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Gustav Meyrink

Orchideen

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Gustav MeyrinkOrchideen

Seltsame GeschichtenAlbert Langen Verlag München, 8.-10. Tsd. o.J.

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Dem Maler Arthur Ratzka

in Ber lin

gewid met.

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Die schwarze Kugel

Anfangs sagen haft — gerüch te weise — ohne

Zusam men hang drang aus Asien die Nach richt

in die Zen tren west li cher Kul tur, daß in

Sikkhim — süd lich vom Hima laja — von ganz

unge bil de ten, halb bar ba ri schen Büßern — soge -

nann ten Gosains — eine gera dezu fabel hafte

Erfin dung gemacht wor den sei.

Die anglo-indi schen Zei tun gen mel de ten zwar

auch das Gerücht, schie nen aber schlech ter als

die rus si schen infor miert, und Ken ner der Ver -

hält nisse staun ten hier über nicht, da bekannt -

lich Sikkhim allem, was eng lisch ist, mit

Abscheu aus dem Wege geht. —

Das war wohl auch der Grund, wes halb die

rät sel hafte Erfin dung auf dem Umwege Peters -

burg—Ber lin nach Europa drang. —

Die gelehr ten Kreise Ber lins waren fast vom

Veit stanz ergrif fen, als ihnen die Phä no mene vor -

ge führt wur den. —

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Der große Saal, der sonst nur wis sen schaft li -

chen Vor trä gen diente, war dicht gefüllt. —

In der Mitte, auf einem Podium, stan den die

bei den indi schen Exper imen ta to ren, — der

Gosain Deb Schum scher Dschung, das ein ge fal -

lene Gesicht mit hei li ger wei ßer Asche bestri -

chen, und der dun kel häu tige Brah mane Rad -

schen dra la la mitra, — als sol cher durch die

dünne Baum woll schnur kennt lich, die ihm über

die linke Brust hälfte hing. —

An Dräh ten von der Saal dec ke herab waren in

Manns höhe glä serne, che mi sche Koch kol ben

befe stigt, in denen sich Spu ren eines weiß li chen

Pul vers befan den. — Leicht explo dier bare

Stoffe, — ver mut lich Jodide, wie der Dol metsch

angab.

Unter laut lo ser Stille des Audi to ri ums näherte

sich der Gosain einem sol chen Koch kol ben,

band eine dünne Gold kette um den Hals des

Gla ses und knüpfte die Enden dem Brah ma nen

um die Schlä fen. — Dann trat er hin ter ihn,

erhob beide Arme und mur melte die Man -

trams — Beschwö rungs for meln — sei ner

Sekte. —

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Die bei den aske ti schen Gestal ten stan den wie

Sta tuen — mit jener Regungs lo sig keit, die man

nur an ari schen Asia ten sieht, wenn sie sich

ihren reli giö sen Medi ta tio nen hin ge ben. —

Die schwar zen Augen des Brah ma nen starr -

ten auf den Kol ben. Die Menge war wie

gebannt. —

Viele muß ten die Lider schlie ßen oder weg se -

hen, um nicht ohn mäch tig zu wer den. — Der

Anblick sol cher ver stei ner ter Gestal ten wirkt

wie hyp no ti sie rend, und man cher fragte flü -

sternd sei nen Neben mann, ob es ihm nicht auch

scheine, als ob das Gesicht des Brah ma nen

manch mal wie in Nebel getaucht sei. —

Die ser Ein druck wurde jedoch nur durch den

Anblick des hei li gen Tilak zei chens auf der dunk -

len Haut des Inders erweckt, — ein gro ßes wei -

ßes U, wel ches jeder Gläu bige als Sym bol

Vishnus des Erhal ters auf Stirne, Brust und

Armen trägt.

