Goethes Werther – Eine Anleitung zum Selbs†mord? · Die Aneignung von Texten ... zum Anderen an...

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Universität Bayreuth Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft PS „Werther“ und die Folgen. Dozent: Dr. Wilhelm Haefs SS 2009 Goethes Werther – Eine Anleitung zum Selbs†mord? Christian Reinsch ............................................................................. Julian Steffen Kalt

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Universität Bayreuth Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft PS „Werther“ und die Folgen. Dozent: Dr. Wilhelm Haefs SS 2009

Goethes Werther –

Eine Anleitung zum

Selbs†mord?

Christian Reinsch ............................................................................. Julian Steffen Kalt

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Inhalt

1. Einleitung ........................................................................................................ 3

2. Hinführung zum Thema ...................................................................................... 4

3. Die Aneignung von Texten ................................................................................. 6

3.1. Theorien des Leseprozesses ....................................................................... 6

3.2. Manipulation des Rezipienten bei Goethes Werther .................................... 7

3.2.1. Die Appellstruktur .................................................................................. 7

3.2.2. Emphatische Darstellung ...................................................................... 9

3.2.3. Programmierung des Lesers ............................................................... 10

3.3. Von der Empathie zur Imitatio .................................................................... 11

3.4. Theorien der Medienwirkung ..................................................................... 13

4. Die Betrachtung des Selbstmordes .................................................................. 15

4.1. Christlich-historische Betrachtung des Suizids .......................................... 15

4.2. Symptome des Selbstmordes bei Werther ................................................. 18

5. Werther und die Folgen der Rezeption ............................................................. 19

5.1. Zeitgenössische Rezeption ........................................................................ 19

5.2. Selbstmorde nach dem Vorbild Werthers .................................................. 22

6. Fazit ................................................................................................................. 25

7. Literaturverzeichnis .......................................................................................... 27

8. Erklärung der Selbstständigkeit ........................................................................ 28

1. Einleitung „Die Leiden des jungen Werther“ - ein Klassiker deutscher Literatur, der noch

heute gerne gelesen wird? Ja, dies ist nicht zu leugnen. Ist dieses Werk aber auch

verantwortlich für eine ganze Reihe von Selbstmorden, mit denen es in

Verbindung gebracht wird, dem sogenannten „Werthereffekt“ oder ist es eventuell

sogar eine Anleitung zum Suizid?

Um diese Frage zu klären möchten wir zu Beginn dieser Arbeit untersuchen,

warum Gewalt gegen andere Menschen oder aber Gewalt gegen die eigene

Person von Unbeteiligten so oft rezipiert wird. Was sind die Gründe, sich z.B.

Gewalt im Fernsehen anzusehen und haben Medien eine so große Wirkung auf

ihre Nutzer, dass man gezeigte, geschilderte Taten nachahmt?

Im Anschluss werden wir einige Theorien des Leseprozesses vorstellen, um daran

zu zeigen, wie der Werther Text seine Leser beeinflusst, wie z.B. der Rezipienten

manipuliert wird und an ihn appelliert wird.

Das Medien eine gewisse Wirkung auf ihre Rezipienten haben, wird heute nur

noch von sehr Wenigen bestritten. Die verschiedenen Theorien, die hierzu

existieren sollen ebenfalls kurz vorgestellt werden.

Wie vollzieht sich der Prozess vom „einfachen Lesen“ hin zur Imitatiohandlung,

was passiert hierbei mit dem Rezipienten und was sind die Folgen einer zu

intensiven Lektüre?

Im Anschluss soll der Suizid an sich vorgestellt und erläutert werden und wie man

im christlichen Glauben über Selbstmörder denkt und auch damals dachte. All die

aufgeführten Besonderheiten in der Behandlung des Selbstmordes in der

Geschichte und die christliche Bedeutung sollen zu einem besseren Verständnis

führen und den Begriff „Selbstmord“ historisch kontextualisieren. So ist / war es

dem Menschen eben keinesfalls freigestellt, aus „seinem“ Leben „auszusteigen“.

Im letzten Punkt wird sich diese Arbeit damit auseinandersetzten, wie Goethes

Roman von seinen Zeitgenossen aufgenommen wurde. Hierfür werden wir einige

Rezensionen aus der Entstehungszeit des Werthers betrachten.

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Am Schluss dieser Arbeit sollen einige Selbstmorde, die mit Werther in

Verbindung gebracht werden, vorgestellt werden, bevor wir unsere Ergebnisse

zusammenfassen.

2. Hinführung zum Thema Besitzen Medien die Fähigkeit oder Möglichkeit ihre Rezipienten zu erziehen oder

stiften Medien ihre Nutzer gar zu Nachahmungstaten an? Die Darstellung von

Gewalt ist dabei immer eine strittige Frage gewesen, bei der man unsicher ist, ob

Medien Gewalt verherrlichen und ob sie zum Nachahmen anregen und wie dies

durch den Rezipienten verarbeitet wird. Das Phänomen, ob Medien gefährlich sind

oder sogar töten können ist jedoch kein neuzeitliches Problem. Es sind z.B.

Höhlenmalereien erhalten, die schaurige Lebewesen zeigen. Auch Platon hatte

sich bereits im antiken Griechenland mit dem Problem auseinandergesetzt und

gefordert, dass nur „gute“ Märchen den Kindern erzählt werden dürfen, da sie sich

sonst falsche Vorstellungen verinnerlichten1. Dass sich Menschen für das Leid

und den Schmerz Anderer interessieren ist ebenfalls bekannt. Warum sonst sahen

sich so viele Menschen die Kämpfe zwischen den Gladiatoren im Alten Rom an?

Die Darstellung von Gewalt ist also nichts Neues, sondern zieht sich durch die

Geschichte wie ein Roter Faden. Jedes neue Medium sieht sich im Zentrum der

Kritik. So wurde der für uns heute nicht mehr wegzudenkende Kinofilm während

seiner Entstehungszeit auf das schärfste verurteilt2. Schnell entstanden

Vereinigungen die sich gegen den „Schundfilm“ engagierten. Ein zu häufiger

Umgang mit dem neuen Medium Film führe zu einer innerlichen Verrohung und

Abstumpfung, nahm man an. In Breslau gab eine Raubmörderin zu Protokoll, dass

sie ihre Informationen, wie ein Mord durchzuführen sei, dem Kinofilm entnommen

habe. Solche Beispiele gibt es zur Genüge, allerdings kann man eben einen

direkten Zusammenhang zwischen Medium und der Nachahmungstat nicht direkt

beweisen. Im Folgenden werden wir versuchen einige Erklärungsversuche für das

Konsumieren von Mediengewalt zu finden. Gibt es eine ästhetische Wirkung?

Manchen Autoren zu Folge JA. Gewalt wird durch die Sinne als angenehm

empfunden und wahrgenommen. Es gibt allerdings keinerlei empirische Beweise

1 Kunczik, Michael. Zipfel, Astrid. Gewalt und Medien. Ein Studienhandbuch. Köln 2006. S. 27. 2 Ebd. S. 33.

5

für diese Theorie3. Nach Thomas Hausmanninger können Rezipienten Vergnügen

empfinden, sofern sie mit dem betreffenden Medium und dem Genre vertraut sind.

Sie lockt die sog. Funktionslust. Diese kann auf drei Ebenen basieren, nämlich der

Lust am Funktionieren des Körpers, Lust an der Gefühlsempfindung und der Lust

an intellektuellen Fähigkeiten. Dies bedeutet, dass jeder Rezipient eine andere

Lust beim Nutzen der Medien empfinden kann4. Für manchen Rezipienten ist das

Anschauen von Horrorfilmen ein aufregendes Erlebnis, welches sogar kurzzeitige

Folgen, wie Schlaflosigkeit, Albträume, nach sich ziehen kann.

Einen anderen Bezugspunkt bietet das Modell des Evolutionstheoretischen

Ansatzes. Hierbei vermutet man die anziehende Wirkung von Gewaltdarstellungen

hinter unserer Entwicklung. Gewalt hat und spielt noch immer in der Evolution eine

große Rolle, da sich das am besten angepasste Individuum durchsetzt. Betrachtet

man dies in unserem Alltag, kann man feststellen, dass Männer in der Regel

aggressiver sind als Frauen5.

