiensystem nur um Geboteund Verbote, einer Regelung von außen, so bliebendiese Gebote zwar weitgehend aufrecht, sie wurdenaber durch die Diskurse über Sex und Gender er-gänzt9. ExpertInnen mischten und mischen sichüber Zeitschriften und populärwissenschaftlicheLiteratur in das Leben der Familien ein. Dort be-steht die Vorstellung der Regulation der Begehren.Das wirkt sich aber widersprüchlich aus, (vgl. die

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Kinsey-Reporte, die in den 1940ern und 1950ern inden USA erschienen), und trägt auch den Keim dersexuellen Revolte in sich.10

Die zweite Frauenbewegung setzte dann genauam Sex / Geschlecht an, nach Foucault (1983, S.140) das Scharnier zwischen Disziplinierung undBiopolitik11. Wurden in einer ersten PhaseSymptome der männlichen Macht wie mangelndepolitische Repräsentation, Ungleichheit inGesetzen, in der Arbeit, oder die biopolitische Kon-trolle über die weiblichen Körper in Zusammenhangmit der Abtreibung thematisiert, so radikalisiertesich der Feminismus an der Frage des Sexes. Dasganze System, etwa die �natürliche� Begründungder Geschlechter, wurde in Frage gestellt,. Die bio-politische Funktion der Sexualität geriet insZentrum der Kritik, zugleich das panoptischeDisziplinierungsverhältnis des männlichen Blickes.War die Flucht aus der Familie vorher nur das Ziel�radikaler Minderheiten� (die etwa über Kommune-modelle diskutierten), so wurde durch den Feminis-mus das Familiensystem insgesamt in Frage gestellt.

Das Patriarchat nach dem Familiensystem

Als die Familie in den 1960ern und besonders inden 1970ern massiv angegriffen wurde, erschien sieals relativ stabil. Inzwischen hat der Zerfall auf un-spektakuläre Weise stattgefunden. Die Scheidungs-raten stiegen, die Menschen heiraten später, insge-samt werden weniger Kinder geboren. Ein lebens-langes Zusammenbleiben wird nicht mehr automa-tisch angenommen, es wird von Lebensabschnitts-partnerInnen und von Patchworkfamilien gespro-chen. Homosexualität und andere Begehrens- undLebensformen werden inzwischen akzeptiert, teil-weise als Bereicherung der Lebenswelt gesehen (vgl.die Regenbogenparaden oder den Life Ball, auchdass es kein Problem mehr ist, wenn sichProminente als homosexuell outen).

Die Unterwerfung unter den Kapitalismus ereig-nete sich sukzessive. Im frühen Kapitalismus wurdenur die Arbeitskraft ausgebeutet, mit geschlecht-licher Arbeitsteilung. Die Aufteilung der Arbeitinnerhalb der Familie (Reproduktion) und außer-halb wurde durch den unterschiedlichen (Luxus)Konsum im Fordismus ergänzt. Mit der Unter-werfung aller Lebensäußerungen, einschließlich derVielfalt des Begehrens gibt es kein außerhalb desKapitalismus mehr. Alle bisherigen Formen ver-stärkten das duale Geschlechtersystem und dieheterosexuelle Matrix, so auch der �postfordisti-sche� Kapitalismus mit dem Familiensystem. DieVielfalt allein hat offensichtlich die patriachaleStruktur, die heterosexuelle Matrix noch nicht be-seitigt. Teilweise scheint es so, dass in der Werbung,bei den Sekretärinnen, den Dienstleisterinnen, aufder Straße die Produktion weiblicher Körper nochmehr dominiert als früher. Aber auch das ist ambiva-lent und Ansatz für neue Widersprüche. In früherenFormen des Kapitalismus, etwa in der normiertenForm des Fordismus, wurde (Hetero)sexualität alsetwas außerhalb des kapitalistischen Ausbeutungs-verhältnis befindliches, als Natürliches gesehen.Darum konnten ProtagonistInnen der �sexuellenRevolution� meinen, Sexualität sei automatisch ge-gen das herrschende System gerichtet und nicht inte-grierbar. Im nachfordistischen Kapitalismus ist nichtnur die Heterosexualität, sondern die Vielfalt desBegehrens der Verwertung unterworfen, damit aberauch sichtbar, im Diskurs vorhanden. Nicht umsonstwagten es Transgenderpersonen in Österreich erst imletzten Jahrzehnt zu ihren Wünschen in Bezug aufGeschlechtlichkeit zu stehen (ermutigt durch dieLesben- und Schwulenbewegung). Mit derSichtbarkeit der verschiedenen Variationen außerhalbder �normalen� Sexualität wird endlich auch dieProduktion der Körper, die �Natur� des Geschlechtsin Frage gestellt.

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Anmerkungen:

1 Die revolutionäre Dynamik hat sich offensichtlich in die antikolo-nialen Kämpfe des Trikont verlagert. Überhaupt betrifft dieAnalyse von Fordismus und Familiensystem die Staaten desWestens (Nordamerika und Europa), selbst Japan scheint eine an-dere patriarchale Tradition zu haben.

2 Die reelle Subsumtion der Arbeitskraft unter das Kapital wird beiMarx als Proletarisierung und totale Entfremdung gesehen. Sowurde die Diskussion um die TechnikerInnen in der Diskussion alsteilweise Rücknahme der reellen Subsumtion in die formelleSubsumtion gesehen. Negri / Hardt (1997) verstehen unter reellerSubsumtion die Organisation von lebendiger Arbeit und Lebendurch den Kapitalismus, was nicht zwangsläufig Entfremdung be-deutet, sondern die Reduktion des Kapitals auf ein leeresKommando der Verwertung.

3 Nicht umsonst das sexistische Bild der mit dem Nudelwalker da-heim wartenden Frau.

4 Das Panoptikon wird von Foucault (1977, S. 256ff) als Diagramm(�Modell�) für die Disziplinargesellschaft vorgeschlagen. Es ist einvon Jeremy Bentham beschriebenes vielfältig verwendbaresGebäude mit einem Überwachungsturm in der Mitte und denZellen der KlientInnen an der Peripherie, immer einsehbar.Vergleichbar ist das mit der Geschlechterordnung, Männer sind dieunkörperlichen Betrachter, Frauen die sichtbaren Körperlichkeiten,durch Kleidung, Schmuck, Mode geformt, diszipliniert.

5 Ich wurde gefagt, was der Vorteil des Begriffes �heterosexuelleMatrix�sei, warum nicht einfach nur von geschlechtlicherArbeitsteilung die Rede ist. Es ist allerdings so, dass unser Lebenund unser Arbeitsalltag durch unser � hauptsächlich heterosexuel-les � Begehren geprägt ist, durch die Unterwerfung unter denKapitalismus die gesamte produktive Aktivität. Dadurch wird dieArbeit am Körper erfasst, die eben eine andere für Frauen undMänner ist, zugleich ist es dadurch auch das, was die Macht eines

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Literatur:

Atzert, Thomas (Hg) (1998): Umherschweifende Produzenten.Immaterielle Arbeit und Subversion. Berlin: ID-Verlag.

Badinter, Elisabeth (1984): Die Mutterliebe. Geschichte einesGefühls vom 17. Jahrhundert bis heute.München: DeutscherTaschenbuch Verlag.

Bennholdt-Thomsen, Veronika, Mies, Maria, Werlhof, Claudia(1983): Frauen, die letzte Kolonie. Hamburg: Rowohlt.

Butler Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt amMain: Suhrkamp.

Butler Judith (1997): Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzendes Geschlechts. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Dalla Costa, Mariarosa (1978): Die Frauen und der Umsturz derGesellschaft. In: Dalla Costa, Mariarosa / James, Selma: Die Machtder Frauen und der Umsturz der Gesellschaft. Berlin: Merve.

Fischer-Kowalski, Marina (1980): Soziale Distribution von Zeit undihre Inhalte. In: Fischer-Kowalski / Bucek (Hg): Lebens-verhältnisse in Österreich, S. 190-212.

Fischer-Kowalski, Marina / Bucek, Josef (1980) (Hg): Lebens-verhältnisse in Österreich. Klassen und Schichten im Sozialstaat.Frankfurt am Main, New York: Campus.

Foltin, Robert (2004): Und wir bewegen uns doch. SozialeBewegungen in Österreich. Wien: edition grundrisse.

Foucault, Michel (1977): Überwachen und Strafen. Die Geburt desGefängnisses. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Foucault, Michel (1983): Der Wille zum Wissen. Sexualität undWahrheit 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Geiger, Brigitte / Hacker, Hanna (1989): Donauwalzer, Damen-wahl. Frauenbewegte Zusammenhänge in Österreich. Wien:Promedia.

Haraway, Donna (1995): Die Neuerfindung der Natur. Primaten,Cyborgs und Frauen. Frankfurt / New York: Campus.

Klein, Naomi (2001): No Logo! Der Kampf der Global Players umMarktmacht. Ein Spiel mit vielen Verlierern und wenigenGewinnern. Bertelsmann.

Lazzarato, Maurizio (1998): Verwertung und Kommunikation. DerZyklus immaterieller Produktion. In: Atzert (Hg): Umher-schweifende Produzenten, S. 53-66.

Negri, Antonio / Hardt, Michael (1997): Die Arbeit des Dionysos.Berlin: Edition ID-Archiv.

Lüscher, Rudolf M. (1988): Henry und die Krümelmonster. Versuchüber den fordistischen Sozialcharakter. Tübingen: Konkurs-buchverlag.

Marazzi, Christian (1998): Der Stammplatz der Socken. Die lingui-stische Wende der Ökonomie und ihre Auswirkungen in derPolitik. Zürich: Seismo.

Prost, Antoine / Vincent, Gérard (Hg) (1999): Geschichte des pri-vaten Lebens. 5. Band: Vom Ersten Weltkrieg zur Gegenwart.Augsburg: Bechtermünz.

Trumann, Andrea (2002): Feministische Theorie. Frauenbewegungund weibliche Subjektbildung im Spätkapitalismus. Stuttgart:Schmetterling.

Tyler May, Elaine (1999): Mythen und Realitäten der amerikanischenFamilie. In: Prost / Vincent (Hg): Geschichte des privaten Lebens.5. Band, S. 556-602.

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Geschlechtes über das andere mit der Produktion verbindet. Einweiterer Einwand, dass homosexuelle Paare ja heterosexuelleStrukturen kopieren, widerspricht dieser nicht, sondern bestätigtdie Dominanz der heterosexuellen Matrix, die eben nicht spezifischmit dem sexuellen Akt verbunden ist, sondern die ganzeGesellschaft durchzieht.

6 Wie Christian Marazzi in �Der Stammplatz der Socken� darstellt,geht das bis in die unterschiedlichen Ansprüche an Sauberkeit.Selbst wenn die Hausarbeit von Männern geleistet wird, sind dieAnsprüche anders. So bügeln die meisten Frauen, wenn keinePartnerIn zur Verfügung steht, aber nur 44% der Männer. Das hatdamit zu tun, dass die Kleidung das Werkzeug der Frau in derGesellschaft ist (Marazzi 1998, S. 63).

7 Bezeichnenderweise sind dort, wo es um persönliche Anerkennunggeht, wieder Männer am Werk: die großen Schneider und Köche

8 Es ist aber nicht zufällig, dass in der Pornographie das gesell-schaftliche Machtverhältnis in direkten Konnex mit dem Sex ge-bracht wird (Lehrer � Schülerin, Chef � Sekretärin, Arzt �Krankenschwester etc sind etwa solche Rollen).

9 Das ist im Widerspruch zu Foucault (1983), der eine ungebroche-ne Linie des Diskurses über Sexualität sieht.

10 Die aber ihre kulturelle Ausdrucksform im Rock�n�Roll fand, nichtin den relativ langweiligen sexuellen Eheberatungsdiskursen.

11 Der Biopolitik geht es um die Kontrolle der Bevölkerungen:Geburtenrate, Lebensdauer, öffentliche Gesundheit, Wanderungund Siedlung (Foucault 1983, S: 137ff).