Plötz lich blitzte in dem Glas kol ben ein Fun ken

auf, der das Pul ver zur Explo sion brachte. —

Einen Augen blick Rauch, dann erschien in der

Fla sche eine indi sche Land schaft von unbe -

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schreib li cher Schön heit: — Der Brah mane hatte

seine Gedan ken pro ji ziert! —

Es war der Tadsch Mahal von Agra, jenes Zau -

ber schloß des Groß mo guls Aurung zeb, in wel -

chem die ser vor Jahr hun der ten sei nen Vater ein -

ker kern ließ. —

Der Kup pel bau aus bläu li chem Weiß wie Kry -

stall schnee — mit schlan ken Sei ten mi na retts — in

einer Pracht, die den Men schen in die Knie

zwingt, — warf sein Spie gel bild auf den end lo sen

schim mern den Was ser weg zwi schen traum ge -

schmieg ten Cypres sen. —

Ein Bild, das dunk les Heim weh weckt nach

ver ges se nen Gefil den, die der Tief schlaf der See -

len wan de rung ver schlun gen.

— — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —

Stim men ge wirr der Zuschauer, ein Stau nen

und Fra gen. — Die Fla sche wurde losge wic kelt

und ging von Hand zu Hand. —

Mona te lang halte sich so ein fixier tes pla sti -

sches Gedan ken bild, über setzte der Dol metsch,

zumal es der immen sen ste ti gen Vor stel lungs -

kraft Rad schen dra la la mit ras ent sprun gen sei, —

Pro jek tio nen euro päi scher Gehirne dage gen hät -

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ten nicht annä hernd sol che Far ben pracht und

Dauer.

Viele ähn li che Exper imente wur den noch

gemacht, bei denen teils wie der der Brah mane,

teils einer oder der andere der beru fen sten

Gelehr ten die Gold kette um die Schlä fen

knüpfte. — — —

Klar wur den eigent lich nur die Vor stel lungs bil -

der der Mathe ma ti ker; — recht son der bar fie len

zuwei len die Resul tate aus, die den Köp fen juri -

di scher Kapa zi tä ten ent spran gen, — all ge mei nes

Stau nen aber — und Kopf schüt teln — bewirkte

die ange strengte Gedan ken pro jek tion des

berühm ten Pro fes sors für innere Medi zin, Sani -

täts rats Maul dre scher. — Sogar den fei er li chen

Asia ten blieb der Mund offen: Eine unglaub li -

che Menge klei ner miß far be ner Broc ken, dann

wie der ein Kon glo me rat ver schwom me ner

Klum pen und Zacken war in dem Ver suchs kol -

ben ent stan den.

»Wie ita lie ni scher Salat,« sagte spöt tisch ein

Theo loge, der sich vor sichts hal ber gar nicht an

den Exper imen ten betei ligt hatte. — — — —

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Beson ders der Mitte zu, wo sich bei wis sen -

schaft li chen Gedan ken die Vor stel lun gen über

Phy sik und Che mie nie der schla gen, wie der Dol -

metsch betonte, — war die Mate rie gänz lich ver -

sulzt.

Auf Erklä run gen, wieso und wodurch die Phä -

no mene eigent lich zustande kämen, lie ßen sich

die Inder nicht ein. — »Spä ter ein mal — spä ter«

sag ten sie in ihrem gebro che nen Deutsch.

— — — — — — — — — — — — — — — — — — — —

Zwei Tage nach her fand wie der eine Vor füh -

rung der Appa rate — dies mal halb popu lär — in

einer ande ren euro päi schen Metro pole statt. —

Wie der die atem lose Span nung des Publi -

kums, — die sel ben bewun dern den Aus rufe, als

zuerst unter der Ein wir kung des Brah ma nen ein

Bild der selt sa men tibe ta ni schen Festung Takla -

kot erschien. —

Dann folgten wie der die mehr oder min der

nichts sa gen den Gedan ken bil der der Stadt grö -

ßen. —

Die Medi zi ner lächel ten nur über le gen, waren

jedoch dies mal nicht zu bewe gen, in die Fla sche

hin ein zu den ken. —

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Als end lich eine Gesell schaft Offi ziere näher

trat, machte alles respekt voll Platz. — Na selbst -

ver ständ lich! — — — —

»Gustl, was meinst, denk du amol wos,« sagte

ein Leut nant mit gefet te tem Schei tel zu einem

Kamer aden. —

»Ah, — i nöt, mir is vüll z’vüll Ziwüll

do.« — — —

»Na, aber ich biddde, ich biddde, doch einer

von die Her ren — — — — — — — — —« for derte

gereizt der Major auf. — — —

Ein Haupt mann trat vor: »Sö, Dol met scher,

kann ma sich a wos Idealls den ken? I wüll ma

wos Idealls den ken!« —

»Was wird es denn sein, Herr Haupt mann?«

(»Auf den Zwoc kel bin ich neu gie rig,« schrie

einer aus der Menge.)