Speziell bei Jugendlichen kann allerdings auch der Aspekt der

Gruppenzugehörigkeit eine entscheidende Rolle spielen und sie veranlassen,

Mediengewalt zu nutzen. Sie konsumieren diese Gewalt um innerhalb einer

Gruppe „mitreden“ zu können und um den Schritt zum Erwachsen machen zu

können. Sie müssen mit dieser Gewalt Bekanntschaft machen. Sie trägt dieser

Theorie zufolge, zur Identitätsbildung bei. Rezipienten lernen sich ihren Ängsten

und Ekeln zu stellen und mit ihnen umzugehen. Im Folgenden soll nun

herausgearbeitet werden, warum Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ eine

so große Anziehungskraft auf seine Rezipienten hatte, die soweit ging, dass einige

seiner Leser Selbstmord begingen. Auch wurde Goethes Werther in einigen

Ländern durch Zensur verboten, um Imitatiohandlungen vorzubeugen.

3 Ebd. S. 61. 4 Ebd. S. 62. 5 Ebd. S. 63.

6

3. Die Aneignung von Texten

3.1. Theorien des Leseprozesses

Zunächst muss geklärt werden, wie die Lektüre eines Textes überhaupt zustande

kommt. In Umberto Ecos Zeichentheorie wird die Lektüre stark mechanisiert. Das

Verbindungsglied zwischen Signifikant und Signifikat ist hierbei der Code.

„Der Code ist eine sprachliche Zuweisungsfunktion: Ein Zeichen repräsentiert eine

bestimmte Bedeutung aufgrund eines zugrundegelegten Codes“6

Allerdings sind Leseprozesse sehr stark von der Rezipientenseite abhängig. Der

Rezeptionsvorgang ist nicht nur bei jedem individuellen Leser unterschiedlich,

sondern sogar vom einen zum anderen Lesevorgang variabel. Besonders auffällig

kann dies wahrgenommen werden, wenn man einen Text mehrmals liest.

„Dies lehrt vor allem die Erfahrung von Relektüren. Liest man einen Text zum zweiten Mal (…), so ist man erstaunt, was man beim letzten Mal alles nicht wahrgenommen hat. Dies ist auch der Grund, weshalb es unmöglich ist, einen Text gleichzeitig ‚identifikatorisch’ und ‚kritisch’ zu lesen.“7

Entscheidend beim Leseprozess ist auch das literarische Umfeld des Lesers.

Beim Lesevorgang werden ständig Kontextelemente aufgerufen, welche die

Rezeption beeinflussen. Das können entweder Kontexte sein, die innerhalb des

Textes zu finden sind (sog. Lokalkontexte) oder Kontexte, die außerhalb des

Textes situiert sind (Globalkontexte). Außerdem kann es sein, dass ein Leser den

Text, den er liest, unmittelbar als seinen Eigenkontext ansieht.

„(…) Die Kommunikation (hat) in ihrer Evolution Konditionierungen hervorgebracht (…), welche Kontextdominanzen produzieren und so die Arbitrarität der Zuweisungen reduzieren. Ein sehr einleuchtendes Beispiel ist das der ‚Definition’ im wissenschaftlichen Text. Die Kommunikationstechnik ‚Definition’ setzt beim Leser (…) das gesamte Kontextwissen zu einem bestimmten Begriff außer Kraft und etabliert einen neuen Kontext, der das Verstehen des Begriffs im weiteren Verlauf des Textes dominiert.8

Die Lektüre eines Lesers ist zudem nicht kontrollierbar. Der Leser wird von jeder

Lektüre neu konditioniert. Das liegt zum Einen daran, dass der Leseakt nicht fest

in einem Text verankert ist, zum Anderen an der unendlichen Konditionierung des

6 Andree, Martin: Wenn Texte töten. Über Werther, Medienwirkung und Mediengewalt. München 2006. S. 27. 7 Ebd. S. 42. 8 Ebd. S. 44.

7

Lesers bei jedem Leseprozess.9 Auch verändert das Lesen seinen Zustand bei

jeder Leseoperation, wie oben bereits bei dem Beispiel der Relektüren dargestellt

wurde.

Was genau beim Rezeptionsvorgang stattfindet ist strittig, auch deshalb weil sich

die Forschung auf diesem Gebiet in einem Zuständigkeitsdebakel befindet. Zwar

fällt die Lektüre in die Literaturwissenschaft, aber es ist auch ein Teilgebiet der

Psychologie, die dieses unprägnante Themengebiet nur durch Empirie versucht zu

erforschen. Deshalb wird die Lektüre häufig so verbildlicht, dass sie in einer „Black

box“ verläuft, abgeschlossen von der Erforschbarkeit und in der Psyche des

Lesers.10

3.2. Manipulation des Rezipienten bei Goethes Werther

3.2.1. Die Appellstruktur

Goethes Werther begeisterte die Rezipienten, begünstigte emphatisches Lesen

und begründete den Wertherkult. Dieses Phänomen ist nicht nur inhaltlich zu

begründen, sondern auch durch die besondere Struktur des Briefromans. Goethe

verwendet häufig Appellative, so beginnt er sein Werk mit der Briefzeile „Wie froh

bin ich, daß ich weg bin!“11

Diese Aussage reißt den Leser regelrecht mit, er wird direkt ins Geschehen

hineingerissen. Durch diesen unvermittelten Beginn setzt Goethe beim Leser mehr

voraus, als er bekannt gibt.

„Er gibt mehr Rätsel auf, als er Antworten liefert. Er markiert, mit einem Wort, eine

Leerstelle.“12 An diesem Punkt tritt der Leser ins Spiel: Das Werk wird nun nicht

mehr nur vom Autor gebildet, sondern es bildet sich durch diese Leerstellen im

Kopf des Lesers. Der Leser befindet sich mitten im Werk, wodurch er es selber

konstruiert.

„Stehen wir dem Wahrnehmungsobjekt immer gegenüber, so sind wir im Text immer mitten drin. Daraus folgt, daß der Beziehung zwischen Text und Leser ein vom Wahrnehmungsvorgang unterschiedener Erfassungsmodus zugrunde liegt. Statt einer Subjekt-Objekt-Relation bewegt sich der Leser als perspektivischer Punkt durch seinen Gegenstandsbereich hindurch. Als

9 Vgl. Ebd. S. 47 f. 10 Vgl. Ebd. S. 111 f. 11 Goethe, Johann Wolfgang: Die Leiden des Jungen Werther. Stuttgart 1984. S. 5. 12 Dotzler, Bernhard. Werthers Leser. Über die Appellstruktur der Texte im Licht von Goethes Roman. In: MLN German Issue. Baltimore 114/1999. S. 446.

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wandernder Blickpunkt innerhalb dessen zu sein, was es aufzufassen gilt, bedingt die Eigenart der Erfassung ästhetischer Gegenständlichkeit fiktionaler Texte.“13

Bevor der Text durch den Rezipienten erfasst wird, ist er leer, die Leerstellen

müssen erst noch gefüllt werden.

Bezeichnend als „große“ Leerstellen treten auch Rätsel auf, die vom Leser gefüllt

werden müssen. Hier sei zum Beispiel die „Klopstock-Szene“ genannt:

„Sie [Lotte] stand, auf ihren Ellenbogen gestützt, ihr Blick durchdrang die Gegend, sie sah gen Himmel und auf mich [Werther], ich sah ihr Auge tränenvoll, sie legte ihre Hand auf die meinige und sagte – Klopstock! – Ich erinnerte mich sogleich der herrlichen Ode, die ihr in Gedanken lag, und versank im Strome der Empfindungen, den sie in dieser Losung über mich ausgoß.“14

In dieser Szene setzt der Autor ein intertextuelles Wissen des Lesers voraus, denn

der konkrete Titel der Ode (Die Frühlingsfeier) wird in Goethes Werk nicht

genannt.15 Das Wissen um des Titels des konkreten Werkes ist jedoch notwendig,

um die Stelle eingehender zu verstehen. Hierzu muss jedoch relativierend

angemerkt werden, dass den Rezipienten des 18. Jahrhunderts die Werke

Klopstocks geläufiger waren als uns.