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An Antworten auf die Frage, wie die einstmalsgesellschaftlich und politisch so bedeutendeArbeiterbewegung mitsamt ihren Vertretern in einederart tiefe Krise geraten konnte, wie wir sie gegen-wärtig Tag für Tag miterleben, herrscht kein Mangel.Umso bemerkenswerter ist es da, wenn man in die-sem Problemkontext auf ein Buch stößt, das sich invielerlei Hinsicht positiv von den vereinfachendenund schnellschließenden Darstellungen abhebt, diedieses Themenfeld mit irritierender Häufigkeit pro-voziert. Warum dies nun im Falle von StéphaneBeauds und Michel Pialouxs Studie über die großenPeugeot-Werke in Sochaux-Montbéliard, die in ih-ren �besten Zeiten� 1978 ca. 30 000 Arbeiter und1998 immer noch ca.12 000 Arbeiter beschäftigten,so ist, lässt sich leicht vorneweg erklären. Die bei-den ehemaligen Mitarbeiter Pierre Bourdieus kom-men trotz der Krise der Arbeiterbewegung und ih-rer Vertreter nie auf die so beliebte und doch falscheIdee, von einem Ende der Klassen oder gar von ei-nem Ende kapitalistischer Herrschaftsverhältnisseauszugehen. Das Buch ist geprägt von einer in wis-senschaftlichen Kreisen selten gewordenen ehr-lichen Anteilnahme am Schicksal der Peugeot-Arbeiter, was sowohl den ungewöhnlich langenBetrachtungszeitraum der Studie von knapp 20Jahren erklären hilft als auch die detailreiche unddoch nie detailverliebte Darstellung. Schließlichkommt die Studie zu einem im besten Sinne diskus-sionswürdigen Ergebnis, nämlich dem, dass die

gegenwärtige Krise der Arbeiter und ihrer Organi-sationen die Folge eines Bruches der ,,kulturellenÜbertragung des Familien- und Klassenerbes voneiner Generation auf die nächste� (S. 30) ist, der ei-ne Arbeitergeneration entstehen ließ, die sich ihrereinfachen Herkunft schämt, der tradierte Wider-standspraktiken und Organisationsformen als veral-tet erscheinen und die ihre Hoffnung auf indivi-duelle Aufstiegschancen setzt.

Fabrikgeschichten

Wie sich dieser Prozess bei Peugeot darstellt, de-monstrieren Beaud und Pialoux im ersten Teil ihresBuches, indem sie zunächst �Fabrikgeschichten� (S.26) erzählen, die, wie sie bemerken, ,,nur denen alszweitrangig scheinen, die davon nicht betroffensind� (ebd.) und die doch Ausdruck eines häufig un-bemerkten Feldes kleiner Schlachten, versteckterSiege und Niederlagen, unmerklicher Prozesse undVeränderungen des Fabrikalltags sind, das den ,,gro-ßen� Entscheidungen und Entwicklungen zuGrunde liegt. Spitzt man diese Geschichten zu, solässt sich sagen: In den sechziger und siebzigerJahren gelang es den Arbeitern bei Peugeot, in derharten Welt der fordistischen Produktion eineMenge kleiner Siege zu erringen. Sei es, dass sie dieQualitätssicherung des Produkts häufig anderenüberließen (,,Passt schon! Weiter! Der Kontrolleurwird´s schon richten�, S. 46), sei es, dass derbe

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Ein Rezensionsessay über: Stéphane Beauds und Michel Pialouxs Studie,,Die verlorene Zukunft der Arbeiter“ über die Peugeot-Werke in Sochaux-Montbéliard, Konstanz 2004

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Streiche und Scherze auf Kosten von Chefs,,,Krawattenmenschen� und ,,Schleimern� zur Tages-ordnung gehörten, sei es aber auch nur, dass dieArbeiter zum Ärger und Unverständnis der Vor-gesetzten den ,,offiziellen� Kaffeeautomaten be-harrlich mieden � auf mannigfache Art und Weise,so die Autoren, dominierten die Peugeot-Arbeiterdiesen ,,tagtäglichen Kleinkrieg� (S. 44), und festig-ten damit ihr Selbstbewusstsein, integrierten neueArbeiter und legten die Grundlage für erfolgreichegroße Mobilisierungen.

Das langsame, aber sichere Ende dieses für dieArbeiter vergleichsweise günstigen Zustands beiPeugeot und mit ihm die Abwertung der altenArbeiterklasse auf der Ebene der Fabrik setzte abAnfang der achtziger Jahre ein, und zwar mit demEinstellungsstopp 1979 und dem großen Streik von1981/1982. Drei Veränderungen beleuchten dieAutoren zum Verständnis dieses Erosionsprozessehierbei eingehender: erstens die Umstrukturierungder Arbeitsgruppen bei Peugeot, zweitens derUmzug in eine neue ,,menschliche� Fabrik und drit-tens die zunehmenden Blockade der Aufstiegs- undgleichzeitig steigenden Abstiegschancen derArbeiter bei Peugeot.

Die Umstrukturierung der Arbeitsgruppen zumZwecke der Produktivitäts- und Qualitäts-steigerung, so Beaud und Pialoux, bedeutete für dieArbeiter ein schnelleres Arbeitstempo, komplexereArbeitsvorgänge, steigenden Druck, bei der Arbeits-optimierung mitzuwirken, stärkere Kontrolle undKonkurrenz der Mitarbeiter untereinander unddurch spezielle Funktionsstellen sowie neueSanktionsmöglichkeiten durch die Einführung einesindividuellen Prämiensystems. Der Umzug in dieneue Fabrik riss sie aus der vertrauten Umgebungund gab ihnen ,,das vage Gefühl, dass sie sich in die-ser ,,sauberen�, �keimfreien� Welt nicht mehr ver-halten konnten wie zuvor� (S. 73). Die Blockade derinnerbetrieblichen Aufstiegsmöglichkeiten und dieAngst vor dem sozialen Abstieg schließlich tat einWeiteres, um den körperlichen Verschleiß zu erhö-hen und die Arbeiter stetig zu demoralisieren.

Als vor diesem angespannten Hintergrund nunab Mitte der achtziger Jahre von Unternehmens-seite immer stärker junge Arbeiter - häufig aufZeitarbeitsbasis - eingestellt werden, da diese sichzumindest kurzfristig besser im neuen Arbeits-umfeld zurechtfinden, kommt es in den neunzigerJahren zum offenen Generationenbruch innerhalbder Fabrik. Auf der einen Seite, so die Autoren, �dieAlten�, die kampferfahren sind und, so gut es geht,versuchen die alte Widerstands- und Kampfkulturder Peugeot-Arbeiter hochzuhalten, die aber auchvon der jahrelangen schweren Arbeit verbraucht

und angesichts der tiefgreifenden Veränderungen inihrer Fabrik � und nicht nur da - einen immerschwereren Stand haben. Auf der anderen Seite ,,dieJungen�, die - geprägt von den neuen gesellschaft-lichen Rahmenbedingungen - die individuelleHoffnung auf eine Festanstellung durch Leistungantreibt und die auf die Enttäuschung dieserHoffnungen häufig unpolitisch durch Flucht ausder Fabrik reagieren. Keiner der beiden Gruppen,das zeigen Beaud und Pialoux eindrucksvoll, gelingtes, auf die jeweils andere Gruppe zuzugehen. Die,,Alten� sehen in den Jungen ein ,,Symbol der Ent-wertung ihres Knowhows und ihrer Deklassierung�(S. 57) und werfen ihnen politische Naivität sowieihre devote Arbeitshaltung vor. Die �Jungen�wiederum � eifrig, opferbereit, flexibel � verachtendie Alten, denn: ,,Was sie an den Montagebändernerleben, empört sie: alte Arbeiter, die ihre Zeit da-mit verbringen �rumzumeckern�, �zu saufen�, undihren Spaß daran haben, mit den Chefs Katz undMaus zu spielen oder womöglich gar die Arbeit zusabotieren.� (S. 278) Da ihnen dies lediglich als ein,,Luxus von Privilegierten� (ebd.) erscheint, suchensie sich auf jede erdenkliche Art und Weise von die-sen ,,alten� Überbleibseln abzugrenzen, so dassBeaud und Pialoux konstatieren: ,,Die lange Ketteder Arbeitergenerationen in der Fabrik ist auseinan-der gebrochen.� (S. 284)

Schulgeschichten

Beaud und Pialoux bemerken, dass dasAuftauchen dieser neuen �jungen� Arbeiter-generation in der Fabrik die Frage nach ihrer Genesestellt. Deshalb stellen sie in den Mittelpunkt deszweiten Abschnitts ihrer Studie die �Formen derPrimärsozialisation� (S. 27), also jene Erfahrungenin Familie und Schule, die diese Arbeitergenerationvor dem Eintritt in ihr Berufsleben geprägt haben.Ihr Ergebnis ist gerade vor dem Hintergrund dersog. PISA-Debatte von besonderem Interesse,kommen sie doch zu dem Schluss, dass gerade diegroße Bildungsreform von 1985 in Frankreich - diemit dem Ziel durchgeführt wurde, 80 Prozent einesSchuljahrgangs zum Abitur zu führen (,,80% bac�)- wesentlichen Anteil am Generationenkonfliktinnerhalb der Peugeot-Arbeiterschaft hat. Sieschreiben: ,,Man unterschätzt leicht die moralischenund gefühlsmäßigen Kosten, die für die Eltern ausder Arbeiterschaft anfallen, wenn ihr Kind in denKonkurrenzkampf auf dem College oder gar demGymnasium geworfen wird, und sie selbst eine Weltentschlüsseln sollen, die ihnen unverständlich ist.Und auch die Entwertung der beruflichen Bildunghinterlässt tiefe Spuren. Früher stand dieser Bereichnicht nur für einen schulischen Erfolgspfad, der so-zialen Aufstieg verhieß. Die berufliche Bildung wardas Feld, auf dem sich eine Kultur der Technik, des

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Arbeiterstolzes und der Widerständigkeit herausbil-dete und verdichtete. Das gegenwärtige System, die�schulische Flucht nach vorne�, bringt völlig andereKulturmuster hervor. Aus der Sicht der Familien,insbesondere aus der Sicht der Arbeiterfamilien,verändert die unbestimmte Verlängerung derSchulzeit das Verhältnis der Generationen tiefgrei-fend.� (S. 29)

Um dies zu verdeutlichen und zu präzisieren, er-zählen Beaud und Pialoux im weiteren Verlauf er-neut �Geschichten�, diesmal Schul- und Familien-geschichten. Ihr Ergebnis lautet komprimiert: JeneArbeiterkinder, die trotz Bildungsreform niedrigeFacharbeiterschlüsse oder das Fachabitur anstreben,wissen sehr früh und sehr genau, wie wenig ihnendiese Abschlüsse für einen erfolgreichen Berufswegbringen. Dementsprechend demoralisiert, �stößt al-les, was auf das industrielle Leben, auf den be-schwerlichen und monotonen Arbeitsalltag hin-weist, bei den Schülern auf großes Misstrauen. EinElektrotechnikschüler sagte angewidert: �Das istPeugeot!� Damit bringt er die ganze diffuse Ableh-nung gegen all das zum Ausdruck, was mit derFabrik zusammenhängt: das Gefangensein, derLärm, der Gestank, der Schmutz, das Düstere. (...)Früher war es einem Schüler möglich, stolz daraufzu sein, einmal ein guter Industriearbeiter zu sein.Diese Möglichkeit hat er heute allem Anschein nachnicht mehr.� (S. 144) Fügt man dem dann noch dieinteressante Beobachtung der Autoren hinzu, dassdie Lehrer sich ,,weitgehend die Sichtweise derIndustrie zu eigen machen� (S. 161) und deshalb da-rum bemüht sind, aus ihren Schülern selbständige�Innovatoren� (S. 159) zu machen, so ergibt sich einerstes wichtiges Element, um die Entstehung der,,jungen� Arbeitergeneration bei Peugeot verstehenzu können.

