Gustav Mahler Sinfonie Nr. 1 D-Dur (Der Titan) · 2019-12-21 · 1 Gustav Mahler Sinfonie Nr. 1...
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Gustav Mahler
Sinfonie Nr. 1 D-Dur (Der Titan)
Empfohlen ab Klasse 8
Erstellt von Eva Hirtler (2016)
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Gustav Mahler Sinfonie Nr. 1 D-Dur (Der Titan)
Do 13.02./Fr 14.02.2020, 20 Uhr 19 Uhr Konzerteinführung Freitag Live-Übertragung in SWR2 und Live-Videostream, anschließend als Video auf SWRclassic.de
Stuttgart, Liederhalle So 16.02.2020, 19 Uhr 18 Uhr Konzerteinführung Freiburg, Konzerthaus
Außerdem im Konzert: Richard Strauss: Tod und Verklärung op. 24
SWR Symphonieorchester Teodor Currentzis, Dirigent
Empfohlen ab Klasse 8
Erstellt von Eva Hirtler
------------------------------------------------------------------------------------------- Tickets, Kurzinfo, Programmheft (eine Woche vor dem Konzert online) unter: https://www.swr.de/swrclassic/symphonieorchester/SWR-Symphonieorchester-Stuttgart,veranstaltung-750.html Ins Gespräch kommen Auf Wunsch können für Schulklassen Gespräche mit Orchestermitgliedern vor oder nach dem Konzert vermittelt werden. Dauer ca. 30 Minuten. Anmeldung unter [email protected].
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Inhalt
Übersicht zum Leben Gustav Mahlers und der Entstehung der Ersten Symphonie . 3
Ergänzende Texte zur Biographie Gustav Mahlers und der Entstehung der Ersten
Symphonie ........................................................................................................... 6
Gustav Mahler, Erste Symphonie ........................................................................ 12
1. Satz Langsam. Schleppend. Wie ein Naturlaut .................................................. 12
2. Satz Kräftig bewegt, doch nicht zu schnell ......................................................... 13
3. Satz Feierlich und gemessen, ohne zu schleppen .............................................. 13
4. Satz Stürmisch bewegt ....................................................................................... 14
Die verschiedenen Fassungen des Programms der Ersten Symphonie ................. 15
Mahlers Haltung zu Programmen in der Musik in zwei Briefen vom März 1896 ... 16
Der Musikkritiker Eduard Hanslick über das Fehlen von Erklärungen zur Ersten
Symphonie ......................................................................................................... 17
Aussagen Mahlers über die Erste Symphonie nach den Erinnerungen von Natalie
Bauer-Lechner ................................................................................................... 18
Methoden des Einstiegs ..................................................................................... 20
Das Sinfonieorchester in der Wiener Klassik und der Spätromantik ....................... 23
Arbeitsblatt 1 – Erkennen der Motive .................................................................... 24
Arbeitsblatt 2 – Motiv- und Themenübersicht ...................................................... 25
Klassenspielsätze ............................................................................................... 26
Klassenspielsatz zum 2. Satz ................................................................................... 26
Klassenmusiziersatz zum 3. Satz ............................................................................ 27
Materialinformation und verwendete Literatur .................................................. 28
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Übersicht zum Leben Gustav Mahlers und der Entstehung der Ersten Symphonie
7. Juli 1860 Gustav Mahler wird in Kalischt, einem Dorf im böhmisch-
mährischen Grenzgebiet, geboren. Sein Vater, Bernhard Mahler,
ist ein jüdischer Spirituosenhändler, der sich aus ärmlichen
Verhältnissen hocharbeitete, seine Mutter, die Tochter eines
Seifensieders, die lieber einen anderen geheiratet hätte, führt mit
ihm eine unglückliche Ehe.
Herbst 1860 ff Die Eltern siedeln über in die nahegelegene Stadt Iglau, wo teils
böhmisch-mährisch, teils deutsch gesprochen wird. Dort ist eine
Garnison stationiert, deren häufig zu hörende Militärmusik
Gustav Mahler musikalisch stark prägt. (Text 1a, 1b und 1c).
Im Alter von sechs Jahren erhält er den ersten Klavierunterricht.
1870 Im Alter von 10 Jahren tritt Gustav Mahler erstmals in einem
öffentlichen Konzert auf.
1875 Im Alter von 15 Jahren beginnt er in Wien am Konservatorium ein
Musikstudium. Daneben setzt er sein Gymnasialstudium fort.
Erste Kompositionen entstehen.
1883 – 1885 Mahler arbeitet als Musik- und Chordirektor am Königlichen
Theater in Kassel. Er komponiert die Lieder eines fahrenden
Gesellen, in denen er die unglückliche Liebesbeziehung zu der
Sängerin Johanne Richter verarbeitet. (Text 2a und 2b)
Möglicherweise beginnt er auch erste Vorarbeiten zur Ersten
Symphonie.
1885 – 1886 Mahler arbeitet als Kapellmeister am Deutschen Theater in Prag
August 1886 – 1888
Mahler ist Zweiter Kapellmeister am Stadttheater Leipzig. Er
verkehrt häufig im Haus des Enkels des Komponisten Carl Maria
von Weber und verliebt sich in dessen Ehefrau, Marion von
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Weber, die seine Gefühle wohl zumindest vorübergehend
erwidert.
Frühjahr 1888
Innerhalb von sechs Wochen vollendet Mahler seine Erste
Symphonie. Für ihre Entstehung spielt die genannte
Liebesbeziehung eine wichtige Rolle, ohne sie jedoch inhaltlich zu
bestimmen. Mahler arbeitet Zitate aus den Liedern eines
fahrenden Gesellen ein. (Text 3a, 3b und 3c)
Herbst 1888 - 1891 Mahler ist Künstlerischer Leiter der Königlich-Ungarischen Oper.
(Text 4)
20. November 1889 Uraufführung der Ersten Symphonie in Budapest als
„Symphonische Dichtung in zwei Abteilungen“. Obwohl der Titel
„Symphonische Dichtung“ ein außermusikalisches Programm
erwarten lässt, beschränkt Mahler sich auf Satzangaben. Beim
Publikum stößt das Werk auf Unverständnis. (Text 5)
1891 - 1897 Mahler ist als Erster Kapellmeister am Stadttheater Hamburg
tätig. Er arbeitet die Erste Symphonie um. Ab dem Sommer 1893
verbringt er die Sommermonate in Steinbach am Attersee. Diese
Zeit, in der er keine Verpflichtungen als Dirigent hat, nutzt er
intensiv zum Komponieren.
1893 Aufführung der überarbeiteten und mit einem Programm
versehenen Ersten Symphonie in Hamburg.
1896 Für die Aufführung in Berlin nimmt Mahler den ursprünglichen
zweiten Satz heraus und lässt das Programm weg.