Doch in Goethes Werk „Werther“ sind noch mehr Mechanismen eingebaut, um

eine Leseraktivierung zu bewirken. Die Sprache ist sehr affektiv und reißt den

Leser regelrecht mit. Durch das Fehlen der Antwortbriefe fühlt sich der Leser

außerdem durch das quasi ihn anredende „Du“ angesprochen.16

Besonders geschickt aktiviert Goethe den Leser durch die Wahl der Textsorte

Briefroman. Diese Textsorte leugnet ihre eigene Medialität und verschafft den

Eindruck von Unmittelbarkeit und Authentizität. „Werthers Briefe erscheinen als

Doppel einer ursprünglichen Herzensschrift (…)“17 Durch die tagebuchähnliche

Einteilung wird der Lesefluss unterbrochen. Wie bei einem Fortsetzungsroman

gelingt es, die Spannung von dem einen Tag zum Anderen zu erhöhen. Der Leser

13 Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München 31990. S. 177 f. 14 Goethe, Johann Wolfgang: Die Leiden des Jungen Werther. Stuttgart 1984. S. 29. 15 Vgl. Dotzler, Bernhard. Werthers Leser. Über die Appellstruktur der Texte im Licht von Goethes Roman. In: MLN German Issue. Baltimore 114/1999. S. 455. 16 Vgl. Ebd. S. 453. 17

Andree, Martin: Wenn Texte töten. Über Werther, Medienwirkung und Mediengewalt. München 2006. S. 106.

9

ist gezwungen, die kurzen Pausen zwischen den Briefen zu erdulden und sie mit

Bedeutung zu erfüllen, mehr als es bei kontinuierlicher Lektüre der Fall wäre.18

Dieses Streben nach Fortschritt wird auch Suspense genannt, da der Begriff der

Spannung durch Trivialliteratur häufig negativ konnotiert ist.

„Suspense (wird) häufig als ein Wissen-Wollen verstanden, das den Schwerpunkt

auf den Wunsch (legt), eine Informationslücke zu schließen. (…)19

Um die Schnitte zwischen den Briefen, die Anschlussstellen zu überbrücken muss

im Sinne Novalis der Leser „der erweiterte Autor seyn“20.

3.2.2. Emphatische Darstellung

Eine weitere Besonderheit des Romans ist auch die emphatische Darstellung.

Goethes „Werther“ provoziert eine emphatische Lektüre. Von dieser emphatischen

Lektüre berichten auch Zeitgenossen Goethes: Schubart schreibt in seiner

Rezension, dass er den Werther nicht nur gelesen, sondern geradezu

verschlungen habe.21 Die Speisemetapher ist das beste Indiz für eine

emphatische Lektüre. Die Sicht der Nahrung als Speise ist uralt. In der Bibel steht

z.B. in Matthäus 4,4, der Mensch lebe nicht vom Brot allein. Diese Metapher ist

auch heute noch in der Kirche allgegenwärtig. So verbindet bspw. die klösterliche

lectio die geistige und substanzielle Speise.22

Um darzustellen, was genau eine emphatische Darstellung ist, muss man

zunächst zwischen instrumentellen und emphatischen Zeichen unterscheiden.

Durch die strikte Trennung zwischen Emphase und sachlicher Nüchternheit wird

die Emphase noch verstärkt. Ein emphatisches Zeichen gibt im Gegensatz zum

instrumentellen Zeichen an, mehr zu sein, als es eigentlich ist.

„Während das emphatische Zeichen seine eigene Zeichenhaftigkeit überschreitet, dient das normale Zeichen bloß der alltäglichen Kommunikation – es ist ‚bloß’ ein Werkzeug, ein instrumentelles Zeichen.“23

18 Vgl. ebd. S. 452. 19 Junkerjürgen, Ralf: Spannung. Narrative Verfahrensweisen der Leseraktivierung. Frankfurt/Main 2002. S. 63. 20 Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Bd. 2. Stuttgart 1960–1977. S. 470. 21 Vgl. Schubart, Friedrich Daniel. In: Deutsche Chronik. 1774. 3.Vierteljahr. 72. St. 5. Dezember. S. 574-76. Zit. nach: Jäger, Georg: Die Leiden des alten und neuen Werther. Kommentare, Abbildungen, Materialen. München Wien. 1984. S. 112. 22 Vgl. Andree, Martin: Wenn Texte töten. Über Werther, Medienwirkung und Mediengewalt. München 2006. S. 48 ff. 23 Ebd. S. 62.

10

Besonders deutlich wird der Unterschied in der christlichen Kirche: Die bei der

Eucharistiefeier verwendete Hostie ist instrumentell gesehen eine Oblate aus

Weizenmehl und Wasser, in emphatischer Sichtweise jedoch der Leib Christi.24

Genau diese markanten Oppositionen sind auch in Goethes Werther zu finden.

„Der ganze Roman ist also um die Differenz zwischen ‚Intensität’ und ‚Nüchternheit’ herumgebaut, wobei man die Vertreter der ‚Sachlichkeit’ (Albert, Wilhelm) entweder kaum oder gar nicht zu Wort kommen lässt.“25

Weitere Oppositionspaare sind Herz – Verstand, Natur – Regel,

Kind – Erwachsener, originell – gewöhnlich, Genie – Philister.26

3.2.3. Programmierung des Lesers

Beim Werther wird der Leser ganz bewusst manipuliert. Es werden Sichtweisen

herausgestellt und positiv bewertet.

Besonders die emphatische Sicht der Welt und der Dinge wird als erstrebenswert

herausgestellt.

„Der Held ist das Basismodell der Emphase, sein Gegenspieler Albert ist dagegen

nüchtern und sachlich.27

Der provozierte undifferenzierte Blick des Lesers auf Werther ist das Besondere

an Goethes Werther, was auch seine herausragende Rolle – man denke an die

Wertheriaden und das Wertherfieber – in seiner Erscheinungszeit mitbegründet.

„Diese Einseitigkeit der Perspektive ist das „epochal Neue“ des Romans, das

Leser mitgerissen, aber eben auch erschreckt hat (…).“28

Auch wirkt Werther als Modellleser. Da er in seinen Briefen von seiner eigenen

Lektüre berichtet, ist es möglich, sich mit Werther zu identifizieren. So wirkt er als

Vorbild, wenig, aber dafür sehr genau zu lesen: Er selbst liest in einem Zeitraum

von 20 Monaten nur zwei Texte: Den antiken Homer und den Ossian, der in der

Zeit des Sturm und Drang äußerst populär war.

Werther zelebriert ein religiöses Rezeptionsmuster:

„Werther liest also Natur und Buch parallel: Im absoluten Text der Schöpfung kann er divinatorisch Gedanken Gottes lesen, im absoluten Text einer transzendentalen Autorstimme vernimmt er einen Schöpfer-Gott. (…) Es ist nicht zuletzt die inhaltliche Ähnlichkeit von Natur und Homer, die eine solche interaktive Lektüre von Text und Welt im Falle Werthers

24 Vgl. Ebd. S. 62 f. 25 Ebd. S. 78. 26 Vgl. Ebd. Abb. 15: Die Topik der Emphase in Goethes Werther. 27 Ebd. S. 77. 28 Ebd. S. 78.

11

wahrscheinlich macht: Lektüre wird hier fast automatisch zum ‚Erlebnis’ und überschreitet auf diese Weise die Domäne der Kommunikation.“29

Die Interaktivität der Lektüre Werthers dient wieder dem Leser als Vorbild, der

Leser lernt durch Beobachtung30: Die Grenzen des Mediums Buch zur Außenwelt

verschmelzen. Es ist keine strikte Trennung mehr zwischen Fiktion und Realität

vorhanden.

3.3. Von der Empathie zur Imitatio

Die emphatische Lektüre eines Textes ist der Ausgangspunkt auf dem Weg zur

radikalsten Form der Rezeption, der Imitatio. Gliedert man die Rezeptionsarten

nach der Intensität der Wirkung auf den Rezipienten, so findet man, dass nach der

emphatischen Lektüre der Kult folgt, der dann in der Imitatio enden kann. Jedoch

sind die Grenzen dieser Trinität fließend und nicht eindeutig abgrenzbar.