»No,« sagte der Haupt mann, »no, — i wier halt

an die ehren rädddli chen Vur schrif ten den -

ken!« — —

»Hm,« strich sich der Dol metsch das Kinn,

»hm, — ich — hm, — ich denke, Herr Haupt -

mann, — hm, — dazu — hm — sind die Fla schen

viel leicht doch nicht wider stands fä hig genug.« —

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»Als dann laß mich, Kame rad,«drängte sich

ein Ober leut nant vor. —

»Ja, ja, laßt’s ’n Kat schmat schek,« schrien alle,

»dös is a schar fer Den ker.«

Der Ober leut nant legte sich die Kette um den

Kopf. — »Bitte,« — reichte ihm der Dol metsch

ver le gen ein Tuch, — »bitte: … Pomade iso liert

näm lich.« —

Deb Schum scher Dschung der Gosain mit sei -

nem roten Len den tuch und dem weiß ge tünch -

ten Gesicht, trat hin ter den Offi zier. — Er sah

heute noch unheim li cher aus als in Ber lin.

Dann hob er die Arme. — — — — —

Fünf Minu ten — — — — —

Zehn Minu ten — — nichts.

Der Gosain biß vor Anstren gung die Zähne

zusam men, und der Schweiß lief ihm in die

Augen. —

Da! — End lich. — — Das Pul ver war zwar nicht

explo diert, aber eine sam met schwarze Kugel —

so groß wie ein Apfel — schwebte frei in der Fla -

sche. —

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»Dös Werkl spüllt nim mer,« lächelte der Offi -

zier ver le gen und trat vom Podium herab. — —

Die Menge brüllte vor Lachen. —

Erstaunt nahm der Brah mane die Fla -

sche — — — Da! — Wie er sie bewegte, berührte

die innen schwe bende Kugel die Glas wand.

Sofort zer sprang diese, und die Split ter, wie von

einem Magnet ange zo gen, flo gen in die Kugel,

um darin spur los zu ver schwin den.

Der sam met schwarze runde Kör per schwebte

jetzt unbe weg lich frei im Raum. —

Eigent lich sah das Ding gar nicht wie eine

Kugel aus und machte eher den Ein druck eines

gäh nen den Loches. — Und es war auch gar

nichts ande res als ein Loch. —

Es war ein abso lu tes — ein mathe ma ti sches

»Nichts«! —

Was dann geschah, war nichts als die not wen -

dige Fol ge er schei nung die ses »Nichts«. — Alles

an die ses «Nichts« angren zende stürzte natur not -

wen dig hin ein, um darin augen blick lich eben -

falls zu »Nichts« zu wer den, d. h. spur los zu ver -

schwin den.

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Wirk lich ent stand sofort ein hef ti ges Sau sen,

das immer mehr und mehr anschwoll, denn die

Luft im Saale wurde in die Kugel hin ein ge -

saugt. — — — Kleine Papier schnit zel, Hand -

schuhe, Damen schleier — alles riß es mit hin -

ein. —

Ja, — als ein Offi zier mit dem Säbel in das

unheim li che Loch stieß, ver schwand die Klinge,

als ob sie abge schmol zen wäre. —

»Jetzt dös geht zu weit,« — rief der Major bei

die sem Anblick, »dös kann i nöt dul den, —

geh’mer, meine Her ren, geh’ mer. Biddde, — ich

biddde.« —

»Was host dir denn denkt, eigent lich, Kat -

schmat schek?« frag ten die Her ren beim Ver las -

sen des Saa les. —

»I? — No — — — — wos ma sich halt a so

denkt.« — — — — — — — — — — — —

Die Menge, die sich das Phä no men nicht erklä -

ren konnte, — und nur das schreck liche, immer

mehr anwach sende Sau sen hörte, — drängte

angst er füllt zu den Türen.