Das andere wichtige Element bilden jeneArbeiterkinder, denen es gelingt, sich auf denGymnasien zu platzieren, die also, wie die Autorenes nennen, nach vorne flüchten. Deren Werdegangist geprägt von zwei zentralen Ambivalenzen.Erstens: Sie sind zwar gut genug, um einGymnasium zu besuchen, doch dort fallen sie nichtnur durch ihre Ausdruckweise, ihre Kleidung undihre Wohngegend als Arbeiterkinder auf, es fällt ih-nen infolge des fehlenden kulturellen Kapitals ihrerKlasse häufig schwer mitzuhalten, so dass sie �trk-cksen� (S. 207), sich ihr Wissen auf jede erdenklicheArt und Weise �zusammenbasteln� (S. 203), letzt-lich ein bloß ,,instrumentelles Verhältnis zurSchule� (ebd.) entwickeln. Zweitens: Ihr Werdegangwird von ihren Eltern zwar auf jede erdenkliche Artund Weise unterstützt und ist deren ganzer Stolz,doch zugleich entfremdet sie das Gymnasiumschleichend von ihrem Herkunftsmilieu, so dass sie

dieses zu belächeln beginnen, ja sich für dieses schä-men, während umgekehrt die Eltern den,,Gymnasiasten-Snobs� (S. 214) nur noch mitKopfschütteln oder Spott begegnen können. Indemnun diese doppelte Ambivalenz, wie Beaud undPialoux zeigen, zu einer doppelten Distanzierungdieser Schüler führt, und zwar einerseits gegen dieetablierte Schulkultur, andererseits gegen ihreFamilie und ihre soziale Klasse, überrascht es nicht,dass ihnen häufig doch der soziale Aufstieg ver-wehrt bleibt, sie also in die Fabrik müssen, dabei je-doch auf Distanz zu den überkommenen Wider-stands- und Protestformen ihrer Eltern gehen. Unddeshalb verwundert auch kaum, was am 17. März1994 in Montbéliard am landesweiten Protesttag ge-gen die aktuelle Bildungspolitik geschieht: ,,Andersals andere Städte erlebt Montbéliard zwei getrennteDemonstrationszüge: Als sich der Zug derGymnasiasten an einem Ende der Stadt auflöst., be-ginnt am anderen Ende der Stadt die Demonstrationder Fabrikarbeiter. Das Koordinationskomitee derGymnasiasten hatte das Angebot der Gewerk-schaften, gemeinsame Aktionen durchzuführen, ka-tegorisch abgelehnt. Die Gymnasiasten schlagen al-so die ausgestreckte Hand der alten Arbeiter aus,obwohl die meisten Teilnehmer an der Schüler-Demonstration aus den unteren Schichten stam-men. Der Bruch zwischen der Arbeiter-Generationund der Gymnasiasten-Generation ist an diesem Tagsymbolisch vollzogen worden.� (S. 225)

Krise der Gewerkschaftsaktivisten und Arbeiter-Rassismus

Nachdem so eine Antwort für die Genese desGenerationenbruchs innerhalb der Peugeot-Arbeiterschaft gefunden ist, suchen Beaud undPialoux im letzten Teil das �Zusammenspiel dieserVeränderungen auf die Entwicklung der Arbeiter-schaft� (S. 33) zu erhellen. Obgleich dieser synthe-tisierende Schluss ihrer Arbeit nicht ohne Wieder-holungen auskommt, fällt er analytisch nicht ab, dahier zwei weitere, bislang kaum beachtete Aspekteder Entwicklung bei Peugeot ausführlich beschrie-ben und diskutiert werden: zum einen ,,die Krise derpolitischen Arbeiterschaft im Betrieb� (S.33) bzw.,,die Ratlosigkeit und Verzweiflung der Gewerk-schaftsvertreter� (ebd.) und zum anderen die wach-sende Anziehungskraft, die der rassistische FrontNational um Jean-Marie Le Pen auf das Arbeiter-milieu ausübt.

Die Krise der Gewerkschaftsaktivisten, die inden beschriebenen tiefgreifenden Veränderungen inder Fabrik fußt, führt, wie die Autoren zeigen, suk-zessive auch bei ihnen zur Verzerrung der innerbe-trieblichen Konfliktlinien, d.h. auch viele Aktivistenhaben immer mehr das Gefühl, �dass die alten

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Widerstandsformen nutzlos geworden sind, dass sieden Zwang, sich um jeden Preis an moderneStrukturen anzupassen, nicht einfach von der Handweisen können� (S. 271), wenn sie nicht als ,,Motzerauf verlorenem Posten� (S. 269) enden wollen.Doch, und das wird von den Autoren besondershervorgehoben, dieser innerbetriebliche Druck zurAnpassung und zur Aufgabe der überkommenenWiderstandsmodelle könnte nicht so nahtlos funk-tionieren, wenn die gesellschaftliche Entwicklungihn nicht flankieren würde. Insbesondere ,,der Fallder Berliner Mauer (1989) und der Zusammenbruchdes Kommunismus in Osteuropa gruben sich tiefins Bewusstsein der Arbeiter ein, auch wenn dieAktivisten darüber nur sehr ungern reden. Denn,weil der Aktivist seit langem in einer politisch-ge-werkschaftlichen Struktur agiert, trifft auch ihn dieKritik an den sozialistischen Utopien und wie sie ineinem autoritären System degenerierten. Das führtschließlich dazu, dass er bestimmte Worte nichtmehr auszusprechen wagt und das Gefühl hat, einTeil der eigenen Geschichte sei verloren gegangen.�(S. 275f.) So beschleiche viele das Gefühl, �dass sienicht mehr an etwas ,,Großem� teilhaben, an etwas,das über die �enge� Welt, in der sie leben, hinaus-weist� (S. 273) und deshalb bleibe meist nichts ,,alsdie Hoffnung auf den vorzeitigen Ruhestand unddas bittere Bewusstsein, der Gruppe bei ihrem,Niedergang´ und bei ihrer ,Selbsterniedrigung´ zu-sehen zu müssen.� (Ebd.)

,,Fast nichts�, muss man hinzufügen, denn gleich-zeitig wählen in den neunziger Jahren immer mehrPeugeotarbeiter den rassistischen Front National, sodass dieser auf Wahlergebnisse von 20 bis 25 Prozentkam und kommt. Doch es wäre falsch, das betonenBeaud und Pialoux, all diese Arbeiter einfach als un-verbesserliche Rassisten einzusortieren und abzuquali-fizieren. Stattdessen schlagen sie vor, von einem spezi-fischen ,,Arbeiter-Rassismus� (S. 315) zu sprechen,um damit dieses politische Phänomen genauer zu fas-sen, ohne es herunterzuspielen. Weshalb dies nötig ist,zeigen die beiden Autoren, indem sie auf den irritie-renden Umstand verweisen, dass im gleichen Zeitraumeinerseits die kommunistische CGT in Teilen desPeugeot-Werkes bei den Betriebswahlen erheblich anBoden zulegen konnte und sich andererseits rassisti-sche Äußerungen bei vielen ihrer Gespräche mit denBeschäftigten vor allem ,,gegen die �kleinenMigranten�� (S. 291) richteten, denn: ,,Während dieEltern wirklich �geschuftet� hätten, wird den Jungen

[Migranten/S.C.] vorgeworfen, herumzulungern undrespektlos zu sein.� (ebd.) Zudem, so Beaud undPialoux, vollziehen viele Arbeiter ihren politischenWechsel ,,von Zweifeln begleitet und mit schlechtemGewissen� (S. 309), oder wie es ein Arbeiter im Buchausdrückt: ,,Manchmal kommt der Rassist in mirhoch... Und ich hasse mich dann.� (S. 319)

Warum kommt es aber trotz Differenzierungund schlechtem Gewissen zu den bedenklichenWahlergebnissen? ,,Die Begründung dafür könnteso lauten: das �wir� (die Arbeiter) am Nullpunktangelangt sind und als ,,archaisch� und �unverbes-serlich� gelten, und da ,,ihr� (die ,,da oben�, die,,Sozialisten�) uns ständig sagt oder spüren lasst,dass wir ,,dumm� sind, dass unsere Kinder nicht,,gebildet�, nicht ,,aufgeschlossen� sind, und wir dasnicht ungestraft weiter mit uns machen lassen, wol-len wir euch mal zeigen, wozu wir fähig sind. Wirsind immer noch zahlreich. Das ist die einzige Kraft,die wir noch haben, und die werden wir einsetzenund Le Pen wählen oder zumindest drohen, es im-mer wieder zu tun. Man muss denen Angst einjagen,damit �wir� Arbeiter endlich ernst genommen wer-den.� (S. 309) Oder etwas prosaischer formuliert:,,Viele Arbeiter haben den Eindruck gewonnen, dasssich die Vertreter der Linken für andere noblereoder �humanistischere� Angelegenheiten (dieKultur, den Kampf gegen die Armut oder gegen denRassismus) interessieren, wo doch die �Volks-klassen� vor ihren Augen leiden.� (S. 311)

Zukunftsfragen

Gerade diese letzten Passagen provozieren beimLeser womöglich kritische Einwände. Denn auchwenn man in den Kapiteln vorher fragen mag, obinsbesondere die These vom Generationenbruchnicht zu sehr mit der durchaus progressive Züge tra-genden französischen Bildungsreform von 1985 ver-knüpft wird, so scheinen Beaud und Pialoux doch andiesem letzten Punkt ihrer Darstellung den Bogender Anteilnahme mit den Peugeot-Arbeitern zuüberspannen. Bleibt ein �Rassismus mit schlechtemGewissen� oder wie auch immer modifiziert imErgebnis nicht das Gleiche? Was hilft der Hinweis,dass sich dieser Arbeiterrassismus lediglich gegendie ,,jungen Migranten� richtet? Müsste man außer-dem die Behauptung der Autoren, dass dieKriminalität der Ausländerkinder ,,kein Mythos� (S.306) ist, nicht nur, wie es Beaud und Pialoux tun,

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durch den Aufweis der Gründe für die ,,Gegen-gewalt� (S. 305) der jungen Migranten ergänzen,sondern auch durch exakte statistische Belege? Undschließlich: Handelt es sich bei den Zugewinnen derCGT in den neunziger Jahren tatsächlich um einenLinksschwung, oder vollzieht er sich mangels rech-ter Alternativen (ganz zu schweigen davon, dass erder Hauptthese des Buches widerspricht)?

Definitive Antworten können und sollen hiernicht gegeben werden, aber es mag � auch um dieLektüre des Buches unbedingt jedem ans Herz undan den Verstand zu legen � sinnvoll sein, zumAbschluss zu verdeutlichen, dass sich mit und umdiese Fragen herum ohne Zweifel das Feld derZukunftsfragen linker Politik und Praxis gruppiert.Um es auf den Punkt zu bringen: Wenn Beaud undPialoux den Arbeiter-Rassismus tatsächlich zuwohlwollend betrachten, wenn sie womöglichschon die ,,alte Arbeiterschaft� und ihre linkeWiderständigkeit verklären, worin besteht eineemanzipative, linke Alternative? Soll man sich end-lich und konsequent von der Arbeiterschaft abwen-den und auf die Suche nach neuen kämpferisch-widerständigen Subjekten begeben, wie dies vieleLinke schon seit Jahren tun?