1899 Für die Drucklegung übernimmt Mahler die nochmals leicht
überarbeitete viersätzige Fassung.
1897 Mahler konvertiert zum Katholizismus, unerlässliche
Voraussetzung für eine Berufung an die Wiener Hofoper, die er
seit längerem anstrebt. Am 8. April wird Mahler zunächst zum
Kapellmeister an der Wiener Hofoper ernannt, aber bald wird er
auch Direktor der Hofoper anstelle seines erkrankten Vorgängers.
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Er bleibt dort zehneinhalb Jahre und führt die Wiener Hofoper zu
einer außergewöhnlichen Blüte. Dies erreicht er durch
ungeheuren Arbeitseinsatz und Disziplin, die er auch den
Musikern abverlangt (Text 6a, 6b). Er erfährt internationale
Anerkennung, ist aber aufgrund eines weitverbreiteten
Antisemitismus auch immer wieder antisemitischer Hetze
ausgesetzt.
18. November 1900 Mahler führt die Erste Symphonie in Wien auf. Die Reaktionen im
Publikum sind kontrovers. (Text 7)
1907 Nachdem feindselige Pressekampagnen gegen ihn zunehmen,
beschließt er, Wien zu verlassen. Er erhält einen Vertrag an der
Metropolitan Opera New York. Die günstigen Bedingungen dieses
Vertrages erlauben ihm zahlreiche Gastdirigate in ganz Europa
und intensives Komponieren.
In diesem Jahr wird auch eine Herzerkrankung bei ihm
diagnostiziert, die ihn zwingt, sich mehr zu schonen.
1911 Mahler erkrankt an einer – damals lebensgefährlichen –
Streptokokken-Infektion. Er schifft sich, bereits sehr geschwächt,
nach Europa ein und stirbt am 18. Mai in Wien.
Er komponierte – neben zahlreichen Liedern – insgesamt neun
Symphonien (die Zehnte Symphonie blieb unvollendet).
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Ergänzende Texte zur Biografie Gustav Mahlers und der Entstehung der Ersten
Symphonie
Text 1a
Militärmusik
„Die Geschichte der österreichischen Militärmusik geht auf eine Anordnung von Kaiserin
Maria Theresia aus dem Jahre 1741 zurück, worin sie verfügte, dass jedes Regiment für
Truppenparaden seine eigene Kapelle haben sollte. Diese Kapellen wurden nicht nur für
offizielle Anlässe, zum Beispiel bei der Wachablöse, eingesetzt, sondern gaben auch
öffentliche Konzerte, die bis heute einen wichtigen Teil des öffentlichen Lebens der
Garnisonen bilden. Die Musiker dienten im Gefecht als Sanitäter und hatten einen
besonderen Status.“ (Quelle: Wikipedia).
Die Anziehung, die von den musikalischen Umzügen der Soldaten ausging, wird deutlich im
Text eines um die Jahrhundertwende beliebten Volksliedes: „Wenns die Soldaten durch die
Stadt marschieren, öffnens die Mädchen Fenster und die Türen. Ei, warum? Ei, darum! Ei
warum? Ei, darum! Ei, bloß wegn dem Schingderassa, Bumderassa, Schingdara! Ei, bloß
wegn dem Schingderassa, Bumderassasa!“ (zit. nach Der Zupfgeigenhansel, Leipzig10 1913, S.
193/194).
Text 1b
Mahlers Erinnerung an die Militärparaden
„Eines Tages, ich war noch nicht 4 Jahre alt, trug sich eine komische Geschichte zu: Die
Militärmusik – mein Entzücken die ganze Kindheit hindurch – marschierte morgens an
unserem Hause vorbei. Ich dies hören und aus der Stube entwischen, war eins. Mit kaum
mehr als dem Hemdl bekleidet – man hatte mich noch nicht angezogen – lief ich mit meiner
Harmonika hinter den Soldaten drein, bis mich, erst eine geraume Weile später, ein paar
Nachbarsfrauen auf dem Markte aufgriffen. Sie versprachen, mich, dem es mittlerweile doch
ängstlich geworden war, nur unter der Bedingung heimzubringen, wenn ich auf meiner
Harmonika ihnen vorspielen wollte, was die Soldaten gespielt hatten. Das tat ich denn auch
gleich, auf einen Obststand gesetzt, zum Ergötzen der Marktweiber, Köchinnen und anderen
Straßenpublikums.“
zit. nach Blaukopf, Herta: Gustav Mahler. Leben und Werk in Zeugnissen der Zeit. Stuttgart
1993, S. 19
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Text 1c
Mahlers musikalische Kindheitseindrücke
„Seine Phantasie wurde angeregt durch die sagenumwobene Waldlandschaft und das
muntere Treiben der Garnison, deren Signale symbolische Bedeutung bei ihm gewannen.