Die Entwicklung zum Kult ist ein entscheidender Schritt. Folgende drei Merkmale

definieren den Kult:

I. „Lektüren des Kults besitzen eine verstärkt transmediale Insistenz“31

Werther wurde nicht nur in seiner Originalfassung belassen. Vielmehr hat er die

Grenzen der Medialität überschritten. So wurden viele Gegenstände produziert,

um den Kult zelebrieren zu können. So gibt es Meißener Porzellan mit den

Motiven des Werther, fiktionale Orte werden auf die Realität übertragen und

gesucht, Reliquien werden zu begehrten Sammlerobjekten. Durch diese

Gegenständlichkeit lassen sich die in dem Roman erlebten Gefühle ausleben und

sorgen für deren Intensivierung.

II. „Lektüren des Kults besitzen auffällig performative Profile“32

Zu einem weiteren Merkmal des Kults zählen laute Lektüren. Der Roman wird

nicht nur im „stillen Kämmerlein“ zuhause gelesen, sondern wird durch

Lesegruppen laut vorgelesen. Dadurch wird der Text noch lebendiger, er wird

29 Ebd. S. 94. 30 Siehe hierzu auch: A. Bandura: Lernen am Modell. Stuttgart 1976. 31 Andree, Martin: Wenn Texte töten. Über Werther, Medienwirkung und Mediengewalt. München 2006. S. 138. 32 Ebd. S. 146

12

zelebriert und durch nahezu „szenische Elemente“ intensiviert. Häufig wurde sich

auch aus Elementen der Kirche beholfen, um den Werther zu zelebrieren. Solche

Inszenierungen liefen wie folgt ab:

„(1) Versammlung; (2) (laute) gemeinsame Lektüre des Werther

(3) Gemeinsames Singen von ‚Arien’ und ‚Gesängen’ aus der Tradition der Wertheriaden (4) Nächtliche Kerzenprozession zum Friedhof (…) (5) Aufstellen der Teilnehmer im Kreis um das Grab herum; (6) Gemeinsames Singen der Werther-‚Hymne’ (…) (7) Grabesrede auf den Toten (8) Streuen von Blumen auf das Grab.“33

Hieran erkennt man deutlich, wie die Grenze der Fiktion zur Realität langsam

schwindet.

III. „Kult ist ein Katalysator für intermediale Transkriptionen“34

Wenn ein Buch erst einmal den Kultstatus erreicht hat, so wird es sehr häufig in

andere Medien ‚übersetzt’. Dies hat zur Wirkung, dass das Buch dann nicht mehr

nur in seiner eigenen Form rezipiert wird, sondern auch z.B. durch die bildende

Kunst dargestellt wird. Dies eröffnet wiederum die Lesbarkeit für andere

Rezipientenkreise.

Wenn der Kult radikalisiert wird befindet man sich bei der Imitatio. „Die imitatio-

Lektüre befindet sich im Gravitationsfeld des Kults und geht doch darüber

hinaus.“35

Imitatio äußert sich z.B. durch das Tragen der Werther-Uniform oder durch die

Werther-Selbstmorde. Die Imitatio ist jedoch endgültig und ein Ausstieg ist nicht

ohne Weiteres wie beim Kult möglich.

„Der Kult ist in seiner Gegenständlichkeit zwar noch distanzloser als die emphatische Lektüre, aber immerhin gestattet er dem Rezipienten noch das Ein- und Aussteigen. Der Kult ist ein sehr gegenständliches Phantasma der Präsenz, das aber nur begrenzte Zeit vorhält: Man verspeist in der Messe

33 Ebd. S. 150 f. 34 Ebd. S. 150. 35 Ebd. S. 172.

13

den Leib Jesu, und danach geht man nach Hause. Die echte Imitatio-Lektüre geht noch einen Schritt weiter.“36

3.4. Theorien der Medienwirkung

Es gibt verschiedene Theorien über die Wirkung von Medien auf den Rezipienten,

einige dieser Theorien sollen nun näher vorgestellt werden sollen.

Die These der Wirkungslosigkeit, war in den 1960er Jahren führend37. Sie besagt,

dass Massenmedien keine Wirkung auf den Rezipienten hätten, da sie nicht

eigenverantwortlich für das Auftreten von Wirkungen sei, sie sei stattdessen nur

ein Faktor unter Vielen. Die Anhänger dieser These gingen davon aus, dass

Massenmedien eher zu einer verstärkenden Wirkung von mediatisierenden

Faktoren, selektive Wahrnehmungen oder Gruppennormen, in der Lage sind und

daher keinerlei Wirkung hätten. In den Medien vorkommende Gewalt, sei also kein

Entstehungsgrund für reale Gewalt. Sie besäße lediglich kurzzeitige Wirkungen

wie Schlaflosigkeit. Jedoch ist diese These inzwischen widerlegt, da die

Verstärkung der bereits vorhanden Einstellungen doch eine Wirkung darstellt38.

Somit gilt diese These als unhaltbar.

Die Katharsisthese, die auf den Philosophen Aristoteles zurückgeht besagt, dass

durch Ansehen eines Aktes der Gewalt die Bereitschaft weitere Gewaltakte zu

begehen sinke. Es gibt mehrere Varianten dieser These. Zum Einen, dass alle

Formen von Phantasieaggressionen kathartische Effekte auslösen können, zum

Anderen, dass das Ansehen und Nachvollziehen von Gewalt in der Fantasie die

Aggressionen in der Realität nur dann reduzierten, wenn der Rezipient selbst zur

Ausübung von Gewalt geneigt sei oder eben selbst emotional erregt sei. Jedoch

wurde auch diese These inzwischen durch eine Reihe empirischer Befunde

widerlegt39.

Die Suggestionsthese beinhaltet, dass der Rezipient durch die Beobachtung von

Gewalt zu einer Nachahmungstat veranlasst werde. Inzwischen wird auch diese

These so nicht mehr vertreten, es wird jedoch eingeräumt, dass durch Suggestion

36 Ebd. S. 174. 37 Kunczik, Michael: Gewalt und Medien. Köln 2004. S. 54. 38 Ebd. S. 54. 39 http://www.bundespruefstelle.de/bmfsfj/generator/bpjm/redaktion/PDF-Anlagen/medien-gewalt- befunde-der-forschung-sachbericht-langfassung,property=pdf,bereich=bpjm,sprache=de,rwb=true.pdf. Einsicht am 12.08.09. S. 10.

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Nachahmungstaten unter bestimmen Bedingungen erklärt werden können40. Es

gibt also bestimmte Faktoren, die einen Zusammenhang zwischen

Medienberichten und Nachahmungsfaktoren zeigen und diesen auch beeinflussen

können41. Zu diesen Faktoren gehören bspw. der Publizitätsgrad. Als Faustregel

kann man festhalten, dass je mehr über einen Selbstmordfall berichtet wird, desto

höher ist die Zahl der Nachahmungstaten. Die Zahl der Rezipienten und ihre

Eigenschaften stellen weitere wichtige Punkte dar. Je mehr Rezipienten ein

Medium erreichen kann, desto mehr Imitatiohandlungen sind im Anschluss zu

erwarten. Einige Studien haben ergeben, dass jüngere Rezipientengruppen

stärker gefährdet seien als Gruppen älterer Nutzer42. Selbstmorde, bei denen

unbeteiligte Personen zu Schaden kommen, sind ebenfalls seltener. Die

Selbstmordzahl steigt an, wenn sich das Modell und der Nachahmungstäter

ähnlich sind und die Folgen des Selbstmordes als positiv und heroisch dargestellt

werden.