Zweifel sind mehr als erlaubt, gerade mit Blickauf die schwierige Situation der Linken in fast allenwesteuropäischen Ländern, insofern nicht nur inFrankreich die Linke für ihre Abwendung von derArbeiterschaft mit einer sich stetig verschärfendenMarginalisierung ihrer selbst und der Heraus-bildung eines Bündnisses zwischen Arbeitern undkonservativ-rassistischen Populisten bezahlt, wiedies kürzlich Tom Frank für die USA gezeigt hat(Tom Frank: �Sushi, Piercing und andere Besonder-heiten. Krisenpopulismus in den USA�, in: LeMonde diplomatique 2/2004; s. auch ders.: �What�sthe Matter with Kansas? How Conservatives Wonthe Heart of America�, New York 2004). Um dieseTendenz zu durchbrechen, täte jedoch zweierlei Not.Es wäre zum einen wichtig � gerade für den kultu-rell-akademischen Teil der Linken - endlich zu ver-stehen, dass ein Werben um die Arbeiter keineswegs

die Rückkehr zu irgendwelchen Traditionalismenbedeutet, sondern dass dies der Kampf um ein stra-tegisches Feld der Gesellschaft ist, ohne welches je-de prinzipielle Veränderung unmöglich ist. Zumzweiten wiederum hätte man, wie dies Tom Frank soschön formuliert hat, einzusehen, dass niemand vonGeburt an Linker ist, sondern dass man, wenn über-haupt, Linker wird, was unter anderem zur Folgehat, dass dieses Werben um die Arbeiter ein mühe-voller und oft vergeblicher Prozess ist, der ebenauch der Auseinandersetzung mit Rassismen undvielen Stereotypen anderer Art bedarf. Insofern lie-ße sich Beaud und Pialoux vielleicht eines Tages ent-gegnen, dass sie weniger die verlorene Zukunft derArbeiter beschrieben haben als den zunächst verlu-streichen und schwierigen Prozess des Gewinns ei-ner neuen Zukunft - einer Zukunft, die sich nicht -wie viele Gewerkschaftslinke es möchten - im engennational-etatistischen Sozialstaat erschöpft, sonderndie global und sozial angelegt ist; einer Zukunft, dienicht durch die standardisierte Massenproduktiondes Fließbandes bestimmt wird, sondern durch dieungeheuren Potentiale der gegenwärtigen Flexibili-sierung und Individualisierung von Kommunikationund Produktion. Leider jedoch ist dies die unwahr-scheinlichere Variante. Vielmehr steht zu befürchten,dass die Gewerkschaftslinke weiterhin ihreVergangenheit und die des Sozialstaates verklärt undsie phantasielos zum Maßstab der Zukunft macht;dass die akademisch-kulturelle Linke fortfährt, ihrenHumanismus durch neue Widerstandssubjekte zugrundieren und jeden Verweis auf die Arbeiter als ge-schichtsphilosophisch-metaphysisch-traditionalisti-schen Quatsch zu entlarven, um so der intellektuel-len Einsamkeit zu entfliehen; und dass diese Arbeiter- eventuell sogar in steigendem Maße - für dieEinflüsterungen und Parolen ihrer gesellschaftlichenAusbeuter und deren Ideologen empfänglich bleibenwerden. Bonjour, Tristesse ...

E-mail: [email protected]

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1 Zuerst erschienen in: express - Zeitschrift für sozialistische Betriebs-und Gewerkschaftsarbeit, 8/2005

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Kindheit und Kritik

Es ist kein kritisches Denken vorstellbar, dasnicht zugleich immer auch eine Meditation über dieKindheit ist.

Dennoch hat sich von Rousseau bis zu den anti-autoritären Kommunen von 1968 die Aufmerksam-keit der ReformerInnen und RevolutionärInnengegenüber den heranwachsenden menschlichenWesen immer in Pädagogik verwandelt; in denVersuch also, die Erziehung der Kinder dem Idealeiner gerechteren Gesellschaft entsprechend zu ge-stalten. Auf diese Weise jedoch wurde stets ver-kannt, worum es in Wirklichkeit ginge: aus derkindlichen Erfahrung selbst Kriterien und Begriffezu gewinnen, die imstande sind, die gesellschaft-lichen Verhältnisse und die Beziehungen innerhalbder Produktion weiter zu erhellen, sowie diePosition der Kritik damit zu verbinden. In einerUmkehr der pädagogischen Perspektive müssen wiralso davon ausgehen, dass wir diesbezüglich von derKindheit etwas lernen können.

Die Gesellschaft, die auf dem verallgemeinertenPrinzip der Kommunikation fußt, sodass sogar dieArbeit im Wesentlichen sprachlichen Charakter an-nimmt, muss von der Erfahrung derer aus befragtwerden, die noch nicht sprechen und sich erst all-mählich den Zugang zur Sprache erwerben. Dieneuesten Formen der Technik, jene Bereiche derkünstlichen Intelligenz also, deren Zweck es ist, die

kognitiven Prozesse und die Selbstreflexion zu ob-jektivieren, können einem besseren Verständnis zu-geführt werden, wenn man sie mit der kindlichenAufnahme der Welt vergleicht. Das sinnlose und pa-rasitäre Wesen der Lohnarbeit offenbart sich in allerSchärfe angesichts der Spielformen der Kleinkinder,in denen die Abwesenheit bestimmter Zwecke undder Hang zum Experimentieren wunderbar vereintsind. Schließlich weisen die traditionslosen und er-fahrungsarmen urbanen Lebensformen puerile (al-bern-kindliche) Züge auf, die von der Kindheit, auchwenn sie sich stets zu ihrer Rechtfertigung auf sieberufen, ein recht blasses und parodiehaftes Bildbewahren.

Weder leichtfertig hingeworfene Metapher, dienur dazu dient, um über anderes zu sprechen, nochAnrufung eines Zustands der noch unversehrten�Authentizität�, beschäftigt sich die Reflexion überdie Kindheit mit einer stets aktuellen Seinsweiseund einer Form der Erfahrung, die verschiedenstenBereichen eigen ist. Die buchstäbliche Kindheit, mitder wir immer zu tun haben, ist als solche auch eineKategorie der Erkenntnis und Kritik.

Im Laufe der 80er Jahre hat eine schwache utopi-sche Kraft fast ausschließlich in der Auseinander-setzung mit der Kindheit überlebt, die von denen,die sich ansonsten in den �Realismus� und dieResignation einübten, vorangetrieben wurde. Ob-gleich sie meist nicht direkt zum Ausdruck gebrachtwurde, hat in jener Auseinandersetzung eine

Paolo VirnoAnmerkungen zur Grammatik der Multitude.

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Die folgenden zwei Texte, die uns Paolo Virno freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat, könnenals Vertiefungen von Thematiken gelesen werden, die der Autor in der Grammatik der Multitude1

behandelt. Die erste dieser beiden Anmerkungen bezieht sich auf eine Überlegung im Kapitel�Gemeinplätze und General Intellect�, bei der es um die Frage nach der Orientierung der Subjekte

im sozialen Kontext der modernen Großstädte geht. Wie Walter Benjamin stößt Virno dabei aufdas Problem der Geschwindigkeit, mit der sich �Zersetzung der (traditionellen) Merkwelten� voll-

zieht. Formen der Wahrnehmung und des Gedächtnisses sind technisch reproduzierbar, was diekindliche Begeisterung für die Wiederholung inmitten hochtechnisierter Erfahrungswelten wieder

auftauchen lässt. Mit ihr verbindet sich damit auch eine Perspektive der Kritik. Der zweite Textführt eine Überlegung weiter, die in Zusammenhang mit der Thematisierung des Phänomens

�Angst� angestellt wird. Das Zurückgeworfensein auf die Welt als solche in der postfordistischenProduktion verstellt uns den Weg �zurück� zu �Heimaten�, �Ursprüngen�, �substanziellen

Gemeinschaften�. Und doch eröffnet sie die Sicht auf das, was uns in Form vonnoch niedergehaltenen Vermögen gemeinsam ist.

Paolo VirnoZwei Anmerkungen zur Grammatik der Multitude

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Position der radikalen Transformation überlebt, diegleichzeitig mit aller Kraft aus dem Kreislauf der ge-sellschaftlichen Produktion ausgeschlossen und anden Schauplätzen des politischen Diskurses ver-höhnt wurde.

Wenn sie sich auch in viele vereinzelte privateund berufliche Erfahrungen verästelt hat, hat dieBeschäftigung mit der Kindheit doch eine solcheKraft bewahrt, dass sie stets über den unmittelbarenZusammenhang, aus dem sie jeweils hervorgeht,hinausweist. Ob es sich um das aktive Interesse anselbstverwalteten Kindergärten, an der alternativenJugendkultur handelt, oder um Fragen, die mit denArbeitszeiten der Eltern zusammenhängen, umexemplarische Darstellungen und Gleichnisse be-züglich der Kindheit in Film und Literatur oder umdie psychiatrische Arbeit von Marco LombardoRadice, in jedem dieser Fälle (und natürlich in vie-len weiteren) waren Fragen nach der Möglichkeit ei-nes gelungenen Lebens, nach Freiheit und Glückdeutlich vernehmbar. Alles andere als gebrochenund aufgesplittert war hingegen der Zugang derFrauenbewegung zum Thema der Kindheit: An-gefangen vom Buch Dalla parte delle bambine (Aufder Seite der Mädchen) von Elena Belotti kann mansagen, dass dieses Thema zur Gänze das politischeProjekt des Feminismus durchzieht.

Nicht immer frei von Ambiguität (wie etwa dermutwilligen Regression in ein früheres Stadium, umsich vor den Einschnitten der Geschichte zurückzu-ziehen, oder der Sehnsucht nach einer illusorischenheilen Natur, nach einer an die Wiege erinnerndenSicherheit), hat die Reflexion über die Kindheit inden 80er Jahren dennoch kritische Energien ange-sammelt, die � wie das bei einer vollen Batterie derFall ist � nur darauf warten, sich in alle möglichenZusammenhänge entladen zu können. Dabei han-delt es sich allerdings um kritische Energien, diesich ausgehend vom Wissen um die eigenePrekarität und Verwundbarkeit entwickelt haben;vom Wissen um jenes Der-Welt-ausgeliefert-Sein, dasin der noch nicht zusammengewachsenenFontanelle auf dem Kopf des Neugeborenen einensichtbaren Ausdruck findet. Es sind also Energien,die das Bewusstsein der Grenze nicht verdrängen,sondern eben daraus entstehen. Energien, die ausder �Enttäuschung� gestärkt hervorgegangen sind.

Es ist bekannt, dass Walter Benjamin niemals sei-nen Blick von der Kindheit abwandte. Und es istebenso bekannt, dass er erstaunlich früh dieWesenszüge der technischen Reproduzierbarkeit desKunstwerks erkannte. Was jedoch bislang verborgenblieb, ist die enge Verbindung zwischen diesen beidenFakten. Benjamin begriff die neuen Bedingungen derKulturproduktion (Fotografie, Radio, Kino, Genre-

roman) deshalb so schnell, weil er sich den Zugangzur kindlichen Erfahrung niemals verstellte und ausdiesem sogar Lehren hinsichtlich der grundlegendenTendenzen seiner Zeit zog.

Nur weil er sich lange mit dem kindlichen Spielbeschäftigt hatte � das durch die unerschöpflicheWiederholung derselben Gesten und derselbensprachlichen Formeln gekennzeichnet ist �, war erimstande, die Bedeutung der massenhaft hergestell-ten Serialität zu begreifen, die heute nicht mehr nurdie Kulturindustrie auszeichnet, sondern jeglichenAspekt der unmittelbaren Erfahrung. In einerRezension eines Buches über Spielzeug schreibtBenjamin einige Sätze, die in gewisser Hinsicht auchauf die BewohnerInnen der heutigen Metropolenbezogen sein könnten: �Endlich hätte eine solcheStudie dem großen Gesetz nachzugehen, dass überallen einzelnen Regeln und Rhythmen die ganzeWelt der Spiele regiert: dem Gesetze derWiederholung. Wir wissen, dass sie dem Kind dieSeele des Spiels ist; dass nichts es mehr beglückt als�noch einmal�. [...] �Es ließe sich alles trefflichschlichten, / Könnte man die Sachen zweimal ver-richten�, nach diesem Goetheschen Sprüchlein han-delt das Kind. Nur gilt ihm: nicht zweimal, sondernimmer wieder, hundert- und tausendmal. Das istnicht nur der Weg, durch Abstumpfung, mutwilligeBeschwörung, Parodie, furchtbarer UrerfahrungenHerr zu werden, sondern auch Triumphe und Siegeimmer wieder durchzukosten.�2

Das für die Kindheit typische Streben nach demnoch einmal setzt sich in der technisch reproduzier-baren Erfahrung fort. Schon diese Feststellung er-laubt es Benjamin nicht, in ein nostalgisches Nach-trauern zu verfallen: Insofern in der Reproduzier-barkeit ein tiefes Bedürfnis des menschlichenWesens Befriedigung erlangt, ist es ihr gegenübereinfach nicht angebracht, verächtlich die Mund-winkel zu verziehen. Die entscheidende Frage lau-tet: Wie kommt es dazu, dass die Gesellschaft desentwickelten Kapitalismus ein Wesenselement derKindheit wieder aufnimmt? Was ist beiden gemein-sam? Das Fehlen fester Gewohnheiten, die die Praxisin bestimmte Bahnen lenken, um diese vor derZufälligkeit zu schützen: darin liegt die Antwort.Sowohl die Kinder als auch die BewohnerInnen derGroßstädte müssen ohne Traditionen und Orien-tierungshilfen auskommen. Bar jeden Schutzes inForm einer �Gewohnheit�, müssen sowohl die einenals auch die anderen auf die Wiederholung zurük-kgreifen, um die Schocks des Unvorhergesehenenabzuschwächen und sich, so gut es geht, zu orien-tieren.