Morgen- und Abendappell, Rufe und Exerziermotive setzten sich bei ihm in Klangbilder um,
die sich in der Gestalt des alten deutschen Landsknechtes verdichteten. Sie tauchen in
lebendiger Erfrischung immer wieder auf, auch <…> im ersten und dritten Satz der dritten
<…> Symphonie usw. Daraus erklärte sich auch Mahlers Vorliebe für Marschrhythmen aller
Art, die sich in seinen Werken immer wieder finden <…>.“ (Guido Adler, zit. nach Blaukopf,
Kurt: Mahler. Sein Leben, sein Werk und seine Welt in zeitgenössischen Bildern und Texten,
S. 147, Wien 1976)
Text 2a
Mahler über die Lieder eines fahrenden Gesellen
„Ich habe einen Zyklus Lieder geschrieben, <…>, die alle ihr gewidmet sind. Sie kennt sie
nicht. Was können sie ihr anderes sagen, als was sie weiß. Das Schlusslied will ich
mitschicken, obwohl die dürftigen Worte nicht einmal einen kleinen Teil geben können. –
Die Lieder sind so zusammengedacht, als ob ein fahrender Gesell, der ein Schicksal gehabt,
nun in die Welt hinauszieht, und so vor sich hinwandert.“ (zit. nach Krebs, Dieter: Gustav
Mahlers Erste Symphonie, S. 10, München u.a. 1997)
Text 2b
Der Topos des fahrenden Gesellen und sein Bezug zu Mahler
„Die Figur des fahrenden Gesellen bzw. des Wanderers ist seit den großen Liederzyklen
Franz Schuberts (Die schöne Müllerin, Winterreise) als Inbegriff von Heimatlosigkeit und
Fremdheit ein romantischer Topos par excellence. Mahler, der sich – wahrscheinlich mit
Blick auf sein eigenes unruhiges Wanderleben als Theaterkapellmeister – in einem Brief
…selbst als ‚fahrenden Gesellen‘ bezeichnet hat, kann als Repräsentant einer in diesem Sinne
‚romantischen‘ Weltanschauung gelten. <…> Die Figur des fahrenden Gesellen als Inbegriff
von Heimatlosigkeit und unablässigen Unterwegsseins realisiert sich musikalisch in der oft
schon konstatierten Vorliebe Mahlers für Schreit- und Marschthemen. Gerade die Erste
Symphonie ist reich an solchen musikalischen Charakteren: Der erste Satz, geprägt von der
Thematik des Gesellen-Liedes Ging heut‘ morgens übers Feld, beschwört die Vorstellung des
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Wanderns herauf <…>, der dritte Satz realisiert die Konzeption eines grotesken
Trauermarsches, und auch das Hauptthema des Finalsatzes, nach Mahlers
Vortragsanweisung ‚energisch‘ (Takt 55ff.) zu spielen, trägt deutlich marschartige Züge.“
(Krebs, a.a.O. S. 11)
Text 3a
Biographischer Bezug der Ersten Symphonie
„Wenn ich mir eine Bemerkung erlauben darf, so ist es die, dass ich es betont wissen
möchte, dass die Symphonie über die Liebesaffaire hinaus ansetzt; sie liegt ihr zugrunde –
resp. sie ging im Empfindungsleben des Schaffenden voraus. Aber das äußere Erlebnis wurde
zum Anlass und nicht zum Inhalt des Werkes.“ (Gustav Mahler, zit. nach Krebs, a.a.O. S. 10)
Text 3b und 3c
Berichte über die Komposition der Ersten Symphonie
„Mahler machte die ganze Symphonie in Leipzig binnen sechs Wochen neben
fortwährendem Dirigieren und Einstudieren; er arbeitete vom Aufstehen bis 10 Uhr
vormittags und die Abende, wenn er frei war. Dazwischen – in einem herrlichen März und
April – ging er fleißig im Rosental spazieren. Wie geschenkt kamen ihm die Ferien durch den
Tod Kaiser Wilhelms: zehn Tage, die er aufs intensivste benutzte. ‚Was aber mehr war als
alles‘ erzählte mir Mahler einmal über jene Zeit: <…> ‚Als ich den ersten Satz fertig hatte – es
war gegen Mitternacht -, lief ich zu Webers und spielte ihn beiden vor, wobei sie, zur
Ergänzung des ersten Flageolett-A, mir oben und unten auf dem Klavier aushelfen mussten.
Wir waren alle drei so begeistert und selig, dass ich eine schönere Stunde an meiner Ersten
nicht erlebt habe. Dann ergingen wir uns noch lange beglückt im Rosental.“ (Natalie Bauer-
Lechner, zit. nach Blaukopf, Herta und Kurt: Gustav Mahler, S. 71/72, Stuttgart 1993)
„Mein lieber Fritz!
So! Mein Werk ist fertig! Jetzt möchte ich dich neben meinem Klavier haben und es Dir
vorspielen! <…> Es ist so übermächtig geworden – wie es aus mir wie ein Bergstrom
herausfuhr! Heuer im Sommer sollst du hören! Wie mit einem Schlag sind alle Schleußen in
mir geöffnet! Wie das gekommen ist, erzähle ich Dir vielleicht einmal!“ (Gustav Mahler an
Friedrich Löhr, zit. nach Gustav Mahler: Briefe, hg. Herta Blaukopf S. 70, Wien u.a. 1982)
9
Text 4
Gesellschaftlicher Hintergrund zur Entstehungszeit der Ersten Symphonie
„1889. Der 31-jährige österreichische Thronfolger, Erzherzog Rudolf, erschießt auf seinem
Jagdschloss Mayerling erst seine Geliebte, Mary Vetsera, und dann sich selbst. 1889, das
Jahr, in dem im Paris der ersten Automobilausstellung und der sensationellen
Weltausstellung mit ihrem dreihundert Meter hohen neuen Wahrzeichen, dem Eiffelturm,
die sozialdemokratische ‚Zweite Internationale‘ gegründet wird und in Österreich sich die
sozialdemokratische Partei konstituiert <…>
Der deutsche Kaiser spielt Weltmacht mit Marschmusik und Schiffskanonen. Der
österreichische Kaiser spielt spanische Hofetikette mit Johann Strauß. Die Dekadenz tanzt
Wiener Walzer und bringt sich um. Kein Tag, an dem nicht einer aus der Donau gefischt wird.
Belle Époque.“ (Konjetzky, Klaus: Literarisches Staccato mit Gustav Mahler, in: Gustav
Mahlers Symphonien. Entstehung – Deutung – Wirkung, hg. Renate Ulm, Kassel 2001, S. 12).
Text 5
Bericht Mahlers über die Uraufführung
„Im Allgemeinen sagte Mahler noch über seine Erste Symphonie: ‚Sie ist noch am
unbekümmertsten und kecksten geschrieben. Ich meinte naiv, die sei kindleicht für Spieler
und Hörer und werde gleich so gefallen, dass ich von den Tantiemen werde leben und
komponieren können. Wie groß war meine Überraschung und Enttäuschung, als es ganz
anders kam! In Pest, wo ich sie zuerst aufführte, wichen mir darnach die Freunde scheu aus;
keiner wagte, mit mir über die Aufführung und mein Werk zu sprechen, und ich ging wie ein
Kranker oder Geächteter umher. Wie aber erst die Kritiken aussahen, kannst du dir unter
solchen Umständen wohl denken.‘“ (Killian, Herbert: Gustav Mahler in den Erinnerungen von
Natalie Bauer-Lechner, Hamburg 1984, S. 176)
Text 6a
Karl Kraus über den Beginn von Mahlers Dirigententätigkeit an der Wiener Hofoper:
„Mit Siegfriedsallüren ist in das Opernhaus dieser Tage ein neuer Dirigent eingezogen, dem
man es vom Gesicht ablesen kann, dass er mit der alten Misswirtschaft energisch aufräumen
wird. Herr Mahler dirigierte zum ersten Male ‚Lohengrin‘ und hatte einen von allen Blättern
einstimmig anerkannten Erfolg. Es geht ein Gerücht, dass man ihn bald auf den
Direktionsstuhl setzen wird. Dann wird das Repertoire unserer Hofoper wohl nicht mehr
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ausschließlich aus ‚Cavalleria rusticana‘ bestehen, heimische Komponisten werden ihre
Manuskripte nicht mehr ungelesen zurückbekommen (sondern gelesen), und verdiente
Sängerinnen nicht mehr grundlos vor die Tür gesetzt werden. Der neue Dirigent soll bereits
so effektive Proben seiner Tatkraft abgelegt haben, dass schon fleißig gegen ihn intrigiert
wird.“ (Breslauer Zeitung vom 16. Mai 1897, zit. nach Danuser, Hermann: Gustav Mahler und
seine Zeit, Laaber 1991, S. 29).