Längerfristig angelegte Studien, bei denen die Annahme vorliegt, dass

regelmäßiger Konsum von Gewaltdarstellungen den Rezipienten in seinem

Wirklichkeitsverständnis beeinflusst, gehören zur Kultivierungsthese. Rezipienten,

die häufig Gewalt z.B. im Fernsehen konsumierten, könnten furchtsamer werden,

da sie eventuell die Häufigkeit von Gewalttaten überschätzen. Doch gibt es auch

an dieser These einige Kritikpunkte, die noch untersucht und ausgeräumt werden

müssen, so ist bisher der Abstumpfungseffekt noch ungeklärt. Ebenfalls sage der

Konsum von Medien an sich noch nichts über den Inhalt der konsumierten Medien

aus43. Die These der Lerntheorie soll die Auswahl der Theorien über die Wirkung

der Medien abrunden und ergänzen. Die Lerntheorie vertritt die Annahme, dass

sich das Verhalten aus einer Wechselwirkung zwischen Persönlichkeits- und

Umweltfaktoren ergebe44. Diese Faktoren müssen als Einheit gesehen werden

und dürfen nicht getrennt von einander betrachtet werden. Nach Bandura und

seiner Theorie des Beobachtungslernens geht man von der Annahme aus, dass

Menschen das Verhalten anderer Menschen beobachten, aus diesen

Beobachtungen Schlüsse ziehen und sich dadurch dieses Verhalten selbst

40 Kunczik, Michael. Zipfel, Astrid. Gewalt und Medien. Ein Studienhandbuch. Köln 2006. S. 94. 41 Ebd. S.101. 42 Kunczik, Michael. Zipfel, Astrid. Gewalt und Medien. Ein Studienhandbuch. Köln 2006. S.102. 43 http://www.bundespruefstelle.de/bmfsfj/generator/bpjm/redaktion/PDF-Anlagen/medien-gewalt-befunde-der-forschung-sachbericht-langfassung,property=pdf,bereich=bpjm,sprache=de,rwb=true.pdf. Einsicht am 12.08.09. S. 11. 44 Ebd. S. 14.

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aneignen können. Das Erlernen bestimmter Vorgehensweisen sagt allerdings

noch nichts über die Anwendung des erlernte Verhalten aus. Des weiteren geht

man davon aus, dass sich der Mensch über die Konsequenzen einer Handlung

Gedanken macht und danach entscheidet, ob er diese Konsequenzen zugunsten

der Handlung auf sich nimmt45. Das bedeutet aber auch, dass jeder Rezipient

unterschiedlich handeln kann, da jeder einen Vorgang ganz unterschiedlich

bewerten kann46.

4. Die Betrachtung des Selbstmordes

4.1. Christlich-historische Betrachtung des Suizids

Von besonderer Bedeutung ist es, wie zur Entstehungszeit des Wertherromans

Selbstmorde bewertet wurden. Ob es nun Suizid, Selbsttötung oder Selbstmord

genannt wird, so wird der Tatbestand gleichsam von der Kirche verurteilt.47 Die

Kirche stützt sich dabei grundlegend auf das fünfte Gebot: „Du sollst nicht töten“.

Dies wird weiter ausgeführt im Katechismus der Katholischen Kirche:

„Jeder ist vor Gott für sein Leben verantwortlich. Gott hat es ihm geschenkt. Gott ist und bleibt der höchste Herr des Lebens. (…) Wir sind nur Verwalter, nicht Eigentümer des Lebens, das Gott uns anvertraut hat. Wir dürfen darüber nicht verfügen.“48 „Der Selbstmord widerspricht der natürlichen Neigung des Menschen, sein Leben zu bewahren und zu erhalten. Er ist eine schwere Verfehlung gegen die rechte Eigenliebe. Selbstmord verstößt auch gegen die Nächstenliebe, denn er zerreißt zu Unrecht das Bande der Solidarität mit der Familie, der Nation und der Menschheit, denen wir immer verpflichtet sind. Der Selbstmord widerspricht zudem der Liebe zum lebendigen Gott.“49

Der Selbstmord wird dem Mord gleichgestellt50. Daher resultiert auch die Schwere

der Sünde, die mit dem Suizid einhergeht. Sie ist, wie beim Mord, eine Todsünde,

die den Selbstmörder nach dem Tod in die ewige Hölle verbannt.

„Das fünfte Gebot verwirft den direkten und willentlichen Mord als schwere

Sünde.“51

45 Ebd. 46 Ebd. 47 Vgl. Kuitert, Harry: Das falsche Urteil über Suizid. Stuttgart 1986. S. 14 ff. 48 Katechismus der Katholischen Kirche. München 2003. Nr. 2280. 49 Ebd. 2281. 50 Vgl. Lind, Vera: Selbstmord in der Frühen Neuzeit. Göttingen 1999. S. 27.

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„Die Todsünde ist (…) eine radikale Möglichkeit, die der Mensch in Freiheit wählen kann. Sie zieht den Verlust der göttlichen Tugend der Liebe und der heiligmachenden Gnade, das heißt des Standes der Gnade, nach sich. Wenn sie nicht durch Reue und göttliche Vergebung wieder gutgemacht wird, verursacht sie den Ausschluß aus dem Reiche Christi und den ewigen Tod in der Hölle, da es in der Macht unseres Willens steht, endgültige und unwiderrufliche Entscheidungen zu treffen.“52

Hieraus lässt sich auch unmittelbar, welche besondere Schwere der Schuld ein

Selbstmord nach sich zieht: Während ein Mörder (oder ein anderer „Todsünder“)

seine Tat durch Reue wieder gutmachen bzw. die Schwere mildern kann, so bleibt

einem Selbstmörder dies verwehrt.

Der theologische Diskurs über Suizid reicht ins frühe Mittelalter zurück, wo

Thomas von Aquin drei Hauptargumentationsstränge ausformulierte. Auch diese

gehen konform mit dem Inhalt des Katechismus der Katholischen Kirche:

„Erstens: Sich selbst zu töten ist ganz und gar unerlaubt, denn jedes Wesen liebe sich von Natur aus selbst und suche sich zu erhalten. Zweitens: Ein Selbstmörder füge nicht nur sich selbst, sondern auch der Gemeinschaft ein Unrecht zu, denn als Teil der Gesellschaft stehe er im Besitz des Ganzen. Als dritten Punkt führt Thomas von Aquin die Abhängigkeit des Menschen von Gott ein. Das menschliche Leben sei ein Geschenk Gottes und bleibe seiner Verfügungsgewalt unterworfen. Die eigene Tötung sei somit ein unberechtigter, sündhafter Eingriff in göttliche Machtbefugnis.“53

Da der Selbstmord also ein Verbrechen gegen die Liebe Christi bedeutet, wurden

Selbstmorde von der Kirche schwer verurteilt, denn die Verdammung in die ewige

Hölle stellt das höchstmögliche Strafmaß dar.

Jedoch nicht nur die Kirche verurteilte die Selbstmorde, sondern auch die

moralische Gesellschaft. Das resultiert zum einen aus der kirchlich-

gesellschaftlichen Verwebung, zum anderen lässt sich das auch durch die

Juristerei nachweisen. Vor dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts war es

selbstverständlich, dass der Tatbestand des Selbstmordes als Verbrechen in den

Gesetzbüchern aufgeführt war. Der Tatbestand des Selbstmordes ist in vielen

Gesetzbüchern des Mittelalters (Constitutio Criminalis Bambergenis,

Sachsenspiegel, Lübisches Recht) aufgeführt, die alle miteinander konform gehen,

dass Selbstmord mit dem Einziehen des Vermögens respektive dem Verwirken

51 Katechismus der Katholischen Kirche. München 2003. Nr. 2268. 52 Ebd. 1861. 53 Thomas von Aquin, Summa Theologica 18. Deutsch-lateinische Ausgabe. Zit. nach Lind, Vera: Selbstmord in der Frühen Neuzeit. Göttingen 1999. S. 28.

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des Erbrechts bestraft wird.54 Nach der Strafrechtsreform wird in den

Gesetzbüchern der Straftatbestand des Selbstmordes erstmals nicht mehr

aufgeführt (Herzogtümer Schleswig und Holstein 1808, Bayern 1808), da keine

sinnvolle Möglichkeit der Bestrafung mehr gesehen wird. Es würden ja doch nur

die Angehörigen bestraft.

Allerdings gibt es kirchenrechtlich keine Veränderung, auch die Zeichen nach

außen sind unverändert. Ein kirchliches Begräbnis für Selbstmörder war

undenkbar.

