Gewissen – Anmerkungen zur Definition und · PDF file- Sigmund Freud, der das Gewissen...

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Gewissen – Anmerkungen zur Definition und Entfaltung

A) Definitionen Das Gewissen wird als das Gespür für das sittlich Gute und Richtige definiert. Dabei wird das Gewissen in

zweifacher Weise erfahren: warnend und ermahnend und wertend vor einer Tat, einer Aussage, zuweilen gar einer

Überlegung und nach einer Tat, wenn sich das „schlechte“ Gewissen regt, das dazu auffordert, das Fehlverhalten

wieder in Ordnung zu bringen.

Das Gewissen ist dabei kein menschliches Organ, wenngleich es vielfach mit dem „Herzen“ des Menschen (so auch

in der Antike) in Zusammenhang gebracht wird.

Weitere prägnante Definitionen für das Gewissen stammen von

- Immanuel Kant, der das Gewissen als „inneren Gerichtshof des Menschen“ versteht

- Friedrich Nietzsche, der das Gewissen als „tiefe Erkrankung“ definiert, die den Menschen hindert, sich zu seiner

wahren Größe zu entwickeln

- Carl Gustav Jung, der von einem moralischen und ethischen Gewissen spricht, wobei das moralische Gewissen

eher fremdbestimmt ist, das ethische Gewissen dagegen ein gereiftes Gewissen darstellt, das nicht nur nach (von

Eltern oder der Gesellschaft/dem Staat) vorgegebenen Normen und Gesetzen reagiert, sondern Wertvorstellungen

berücksichtigt und dabei das ethisch Richtige zu berücksichtigen sucht.

- Sigmund Freud, der das Gewissen als „Über-Ich“, der Fremdsteuerung (durch den autoritären Vater oder die

autoritäre Kirche) versteht, wobei dieses Gewissen dann wenig Raum lässt für Individualität und Personalität des

Menschen. Für ihn befreit das Gewissen nicht zum Guten, sondern schränkt das Ich (also die Persönlichkeit) ein.

Für Christen und die Kirche ist das Gewissen so etwas wie die „innere Stimme Gottes“ (also nicht sich selbst

gegeben, sondern als transzendente, dem Menschen und seinem Willen letztlich entzogene Kraft). Die Kirche geht –

nach Aussagen des II. Vatikanischen Konzils – davon aus, dass es im Menschen eine angeborene Fähigkeit gibt

(Gewissensanlage), die die Unterscheidung von Gut und Böse ermöglicht. Dabei erhebt das Gewissen den Anspruch

das Gute unbedingt zu tun und das Böse zu meiden. Diesem Anspruch zu folgen, macht die Würde des Menschen

aus. „Und das Gewissen ist der verborgendste Kern und das Heiligtum des Menschen, in dem er allein ist mit Gott,

dessen Stimme in seinem Innersten widerhallt“. (Gaudium et Spes, 16)

Das Gewissen ist allerdings nicht einfach festgelegt, sondern erfährt Entfaltung und Entwicklung. Dem Gewissen

muss der Mensch allerdings unbedingt folgen. Dem Gewissen zu folgen, bedeutet schließlich eine Erfahrung mit Gott

und dem Anspruch, das Gute und Richtige zu tun, zu machen.

Für den großen Apostel Paulus ist dabei klar, dass alle Menschen ein Gewissen haben (nicht nur gläubige Menschen)

und dass alle Menschen den Anspruch des Gewissens als unbedingt einzuhalten erfahren.

Für die Kirche gilt daraus folgend, dass im Konfliktfall das Gewissen vor der Beachtung von Normen und Gesetzen

gilt. Wenngleich das Gewissen sich in einzelnen Entscheidungen “ irren“ kann, bleibt die grundsätzliche

Unterscheidung zwischen Gut und Böse unfehlbar. So verliert auch das irrende Gewissen seine Würde nicht. In einer

Gewissensentscheidung verwirklicht der Mensch seine Freiheit und die damit verbundene Verantwortung für sein Tun

und Denken.