Text 6b
Anekdoten der Wiener Philharmoniker über Gustav Mahler
„Wieder einmal war die Probenzeit längst überschritten, und Mahler dachte nicht daran,
Schluss zu machen. Die Stimmung im Orchester glich der Atmosphäre in einem überhitzten
Dampfkessel.
Als Mahler die bereits unzählige Male geprobte Stelle noch einmal von vorne forderte,
platzte das Ventil. Ein altgedientes Orchestermitglied erhob sich und stellte den Direktor
gereizt zur Rede: ‚Herr Direktor, ich sitze jetzt schon fast vierzig Jahre im Orchester und habe
viele Direktoren überlebt, aber keiner hat solche Mammutproben von uns verlangt wie Sie.
Wo soll ich denn die Zeit für meine vielen Privatlektionen hernehmen?‘ Mahler fixierte den
erregten Sprecher durch seine funkelnden Brillengläser und meinte dann beinahe sanft: ‚Ja,
ja mein Lieber, sehe ich ein. Aber trösten Sie sich, Sie werden in Kürze Gelegenheit haben,
Ihr pädagogisches Talent voll und ganz zur Entfaltung zu bringen.‘“ (Witeschnik, Alexander:
Musizieren geht über Probieren, München 1970, S. 45/46).
Text 7
Bericht von Natalie Bauer-Lechner über die Aufführung der Ersten Symphonie am 18.
November 1900 in Wien
„Vom ersten Augenblick an, da Mahlers schwirrendes Flageolett-A den Saal erfüllte, war das
Publikum unruhig, gelangweilt, erschreckt, hustete und räusperte sich, ja lachte vor
Befremden und Nichtverstehen, kurz man wusste nicht, wie einem geschah. Am ärgsten war
es im Parterre des Saales und in den Logen, wo das erbgesessene ‚feine‘ Wiener Publikum
zum Teil mehr aus Mode- als musikalischen Gründen den Konzerten beiwohnte. Auf den
Galerien und besonders im Stehparterre war, wie immer, das bessere Auditorium, das um
der Sache selbst willen kommt: Studenten, Konservatoristen und Musiker und hör- und
lernbegierige Mädels, bei denen Wille und Hingabe zu folgen, nicht schon vor dem Hören der
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Wunsch zu richten und zu verdammen vorhanden ist. Hier fand sich auch ein namhafter Teil,
dem Mahlers Werk Entzücken und Begeisterung einflößte, die durch den Widerspruch der
andern zur hellen Flamme wurde, so dass es zu den wütenden Ausbrüchen des Für und
Wider kam und beide Parteien fast tätlich über einander herfielen.
Schon nach dem ersten Satz mischte sich in den Applaus Zischen. Nach dem zweiten, der für
die Leute verständlicher war, ertönte ungeteilter Beifall. Aber gar nicht zu fassen wusste sich
die Hörerschaft beim ‚Bruder Martin‘-Satz, wo sie geradezu hörbar lachten. Da nach dem
dritten Satz keine Pause ist, dies allein verhütete, glaube ich, eine Massenflucht vor den
‚Schrecken‘ des letzten Satzes, welcher gleichwohl nach dem vorigen Satz, der sie vor
Verwunderung und Entsetzen ganz aus dem Häuschen gebracht hatte, fast beruhigend auf
die Gemüter wirkte. Dennoch brach nach dem Schluss der größte Tumult los, in dem die
Klatscher und Zischer sich gegenseitig ausdauern zu wollen schienen. Mahler, bei dem ein
Zeichen des Widerspruchs sonst genügt hätte, den Taktstock hinzuwerfen und sich nicht
mehr blicken zu lassen, kam doch wieder und wieder heraus, den Applaus denen, die sich so
stürmisch für ihn einsetzten, zu danken.“ (Killian a.a.O. S. 177)
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Gustav Mahler, Erste Symphonie
Formale Übersicht über die einzelnen Sätze
(Die Ausführungen zum 1. Satz fußen auf der ausführlicheren Analyse und Beschreibung von
Dieter Krebs1, die zu musikalischen Elementen auch semantische Bezüge herstellt. Wörtliche
Übernahmen sind durch Anführungszeichen gekennzeichnet)
1. Satz Langsam. Schleppend. Wie ein Naturlaut
Der Ablauf orientiert sich in groben Zügen an der Sonatenhauptsatzform.
T. 1 – 62 Einleitung
„Naturlaute-Musik (Exposition wichtiger motivischer Keimzellen)
- fallende Quart
- Quartensequenzmotiv
- Fanfaren (Weckrufe)
- Kuckucksruf
- Hörnergesang
- chromatisches Bassmotiv
‚Erwachen der Natur‘“
(zu den Motiven mit Ausnahme des chromatischen Bassmotivs siehe das beiliegende
Blatt S. 25)
T. 63 – 162 Exposition
Liedthema („Ging heut‘ morgens übers Feld“ aus den Liedern eines fahrenden Gesellen),
„Tirilimotiv“
„In die zuvor unbeseelte Natur tritt der Mensch als Wanderer ein“
T. 163 – 357 Durchführung
Motive der Einleitung und der Exposition werden weiterverarbeitet, dazwischen (T. 209 –
220) erscheint ein „fanfarenartiges Hornthema“ als „visionäre Antizipation des
Durchbruchsthemas (= T. 358 ff.)“.
Der Übergang zur Reprise wird als „Zuspitzungs- und Steigerungspartie (Antizipation eines
f-Moll-Komplexes aus dem Finale…)“ zu einem mit Fanfaren eingeleiteten Durchbruch
gestaltet („Idee der Transzendenz“).
1 Krebs, Dieter: Gustav Mahlers Erste Symphonie. Form und Gehalt, München u.a. 1997, S. 45 ff.
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T. 358 – 450 Reprise
T. 437 – 450 Coda
Quartenmotiv, „Mein Held schlägt eine Lache auf und läuft davon.“ (Mahler, zit. nach Bauer-
Lechner a.a.O. S. 173).
2. Satz Kräftig bewegt, doch nicht zu schnell
Der Satz folgt der traditionellen Form A – B (Trio) - A‘.