Die spielerische Wiederholung der erstenLebensjahre zeugt davon, dass es noch keine

Paolo Virno Anmerkungen zur Grammatik der Multitude

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Gewohnheiten gibt, bereitet aber auch darauf vor,solche anzunehmen, sie ist deren Matrix. In dergegenwärtigen Situation wird dieses vorbereitendeStadium jedoch in gewisser Weise zur permanentenBedingung. Die Erfahrung verbleibt im Stadium derWiederholung, sie verwandelt sich nicht inGewohnheit. Die Matrix verschwindet nicht unterder Aufhäufung ihrer Ausgestaltungen, sondernverharrt als solche stets sichtbar im Vordergrund.Unter dieser Voraussetzung verkehrt sich dieAnalogie zwischen Kindheit und technischerReproduzierbarkeit in einen unlösbaren Konflikt.

Wenn ein Kind das gleiche Märchen noch einmalzu hören verlangt oder dasselbe Spiel noch einmalspielt, nimmt es jedes Mal das Gleiche als einzigar-tig wahr. Jede Wiederholung hat den Wert einesPrototypen, eines Meilensteins. Mit der Instanz des�noch einmal� ist stets das �ein für alle Male� ver-bunden: In jeder einzelnen Wiederholung wird eineArt von Vollkommenheit gesucht. Umgekehrt spieltdie technische Reproduzierbarkeit, indem sie dieGleichheit sogar im Einzigartigen geltend macht,das �noch einmal� gegen das �ein für alle Male� aus.Der Wiederholung im Spiel setzt sie den Wieder-holungszwang der Warenwelt und der Lohnarbeitentgegen. Während die Kindheit dem Fehlen vonGewohnheiten über eine besondere Form der �ewi-gen Wiederkehr� beizukommen versucht, stellt dieKulturindustrie die nackte Wiederholung alsSurrogat der Gewohnheit dar, sie äfft das Verloren-gegangene nach und konstruiert falsche, aber schein-bar verbindliche �Traditionen�.

Die Gesellschaft des reifen Kapitalismus ist bloßpueril: Es gilt, gegen sie die Kräfte der Kindheit zumobilisieren, aus denen sie auf beliebige Weiseschöpft, diese jedoch zu einem alptraumhaftenKindergarten verkommen lässt.

Die Entgegensetzung von stets aktuellerErfahrung der Kindheit und ihrer Karikatur, die wir�pueril� genannt haben, zeigt sich auf Schritt undTritt. Dies gilt in besonderem Maße für die so ge-nannte Freizeit, deren Anwachsen die westlichenGesellschaften auf ambivalente Weise prägt. Sobalddie Ethik der Arbeit, die so viel zur Definition der�Erwachsenen� beigetragen hat, an Einfluss verliert,passt sich die Gestaltung der überschüssigen Zeitentweder einem zerstreuten und �puerilen� Modellan (dies entspräche der Perspektive der erwachsenenArbeiterInnen auf die Kinder), oder es wird ver-sucht, an die Ernsthaftigkeit der Kindheit anzu-schließen. Eine Kritik der Freizeit muss sich an die-se Alternative halten: Für diejenigen, die im Namender Arbeit auf pedantische und besserwisserischeWeise die eigene �Reife� ins Treffen führen, gibt esindessen nichts zu holen.

Auch und vor allem in einer Notsituation hat derSchrecken etwas �Pueriles� an sich und verlangtnach einem �kindlichen� Gegenmittel. DieGefängniszelle zum Beispiel stellt eine gewohntemenschliche Umgebung dar: ein Zimmer, das mitdem Notwendigsten ausgestattet ist, das jedoch ei-ner leicht parodistischen Veränderung unterzogenwurde. Es handelt sich um die �puerile� Version dergewohnten Dinge und Verrichtungen. Das amFußboden festgenagelte Bett lässt an eine alte Wiegeauf einem Bauernhof denken. Wenn es einen Eimergibt, dann erinnert dieser an einen Nachttopf, wennauch auf bedrückende und fast boshafte Weise. DieHocker sind zu klein und meist aus Plastik. Das zuhohe Fenster flößt jenes Gefühl der Einschüchte-rung ein, das die Kinder so gut kennen. DieEinrichtung ist lilliputanisch, sie besteht aus an dieWand gehängten Zigarettenschachteln, Gegen-ständen aus Altpapier und Kartons oder kleinenHolzstücken. Die Zelle hat etwas von einem un-heimlichen, aus wieder verwendeten Materialen zu-sammengebauten Puppenhaus. Und sie macht allenUmständen zum Trotz einen vollgerammelten Ein-druck.

Der erfahrenen Häftlinge, die den Betrieb ken-nen, wissen, dass es sinnlos ist, der Albernheit desGefängnisses eine eingebildete erwachsene �Auto-nomie� entgegen zu setzen, sondern dass sie sich injedem Augenblick den kindlichen Sinn für dasUnbehagen und die Prekarität lebendig erhaltenmüssen, um sich der Gewöhnung an die Umständezu widersetzen. Deshalb muss die Zelle so karg wiemöglich ausgestattet sein, damit sie immer unge-wohnt erscheint.

In seinem bedeutenden Buch über Kindheit undGeschichte3 bemerkt Giorgio Agamben, dass, würdenwir mit einer perfekt ausgebildeten Sprache zur Weltkommen, diese die gleiche Funktion hätte wie etwader Geruchssinn bei den Tieren. Sie wäre also wie einOrientierungsorgan in einer Umwelt, in die wir ein-getaucht wären wie in eine Art Fruchtwasser, ohnedass wir die Möglichkeit hätten, daraus auszubrechenoder sie zu verändern. Umgekehrt ausgedrückt, be-deutet eine Kindheit zu haben und die Erfahrung desZugangs zur Sprache durchzumachen, einen dauer-haften Bruch zwischen dem menschlichen Wesenund jeglicher bestimmten Umwelt. Besser gesagt, ha-ben wir dank des schrittweise vollzogenen Über-gangs von der Stummheit des sinnlichen Lebens zurartikulierten Rede keine �Umwelt�, sondern eineWelt. Eine Welt, der wir zugehören, wobei mannigfa-che Widerstände und die Unvollkommenheit derwechselseitigen Durchdringung weiter bestehen blei-ben. Eine historische Welt, die zu verändern ist. DieKindheit, die einen der Umwelt entreißt, öffnet dieMöglichkeit der Geschichte.

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Wollte man nun die Gesellschaft des Spektakelsmit einer kurzen Formel bestimmen, so müsste mansagen, sie sei jene Gesellschaftsform, die die Spracheselbst auf eine unmittelbare Umwelt reduziert hat,indem sie aus der verallgemeinerten Kommunika-tion etwas gemacht hat, das dem sehr nahe kommt,was der Wald für die Bären oder der Fluss für dieKrokodile ist. Die objektivierten Codes und materi-alisierten Grammatiken, die den quasi natürlichenKontext der urbanen Erfahrung bilden, scheinenuns ohne Residuum zu umfassen, genau so wie dasFruchtwasser die Embryonen. Darüber hinaus ver-festigt der Umstand, dass die Sprache als Instru-ment und Rohstoff der Arbeitsprozesse auftritt,über alle Maßen den Anschein einer nicht veränder-baren �Umwelt�. Daraus geht der niederschmet-ternde Eindruck hervor, die Geschichte sei ihremVerlauf nach festgeschrieben oder eingefroren, einEindruck, den das postmoderne Denken nicht mü-de wird, zu untermauern und auszuschmücken.

Sich der Gesellschaft des Spektakels entgegen-zustellen bedeutet, die Kindheit neu zu entdecken;d. h., den hartnäckigen Schein einer �sprachlichenUmwelt� aufzulösen und in der Sprache das zu ent-decken, was uns der Umwelt entreißt und eine�Welt� entstehen lässt. Wenn man so will, gilt es, daskindliche Gefühl für die Sprache als etwas Zugäng-liches, für die Sprache als Vermögen zu erneuern.

Die �egozentrische Sprache� des Kleinkindes(mit der sich auf jeweils verschiedene Weise Piagetund Vygotskij beschäftigen) hat keinerlei denotati-ve oder kommunikative Funktion. Es ist eineSprache, die das Kind für sich selbst spricht, zu sei-ner eigenen Befriedigung, und auf diese Weise er-fährt es nichts anderes als das reine Ereignis desWortes. In jenen endlosen Litaneien zählt nur derZugang zur Sprache, das Auskosten des Übergangsvon ihrer Abwesenheit zu ihrem Auftreten. DieseErfahrung erneuert sich jedes Mal, wenn die Sprachezur �Egozentrik� zurückkehrt, wenn also jeglicheEntsprechung zwischen Wort und Ding ausfällt (ei-ne �Entsprechung�, die dem Geruchssinn desWolfes, der eine Gefahr oder eine Beute wittert, all-zu ähnlich wäre).

Die Kindheit wird demnach in den Metaphernund Metonymien vernehmbar, die von der direktenSprechweise (und den daran gebundenen Lebens-formen) abweichen. In den rhetorischen Figuren,

die eine wahre Physiognomie der Begriffe vorzeich-nen, erkennt man noch die Grimassen des Kindes,das von der greifenden Geste zur verbalen Indikationübergeht. Darüber hinaus lebt die Kindheit auf Dauerin der hypothetischen Sprache fort, in der sich ande-re Möglichkeiten hinsichtlich des gegenwärtigenStandes der Dinge auftun: Jede bestimmte Möglich-keit geht aus der Erfahrung der Sprache selbst alsMöglichkeit hervor.

Die SoziologInnen behaupten, wir sähen uns ei-ner nicht enden wollenden Pubertät gegenüber, dieindustrielle Welt sei von ewigen SchülerInnen undStudentInnen bevölkert. Diese Definitionen gehenoft mit einer offensichtlichen Geringschätzung fürdie neue Spezies einher. In Wirklichkeit registrierensie aber nichts anderes als die Krise der Arbeits-gesellschaft. Insofern kann man diese Definitionenruhig als Auszeichnung verstehen. Man muss sieallerdings radikalisieren: ewige Kinder.

Vertrauter Schrecken

Um sich im fürchterlichen Dickicht der�Wurzeln� besser zurechtzufinden, sollte man einenkleinen Text von Freud mit dem Titel �DasUnheimliche� heranziehen. Auf wenigen Seiten fin-det man dort das Wichtigste hinsichtlich derBeschwörungen der �Ursprünge� (Nation, Ethnie,kulturelle Traditionen usw.), die von Zeit zu Zeit diepostmodernen Metropolen heimsuchen.

Freud bemerkt, dass das deutsche Wort heimlich,mit dem man das bezeichnet, was an den �Herd� er-innert und ein Gefühl der Intimität vermittelt, �sei-ne Bedeutung nach einer Ambivalenz hin entwik-kelt, bis es endlich mit seinem Gegensatz unheim-lich zusammenfällt.�4 Das Vertraute geht insBeunruhigende über, das Schützende ist auch be-drohlich, die ersehnte Wurzel enthüllt ihr finsteresWesen. Von seiner eigenen Sprache geleitet (er be-nutzt das Grimmsche Wörterbuch, in dem dieMärchensammler die Dialektik des Heimlichen aufwunderbare Weise darstellen), deutet Freud denSchrecken, der uns angesichts des Unheimlichen (derGespenster, z. B.) befällt, als eine traumatischeReaktion auf das �Vertraute�, das unvermutet in ver-änderter Form zurückkehrt. Der Wahrnehmungs-und der Gefühlsgehalt des Altvertrauten und des jä-hen Schreckens sind identisch, bis auf die Tatsache,

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dass sich das Idyll in einen Alptraum ver-kehrt hat.