Viktor Frankl bezeichnet das Gewissen gar als „Heiligtum, wo der Mensch mit Gott allein ist“. So heißt es auch in der

Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ (II. Vatikanisches Konzil), dass das Gewissen „Ort der Gottesbegegnung“ und

„Heiligtum im Menschen“ sei, aber auch „Gesetz, dem der Mensch gehorchen muss“, was so viel bedeuten kann,

dass das Gewissen Ausrichtung an verinnerlichten kirchlichen Normen und Wertvorstellungen ist. Tatsächlich ist das

Gewissen ja niemals ohne Gewissensbildung und Gewissensentwicklung und damit in Auseinandersetzung mit

Normen, mit Wertvorstellungen und mit ethischen Überzeugungen geworden.

Somit wird das Gewissen nicht nur zur Bindung, zur Einschränkung menschlichen Handelns, sondern befreit den

Menschen von Fremdbestimmung (äußerer Erwartung, was „man“ tun sollte, Gruppenzwang, Manipulation von

außen, etwa durch Modevorstellungen oder dem Nachhängen, was gerade „in“ ist). Dem Gewissen folgend erfährt der

Mensch Identität, Individualität, sich selbst in seiner unverletzbaren und unverwechselbaren Würde als Person.

Nachfolgend ist der Text aus Gaudium et spes 16 zu lesen:

Die Würde des sittlichen Gewissens

16. Im Innern seines Gewissens entdeckt der Mensch ein Gesetz, das er sich nicht selbst gibt, sondern dem er

gehorchen muss und dessen Stimme ihn immer zur Liebe und zum Tun des Guten und zur Unterlassung des Bösen

anruft und, wo nötig, in den Ohren des Herzens tönt: Tu dies, meide jenes. Denn der Mensch hat ein Gesetz, das von

Gott seinem Herzen eingeschrieben ist, dem zu gehorchen eben seine Würde ist und gemäß dem er gerichtet werden

wird9. Das Gewissen ist die verborgenste Mitte und das Heiligtum im Menschen, wo er allein ist mit Gott, dessen

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Stimme in diesem seinem Innersten zu hören ist. Im Gewissen erkennt man in wunderbarer Weise jenes Gesetz, das

in der Liebe zu Gott und dem Nächsten seine Erfüllung hat. Durch die Treue zum Gewissen sind die Christen mit den

übrigen Menschen verbunden im Suchen nach der Wahrheit und zur wahrheitsgemäßen Lösung all der vielen

moralischen Probleme, die im Leben der Einzelnen wie im gesellschaftlichen Zusammenleben entstehen. Je mehr

also das rechte Gewissen sich durchsetzt, desto mehr lassen die Personen und Gruppen von der blinden Willkür ab

und suchen sich nach den objektiven Normen der Sittlichkeit zu richten. Nicht selten jedoch geschieht es, dass das

Gewissen aus unüberwindlicher Unkenntnis irrt, ohne dass es dadurch seine Würde verliert. Das kann man aber nicht

sagen, wenn der Mensch sich zu wenig darum müht, nach dem Wahren und Guten zu suchen, und das Gewissen

durch Gewöhnung an die Sünde allmählich fast blind wird.

B) Entwicklung und Entfaltung des Gewissens

Entwicklung und Entfaltung des Gewissens

- vom frühkindlichen, autoritären Gewissen bis zum autonomen, mündigen Gewissen

Das frühkindliche Gewissen ist zunächst von Angst vor Strafe und dem Streben nach Belohnung geprägt und regt

sich so, dass Strafe möglichst vermieden wird. Diese Entwicklungsstufe des Gewissens ist durchaus als „autoritäres

Gewissen“ zu bezeichnen. Später, in einer Phase des „naiven Gewissens“ werden eigene Bedürfnisse uns

Interessen möglichst erfüllt, wobei dies auch anderen zugestanden wird. Richtig ist, was in einer persönlichen

Wahrnehmung als „fair“ oder „gerecht“ (im Sinne von Gleichbehandlung) eingestuft wird („Wenn der das machen darf,

darf ich das auch...“).