„Kirche und Gemeinde verwehrten dem Toten (…) ihre Ehrerbietung. (…) Dies hat den Grund im Status des Selbstmordes als Todsünde. Begräbnisfeiern und Seelenmessen können eine Hilfe für gewöhnliche Sünder sein, sind dagegen bedeutungslos für Todsünder, die „der sofortigen ewigen Verdammnis“ verfallen. Zwar hat die katholische Kirche Selbstmörder nicht exkommuniziert, sie wurden aber faktisch wie Exkommunizierte behandelt.“55

Äußere Zeichen der Schmähung von Selbstmördern waren Begräbnis und

Abtransport der Leiche. Die Leiche wurde nicht auf dem Friedhof beigesetzt,

sondern wurde entweder vom Scharfrichter auf dem Feld oder unter dem

Schindanger verscharrt. Außerdem wurde die Leiche des Selbstmörders nicht

über die Schwelle aus dem Haus getragen, sondern sie musste unter ihr hindurch

gezogen werden.56

Neben der christlichen Sicht des Selbstmordes als „Verbrechen gegen sich selbst“

etablierte sich ab ca. 1760 auch erstmals auch ein Versuch der klinischen

Beschreibung des Selbstmordes als Krankheit.

54 Vgl. Lind, Vera: Selbstmord in der Frühen Neuzeit. Göttingen 1999. S 31 ff. 55 Ebd. S. 27. 56 Vgl. Ebd. S. 33 f.

18

4.2. Symptome des Selbstmordes bei Werther

Zur Zeit der Entstehung Werthers definierte der Arzt Leopold Auenbrugger den

Selbstmord als eine „Gemütskrankheit“, die seelische und körperliche Ursachen

haben kann. Auch die Symptome für diese „Krankheit zum Tode“ werden

aufgeführt:

„Anfängliche Merkmale des Körpers seien Bläßlichkeit, eine kalte Stirn, später folge Schlaflosigkeit. Eine stille Gemütsart und Meidung von Gesellschaft seien als beginnende Zeichen von Selbstmordabsichten einzuordnen, die später in Schwermut, Gefühllosigkeit, plötzliche medizinischen Behandlung empfiehlt Auenbrugger lediglich das Trinken von frischem Brunnenwasser und ein „blasenziehendes Pflaster auf der Milzseite“, in deren Nervengeflecht er den Sitz der Krankheit vermutet. (…) Mit Selbstmordabsichten hadernde Menschen sollten durch den Besuch und die Ablenkung von Freunden, Musik, Spiele und Bewegung „aufgemuntert und in guter Laune gehalten werden“, am besten sei eine Reise“.57

Die genannten Symptome, die zu der damaligen Zeit den Selbstmord

voraussagen, werden auch im Werther verwendet. Äußerungen über das Zweifeln

des eigenen Fortbestehens gibt Werther häufig:

„Siehst Du, mit mir ist’s aus, ich trag’ es nicht länger“58

Diese Äußerung ist eine der letzten Anzeichen des Suizids, die Werther seinem

Freund Wilhelm mitteilt.

Auch die „seufzerhafte“ Sprache decken sich mit den „medizinischen“

Symptomen:

„O Lotte! heut oder nie mehr. (…) Ich will, ich muß! Oh, wie wohl ist es mir, daß ich

entschlossen bin.“59

Durch Werthers tief verwurzelte Emotionalität kann er nicht mehr aus dem Sog der

Melancholie entweichen. Diese Situation in er sich alleine befindet erfährt keinerlei

Ablenkung, die Auenbrugger als mögliche Gegenmaßnahmen benennt. Er sitzt

alleine in gesellschaftlicher Isoliertheit und erwartet regelrecht sein Ende. In

57 Ebd. S. 90 f. 58 Goethe, Johann Wolfgang: Die Leiden des Jungen Werther. Stuttgart 1984. S. 108. 59 Ebd. S. 125.

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diesem Endstadium der „Krankheit zum Tode“ erfährt Werther weder Ablenkung

durch Freunde noch einen ablenkenden Ortswechsel wie eine Reise.

5. Werther und die Folgen der Rezeption

5.1. Zeitgenössische Rezeption

Dieser Abschnitt der Arbeit befasst sich damit, wie Werther von seinen Lesern und

der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde. Die Meinungen über dieses Werk gingen

und gehen wohl noch immer weit auseinander.

Um verständlich zu machen, wie Goethes Zeitgenossen Werther empfanden und

welche Wirkung das Werk auf sie hatte, sollen nun einige Rezensionen näher

betrachtet werden.

Daniel Schubart war vom Werther begeistert. Er schrieb in einem Brief „(...) daß

[er] (…) eben die Leiden des jungen Werthers von meinem lieben Goethe –

gelesen? - Nein, verschlungen habe (...)60.

Schubart ist völlig von Werther angetan, er rät seinem Brieffreund sich dieses

Büchlein zu kaufen „(...) Kauf's Buch, und lies selbst! Nimm aber dein Herz mit!

(...)“61. Es ist anzunehmen, dass sich Daniel Schubart mit dem Werther

identifizierte, so beschreibt er Werther als lebensfrohen, symphatischen Jüngling,

der ein Genie wie Goethe sei62. Mit viel Leidenschaft gibt Schubart in seinem Brief

eine knappe Inhaltsangabe und schließt seinen Brief mit den Worten „(...) Wollte

lieber ewig arm seyn, auf Stroh liegen, Wasser trinken, und Wurzeln essen, als

einem solchen sentimentalen Schriftsteller nicht nachempfinden können(…)“63.

Karl Philipp Moritz beschreibt, dass sich seine Romanfigur, Anton Reiser, sehr mit

Werther identifizieren kann. Werther wird zum ständigen Begleiter des

Protagonisten Anton Reiser und zur dauerhaften Lektüre64. Die Figur Anton

Reiser empfand Werther alles nach, mit Ausnahme des Liebeskummers. Zu

60 Schubart, Friedrich Daniel. In: Deutsche Chronik. 1774. 3.Vierteljahr. 72. St. 5. Dezember. S. 574. Zit. nach: Jäger, Georg: Die Leiden des alten und neuen Werther. Kommentare, Abbildungen, Materialen. München Wien. 1984. S. 112. 61 Ebd. 62 Ebd. 63 Ebd. S. 113. 64Vgl. Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Ein psychologischer Roman. 4 Tle. Berlin 1785-90. Tl- 3, S. 92-98. Zit. nach: Jäger, Georg: Die Leiden des alten und neuen Werther. Kommentare, Abbildungen, Materialen. München, Wien. 1984. S. 113.

20

diesen Gefühlen musste sich Reiser zwingen, während es ihm äußerst leicht fiel

die Gefühle über die Natur mit Werther zu teilen.

Jedoch wurden Werthers Leiden nicht von Jedem begeistert und euphorisch

verschlungen und nicht Jeder konnte sich mit dem unglücklichen Werther

identifizieren. Es gab auch Kritik, wie einige Beiträge aus den Hamburger

Nachrichten deutlich zeigen. Die Abschnitte XXXV. und XXXVI. zählen Goethes

Werk zu den Beispielen des „Verderbens“ der damaligen Zeit65. Junge Menschen

würden dieses Werk verschlingen und ihm eine verdorbene Lehre entnehmen:

„(…) Folgt euren natürlichen Trieben. Verliebt euch, um das Leere eurer Seele auszufüllen(...) und wenn die Jugend dann genug von „Berufgeschäften“ hat, so kann der Selbstmord ihre Not beenden. Andere werden sich an sie erinnern und ihr Andenken ehren“66.

Goethes Werther hat, dieser Rezension folgend, einen sehr schlechten Einfluss

auf die Jugend. Durch diese Rezension wird klar, dass die Angst, dass Werther

Vorbild für eine Imitatiohandlung sein kann, gegenwärtig war.

Auch Theologen übten heftige Kritik an Goethes Werk, so heißt es in einer

anderen Rezension sinngemäß, dass viele Jünglinge in eine ähnliche Situation

wie der junge Werther geraten könnten. Werther kann solchen Jünglingen die

Überlegungen zum Selbstmord erleichtern, da es ihnen nicht möglich ist in ihrer

Leidenschaft Herr ihrer Sinne zu bleiben. Sie blenden ihren Verstand und ihre

Religion aus. Als Beispiel wird angeführt, wie Werther wütend wird, als er erfährt,

dass die Nussbäume, unter denen er mit Lotte saß, gefällt wurden67. Solchen

Taten kann man nur entgegenwirken, wenn man die Leidenschaft bändigt. Die

Verehrung, die Werther als Selbstmörder zuteil wird, kann Nachahmern das

schlechte Gewissen eines Selbstmordes nehmen anstatt es zu verstärken, darum

sei es nötig diese Schrift für die Jugend unzugänglich zu machen68.