„Den zweiten Satz bildet ein derber Ländler, welcher Elemente österreichischer Volksmusik
aufgreift. <…> Er beginnt mit dem Urmotiv der fallenden Quarte in der Begleitung der tiefen
Streicher. Das Ländlerthema nimmt hingegen Elemente des Hauptthemas aus dem ersten
Satz auf. Das Trio bietet im Kontrast zum Ländler lyrisches Material. Es beginnt mit einem
Hornmotiv, woraufhin sich eine schwärmerische Ländlermelodie in den Streichern
entwickelt. Diese wird im zweiten Teil des Trios von einem kantablen Walzer der Celli
abgelöst. Der Satz schließt mit einer Wiederholung des Ländlers, in knapperer Form und
etwas größerer Orchestrierung.“ (Wikipedia: Gustav Mahler, Erste Symphonie)
3. Satz Feierlich und gemessen, ohne zu schleppen
Teil A
Hauptmelodie „Bruder Jakob“ (von Mahler „Bruder Martin“ genannt) in d-Moll
Teil B
Ziffer 5: „ungarisch-slawische“ Volksliedmelodie
Ziffer 6: „vulgär und zirkusartig ordinär instrumentierte Melodie“2
Teil C
Ziffer 10: lyrische Episode mit Schlussabschnitt des Liedes Nr.4 aus den Liedern eines
fahrenden Gesellen
Teil A‘ Hauptmelodie „Bruder Jakob“ abgewandelt
2 Redlich, Hans F. im Vorwort zu Eulenburg Tp. S. XVI
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4. Satz Stürmisch bewegt
(Die Ausführungen zum 4. Satz folgen wieder Dieter Krebs a.a.O.)
Der Ablauf orientiert sich grob an der Sonatenhauptsatzform
T. 1-237 Exposition
Einleitung, „Infernomotive“, danach
Hauptthemenkomplex
Überleitung
Seitensatz
T. 238-427 Durchführung
„Reminiszenz an die langsame Einleitung des Kopfsatzes“
Verarbeitung verschiedener Motive
„Antizipation der Anfangstakte der Apotheosemusik“
Verarbeitung verschiedener Motive
„Apotheose (Siegesfanfare, Choralthema)“
T. 428 -731 Reprise
„Rückblick auf die langsame Einleitung des 1. Satzes“
Reprise des Seitensatzthemas
„Reprise des marschartigen Hauptthemas“
„Steigerungspartie und Durchbruch“
„Apotheose“
T. 696-731 Coda
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Die verschiedenen Fassungen des Programms der Ersten Symphonie
(zitiert nach Krebs a.a.O. S. 12 – 14)
1889: I. Abteilung: 1. Einleitung und Allegro comodo
2. Andante
3. Scherzo
II. Abteilung: 4. A la pompes funèbres; attaca
5. Molto appassionato.
1893: “Titan, eine Tondichtung in Symphonieform”
1. Theil
„Aus den Tagen der Jugend“, Blumen-, Frucht – und Dornstücke.
I. „Frühling und kein Ende“ (Einleitung und Allegro comodo).
Die Einleitung stellt das Erwachen der Natur aus langem Winterschlafe dar.
II. „Blumine“ (Andante).
III. „Mit vollen Segeln“ (Scherzo).
2. Theil
„Comedia humana“
IV. „Gestrandet!“ (ein Todtenmarsch in „Callot’s Manier“).
Zur Erklärung dieses Satzes diene Folgendes: Die äussere Anregung zu diesem Musikstück
erhielt der Autor durch das in Oesterreich allen Kindern wohlbekannte parodistische Bild:
„Des Jägers Leichenbegängniss“, aus einem alten Kindermärchenbuch: Die Thiere des
Waldes geleiten den Sarg des gestorbenen Jägers zu Grabe; Hasen tragen das Fähnlein,
voran eine Capelle von böhmischen Musikanten, begleitet von musicirenden Katzen, Unken,
Krähen etc., und Hirsche, Rehe, Füchse und andere vierbeinige und gefiederte Thiere des
Waldes geleiten in possirlichen Stellungen des Zug. An dieser Stelle ist dieses Stück als
Ausdruck einer bald ironisch lustigen, bald unheimlich brütenden Stimmung gedacht, auf
welche dann sogleich
V. „Dall‘ Inferno“ (Allegro furioso)
folgt, als der plötzliche Ausbruch der Verzweiflung eines im Tiefsten verwundeten Herzens.
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1896: Symphonie in D-Dur für großes Orchester
1. Satz: Langsam, schleppend
2. Satz: Kräftig bewegt
3. Satz: Feierlich und gemessen, ohne zu schleppen
4. Satz: Stürmisch bewegt
Mahlers Haltung zu Programmen in der Musik in zwei Briefen vom März 1896
„Mit dem Titel (‚Titan‘) und dem Programm hat es seine Richtigkeit; d.h. seinerzeit bewogen
mich meine Freunde, um das Verständnis der D-Dur zu erleichtern, eine Art Programm
hierzu zu liefern. Ich hatte also nachträglich mir diese Titel und Erklärungen ausgesonnen.
Dass ich sie diesmal wegließ, hat nicht nur darin seinen Grund, dass ich sie dadurch für
durchaus nicht erschöpfend – ja nicht einmal zutreffend charakterisiert glaube, sondern, weil
ich es erlebt habe, auf welch falsche Wege hiedurch das Publikum geriet. So ist es aber mit
jedem Programm! Glauben Sie mir es, auch die Beethovenschen Symphonie<n> haben ihr
inneres Programm, und mit der genaueren Bekanntschaft mit einem solchen Werk wächst
auch das Verständnis für den Ideen-richtigen Empfindungsgang. So wird es endlich auch bei
meinen Werken sein. -
Beim 3. Satz (Marcia funebre) verhält es sich allerdings so, dass ich die äußere Anregung
dazu durch das bekannte Kinderbild erhielt („Des Jägers Leichenbegängnis“3). – An dieser
Stelle ist es aber irrelevant, was dargestellt wird – es kommt nur auf die Stimmung an,
welche zum Ausdruck gebracht werden soll, und aus der dann jäh, wie der Blitz aus der
dunklen Wolke, der 4. Satz springt. Es ist einfach der Aufschrei eines im Tiefsten
verwundeten Herzens, dem eben die unheimlich und ironisch brütende Schwüle des
Trauermarsches vorhergeht.“ (Gustav Mahler: Briefe, hg. Herta Blaukopf, Wien 1982, S. 147).