Die ein zi gen Zurück bleibenden waren die bei -

den Inder.

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»Das ganze Uni ver sum, das Brahma schuf,

Vishnu erhält und Siva zer stört, wird nach und

nach in diese Kugel stür zen,« sagte fei er lich Rad -

schen dra la la mitra, — »das ist der Fluch, daß wir

nach Westen gin gen, Bru -

der!« — — — — — — — — — — — —

»Was liegt daran,« mur melte der Gosain, »ein -

mal müs sen wir alle ins nega tive Reich des

Seins.«

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Dr. Lede rer

»Haben Sie den Blitz gese hen?« — Da muß etwas

an der elek tri schen Zen trale pas siert sein. — —

Gerade dort über den Häu sern.«

Tat säch lich waren einige Per so nen ste hen

geblie ben und blick ten in der sel ben Rich -

tung. — — Eine schwere Wol ken schicht lag

regungs los über der Stadt und bedeck te das Tal

wie ein schwar zer Deckel: — der Dunst, der von

den Dächern auf stieg und nicht wollte, daß die

Sterne sich lustig machen über die törich ten

Men schen.

Wie der blitzte etwas auf — von der Anhöhe

zum Him mel empor — und ver schwand.

»Weiß Gott, was das sein kann; vor hin hat es

doch links geblitzt, und jetzt wie der da drü -

ben?! — — — Viel leicht sind’s gar die Preu ßen,«

meinte einer.

»Wo sol len die denn her kom men, bitt’ Sie?!

Übri gens habe ich noch vor zehn Minu ten die

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Her ren Gene räle im Hôtel de Saxe sit zen

sehen.«

»Na, wis sen Sie, das wäre gerade kein

Grund; — aber die Preu ßen — —! das ist doch

nicht ein mal ein Witz, so etwas kann ja selbst bei

uns nicht — —«

Eine blen dend helle eiför mige Scheibe stand plötz lich

am Him mel, — rie sen groß — und die Menge

starrte mit offe nem Munde in die Höhe.

»Ein Kom paß, ein Kom paß,« rief die dicke Frau

Schmiedl und eilte auf ihren Bal kon. —

»Erstens heißt es Komet, zwei tens hätte er doch

einen Schweif,« wies die vor nehme Toch ter sie

zurecht. — — — — — —

Ein Schrei barst in der Stadt und lief durch die

Stra ßen und Gäß chen, in die Haus tore, durch

dunkle Gänge und über krumme Trep pen bis in

die ärm sten Stüb chen. — — Alles riß die Vor -

hänge zur Seite und stieß die Schei ben auf, — die

Fen ster waren im Nu von Köp fen erfüllt: Ah!

Da oben am Him mel in dem näch ti gen Dunst

eine leuch tende Scheibe und mit ten darin zeich -

nete sich die Sil hou ette eines Unge heu ers, —

eines dra chen ar ti gen Geschöp fes ab.

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So groß wie der Josefs platz, pech schwarz und

mit einem gräß li chen Maul.

Ein Cha mä leon, ein Cha mä leon! — Scheuß -

lich.

Ehe die Menge zur Besin nung kam, war das

Phan tom ver schwun den und der Him mel so

dun kel wie frü her.

Die Men schen sahen stun den lang empor, bis

sie Nasen blu ten beka men, — aber nichts zeigte

sich mehr.

Als ob sich der Teu fel einen Spaß gemacht

hätte.

»Das apo ka lyp ti sche Tier,« mein ten die Katho -

li ken und schlu gen ein Kreuz nach dem ande -

ren.

»Nein, nein, ein Cha mä leon,« — beru hig ten

die Pro te stan ten. — — —

Glöng, glöng, glöng: Ein Wagen der Ret tungs -

ge sell schaft stürmte in die Menge, die schrei end

aus ein an der stob, und hielt vor einem nied ri gen

Haus tore.