Später werden äußere Autoritäten wie Eltern (auch bei Erwachsenen), Staat, Kirche oder die öffentliche Meinung bzw.

die Meinung „der Anderen“ als Regulativ für eigenes Verhalten „internalisiert“, also zum „Gewissen“ erhoben. So folgt

man ungefragt Befehlen (absolutes Gehorsamsgewissen, etwa in autoritären Regimen), handelt streng nach „law-

and-order“-Denken (Gesetzesgehorsam, das Gewissensentscheidungen erübrigt) oder will gesellschaftlichen

Vorstellungen gerecht werden und sich diesen anpassen (man will ein netter Kerl sein, als „cool“ angesehen werden,

nicht ins Gerede der Leute kommen), was vielleicht als „Erwartungs- oder Anpassungsgewissen“ bezeichnet

werden kann.

Dem gegenüber steht das autonome, humanistische oder auch mündige Gewissen. Dieses orientiert sich gewiss

auch an Normen, beachtet aber vielmehr die Werte und universalen ethischen Prinzipien, die hinter festgelegten

Normen stehen. Solche Werte sind Freiheit, Gerechtigkeit, Würde des Menschen, Friede,

Gerechtigkeit in einem erweiterten Verständnis, Wahrheit und nicht nur Wirklichkeit,

Wohlergehen der Mitmenschen, Solidarität...

Das sich so an Grundwerten orientierende Gewissen und damit „autonome Gewissen“ kann

im Einzelfall auch gegen Konventionen entscheiden, kann auch gegen vordergründig eigene

Interessen entscheiden, kann zu Taten und Entscheidungen führen, die einem selbst zum

spürbaren Nachteil gereichen (entweder Missachtung, evtl. sogar Strafen oder Verfolgung).

Beispiele hierfür sind Gewissensentscheidungen wie sie etwa von Pater Maximilian Kolbe (der

für einen Familienvater im KZ in den Hungerbunker ging) oder Franz Jägerstätter (der aus

Gewissensentscheidung den Wehrdienst im III. Reich verweigerte und dafür hingerichtet wurde) und andere mehr.

C) Ansätze der Psychologie

Die oben dargestellte Entwicklung beruht auch auf Erkenntnissen von Jean Piaget und Lawrence Kohlberg, die sich

mit den Stufen der Moralentwicklung auseinander gesetzt haben.

Dabei hat der Schweizer Psychologe Jean Piaget (1896 bis 1980) ein Grundmodell entworfen,

das von Kohlberg in weitere Stufen differenziert wurde.

Piaget nennt überblickshaft drei Moralstufen:

1) Die Stufe des einfachen moralischen Realismus. Dabei gilt, dass all das erlaubt ist, was

nicht bestraft wird und all das, was bestraft wird, verboten ist (vgl. das frühkindliche Gewissen).

2) Auf der Stufe der heteronomen, als fremdbestimmten Moral wird all das für gut angesehen,

was andere Personen vormachen und als gut erachten. Dies ist erlaubt, wogegen nicht erlaubt

ist, was andere nicht für gut heißen (vgl. die Stufe des Erwartungs- oder

Anpassungsgewissens).

3) Die Stufe der autonomen, also selbstbestimmten Moral, richtet sich dagegen nicht mehr nach Belohnung oder

Bestrafung oder nach dem, was „man“ tut, was „in“ ist, was Mode ist oder was die Peer-group vorgibt, sondern

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beurteilt das eigene oder fremde Verhalten nach moralischen Prinzipien und Leitlinien, nach denen souverän beurteilt

und evtl. sogar gehandelt wird (vgl. autonomes Gewissen).

Nach Lawrence Kohlberg (Psychologie und Erziehungswissenschaftler, 1927 bis

1987)durchläuft der Mensch in seiner moralischen Entwicklung noch weitere charakteristische

Stadien. Dabei geht er davon aus, dass der Mensch erst ab einem gewissen Alter bzw. erst

nach der dritten Stufe in seinem Modell der Moralentwicklung überhaupt fremde Interessen,

also etwa die der Gesellschaft in sein Moralverhalten integrieren kann. Die von Kohlberg

erkannten Stufen der moralischen Entwicklung hängen somit mit dem Lebensalter

zusammen, wobei eine exakte Zuordnung allerdings nicht möglich ist. Die letzte Stufe

erreichen seiner Meinung nach nur sehr wenige Menschen.