Das Begriffspaar heimlich/unheimlichhätte es verdient, im Mittelpunkt der ethi-schen Reflexion der Gegenwart zu stehen.Um sich davon zu überzeugen, genügt es,daran zu erinnern, dass der Begriff ethos sei-nerseits nichts anderes bedeutet als�Gewohntsein�. Wenn man der EtymologieGlauben schenkt, so ist nicht die an�Werten� und �Seinsollen� reiche Lebens-form ethisch, sondern diejenige, die denVorteil der rechten Gewohnheiten genießt,die von den Einzelnen bis ins Innerste aner-kannt werden. Allerdings ist heute nichts soparadox und exzentrisch, letztlich so unge-wöhnlich, wie die Forderung nach einer fest-en �Gewohnheit�, die den Blick und dasHandeln sicher zu leiten imstande ist.Nichts klingt so falsch, so verdächtig und sounheimlich.

Man weiß, die Hauptleidenschaft der ka-pitalistischen Moderne bestand darin, alleWurzeln, eine nach der anderen, abzutren-nen, die traditionellen Gesellschaften zu zer-stören, das Gewohnte durch die Wieder-holung zu ersetzen (eigentlich durch denWiederholungszwang). Gegenüber dem blen-denden Schein der Technik und allgemeinangesichts des Universalismus der gesell-schaftlichen Produktivkräfte geraten dieWege des Heimlichen ins Zwielicht. Alles istvertraut und zugleich fremd; ohneGeheimnis und dennoch unvorhersehbar.Gerade in dieser Situation der unumkehrba-ren Entwurzelung kehren unbestreitbarFormen archaischer Zugehörigkeit, Schutz-wälle und schicksalhafte Identitäten zu-rück.

Es wäre ein Fehler, dieses Wieder-aufflammen als den �romantischen�Widerstand der VerteidigerInnen einer tradi-tionellen Ordnung zu verstehen. In Bezugauf diese Ordnung haben wir keine direkteErinnerung mehr. Seit langer Zeit revolutio-niert die �Modernisierung� nur mehrBereiche der Erfahrung, die sich bereitsdurch Konventionen und technische Ent-wicklung auszeichnen, die bereits und immerwieder von einschneidenden Innovationenerfasst worden sind. Das Beschwören dervertrauten Wurzeln ist selbst ultramodern:Es ist genauso virulent wie verschroben,handelt es sich im besonderen Fall doch im-mer um die Plastikversion von �Blut und

Boden�, um künstliche Supermarkt-Archaismen. Das einstmals Heimliche kehrtals mediales Pogrom, als Werbespot über den�ethnischen Stolz�, als postindustrielleUnterwerfung der Körper wieder: alsUnheimliches also. Wer Heimat, Gemein-schaft, authentisches Leben zu sagen ver-sucht, stößt unartikulierte und furchterre-gende Schreie aus, die eines Wiedergängerswürdig sind. Die Vermischung des Ver-trauten und des Erschreckenden gestaltetsich nunmehr systematisch: Das Erste er-fährt man nur, wenn man auf das Zweitestößt.

Jean Améry (Pseudonym von HansMayer, einem österreichischen Juden, dervor den Nazis nach Belgien floh, später ge-fangen, gefoltert und in ein Konzen-trationslager deportiert wurde) widmet einKapitel seines Buchs Jenseits von Schuldund Sühne5 der Frage: �Wieviel Heimatbraucht der Mensch?�. Heimat wird hierwohlgemerkt nicht als Nationalstaat ver-standen, sondern als der vertraute Ort, andem man aufgewachsen ist.

Auf wenigen Seiten entwirft Améry einewunderbare Phänomenologie des Exils. DieErfahrung der Entwurzelung enthüllt ihreGrausamkeit vor allem für Menschen, dieweder religiös sind (der Glaube derVorfahren ist eine Art von Reserveheimat,insofern er von konkreten Orten unabhän-gig ist), noch über Geld verfügen (mittelsBanknoten kann man sich jederzeit ebensodruckfrische Wurzeln verschaffen), noch be-rühmt sind. In vielerlei Hinsicht ähnelt dieEmigration dem Altern. Die typischenErscheinungen des individuellen Verfallswerden auf die soziale Ebene projiziert, an-gefangen vom Gefühl, man �verstehe dieWelt nicht mehr�.6 In Belgien leidet Améryunter einer unheilbaren �Instabilität�: Erorientiert sich nur schlecht in der neuenUmgebung und hat jene instinktive Fähig-keit verloren, die Dinge zu erkennen und zuunterscheiden, jene Fähigkeit also, die alleinvor den Fährnissen des Zufalls Schutz bietenkann. Bei den Gesten der anderen kann erdie Gleichgültigkeit ihm gegenüber nicht aufAnhieb von einer eventuellen Bedrohungunterscheiden. Kulturelle Rituale, die sichvor seinen Augen abspielen, entgehen ihm,selbstverständliche Verweise auf einen ge-meinsamen Hintergrund versteht er nicht zuentschlüsseln, die Freude an denNuancierungen kommt ihm abhanden.

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Die Diagnose, die Améry über das Exil erstellt,weist viele Entsprechungen zu einer Beschreibungder gewöhnlichen urbanen Erfahrung auf (der Autorist sich dessen bewusst), zur Erschütterung, die dieständige Wandlung in den Arten, zu arbeiten und zukommunizieren, im Bewusstsein und in den Sinnenauslöst. Wer kann � angesichts der Elastizität derBeschäftigungen und Tätigkeiten im Postfordismus �heute schon von sich sagen, er oder sie sei seinerselbst vollkommen sicher und verfüge über ein ge-wisses Maß an Voraussicht? Wer könnte schon mit ei-nem Sicherheitsnetz gegen die Zufälle undVerwerfungen des �Neuen� prahlen? So wie Belgiendem Flüchtling Améry fremd war, bleibt die urbaneLandschaft den Menschen, die doch an sie gewohntsind und woanders nicht leben könnten, fremd.

Wenn uns das Exil arm macht, so erdrückt unsförmlich die Sehnsucht nach dem vermeintlichenReichtum des �Ursprungs�. Diesbezüglich berichtetAméry von einem exemplarischen Erlebnis: 1943hielten sich der Autor und seine Freunde vomWiderstand öfters in einer Wohnung auf, die genauüber einer von der SS besetzten Wohnung lag.�Eines Tages nun ereignete es sich, daß der unterunserem Versteck wohnende Deutsche sich durchunser Reden und unsere Hantierungen in seinerNachmittagsruhe gestört fühlte. Er stieg hoch,pochte hart an die Tür, trat polternd über dieSchwelle.� Mit aufgeknöpfter Uniformjacke undvom Schlaf geröteten Augen hatte er offensichtlichkein Interesse daran, Fragen zu stellen, sondern ver-langte bloß, sie sollten keinen Lärm machen. Undnun kommt der entscheidende Punkt: �Er stellteseine Forderung � und dies war für mich das eigent-lich Erschreckende an der Szene � im Dialekt mei-ner engeren Heimat. Ich hatte lange diesen Tonfallnicht mehr vernommen, und darum regte sich inmir der aberwitzige Wunsch, ihm in seiner eigenenMundart zu antworten. Ich befand mich in einemparadoxen, beinahe perversen Gefühlszustand vonschlotternder Angst und gleichzeitig aufwallenderfamiliärer Herzlichkeit, denn der Kerl [...] erschienmir plötzlich als ein potentieller Kamerad. Genügtees nicht, ihn in seiner, meiner Sprache anzureden,um dann beim Wein ein Heimat- undVersöhnungsfest zu feiern?�7

In diesem Augenblick erkennt Améry ein für al-le Mal, wie abstoßend Heimatgefühle sind. Mehrnoch, er ahnt, dass es so etwas wie einen gewohntenOrt nie gegeben hat und dass es selbstzerstörerischwäre, ihm nachzutrauern (�Unsere Reisen nach�Hause� erfolgten mit falschen Dokumenten undgestohlenen Stammbäumen.� ). Wer nach seinenWurzeln sucht, den (die) wird früher oder späterwegen des Dialekts eines SS-Mannes ein Gefühl derRührung überkommen. Dabei handelt es sich um ei-

ne Art von Rührung, zu der auch Menschen neigen,die in der modernen Großstadt den Traum einerkleinen imaginären Heimat hegen und pflegen, diees ihrer Ansicht nach mit allen Kräften wieder zu er-schaffen gilt.

Es ist besser, sich an das seelische und sinnlicheElend des Exils oder der sozialen Entwurzelung zuhalten, als Bilder einer mit verstörenden Ver-sprechen aufgeladenen �Vertrautheit� zu hegen.Allerdings drängt sich hier ein �Aber� auf: Trotz al-lem ist es nutzlos (und letzten Endes gefährlich),sich achselzuckend vom Bedürfnis nach einem ge-wohnten Ort abwenden zu wollen. Améry weiß dasnatürlich. Wenn man auch die Fallen des Heimwehssorgsam umgangen hat, bleibt man �darauf gestellt,in Dingen zu leben, die uns Geschichten erzählen�8,dem eigenen Lebenszusammenhang gegenüber soetwas wie sinnliches Wohlbefinden zu verspüren.

Wir wandeln also auf einem schmalen Grat: DasWohlbefinden stellt eine historische Wette dar, nichteinen vorab zugesicherten Besitz. Eine Aufgabe, dievor uns liegt, nicht ein uns zufallendes Erbe. Bessernoch, es ist eine Erfahrung, die nur aufgrund einesExils in Belgien oder des umfassenden Unbehagensin der Großstadt entstehen kann. Man muss also dieGewohnheit, den ethos, als das verstehen, was den�Wurzeln� diametral entgegengesetzt ist, und alsodas, was sich erst zu erkennen gibt, wenn von denWurzeln nichts mehr übrig geblieben ist. Was aberist letztlich diese nicht-ursprüngliche, nicht voraus-gesetzte �Gewohnheit� zweiten Grades? Grob ge-sagt und ungefähr gesprochen, annäherungsweiseund mehr oder weniger genau ausgedrückt, fällt ih-re Möglichkeit mit der stets aufgeschobenenAktualität dessen zusammen, was man seit zwei-hundert Jahren mit dem Namen Kommunismus be-zeichnet.

Aus dem Italienischen von Klaus Neundlinger

Anmerkungen:

1 Paolo Virno: Grammatik der Multitude / Der Engel des GeneralIntellect. Wien: Turia & Kant 2005.

2 Walter Benjamin: Kritiken und Rezensionen. GesammelteSchriften Band III. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972, S. 131.

3 Giorgio Agamben: Kindheit und Geschichte. Zerstörung derErfahrung und Ursprung der Geschichte. Frankfurt a. M.:Suhrkamp 2004.

4 Sigmund Freud, �Das Unheimliche�, in: Studienausgabe Band IV,Frankfurt am Main, 1982, Seite 250.

5 Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversucheeines Überwältigten. München: Deutscher Taschenbuch Verlag1988.

6 Viele Stellen in Amérys Buch Über das Altern kann man alsErgänzung zum Kapitel über den Verlust der Heimat in Jenseitsvon Schuld und Sühne lesen, und umgekehrt.

7 Améry, Jenseits von Schuld und Sühne, 67/8.8 Ebd., 76.

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Karl Heinz Roth legt auf schnell zu lesenden 90Seiten sowohl eine Analyse der gegenwärtigenSituation des globalen Kapitalismus vor, als auch eineSkizze zu dessen Überwindung. Inspiriert von derWeltsystemanalyse, dem italienischen Operaismus,der Kontradieffschen Theorie der �langen Wellen�sowie der Theorien Max Webers und Karl Polanyisreiht sich Roths Text in die seit dem Ende desPostmoderne-Hypes wieder en vogue gewordeneSerie �großer Erzählungen� ein. Wie bereits Hardtund Negris Empire zielt Roths Text auf eineDarstellung neuer Formen von Ökonomie wie auchpolitischer Souveränität in globaler Perspektive ab.