»Ist wem was gesche hen?« rief der Herr Stadt -

arzt und bahnte sich einen Weg durch das Men -

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schen knäuel. Man schob gerade eine mit

Tüchern bedeck te Trag bahre aus dem Hause.

»Ach Gott, Herr Dok tor, die gnä dige Frau ist

vor Schrec ken nie der ge kom men«, weinte das

Stu ben mäd chen, »und es kann höch stens acht

Monate alt sein, — er wisse es ganz genau, sagt

der gnä dige Herr.« —

»Die Frau Cinin bulk hat sich »ver se hen an

dem Unge heuer,« — lief es von Mund zu

Mund. —

Eine große Unruhe ent stand. —

»Machen Sie doch Platz, Him mel Herr gott —

ich muß nach Hause,« hörte man ver ein zelte

Stim men.

»Laßt uns nach Hause gehen, nach unsern

Frauen sehen,« — into nier ten ein paar Gas sen bu -

ben und der Mob johlte. —

»Kusch, ihr Laus bu ben,« schie der Herr Stadt -

arzt und lief eben falls so schnell er konnte heim.

Wenn es nicht zu reg nen ange fan gen hätte, —

wer weiß, wie lange die Leute noch auf der

Straße geblie ben wären. — So leer ten sich all mäh -

lich die Plätze und Gas sen, und nächt li che Ruhe

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legte sich auf die nas sen Steine, die trüb im Later -

nen licht glänz ten. — —

* * *

Mit dem Ehe glück der Cini bulks war es seit

jener Nacht vor bei. —

Gerade in so einer Muster ehe mußte das pas -

sie ren! — Wenn das Kind wenig stens gestor ben

wäre, — Acht mo nats kin der ster ben doch sonst

gewöhn lich.

Der Gatte, der Stadt rat Tar qui nius Cini bulk,

schäumte vor Wut, — die Buben auf der Gasse

lie fen ihm nach und johl ten; die mäh ri sche

Amme hatte die Frei sen bekom men, wie sie das

Kleine erblickt, und er mußte in die Zei tung

hand große Annon cen einrüc ken las sen, um eine

blinde Amme auf zu trei ben. —

Schon am näch sten Tage nach jenem schreck -

lichen Ereig nis hatte er ange strengt zu tun, um

alle die Agen ten von Castans Pan op ti kum aus

dem Hause zu scheu chen, wel che das Kind

sehen und für die nächst jäh rige Welt aus stel lung

gewin nen woll ten.

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Viel leicht war es einer die ser Leute gewe sen,

der ihm, um seine Vater freu den noch mehr zu

dämp fen, die ver häng nis volle Idee, er sei von sei -

ner Gat tin hin ter gan gen wor den, ein ge ge ben

hatte, denn kurz dar auf war er zum Herrn Poli -

zei rat gelau fen, der nicht nur gerne Sil ber zeug

zu Weih nach ten annahm, son dern auch durch

emsi ges Ver däch ti gen miß lie bi ger Per so nen Kar -

riere gemacht hatte.

Es ver gin gen rich tig kaum acht Wochen, als

bekannt wurde, daß der Stadt rat Cini bulk einen

gewis sen Dr. Max Lede rer wegen Ehe bruchs ver -

klagt hatte. — Die Staats an walt schaft hatte auf

die Befür wor tung des Poli zei ra tes die Sache

selbst ver ständ lich auf ge grif fen, obwohl keine

Ertap pung in fla granti vor lag.

* * *

Die Gerichts ver hand lung ver lief äußerst inter -

es sant. Die Anklage des Staats an wal tes stützte

sich auf die frap pante Ähn lich keit der klei nen

Miß ge burt, wel che nackt und krei schend in

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einem rosa Korbe lag, mit dem Dr. Max Lede -

rer.