„Ich weiß für mich, dass ich, solang ich mein Erlebnis in Worten zusammenfassen kann,
gewiss keine Musik hierüber machen würde. Mein Bedürfnis, mich musikalisch-symphonisch
auszusprechen, beginnt erst da, wo die dunkeln Empfindungen walten, an der Pforte, die in
die ‚andereWelt‘ hineinführt; die Welt, in der die Dinge nicht mehr durch Zeit und Ort
auseinanderfallen. -
Ebenso, wie ich es als Plattheit empfinde, zu einem Programm Musik zu erfinden, so sehe ich
3 Vergl. Die Abbildung im Artikel „1._Sinfonie_(Mahler) bei wikipedia
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es als unbefriedigend und unfruchtbar an, zu einem Musikwerk ein Programm geben zu
wollen. Daran ändert die Tatsache nichts, dass die Veranlassung zu einem musikalischen
Gebilde gewiss ein Erlebnis des Autors ist, also ein Tatsächliches, welches doch immerhin
konkret genug wäre, um in Worte gekleidet werden zu können. <…> nachdem ich (unter
wahrhaften Geburtsschmerzen) einige Symphonien geschrieben habe – und immer und ewig
auf dieselben Missverständnisse und Fragen gestoßen bin, habe <ich> nun endlich – für
meine Person – diese Ansicht der Dinge gewonnen.-
Gut ist es deshalb immerhin, wenn für die erste Zeit, als meine Art noch befremdet, der
Zuhörer einige Wegtafeln und Meilenzeiger auf die Reise miterhält – oder sagen wir: eine
Sternkarte, um den Nachthimmel mit seinen leuchtenden Welten zu erfassen. – Aber mehr
kann so eine Darlegung nicht bieten.“ (a.a.O. S. 149/150)
Der Musikkritiker Eduard Hanslick über das Fehlen von Erklärungen
zur Ersten Symphonie
„Im Allgemeinen sind dergleichen poetische Gebrauchsanweisungen theils lästig, theils
verdächtig. Unsere symphonischen Meister von Haydn und Mozart bis auf Brahms und
Dvořák nehmen uns ohne solches Entrée-Billet in ihren Himmel auf. Schwerlich hätte auch
Mahler’s Symphonie uns mehr erfreut mit einem Programm, als ohne solches. Aber
gleichgiltig war es uns nicht, zu erfahren, was ein geistreicher Mann wie Mahler sich bei
jedem dieser Sätze vorgestellt und wie er ihren uns räthselhaften Zusammenhang erklärt
hätte. Und so fehlte uns doch ein Führer, der in diesem Dunkel den rechten Weg weisen
könnte. Was hat dieses plötzlich einbrechende Weltuntergangs-Finale zu bedeuten, was der
Trauermarsch mit dem alten Studentencanon ‚Bruder Martin‘, was die mit ‚Parodie’
bezeichnete Unterbrechung desselben? Die Musik selbst hätte mit einem Programm an Reiz
weder gewonnen noch verloren, gewiß, aber die Absichten des Componisten wären uns
deutlicher und damit das Werk verständlicher geworden.“ (Neue Freie Presse, Eduard
Hanslick, vom 20. November 1900, S. 7f., zit. nach Ulm, Renate, a.a.O. S. 70).
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Aussagen Mahlers über die Erste Symphonie nach den Erinnerungen
von Natalie Bauer-Lechner
<Zum ersten Satz>
„Im ersten Satz reißt uns eine dionysische, noch durch nichts gebrochene und getrübte
Jubelstimmung mit sich fort. Mit dem ersten Ton, dem langausgehaltenen Flageolett-A, sind
wir mitten in der Natur: im Walde, wo das Sonnenlicht des sommerlichen Tages durch die
Zweige zittert und flimmert. ‚Den Schluss dieses Satzes‘, sagte Mahler, ‚werden mir die Hörer
gewiss nicht auffassen; er wird abfallen, während ich ihn leicht wirksamer hätte gestalten
können. Mein Held schlägt eine Lache auf und läuft davon. Das Thema, welches die Pauke
zuletzt hat, findet gewiss keiner heraus! – Im zweiten Satz treibt sich der Jüngling schon
kräftiger, derber und lebenstüchtiger in der Welt herum.‘
<Zum zweiten Satz>
Der wunderbare Tanzrhythmus des Trios ist besonders zu beachten, ‚denn vom Tanz geht
alle Musik aus‘, wie Mahler einmal sagte. <…>
<Zum dritten Satz>
Als Dritter der „Bruder Martin“-Satz4, der am meisten missverstanden und geschmäht
wurde. Mahler sprach neulich davon: ‚Jetzt hat er (mein Held) schon ein Haar in der Suppe
gefunden und die Mahlzeit ist ihm verdorben.‘ Auch sagte er, schon als Kind sei ihm der
„Bruder Martin“ nicht heiter, wie er immer gesungen wurde, sondern tief tragisch
erschienen, und er hörte schon das heraus, was sich ihm später daraus entwickelte. –
Übrigens fiel ihm beim Komponieren zuerst der zweite Teil dieses Satzes ein und erst
darnach, als er den Anfang dazu suchte, tönte ihm fortwährend der Kanon ‚Bruder Martin‘
im Ohr über dem Orgelpunkt, den er brauchte, bis er, keck entschlossen, ihn ergriff.
Äußerlich mag man sich den Vorgang hier etwa so vorstellen: An unserem Helden zieht ein
Leichenbegängnis vorbei und das ganze Elend, der ganze Jammer der Welt mit ihren
schneidenden Kontrasten und der grässlichen Ironie fasst ihn an. Den Trauermarsch des
„Bruder Martin“ hat man sich von einer ganz schlechten Musikkapelle, wie sie solchen
Leichenbegängnissen zu folgen pflegen, dumpf abgespielt zu denken. Dazwischen tönt die
ganze Rohheit, Lustigkeit und Banalität der Welt in den Klängen irgend einer sich
dreinmischenden ‚böhmischen Musikantenkapelle‘ hinein, zugleich die furchtbar
4 Besser bekannt als „Frère Jaques“-Kanon
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schmerzliche Klage des Helden. Es wirkt erschütternd in seiner scharfen Ironie und
rücksichtslosen Polyphonie, besonders wo wir – nach dem Zwischensatz – den Zug vom
Begräbnis zurückkommen und die Leichenmusik die übliche (hier durch Mark und Bein
gehende) ‚lustige Weise‘ anstimmt.
<Zum vierten Satz>
Mit einem entsetzlichen Aufschrei beginnt, ohne Unterbrechung an den vorigen
anschließend, der letzte Satz, in dem wir nun unseren Heros völlig preisgeben, mit allem Leid
dieser Welt im furchtbarsten Kampfe sehen. ‚Immer wieder bekommt er – und das sieghafte
Motiv mit ihm – eins auf den Kopf vom Schicksal‘, wenn er sich darüber zu erheben und
seiner Herr zu werden scheint, und erst im Tode – da er sich selbst besiegt hat und der
wundervolle Anklang an seine Jugend mit dem Thema des ersten Satzes wieder auftaucht –
erringt er den Sieg. (Herrlicher Siegeschoral!).“ (Killian, Herbert: Gustav Mahler in den
Erinnerungen von Natalie Bauer-Lechner, S. 173-175, Hamburg 1984, Hinweise auf die
einzelnen Sätze E.H.)