65 Scherpe, Klaus: Werther und Wertherwirkung. Bad Homburg v.d.H., Berlin, Zürich 1970. Zit. nach: Jäger, Georg: Die Leiden des alten und neuen Werther. Kommentare, Abbildungen, Materialen. München Wien. 1984. S. 129. 66 Ebd. S. 130. 67 Ebd. S. 132. 68 Ebd. S. 133.

21

Die Rezension von Johann M. Sailer möchte jedem stürmischen Jüngling

aufzeigen, was es heißt sich selbst zu töten.

Sailer benennt den Selbstmord als „(...) Inbegrif von allem, was grauvoll heissen

kann.“69

Als ersten Punkt sieht Sailer die Undankbarkeit des Selbstmörders gegenüber

dem allmächtigen Gott. Es scheint ihm, dass der Selbstmörder die „Thaten“ des

Schöpfers satt hätte und daher aus Leben scheiden wolle70. Ebenso ist er Gott

gegenüber ungehorsam, da der Selbstmörder seinem Leben selbst ein Ende setzt,

anstatt zu warten bis Gott seinem Lebe ein Ende bereitet.

Jedoch verurteilt Johann Michael Sailer den Suizid nicht nur mit christlichen

Argumenten, sondern er bezeichnet den Suizid auch als Feigheit71. Es ist kein

heroischer Tod, das Leben zu beenden, sobald es schwierig und anstrengend zu

meistern ist. Es wäre daher ehrenvoller, dieses schwierige Leben weiterzuleben.

Weiterhin fragt er, ob es richtig sein kann, sein eigener Henker zu sein, wenn

schon bspw. das Töten des Bruders im Denken der Menschen falsch ist, da die

familiären Bande zu stark seien. Jeder Selbstmörder möge sich selbst fragen, ob

es richtig sei sich selbst mit seinem Blut zu beflecken.

Ein anderer Punkt ist die „Gefühlslosigkeit und Gleichgültigkeit“72. So schadet man

nicht nur seiner Familien, Verwandten, die in Trauer versinken, sondern verweigert

auch dem Vaterland alle Dienste. Statt sich selbst von dieser Welt zu tilgen,

könnte der Selbstmörder das Leid von Kranken, Bettlern mit Taten oder Spenden

lindern.

Sailer fasst zusammen, dass die Tat in den meisten Fällen qualvoller wäre als die

Ursachen für den Selbstmord.

Zusammenfassend muss man sagen, dass Suizid für Reiser völlig indiskutabel ist

und von ihm streng verurteilt wird.

Diese Rezensionen haben noch einmal verdeutlicht, wie unterschiedlich die

Rezeption des Werthers war. Die Begeisterung für Werther, die vor allem bei

Schubart zu spüren ist, konnte sich noch weiter steigern und schließlich sogar bis

zur Nachahmung des Selbstmordes führen. Die Befürchtungen, die u. a. von

69 Sailer, Johann Michael: Ueber den Selbstmord. Für Menschen, die nicht fühlen den Werth, ein Mensch zu seyn. München: Leutner 1785. S. 64-76, 101-05. Zit. nach: Georg, Jäger: Die Leiden des alten und neuen Werther. Kommentare, Abbildungen, Materialen. München Wien. 1984. S. 139. 70 Vgl. Ebd. 71 Vgl. Ebd. S. 140. 72 Ebd. S. 141.

22

Sailer genannt wurden, haben sich für Einzelpersonen bestätigt, die sich nach

Werthers Vorbild selbst töteten.

5.2. Selbstmorde nach dem Vorbild Werthers

Selbstmorde nach Werthers Vorbild, sind wohl die berühmtesten

Imitatiohandlungen der Medienwirkungsforschung. Nachdem bereits geklärt

wurde, wie sich ein Leser der radikalsten Form einer Rezeption, der Imitatio,

hingibt, sollen nun die bekanntesten Suizide nach Werthers Vorbild vorgestellt

werden.

Nicolai berichtet uns über womöglich ersten Fall. Ein Brief vom 17.01.1775 sagt

aus, dass sich der Rezipient, wahrscheinlich eine Frau, an dem Buch vergiftet hat.

Ihre Einbildungskraft sei zu stark gewesen. Hier finden wir wieder die

Speisemetapher. Sie soll sich an Goethes Werk, wie an einer verdorbenen Speise

vergiftet haben73.

Ein anderer Selbstmord, der sich in Kiel im Jahre 1777 ereignete sorgte für

Aufsehen, da die persönliche Geschichte des Selbstmörders an Werther erinnert.

Der junge Mann, der Karstens hieß, litt auch unter einer unglücklichen Liebe zu

einer verheirateten Frau. So hat sich Karstens, gleich Werther, erschossen. Auf

seinem Schreibtisch fand man den Werther und Karstens verfügte, dass man ihn

in seiner Kleidung unter zwei Bäume begraben soll74. Diese Informationen, die aus

einem Brief von Johann Dahlmann stammen zeigen, welch Aufsehen ein

Selbstmord nach Werthers Vorbild in der Öffentlichkeit erregte.

Der Hauptmann Gottlieb Georg Ernst von Arenswald, beendete sein Leben

ebenfalls durch einen Pistolenschuss. Er hatte durch unglückliche Begebenheiten

erst sein Vermögen verloren und später auch noch hohe Schulden gemacht.

Zudem las er gerne Romane und Dramen, die mit einen Selbstmord endeten, so

wurde er allmählich mit dem Gedanken eines Selbstmordes vertraut und schreckte

am Ende von ihm nicht mehr zurück75.

Auffallend ist, dass viele Beispiele für Selbstmorde von Frauen handeln. So soll

sich auch eine Nonne am Werther „angesteckt“ haben, die es nicht ertragen

konnte nicht lieben zu können. Sie wurde verrückt und man ließ sie zur Ader, in

73

Vgl. Andree, Martin: Wenn Texte töten. Über Werther, Medienwirkung und Mediengewalt. München 2006. S. 176. 74 Vgl. Ebd. S. 177. 75 Vgl. Ebd. S. 178.

23

einem unachtsamen Moment ihrer Wächterin löste sie die Armbinde und

verblutete. Bei sich hatte sie den Werther, der wie ein Gebetsbuch eingeschlagen

war76.

Manche Beispiele erwecken jedoch den Eindruck, dass die Lektüre des Werther

zu gerne verantwortlich gemacht und ihr die Schuld zugewiesen wird. So nach

dem Selbstmord eines Achtzehnjährigen namens Carl v. Hohenhausen. Seine

Mutter sagte aus, dass im Werther Exemplar ihres Sohnes einige Stellen

angestrichen gewesen seien. Ich glaube, dass der Artikel eines anonymen

Autoren, dessen Artikel in den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen,

vom 22.03.1783, zu dieser Sache am besten passt. Darin schreibt der Autor, dass

so viele Leser Werther rezipiert haben und durch ihn auch bewegt wurden, nur

einige Leser zum Selbstmord verleitet wurden. Diese seien ohnehin bereits zur

„Schwärmerey geneigt“ gewesen77.

Der Autor hat vollkommen recht, man muss die Reichweite dieses Buche

betrachten. Für die damalige Zeit erreichte Werther eine große Zahl an Lesern.

Die erste Auflage mit 1500 Exemplaren war schnell vergriffen, ihr folgten allein bis

Goethes Tod ca. 55 Auflagen mit rund 9000 Exemplaren, dies war für das

ausgehende 18.Jhd. enorm78. Die Reichweite des Werther war allerdings noch

größer. Da durch die Zirkulation des Werkes noch eine weitaus größere Masse an

Lesern erreicht wurde. Hatte man das Werk ausgelesen, so gab man es an

Freunde oder Verwandte weiter.

Der Fall einer jungen Frau aus München, die sich 1785 von der Frauenkirche

stürzte zog sogar ein eigenes Werk nach sich. „Die Leiden der jungen Fanni.“ die

ein Graf Nesselrode verfasste. Fanni litt ebenfalls unter einer unglücklichen Liebe

und wählte letzten Endes den Freitod. Ihre Familie erklärte, dass es sich um einen

Unfall gehandelt habe, statt um einen Selbstmord und reichte Klage gegen den

Autoren ein. Im weiteren Verlauf wurde das Werk von Nesselrode sogar gerichtlich

verboten, nachdem er eine „Richtigstellung“ veröffentlicht werden musste79.