Roth macht sich angreifbar, wie das angesichtsder Kürze seines Texts auch nicht verwunderlich ist.Im Gegensatz zu noch-immer-Parteiaufbau-orien-tierten Linken fehlt dem Text glücklicher Weise diejene auszeichnende Hermetik. �Der Zustand derWelt� ist flüssig und weitgehend verständlich ge-schrieben; er empfiehlt sich vor allem für die jünge-re Generation bzw. als Einstiegslektüre in revolutio-näre Theoriebildung, aber auch generell alsVademekum und � wie meist bei Roths Texten � alsStichwortgeber und Positionspapier in aktuellen lin-ken Debatten. Obwohl also im Folgenden haupt-sächlich die von den Rothschen Ansichten differie-rende des Rezensenten kritisch zum Ausdruckkommen wird, sei an dieser Stelle ausdrücklich aufdie Wichtigkeit des Buches als Beitrag zur aktuellenlinken Debatte hingewiesen.

Der Essay ist in vier Teile gegliedert: Der erstesetzt sich mit der aktuellen Restrukturierung deskapitalistischen Weltsystems aus Herrschaftspers-pektive auseinander, der zweite nimmt eine

Perspektive von unten, von den Migrationsströmen,den kleinen und größeren Widerstandsbewegungengegen die im ersten Kapitel beschriebenen Trans-formationen ein. Kapitel drei widmet sich derNotwendigkeit neuer theoretischer Instrumentarien,insbesondere unter Verweis auf Bedeutung, aber auchUnzulänglichkeit der Marxschen Theorie und dervierte und letzte Teil entwirft kühn �Umrisse einererneuerten sozialistischen Alternative�.

Ein grundsätzlicher Zug im Rothschen Text gibtjedoch den meines Erachtens nach zentralen Anlasszu Kritik: Während Karl Heinz Roth die politischenTransformationen, die Schwächen post-keynesiani-scher Ansätze und die Unmöglichkeit, über dieErgreifung der Staatsmacht emanzipatorischeGesellschaftsveränderungen ins Werk zu setzen, äu-ßerst präzise umreißt, werden die nicht unmittelbarempirisch konstatierbaren Veränderungen in derglobalen Arbeitsteilung, d.h. ihre postfordistischeTransformation und die dadurch maßgeblich mitbe-stimmte und mitausgelöste Verschiebung imVerhältnis zwischen Politischem und Sozialem nuram Rande behandelt.

Deutlich wird dies an der völligen IgnoranzRoths gegenüber den Ansätzen Hardt und Negrisund der damit einher gehenden Empire-Debatte.Während die stark von der WeltsystemperspektiveImmanuel Wallersteins und Giovanni Arrighis be-einflusste Sichtweise Karl Heinz Roths interessanteEinblicke in die kapitalistische Rekonfiguration derGroßstädte entlang der Achse Global Cities � SlumCities erlaubt oder aber den gegenwärtigen AufstiegChinas zu einer bedeutenden kapitalistischen Machtund den damit verbundenen sozialen Auseinander-

Buchbesprechungen

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Karl Heinz Roth: Der Zustand der Welt Gegen-PerspektivenHamburg: VSA-Verlag, 2005, 94 Seiten, 9 Euro

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setzungen und Problemen anschaulich darstellt,fehlt es auf der anderen Seite auch nicht an Aus-lassungen und in Frage zu stellenden Problem-sichten, wie auch das mit �Marx testen� übertiteltedritte Kapitel zeigt:

Wenn zum Beispiel Roth Marx´ analytischesVerhaftetsein im 19. Jahrhundert unterstellt.Marxens große Leistung war allerdings genau jenetheoretische Antizipation der Entwicklung, die derKapitalismus im 20. Jahrhundert � vor allem in sei-ner fordistischen Phase � nehmen würde. Heute er-gibt sich dagegen die Problematik mehr aus demEnde des durch die Marxschen Begriffe beschreib-baren Kapitalismus, in dem mehr und mehr die einsthistorisch getrennten Phänomene der �ursprüng-lichen Akkumulation� und der �reellen Sub-sumtion� in eins fallen. Auf diese Aspekte des post-fordistischen Kapitalismus geht Roth nicht ein, erkritisiert hingegen, dass die Marxsche Theorie zuwenig radikal mit der klassischen politischen Öko-nomie gebrochen habe; dies führe letztlich zu einerungenügenden Sicht auf historisch konkreteSituationen von Ausbeutung. Dem stellt Roth einehistorisch gesättigte Sichtweise der Ausbeutunggegenüber, die jedoch kaum eine kapitalistischeFormbestimmung mehr kennt und schließlichBegriffe wie �globale Unterklassen� einsetzt, wel-

che genau das nicht leisten können, was er amSchluss des Kapitels selbst einfordert: eine Analyseglobaler Arbeitsverhältnisse.

Auf andere Weise problematisch ist, wenn Rothbeispielsweise schreibt (im letzten Abschnitt), dass�Transport- und Kommunikationsarbeiter� �denKern der industriellen Arbeiterklasse des 21.Jahrhunderts� (S. 78) konstituieren. Hier stellt sichsowohl die Frage, was das �Industrielle� dieses Teilsder Klasse darstellt, als auch, ob sich in der gegen-wärtigen postfordistischen Transformationsperiodeüberhaupt noch ein �Kern�, d.h. eine in derWertschöpfungskette zentrale und somit mit beson-derer Produktionsmacht ausgestattete Form derKlassenzusammensetzung finden lässt. SolcheFragestellungen berühren allerdings den methodo-logischen Kern von Roths Analyse: Die Welt-systemperspektive auf �den Zustand der Welt� inseiner herrschaftlichen Verfasstheit ist dem Blickauf die sozialen Kämpfe vorgeordnet � dies zeigtsich nicht zuletzt an der Hereinnahme derKondratieffschen Theorie der �langen Wellen� (vgl.55). Diese Schwächen manifestieren sich auch undinsbesondere im vierten Teil, wo die Zukunfts-vorschläge wiederum sich mehr an möglichenInstitutionen einer nachkapitalistischen Gesell-schaftsordnung als an den Erfordernissen im hierund jetzt orientieren. Diese letzt genannte mikrolo-gische Perspektive in ihrer immanentenVerbundenheit mit den �großen�, d.h. gesamtgesell-schaftlichen, kommunistischen Konstitutions-bedingungen postkapitalistischer Verhältnisse imgegenwärtigen Prozess der Transformation gesell-schaftlicher Arbeitsteilung hat Roth nicht, immer-hin aber auch keine falschen Illusionen in dieChancen und Möglichkeiten repräsentativerDemokratiemodelle und/oder (post)keynesiani-scher Neoreformismen.

So ist Der Zustand der Welt gleichzeitig �zu viel�und �zu wenig�: Zu viel an utopischen Speku-lationen über Form und Bedingungen von Steue-rungsmechanismen nachkapitalistischer Gesell-schaften, zu wenig aber an Analyse der aktuell vorsich gehenden postfordistischen Transformation derArbeitsverhältnisse, zentral bestimmt durch die of-fenen und versteckten, militant-politischen und all-täglichen Widerstände jener Multitude, die Roth alsWeltarbeiterklasse beschreibt. Diese bilden leidernicht die Ausgangsbasis für seine Argumentation,sonst hätte das Buch wohl eher �Perspektiven gegenden Zustand der Welt� heißen müssen. Wäre neben-bei bemerkt auch schöner gewesen, ist aber dennochkein Grund, es nicht zu lesen.

Martin Birkner

Buchbesprechungen

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In dem Beitrag von Sonia E.Alvarez / EvelinaDagnino / Arturo Escobar: �Kultur und Politik inSozialen Bewegungen Lateinamerikas�, der einNachdruck einer Einleitung eines Buches von 1998ist, muss noch begründet werden, dass der Erfolg ei-ner Sozialen Bewegung nicht nur dadurch zu beur-teilen ist, welchen Widerhall er in der institutionel-len Repräsentationspolitik findet, sondern auch dar-in, wie dominante Diskurse und ausgrenzendePraktiken destabilisiert und verändert werden kön-nen (S. 40). Auch wenn in den �Neuen SozialenBewegungen� gerade in Bezug auf Feminismus oderder Schwulen- und Lesbenbewegung die außerinsti-tutionellen Veränderungen entscheidend waren,orientierte sich deren Perspektive auf gesetzlicheund institutionelle Maßnahmen.

Nach dem Aufbrechen der �Antiglobalisierungs-bewegung� und den vielfältigen Entwicklungen inLateinamerika von den Aufständen in Ecuador,Bolivien und Argentinien bis zu den institutionellen(und anderen) Veränderungen in Venezuela undBrasilien ist es beinahe selbstverständlich, Aus-einandersetzungen und Veränderungen nicht alleinunter dem Blickwinkel einer staatlichen Repräsen-tation zu sehen. Dem wird in den Beiträgen diesesBandes Rechnung getragen, indem in der Analyseder Herrschaftsebene auf die Gouvernementalitäts-Theorie zurückgegriffen wird, inspiriert von denTexten Michel Foucaults.

Im Gegensatz zu den linken Bewegungen der1960er und 1970er, die sich an der Macht im Staatorientierten, werden die aktuellen Bewegungendurch Kriterien erfasst, die von die Gesellschaftdurchziehenden Herrschaftstechniken undTechniken des Selbst ausgehen, von der Ver-knüpfung von Subjektivität und Macht. Die Inter-pretationen der Beiträge sind unterschiedlich ge-wichtet, teilweise abhängig vom Erfolg der entspre-chenden Bewegungen: in einem Teil geht es um dieIntegration von Bewegungen in herrschendeStrukturen, im anderen allerdings um die Zer-setzung der herrschenden Strukturen durch denWiderstand, immer ambivalent, aber immer wiederund das wird vielfach betont, über den national-staatlichen Rahmen hinausreichend.

Der Einleitungsbeitrag �Cultural Politics imNeoliberalismus, Widerstand und Autonomie�(Olaf Kaltmeier / Jens Kastner / Elisabeth Tuider)zeichnet zuerst die Entwicklung der SozialenBewegungen nach: nachdem diese maßgeblich amEnde der lateinamerikanischen Diktaturen beteiligtgewesen waren, wurden sie zurückgedrängt, in diedemokratischen Strukturen integriert, die die neoli-berale Wirtschaftspolitik fortsetzten. Der Neo-liberalismus gerät ab den 1990ern in eine Krise, diesich auch in den vielfältigen Sozialen Bewegungenmanifestiert.

In diesem Zusammenhang wird die Ambivalenzdes Konzepts der Autonomie diskutiert, das in sei-nen grundsätzlichen Elementen (self-help, active ci-tizenship, personal development, empowerment) auchkonstitutiv für den Neoliberalismus ist. Es wirdaber auch aufgezeigt, wie sehr diese Subjektivitätwieder neue Widerstandsmöglichkeiten bietet, ebenauch das kapitalistische Regime des Neoliberalis-mus krisenhaft ist. Der schon erwähnte zweiteBeitrag von Alvarez / Dagnino / Escobar begründetden Wechsel des Blickwinkels in der BetrachtungSozialer Bewegungen unter dem Einfluss derCultural Studies, dass zur Erfassung einer Realitätmehr notwendig ist als die Analyse politischerStrukturen und ökonomischer Situationen1.

Der nächste große Abschnitt mit dem Titel�Neoliberale Herrschaftsverhältnisse� behandeltLänder, die durch ihre spezifischen Bedingungeneher schlechte Ausgangsbedingungen für SozialeBewegungen bieten. Bettina Reis beschreibt dieSituation in Kolumbien, wo der Bürgerkrieg, be-sonders aber die Verwobenheit der Paramilitärs mitdem Staat die Bedingungen für autonome Bewe-gungen beinahe verunmöglicht. Verónica Schild be-schreibt am Beispiel der chilenischen Feminist-innen, wie eine starke Soziale Bewegung gegen dieDiktatur in der demokratischen Phase Teil des neo-liberalen Projekts wird. Die Frauen werden zuselbstregulierenden ökonomischen Akteurinnen,das empowerment führte zu einer vielfältigenDiversifizierung und dadurch zu einer Methode derMacht. Stefanie Kron beschreibt die Situation inGuatemala, wo die Bedingungen für emanzipatori-sche Projekte durch die beinahe totale Vernichtung

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Buchbesprechungen

Olaf Kaltmeier, Jens Kastner, Elisabeth Tuider (Hg.):Neoliberalismus – Autonomie – Widerstand Soziale Bewegungen in Lateinamerika Münster: Verlag Westfälisches Dampfboot, 2004, 277 Seiten, 24,80 Euro

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des indigenen Widerstands in der ersten Hälfte der1980er besonders schwierig sind und sich aus die-sem Grund nicht einmal eine gesellschaftlich bedeu-tende linke Alternative herausbilden konnte.