»Sehen Sie sich, hoher Gerichts hof, nur ein -

mal den Unter kie fer an und die krum men

Beine, — von der nied ri gen Stirne, — wenn man

das über haupt Stirne nen nen darf, — ganz zu

schwei gen. Betrach ten Sie die Glotz au gen, bitte,

und den bor niert vie hi schen Aus druck des Kin -

des und ver glei chen Sie all das mit den Zügen

des Ange klag ten«, sagte der Staats an walt, —

»wenn Sie dann noch an sei ner Schuld zwei -

feln — — —!«

»Es wird wohl kei nem Men schen ein fal len,

hier eine gewisse Ähn lich keit zu leug nen«, fiel

der Ver tei di ger ein, — »ich muß aber ausdrück -

lich beto nen, daß diese Ähn lich keit nicht dem

Ver hält nis von Vater zu Kind ent springt, son -

dern nur dem Umstand einer gemein sa men Ähn -

lich keit mit einem Cha mä leon. — Wenn hier

jemand die Schuld trägt, so ist es das Cha mä -

leon und nicht der Ange klagte! — Säbel beine,

hoher Gerichts hof, — Glotz au gen, hoher

Gerichts hof, — sogar ein der ar ti ger Unter kie -

fer — — —«

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»Zur Sache, Herr Ver tei di ger!«

Der Advo kat ver beugte sich: »Also kurz und

gut, ich stelle den Antrag auf Ein ver nahme von

Sach ver stän di gen aus der Zoo lo gie.«

Der Gerichts hof hatte nach kur zer Bera tung

den Antrag mit dem Bemer ken abge lehnt, daß

er seit neue ster Zeit prin zi piell nur noch Sach ver -

stän dige aus dem Schreib fa che zulasse, und

schon hatte sich der Staats an walt wie der erho -

ben, um eine neue Rede zu begin nen, als der Ver -

tei di ger, der sich bis dahin eif rig mit sei nem

Klien ten bespro chen hatte, ener gisch vor trat,

auf die Füße des Kin des wies und anhob:

»Hoher Gerichts hof, — ich bemerke soeben,

daß das Kind an den Fuß soh len sehr auf fal lende

soge nannte Mut ter male trägt. Hoher Gerichts -

hof, kön nen das nicht viel leicht — Vater male

sein?! For schen Sie nach, ich bitte Sie mit auf ge -

ho be nen Hän den; las sen Sie Herrn Cini bulk

sowohl als auch Dr. Lede rer hier Schuhe und

Strümpfe aus zie hen, — viel leicht kön nen wir das

Rät sel, wer der Vater ist, in einem Augen blick

lösen.«

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Der Stadt rat Cini bulk wurde sehr rot und

erklärte, lie ber sei ner seits von der Anklage

zurück zutreten, als das zu tun, und er beru higte

sich erst, als man ihm erlaubte, sich vor her drau -

ßen die Füße waschen zu dür fen. — —

Der Ange klagte Max Lede rer zog zuerst seine

Strümpfe aus. —

Als seine Füße sicht bar wur den, erhob sich ein

brül len des Geläch ter im Audi to rium: Er hatte

näm lich Klauen, — jawohl, zwei ge spal tene

Klauen wie ein Cha mä leon. —

»No ser vus, das sind doch über haupt keine

Füße,« brummte der Staats an walt ärger lich und

schmiß sei nen Blei stift zu Boden.

Der Ver tei di ger machte sogleich den Vor sit zen -

den auf merk sam, daß es denn doch wohl aus ge -

schlos sen sei, daß so eine statt li che Dame wie

Frau Cini bulk jemals mit einem so häß li chen

Men schen hätte intim ver keh ren kön nen; —

doch der Gerichts hof meinte, wäh rend der frag li -

chen Delikte hätte der Ange klagte doch nicht

die Stie fel aus zie hen müs sen. — — —

»Sagen Sie, Herr Dok tor,« wandte sich leise

der Ver tei di ger wäh rend der noch immer herr -

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schen den Unruhe an den Gerichts arzt, mit dem

er gut befreun det war, — »sagen Sie, kön nen Sie

nicht aus der Miß bil dung der Füße des Ange -

klag ten etwa auch auf gei stige Umnach tung

schlie ßen?«

»Natür lich kann ich das, — ich kann alles, —

ich war doch frü her Regi ments arzt, — war ten

wir aber noch ab, bis der Herr Stadt rat her ein -

kommt.«

Aber Stadt rat Cini bulk, der kam nicht und

kam nicht. —

Da könne man noch lange war ten, hieß es,

und die Ver hand lung hätte ver tagt wer den müs -

sen, wenn nicht plötz lich aus dem Audi to rium

der Opti ker Cer venka her vor ge tre ten wäre und

der Sache eine neue Wen dung gege ben hätte:

»Ich kann es nicht mehr mit anse hen,« sagte er,

»daß ein Unschul di ger lei det, und unter ziehe

mich lie ber frei wil lig einer Dis zi pli nar strafe

wegen nächt li cher Ruhe stö rung. Ich war es, der

damals die Erschei nung am Him mel her vor ge -

bracht hat.

»Mit tels zweier Son nen mi kro skope oder

Schein wer fer, die eine neue wun der bare Erfin -

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dung von mir sind, habe ich damals zer setzte,

also unsicht bare Licht strah len gegen den Him -

mel gewor fen. —

»Wo sie sich tra fen, wur den sie sicht bar und

bil de ten die helle Scheibe. — Das ver meint li che

Cha mä leon war ein klei nes Dia po si tiv bild des

Herrn Dr. Dok tor Lede rer, wel ches ich an die

Wol ken reflek tie ren wollte und im Dun keln mit

mei nem eige nen ver wechs elte. — Ich habe näm -

lich frü her ein mal den Dr. Lede rer im Dampf -

bad der Kurio si tät wegen pho to gra phisch auf ge -

nom men. — Also, wenn sich die Frau Cini bulk,

die damals hoch schwan ger war, an die sem Bilde

›ver se hen‹ hat, ist es sehr begreif lich, daß das

Kind dem Ange klag ten ähn lich sieht.«

Der Gerichts die ner kam jetzt her ein und mel -

dete, daß tat säch lich an den Soh len des Herrn

Stadt ra tes mut ter mal ar tige Flec ken anfin gen

sicht bar zu wer den, doch müsse man immer hin

wei ter weg ver su chen, ob sie sich nicht auch

noch weg wa schen lie ßen.

Der Gerichts hof beschloß jedoch, das Resul tat

nicht erst abzu war ten, son dern sprach den Ange -

klag ten man gels Bewei sen frei.

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Das dicke Was ser

Im Ruder klub »Clia« herrschte brau sen der

Jubel. — Rudi, genannt der Sulz fisch, — der

zweite »Bug«, — hatte sich über re den las sen und

sein Mit wir ken zuge sagt. — Nun war der »Ach -

ter« kom plett, — Gott sei Dank. —

Und Pepi Stau da cher, der berühmte Steu er -

mann, hielt eine schwung volle Rede über das

Geheim nis des eng li schen Schla ges und toa -

stierte auf den blauen Don aus trand und den

alten Ste phans dom (duliö, duliö). Dann schritt

er fei er lich von einem Rude rer zum andern,

jedem das Trai nings eh ren wort — vorerst das

kleine — abzu neh men.

Was da alles ver bo ten wurde, es war zum Stau -

nen! — Stau da cher, für den als Steu er mann dies

kei ner lei Gel tung hatte, wußte es aus wen dig:

Erstens nicht rau chen, zwei tens nicht trin ken,

drit tens kei nen Kaf fee, vier tens kei nen Pfef fer,

fünf tens kein Salz, sech stens — —, sieb -

tens — — —, ach tens — — —, und vor allem keine

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Liebe, — hören Sie, — keine Liebe! — weder prak ti -

sche noch theo re ti sche! — — — —

Die anwe sen den Klub jung frauen san ken um

einen hal ben Kopf zusam men, weil sie die Beine

ausstrec ken muß ten, um ihren Freun din nen

vis-B-vis bedeu tungs volle Fuß tritte unter dem

Tisch zu ver set zen.