<Zur Instrumentation und ihrer Wirkung>
„Ich sagte Mahler, welche unglaubliche Klangwirkung jedesmal der erste und besonders der
‚Bruder Martin‘-Satz auf mich übe. ‚Das muss er auch‘, entgegnete Mahler; ‚es liegt in der
Art, wie ich die Instrumente verwende, die im ersten Satz ganz hinter einem Strahlenmeer
von Tönen verschwinden – wie der Leuchtkörper hinter dem Glanz, der von ihm ausgeht,
unsichtbar wird. Im dritten Satz sind die Instrumente wieder auf andere Weise verkappt und
gehen wie in fremder Erscheinung um: alles soll dumpf und stumpf klingen, wie Schatten an
uns vorüberziehen. Dass in dem Kanon der neue Einsatz immer deutlich, in der Klangfarbe
überraschend – gewissermaßen auf sich aufmerksam machend – eintrete, hat mir bei der
Instrumentation viel Kopfzerbrechen gemacht, bis ich es so zum Ausdruck brachte, wie es
heute auf dich jene seltsame, befremdend-unheimliche Wirkung ausübt. Und es ist, glaube
ich, in der Tat noch niemandem eingefallen, wie ich es erreiche. Wenn ich einen leisen,
verhaltenen Ton hervorbringen will, lasse ich ihn nicht ein Instrument spielen, das ihn leicht
hergibt, sondern lege ihn in jenes, welches ihn nur mit Anstrengung und gezwungen, ja oft
mit Überanstrengung und Überschreitung seiner natürlichen Grenzen zu geben vermag. So
müssen mir Bässe und Fagott oft in den höchsten Tönen quieken, die Flöte tief unten
pusten.‘ <…>
Über das Entstehen des Flageoletts im ersten Satz erzählte mir Mahler: ‚Als ich in Pest das A
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in allen Lagen hörte, klang es mir viel zu materiell für das Schimmern und Flimmern der Luft,
das mir vorschwebte. Da fiel mir ein, allen Streichern Flageolett zu geben (den Geigern zu
höchst bis zu den Bässen zu tiefst, die ja auch Flageoletts besitzen): nun hatte ich es, wie ich
es wollte.‘ ( Killian a.a.O. S. 175 – 176)
Methoden des Einstiegs
Gustav Mahlers Leben
Die Einführung in das Leben Gustav Mahlers kann so gestaltet werden, dass die ganze Klasse
die tabellarische Übersicht erhält und die ergänzenden Texte auf verschiedene Gruppen
verteilt werden, die diese erarbeiten und dann dem Plenum über den Inhalt berichten.
Ergänzend können Abbildungen von www.austria-
forum.org/af/Bilder_und_Videos/Historische_Bilder_IMAGNO/Mahler%2C_Gustav ,
darunter die berühmte Karikatur über die Erste Symphonie, hinzugezogen werden.
Die Erste Symphonie
Da außermusikalische Bezüge den einzelnen Sätzen zugrunde liegen, ist es sinnvoll (auch
wenn Mahler das Programm in der letzten Fassung gestrichen hat), den Einstieg zumindest
teilweise über assoziative Zugänge zum Werk zu gestalten.
1. Satz
a) Die Klasse wird informiert, dass der Komponist dem Satz ein Programm zugrunde gelegt
hat und erhält die Aufgabe, beim Anhören des ersten Teils (bis kurz nach dem Einsatz des
Liedthemas) zu überlegen, was der Komponist möglicherweise darstellen wollte.
b) Alternativ kann die Aufgabe konkreter in der folgenden Weise gestellt werden:
‚Stelle dir vor, du möchtest im Kino einen Film anschauen, hast aber keine Eintrittskarte
mehr bekommen. Von außen hörst du die Musik und überlegst, was für eine Szene drinnen
abläuft. Schreibe deine Höreindrücke auf.‘
Danach werden die Eindrücke der Klasse mit dem Programm Mahlers, seinen allgemeinen
und Eduard Hanslicks Äußerungen zu musikalischen Programmen (siehe „Die verschiedenen
Fassungen …“ S. 14) sowie den Schilderungen Natalie Bauer-Lechners (siehe „Aussagen
Mahlers über die Erste Symphonie … S.17) verglichen.
c) Als weitere Alternative kann der Einstieg über den Vergleich mit Edvard Griegs ungefähr
zur gleichen Zeit entstandenen „Morgenstimmung“ aus der „Peer-Gynt-Suite“ erfolgen. Die
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Klasse erhält die Information, dass zwei Kompositionen verglichen werden sollen, die beide
ein Stimmungsbild der Natur am Morgen geben wollen. Die Klasse hört jeweils einen Teil
beider Kompositionen und schreibt ihre Eindrücke auf.
Auf die Einstimmung mit einer der Methoden kann eine analytische Arbeitsphase folgen. Die
Klasse erhält das Arbeitsblatt „Motivhören“ (S.24) mit der Aufgabe, beim erneuten Anhören
festzustellen, in welcher Reihenfolge die Motive erklingen. Bei entsprechendem
Kenntnisstand der Klasse können anschließend mit dem Arbeitsblatt „Motivübersicht“ (S. 25)
die satzübergreifenden Motivbeziehungen und die zentrale Rolle der Quarte erarbeitet
werden.
2. Satz
Als Einstieg bietet sich das gemeinsame Musizieren des Klassenmusiziersatzes (S. 26) an.
Erarbeitung:
Die unterste Stimme sollte von möglichst tiefen Instrumenten übernommen werden. Wenn
der Wechsel zwischen dem Rhythmus des ersten und zweiten Taktes Probleme macht, kann
auch durchgängig ausschließlich der erste oder der zweite Takt gespielt werden. Die mittlere
Stimme ist gut auch von ungeübten Spielern auf Glockenspielen oder hohen Klangstäben zu
spielen, für die oberste Stimme sind fortgeschrittene Spieler eines Melodieinstrumentes
oder Klaviers nötig.
Anschließend wird der ganze Satz oder der erste Teil angehört.
3. Satz
In Abwandlung der Methode des Standbildes kommt der Kanon zu Beginn des 3. Satzes
durch die zahlreichen sukzessiven Stimmeinsätze für eine Choreographie in Frage. Etwa die
Hälfte der Klasse bildet „agierende“ Gruppen von etwa vier bis fünf Schüler(innen), die
andere Hälfte der Klasse wird zu Beobachtern. Die ganze Klasse erhält die Aufgabe, während
ungefähr die ersten 30 Takte vorgespielt werden, zu überlegen und zu notieren, welche
Mimik, Gestik und Bewegungen dazu passen. Nach dem Anhören der Tonaufnahme (siehe
Materialinformation) besprechen sich die agierenden wie die beobachtenden Gruppen unter
einander. Danach wird die Musik wiederholt und die agierenden Gruppen führen ihre
Darstellung vor. Die Beobachter erklären, was sie bei den Vorführungen gelungen fanden.