Den drei großen Phasen: der präkonventionellen, der konventionellen und der

postkonventionellen Phase oder Ebene ordnet Kohlberg jeweils zwei Stufen zu.

In der ersten Stufe in der präkonventionellen Ebene orientiert sich das Verhalten des Kleinkindes einzig an dem,

was belohnt oder bestraft wird, wodurch gutes oder schlechtes Verhalten definiert ist. In einer zweiten Stufe

(instrumentell-relativistische Orientierung) zeichnet sich eine richtige Handlung dadurch aus, dass sie eigene

Bedürfnisse befriedigt. Dabei kommen Kriterien wie Fairness, Gerechtigkeit, Beziehung zu anderen Menschen in den

Blick, werden aber noch sehr egoistisch interpretiert.

Die dritte Stufe seines Modells und damit die erste Stufe der konventionellen Ebene (auf der sich die meisten

Jugendlichen und Erwachsenen befinden) zeichnet sich dadurch aus, dass Menschen sich an personengebundener

Zustimmung orientieren. Wenn man anderen gefällt, deren Zustimmung findet, dann verhält man sich richtig. Diese

Stufe ist gekennzeichnet durch ein hohes Maß an Konformität, also Anpassung an das, was „nett“ ist. Und so will man

auch sein! Dabei geht die Entwicklung von der Orientierung am unmittelbaren Umfeld über die Orientierung an dem,

was die Gesellschaft erwartet. Diese Stufe geht über in die Stufe IV, in der man sich an Recht und Autorität, an

festgelegten Regeln und an der Erhaltung der sozialen Ordnung orientiert. Man tut seine Pflicht, respektiert

Autoritäten und setzt sich für die gegebene Ordnung ein.

Erst in der so genannten postkonventionellen Ebene werden gesellschaftliche Regeln in Frage gestellt. In der

fünften Stufe (legalistische Stufe oder Sozialvertragsorientierung) sind zumeist utilitaristische Elemente vorhanden.

Die Richtigkeit einer Handlung bemisst sich danach, was von der gesamten Gesellschaft nach allgemeinen Rechten

anerkannt wird. Andere als die eigene Sichtweise werden berücksichtigt und bewertet, eigene moralische Prinzipien

werden evtl. relativiert. Das Allgemeinwohl wird bedacht. In einer Stufe VI (Orientierung an allgemeingültigen

ethischen Prinzipien) wird moralisches Denken und Handeln und das Verständnis von Recht nach dem Kriterium der

Übereinstimmung mit selbst gewählten ethischen Prinzipien, die sich auf abstrakte ethische Forderungen („Goldene

Regel“ oder kategorischer Imperativ) stützen, geleitet. Es geht dabei um universelle Prinzipien wie Gerechtigkeit,

Gegenseitigkeit und Gleichheit der Menschenrechte und um den Respekt vor der Würde des Menschen als Person.

Nach Kohlberg geht die Entwicklung moralischen Denkens und Handelns (was nicht immer übereinstimmt) seht

strukturiert von einer Stufe in eine andere und höhere. Nur 25 Prozent der Menschen erreichen seiner Meinung nach

die Stufe V, entsprechend weniger die Stufe VI. Man könne, nach Kohlberg, die Denk- und Handelsmuster höherer

Stufen nur einsehen, wenn man selbst höchstens eine Stufe unter der liegt, deren Sinn man ergründen wollte.

Wenngleich also die Kohlberg’sche Lehre der Stufen der Moralentwicklung sehr statisch gedacht ist, gibt sie dennoch

ein angemessenes Kriterium der distanzierten Beurteilung moralischen Denkens und Handelns. Dabei bestätigt der

Alltag offensichtlich oftmals seine zuweilen etwas skeptische Beurteilung der Menschheit und deren Moralentwicklung.

Quellen (u. a.)

http://de.wikipedia.org/wiki/Lawrence_Kohlberg, 15.06.2011

II. Vatikanisches Konzil, Konzilsdokumente, Gaudium et spes

Kaiser, Johannes, Abiturtraining Kath. Religion 2, Freising 1998

G. Brutscher, Juni 2011