Wie bereits weiter oben erwähnt wurde, hatte Werther eine große Verbreitung

gefunden und so scheint das ungefähre Dutzend an Selbstmord nach Werther

Vorbild als gering. Allerdings darf man auch eine gewisse Dunkelziffer an

76 Vgl. Ebd. S. 180. 77 Vgl. Ebd. S. 178. 78 Vgl. Ebd. S. 113. 79 Vgl. Ebd. S. 186.

24

Suizidtaten, über die etwa aus Rücksicht auf die Hinterbliebenen nicht berichtet

wurde, nicht ausschließen. Haben sich diese Selbstmörder als Folge der Werther

Rezeption umgebracht? Diese Frage kann nicht eindeutig beantwortet werden.

Es kann jedoch angenommen werden, dass Werther für Leser, die bereits von

Natur aus einen Hang zum Melancholischen hatten, einen gewissen Anstoß zum

Suizid gegeben haben kann. Als Bsp. soll an dieser Stelle Carl Ludwig Sand

dienen, der in seinem Tagebuch vermerkte, dass er nach dem Lesen des Werther

die Lust verspürte aus der Welt zu scheiden.

Auch David Hartmann von Lavater sehnte sich nach der wiederholten Lektüre des

Werther nach dem Tode: „ 10 mal hab' ichs verschlungen (...)“, erneuter Verweis

auf den Text als Speise, den man aufgesogen hat80.

Zusammenfassend muss man einräumen, dass Werther oder besser die Lektüre

des Selbigen unbestreitbar im Zusammenhang mit den oben beschrieben

Selbstmorden steht, aber ob er der alleinige Grund dafür war / ist. muss weiterhin

im Dunkel bleiben.

80 Ebd. S. 188.

25

6. Fazit

Ziel dieser Arbeit war es zu zeigen, wie Goethes Werk „Die Leiden des jungen

Werther“ auf seine Leser wirkte und ob er als eine Aufforderung zum Selbstmord

verstanden wurde.

Hierzu wurden zunächst einige Theorien vorgestellt, die sich damit beschäftigten,

warum Rezipienten überhaupt Gewalt konsumieren. Als Ergebnis konnte

festgehalten werden, dass verschiedene Wirkungen vorliegen, die nicht

verallgemeinert werden können und jeden Leser anderes berühren.

Hieran befasste sich diese Arbeit mit der Aneignung von Texten.

Jeder Leser decodiert einen Text und seine Lektüre ist nicht kontrollierbar. Was

ein Rezipient unter einem bestimmten Text versteht oder ihm entnimmt, findet in

der sog. „black box“ statt und kann nicht nachgewiesen werden. Wir versuchten

allerdings eine Appellstruktur in Werther nachzuweisen und so zu zeigen, wie der

Leser durch dieses Werk beeinflusst wurde und heute noch wird.

Anschließend wurde die Aufmerksamkeit der emphatischen Darstellung gewidmet.

Werther wurde teilweise von seinen Lesern verschlungen und so zu mehr als „nur“

einem Buch. Er wurde ein Gegenstand, eine Speise.

Die emphatische Lektüre ist jedoch nicht die höchste Stufe einer intensiven

Wertherrezeption, sondern nur eine Stufe der Treppe zur Imitatiohandlung.

Die verschiedenen Thesen der Wirkungsforschung zeigten, auf welche Arten ein

Leser und Rezipient beeinflusst wurde / wird. Durch ein Heranziehen

verschiedener Thesen wurde klar, dass es ebenfalls mehrere Möglichkeiten gibt,

wie und ob ein Rezipient Gewalt aus einem Medium übernimmt und anwendet. So

wurde der Werther lange für eine Zahl Selbstmorde verantwortlich gemacht. Wie

man Selbstmorde in früheren Zeiten aufnahm, wurde zunächst aus christlicher

Sicht beleuchtet. Es war/ ist dem Menschen auf das strengste untersagt seinem

Leben selbst ein Ende zu setzen. Diese Auffassungen spiegelten sich in

zeitgenössischen Rezensionen wieder, die hier ebenfalls vorgestellt wurden. Sinn

dieser Rezensionen war es zu zeigen, dass nicht alle Leser für Werther

schwärmten, sondern manche ihn als Gefahr sahen, die verboten werden müsse.

Anhand einiger „Wertherselbstmorde“ zeigten wird, dass dem Werther gerne die

Verantwortung „zugeschoben“ wurde.

26

Zusammenfassend muss man festhalten, dass dieses Werk durchaus eine

Wirkung auf den Leser hatte und noch immer hat. Goethes „Werther“ jedoch als

eine Anleitung zum gezielten Suizid zu sehen ist völlig übertrieben. Medien haben

eine gewisse Wirkung auf ihre Konsumenten, nicht umsonst investieren

Unternehmen horrende Summen in Werbung und Marketing, aber was sich in der

„black box“ des Rezipienten abspielt bleibt weiterhin noch im Unklaren.

Sind es doch meist nur „Einzeltäter“ die durch eine Nachahmungstat dem Medium

einen schlechten Ruf anhängen. Sieht man sich Werthers Reichweite an, so stellt

man fest, dass sich nur ein verschwindend geringer Anteil der Leser entschloss

eine Imitatiohandlung zu begehen. Zuweilen nicht bei jedem sog.

Wertherselbstmord ein direkter Zusammenhang nachgewiesen werden konnte.

So bleiben „Die Leiden des jungen Werther“ ein Klassiker der deutschen Literatur,

dessen Rezension nicht Jeden zum Selbstmord anleitet.

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7. Literaturverzeichnis

Andree, Martin: Wenn Texte töten. Über Werther, Medienwirkung und Mediengewalt. München 2006. http://www.bundespruefstelle.de/bmfsfj/generator/bpjm/redaktion/PDF-Anlagen/medien-gewalt-befunde-der-forschung-sachbericht-langfassung,property=pdf,bereich=bpjm,sprache=de,rwb=true.pdf Dotzler, Bernhard. Werthers Leser. Über die Appellstruktur der Texte im Licht von Goethes Roman. In: MLN German Issue. Baltimore 114/1999. Goethe, Johann Wolfgang: Die Leiden des Jungen Werther. Stuttgart 1984.

Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München 31990. Jäger, Georg: Die Leiden des alten und neuen Werther. Kommentare, Abbildungen, Materialen. München Wien. 1984. Junkerjürgen, Ralf: Spannung. Narrative Verfahrensweisen der Leseraktivierung. Frankfurt/Main 2002. Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Bd. 2. Stuttgart 1960–1977. Katechismus der Katholischen Kirche. München 2003. Nr. 2280. Kuitert, Harry: Das falsche Urteil über Suizid. Stuttgart 1986. Kunczik, Michael. Zipfel, Astrid. Gewalt und Medien. Ein Studienhandbuch. Köln 2006. Lind, Vera: Selbstmord in der Frühen Neuzeit. Göttingen 1999.

28

8. Erklärung der Selbstständigkeit Hiermit erkläre ich, dass ich die vorgelegte Seminararbeit eigenständig verfasst

und keine anderen als die im Literaturverzeichnis angegebenen Quellen,

Darstellungen und Hilfsmittel benutzt habe. Auch Quellen aus dem Internet sind

als solche angegeben und mit dem Datum des letzten Zugriffs auf die jeweilige

Seite versehen. Alle Textstellen und Gedanken, die aus fremden Werken oder

anderen Quellen direkt oder indirekt übernommen worden sind, habe ich unter

genauer Angabe der jeweiligen Quelle als Entlehnung gekennzeichnet.

Weiterhin erkläre ich, dass die vorgelegte Arbeit weder von mir noch – soweit mir

bekannt ist – von einer anderen Person an dieser oder einer anderen Hochschule

als Seminararbeit eingereicht wurde.

Darüber hinaus ist mir bekannt, dass die Unrichtigkeit dieser Erklärung eine

Benotung der Arbeit mit der Note „ungenügend“ zur Folge hat und dass

Verletzungen des Urheberrechts strafrechtlich verfolgt werden können.

Bayreuth, den 21.09.2009 ____________________________ Julian Kalt ___________________________ Christian Reinsch Anzahl der Wörter: 7626