Anschließend erfahren die Schüler(innen) entweder Mahlers Programm (siehe S. 14) oder sie
bilden gemeinsam eine Choreographie aus den gelungensten Elementen der vorgeführten
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Darstellungen. Dabei beginnt eine Gruppe, passend zur Musik, den Raum entlang der Wände
zu durchschreiten. Sobald die zweite Kanonstimme einsetzt, kommt eine zweite Gruppe
hinzu, entweder in gleicher Richtung oder entgegengesetzt. Jeweils im Abstand von zwei
Takten stoßen weitere Gruppen hinzu. Sobald sie den Raum einmal umkreist haben, stellen
sie sich in der Mitte auf und warten, bis alle fertig sind. Dann werden Mahlers Programm
und die auf S. 17 erwähnten Reaktionen des Publikums besprochen.
Wenn dies zu zeitaufwendig erscheint, kann der Zugang auch so erfolgen, dass der erste Teil
des Satzes angehört wird und die Schüler(innen) ihre Assoziationen dazu aufschreiben. Dann
werden die Ergebnisse mit Mahlers Programm (siehe S. 14) und den Reaktionen des
Publikums (siehe S. 17) verglichen.
Erarbeitung des Klassenmusiziersatzes:
Um dem Ablauf des Kanons bei Mahler mit seinem allmählichen Anwachsen und Abnehmen
der Stimmenanzahl möglichst nahe zu kommen, wird die Klasse in so viele Gruppen
eingeteilt, wie sichere Spieler vorhanden sind, die eine Stimme führen können.
Möglicher Ablauf: Die Pauken bzw. Klangstäbe geben das Tempo zwei Takte lang vor, danach
spielen alle gemeinsam einmal den Kanon durch, dann setzen die Gruppen mit der Melodie
des Kanons nacheinander im Abstand von zwei Takten ein. Jeder Gruppe spielt den Kanon
zweimal durch und hört dann auf. Dazu kann fakultativ von der Lehrkraft die angegebene
zusätzliche Stimme gespielt werden.
Zuletzt kann eventuell noch ein größerer Teil des Satzes angehört werden.
4. Satz
Um die ungeheure Dramatik des Satzbeginns erfahrbar zu machen, ist die Methode des
Standbilds geeignet. Dafür bilden die Schüler/innen Gruppen von fünf bis sechs Personen
und die Gruppen verteilen sich im Raum (in einer großen Klasse kann die eine Hälfte
Standbilder darstellen, die andere Hälfte beobachtet und interpretiert die Standbilder der
anderen). Sie hören den Anfang (ungefähr die ersten 19 Takte) an und überlegen in der
Gruppe, wie der Charakter der Musik durch Haltung, Mimik und Gruppierung als Standbild
dargestellt werden kann. Dann hören sie den Musikausschnitt nochmals und bilden dazu ihr
Standbild mit den Gesichtern zur Raummitte (damit alle Gruppen sich gegenseitig sehen
können). Sie vergleichen die verschiedenen Standbilder und besprechen Gemeinsamkeiten
und Unterschiede.
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Alternativ kann die Aufgabe gestellt werden, Assoziationen zum Hörbeispiel des Satzanfangs
aufzuschreiben. Sie werden dann verglichen mit Mahlers Programm (siehe S. 14 und S. 17).
Das Sinfonieorchester in der Wiener Klassik und der Spätromantik
In W. A. Mozarts Symphonie C-Dur, K.V. 551 (Jupitersinfonie), findet sich folgende Besetzung
des Sinfonieorchesters:
1 Flöte, 2 Oboen, 3 Klarinetten in B, 2 Fagotte, 2 Hörner, 2 Trompeten, 2 Pauken, Violine I,
Violine II, Viola, Violoncello, Kontrabass.
Für seine Erste Symphonie schreibt Gustav Mahler folgende Besetzung vor:
2 Piccoloflöten; 2 Flöten; 4 Oboen (3. Oboe auch Englischhorn); 3 Klarinetten in C (3. auch
Bassklarinette); Klarinette in Es; 3 Fagotte (3. Auch Kontrafagott), 7 Hörner, 5 Trompeten; 4
Posaunen; Basstuba; 2Pauken; Triangel; Becken; Tamtam; große Trommel; Harfe; Violine I,
Violine II, Viola, Violoncello, Kontrabass.
Aufgaben: Ordne die Instrumente den jeweiligen Instrumentengruppen (Holzbläser,
Blechbläser, Schlaginstrumente, Streichinstrumente) zu. In welchen Instrumentengruppen
finden sich bei Mahler große Änderungen im Vergleich zu Mozart?
Bei Wikipedia findest du unter dem Stichwort „Sinfonieorchester“ ein Schema, das die
übliche Orchesteraufstellung zeigt. Überlege, wo die bei Mahler genannten Instrumente
ihren Platz haben.
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Arbeitsblatt 1 – Erkennen der Motive
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Arbeitsblatt 2 – Motiv- und Themenübersicht
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Klassenspielsätze
Klassenspielsatz zum 2. Satz
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Klassenmusiziersatz zum 3. Satz
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Materialinformation und verwendete Literatur
Folgende Materialien werden benötigt:
Partitur:
Gustav Mahler, Symphony No. 1 (hg. Hans F. Redlich), TP Eulenburg No. 570 , oder
www.imslp.org/wiki/Symphony_No.1_(Mahler,_Gustav)
Eine Tonaufnahme; außer etlichen CDs sind mehrere Konzertmitschnitte auf YouTube
verfügbar.
Verwendete Literatur:
Blaukopf, Herta und Kurt (Hg.): Gustav Mahler. Leben und Werk in Zeugnissen der Zeit,
Stuttgart 1993
Blaukopf, Kurt (Hg.): Mahler. Sein Leben, sein Werk und seine Welt in zeitgenössischen
Bildern und Texten, Wien 1976
Killian, Herbert: Gustav Mahler in den Erinnerungen von Natalie Bauer-Lechner , Hamburg
1984
Krebs, Dieter: Gustav Mahlers Erste Symphonie. Form und Gehalt, München u.a. 1997
Mahler, Gustav: Briefe. Neuausgabe erweitert und revidiert von Herta Blaukopf, Wien u.a.
1982
Ulm, Renate (Hg.): Gustav Mahlers Symphonien. Entstehung – Deutung – Wirkung. Kassel
2001
Internet: https://de.wikipedia.org/wiki/1._Sinfonie_(Mahler)
www.austria-
forum.org/af/Bilder_und_Videos/Historische_Bilder_IMAGNO/Mahler%2C_Gustav
Wikipedia: Artikel „Militärmusik“