Bei der �Ambivalenten Autonomie� geht es imArtikel von Olaf Kaltmeier um die Bewegungen derMapuche, einer indigenen Bevölkerung im SüdenChiles. Neben der Beschreibung ihrer Identitäts-bildung und Geschichte geht es um die Wider-sprüchlichkeit, wenn sich indigene Bewegungen aufterritoriale Einheiten beziehen. Es wird beschriebenwie die aus der Situation entstehenden Aus-einandersetzungen über den Nationalstaat hinaus-weisen. In Bernhard Leubolds Beitrag geht es umdas widersprüchliche Verhältnis der SozialenBewegungen zur PT (�Arbeiter-Partei�) inBrasilien. Es wird aufgezeigt, wie die InstitutionenTeile der Bewegungen trotz des Konzepts der parti-zipativen Demokratie konstitutiv für den �nationa-len Wettbewerbsstaat� machen können. ElisabethTuider zeichnet die Entwicklung der Frauen-bewegung in Mexiko nach: diese war im Gegensatzzu den Industriestaaten immer stärker durchUnterschichten geprägt. Die Gouvernementali-sierung im Zusammenhang mit dem Neoliberalis-mus spaltete diese in eine frauenpolitische Elite,während die indigenen und Unterschichtfrauen zuKlientinnen feministischer Programme gemachtwerden. Die gegenseitige Durchdringung vonMacht und Subjektivität schafft allerdings doch wie-der neue Orte von Widerstand.

Im letzten Abschnitt geht es um �AkteurInnendes Widerstands�. Martina Blank zeichnet dieEntwicklung des sozialen Protagonismus in

Argentinien nach den Aufständen 2001/ 2002 nach,während Dario Azzellini den bolivarianischenProzess in Venezuela als wenn auch widersprüchlicheForm einer �konstituierenden Macht� im SinneHardt / Negris analysiert, dessen Ausgang aber nochweitgehend offen ist. Simón Ramírez Voltaire zeich-net die Entstehung des neuen indigenenSelbstbewusstseins im Bolivien der letzten Jahre nachund sieht darin sowohl defensive (Antirassismus) wieauch konstruktive Elemente, nämlich die Kontureneines repräsentativ-partizipativen Demokratie-modells. Stefan Thimmel beschreibt die Schwächeder Sozialen Bewegungen in Uruguay, die u.a. mit derintegrativen Dominanz der repräsentativen Demo-kratie zu tun hat. Den Abschluss bildet ein Beitragvon Jens Kastner über den Zapatismus, indem er andiesem Beispiel aufzeigt, dass aktuelle sozialeBewegungen sich unmöglich auf einen nationalenRahmen beschränken können. Und es war gerade derZapatismus, der als erste �postfordistische Guerilla�,eine bedeutende Anstoßfunktion für eine Reihe vonBewegungen nicht nur in Lateinamerika hatte.Obwohl manche AutorInnen versuchen, ihreTheorien als wichtig für die �Bewegungsforschung�zu definieren und dabei ein bisschen akademischwerden, ist dieser Band eine geglückte Auswahl überdie Möglichkeiten und Grenzen Sozialer Bewegun-gen in Lateinamerika. Die Veränderungen durch dieVielfalt der Widerständigkeiten, Aufstände, aberauch von Linksentwicklungen, die sich von früherunterscheiden, werden plastisch dargestellt.Zugleich wird auch aufgezeigt, wie sich dieBewegungen in und gegen die neoliberaleGouvernementalität verorten.

Robert Foltin

Buchbesprechungen

1 Es ist offensichtlich, dass sich der Paradigmenwechsel in derAnalyse gesellschaftlicher Entwicklungen durch verschiede-ne Theoriekonzepte ausdrücken lässt: vom Aufgreifen derHegemonietheorie Gramscis über die ideologischenStaatsapparate Althussers und die Gouvernementalitäts-theorie (die diesen Band dominiert) bis hin zu den CulturalStudies.

Page 63: gespräch mit toni negri 16 - grundrisse jour fixe · mit Toni Negri, welches ursprünglich in der franzö-sischen Zeitschrift —Le Philosophoirefi publiziert wurde. Es folgt eine

ist das erste Graffiti- und Streetartbuch Österreichs. Es zeigt einen unverfälschtenStreifzug durch die Szene in dokumentarischer Form, wobei die Betrachterin nicht nur mit

klassischen Graffitis auf Mauern und Zügen, sondern auch mit anderen Aspekten und Modifizierungen des öffent-lichen Raumes konfrontiert wird. Weiters beinhaltet das 80 Seiten starke, vollfärbig gehaltene Buch ein Interview mitdem Grazer Künstler NEO, sowie eine Doppelseite Oldschool. Das Layout kann als angenehm reduziert beschriebenwerden, wobei besonders grosse Bilddarstellungen, die gesprühten Arbeiten mit ihrer Umgebung und der sich dar-aus ergebenden imposanten Wirkung, verdient zur Geltung bringen. Aufgrund geringer Druckauflage ist das mitwiderstandsfähiger Fadenbindung versehene Buch eine Rarität, die Hip Hop Culture mit gesellschaftskritischemGedankengut verbindet. Wien: Buchhandlung Prachner, Museumsquartier,Museumsplatz 1,1070 Buchhandlung Kuppitsch, Schottengasse 4, 1010 Graz: Buch-handlung Pock, Herrengasse 2 , 8010 Tattoostudio Stichtag, Münzgrabenstrasse 8, 8010

grundrisse_16_2005 seite_63

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Tigersprung ins Vergangene

SUBVERSIV

zu beziehen über: www.somogyi.at

88 ((22000033))Über revolutionäre Subjektivitäten [Bernhard Dorfer] #

Bewusstseinsindex oder Klassenkampf? Bemerkungen zurMethodik einer erneuerten Klassentheorie [Martin Birkner] #

Logisch oder historisch? Einführende Bemerkungen zu einerKontroverse zwischen Michael Heinrich, Hans Georg Backhausund Wolfgang Fritz Haug [Karl Reitter] # Glanz und Elend einerkritischen Theorie - Kritik des Adornismus [Meinhard Creydt] #Soziale Bewegungen in Österreich: Differenzierung der Szenen[Robert Foltin] # Zwei Fabeln von Don Durito [SubcomandanteInsurgente Marcos]

99 ((22000044))Perspektiven der gesellschaftlichen Transformation ZurDiskussion von Immanuel Wallersteins Buch "Utopistik" ~ Teil 1[Horst Müller] # Vorstellung und Diskussion von: Beverly J. Silver:"Forces of labor - Workers' Movements and Globalization since1870" [Franz Naetar] # Soziale Bewegungen in Österreich: DieAutonomen [Robert Foltin] # Der Begriff der Arbeit in den Schriftenvon Karl Marx [Thieß Petersen] # Warenform, Rechtsform,Staatsform. Paschukanis' Explikation rechts- & staatstheoreti-scher Gehalte der Marxschen Ökonomiekritik [Ingo Elbe] # DreiFabeln von Don Durito [Subcomandante Insurgente Marcos]

1100 ((22000044))Perspektiven der gesellschaftlichen Transformation ~ Teil 2: Vonder Krisen- zur Transformationstheorie [Horst Müller] # EinPopanz steht Kopf ~ Zu Postones Buch "Zeit, Arbeit und gesell-schaftliche Herrschaft" [Karl Reitter] # Soziale Bewegungen inÖsterreich: Postmoderne, Postfordismus [Robert Foltin] #

Strukturelle Diskriminierung von MigrantInnen am Arbeitsplatz[Ildikó Naetar-Bakcsi] # Fit mach mit? Theoretisch-politschePerspektiven des Regulationsansatzes - ein Rezensionsessay[Roland Atzmüller] # Zwei Fabeln von Don Durito[Subcomandante Insurgente Marcos]

1111 ((22000044))Aufhören, den Kapitalismus zu machen [John Holloway] # Nomasterplan please! Die 3. Oekonux-Konferenz in Wien [FranzNaetar] # Vom Einbau des Gegenprinzips. Alternative Sozial-politik im Kontext [Thomas Gehrig] # Kapitalismus ohneKlassenkampf? Zu Michael Heinrich: "Kritik der politischen Öko-nomie" [Karl Reitter] # Welche Klassen und welche Kämpfe?Eine Antwort auf Karl Reitters "Kapitalismus ohne Klassen-kampf?" [Michael Heinrich] # Warum Amerika es besser hat. Dieaktuelle Debatte der nordamerikanischen Linken überKonjunktur, Krise und politische Strategie [Slave Cubela] # Politikim Postfordismus? Versuch einer verbindenden Interpretationdreier kleiner Texte von Agamben, Moreau und Negri [MartinBirkner] # Durito, der Pirat [Subcomandante Insurgente Marcos]

1122 ((22000044))Von der Menge zur Polis - Quantität und Qualitäten der Menge[Alice Pechriggl] # Arbeit an der Veränderung [Roland Atzmüller]# Garantiertes Grundeinkommen jetzt! [Karl Reitter] #

"Autonomie der Migration" vs. "Imperialer Rassismus". Zur Nicht-Dialektik von Migration und Rassismus in Hardt/Negri´s Buch"Empire" [Martin Birkner] # Wissen als Wert und organisierteErfahrung [Klaus Neundlinger] # Drei Fabeln von Don Durito[Subcomandante Insurgente Marcos]

1133 ((22000055))Attac, Globalisierungskritik und "struktureller Antisemitismus"[Gerhard Hanloser] # Kriegskommunismus in Russland undChina: Gemeinsamkeiten und Unterschiede [Anton Pam] #

Grundeinkommen als Recht in einer nachkapitalistischenGesellschaft [Karl Reitter] # Chronik des fröhlichen Widerstands[Darij Zadnikar] # Ein paar Gedanken über Unverträglichkeitenzwischen ökologischem und link(sradikal)em Denken imAnschluss an die Lektüre von Saral Sakars und Bruno KernsManifest "Ökosozialismus oder Barbarei" [Bernhard Dorfer]

1144 ((22000055))"Commodification", Wertgesetz und immaterielle Arbeit [Franz

Naetar] # Multitude & Empire, oder: Negris gar nicht so heim-licher Spinozismus [Karl Reitter] # Ganz normal prekär?Feministische Aspekte zur Prekarität von Arbeits- undLebensverhältnissen [Gundula Ludwig, Birgit Mennel] # Rot-Schwarze Flitterwochen: Marx und Kropotkin für das21.Jahrhundert [Paul Pop] # Lotta Continua in Frankfurt, Türken-Terror in Köln. Migrantische Kämpfe in der Geschichte derBundesrepublik [Serhat Karakayali] # MIT NACHDRUCK: ZumBegriff der Negation in der Dialektik [Herbert Marcuse]

1155 ((22000055))Die Widerruflichkeit der Normalität. Über Prekarität undPrekarisierungen [Martin Dieckmann] # Marxsche Wert- undKrisentheorie. Ein Bericht aus dem angelsächsischenElfenbeinturm [Engelbert Stockhammer] # Immaterielle Arbeit,Subjektivität und Territorialität [Max Henninger] # Politik der ge-sellschaftlichen Arbeit. Kämpfe im Kapitalismus bei Silver, Castelund Hardt/Negri [Stephan Adolphs, Serhat Karakayali] # MITNACHDRUCK: Reading Capital Politically - Das Kapital lesen, aberpolitisch (Kapitel 5: Die Wertform) [Harry Cleaver]

der grundrisse-backkatalog. bestellen ist gut, lesen ist besser.

1 Stk. 4,- / 3 Stk. 10,- / ab 4 Stk. je 3,-Bestellungen an [email protected]

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