Der schöne Rudi schwellte die Hel den brust

und stieß drei schwere Seuf zer aus, — die ande -

ren schrien wild nach Bier, der kom men den

schreck lichen Tage geden kend. —

»Eine Stunde noch, meine Her ren, heute aus -

nahms weise, dann ins Bett, und von mor gen an

schläft die Mann schaft im Boots hause.«

»Mhm«, nick te bestä ti gend der Schlag mann,

trank aus und ging. — »Ja, ja, der nimmt’s ernst,«

sag ten alle bewun dernd. —

Spät in der Nacht traf ihn die heim keh rende

Mann schaft zwar Arm in Arm mit einer auf fal -

lend geklei de ten Dame in der Bret zel gasse, aber

es konnte ja gerade so gut seine Schwe ster

sein. — Wer kann denn in der Dun kel heit eine

anstän dige Dame von einer »Infek tio neuse«

unter schei den!

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Der »Ach ter«« kam daher ge saust, — die Roll -

sitze schnarch ten, die schwe ren Ruder schläge

dröhn ten über das grüne, klare Was ser. —

»Jetzt kommt der End spurt, da schauen S’, da

schauen S’!«

»Eins, zwei, drei, vier, fünf — — — — — — aha —

ein vier und vier zi ger!«

Stau da chers Kom man do ge heul ertönte: »Ach -

tung, stop. Ach ter, Sech ser zum Strei chen, Ein -

ser, Dreier fort. — Ha—alt!«

Die Mann schaft stieg aus, keu chend, schweiß -

be deckt. —

»Da schauen S’ den Num mer drei, die Prat -

zen, wie junge Rei se ta schen, was? Über haupt

die Steu er bords eite is gut beisamm’. — Der beste

Mann im Boot ist halt doch Num mer sie ben —

Ja, ja, unser Sie be ner. Gelt, Wastl, ha, ha.« — —

»No, und die Haxen von Num mer acht san

gar nix, was?«

»Wis sen S’, wie vüll mür heut g’fahrn san,

Herr von Bor gen held?« wandte sich Seba stian

Kurz weil, der zweite Schlag mann an den Vize ob -

mann, der ver ständ nis los dem Her aus he ben des

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vier zehn Meter lan gen, einem Hai fisch glei chen -

den Acht rie mers zusah.

»Drei mal,« riet der Vize ob mann.

»Wie vüll, sag’ ich,« brüllte Kurz weil.

»Fünf mal,« stot terte erschreckt Herr von Bor -

gen held.

»Him mel sa kra!« — der Rude rer schüt telte den

Arm. »Er meint, — ›wie lang‹,« warf ein Junior

ein, der schüch tern dabei stand und einen

schmut zi gen Fet zen in der Hand hielt.

»Ach so! — Fünf Kilo me ter!« — — — —

Die Mann schaft machte Miene, sich auf

Herrn von Bor gen held zu stür zen, — sie hät ten

ihn zer ris sen, da rief sie eine Serie rät sel haf ter

Kom man dos wie der an das Boot: »Mann an Rig -

ger, — aufff — auf mich (prschsch — da lief das

Was ser aus dem umge wen de ten Boot) —

schwen—ken, — fort!« —

Und acht rot-weiß und spär lich beklei dete

Gestal ten, — ohne Strümpfe und mit phan ta sti -

schem Schuh werk han tier ten an dem Boot

herum und schlepp ten es mit tie fem Ernst in den

Schup pen. —

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»No, raten Sie jetzt,« und der Steu er mann

schwenkte eine sil berne Taschen uhr an einem

roten Strick hin und her. »Also wie viel?« — Der

Vize ob mann mochte aber nicht mehr. Stau da -

cher zün dete sich eine Vir gi nia an, denn ein ech -

ter Steu er mann muß gewis sen haft alles tun, was

gesund heits schäd lich ist, um leich ter zu wer den:

»Also raten Sie, Herr Dr. Hecht!«

»Füg lich — äh — füg lich — soll man die ›Zeit‹,

geheim hal ten,« meinte die ser fach ge wandt und

zwin kerte ner vös mit den Augen li dern.

»No, dann schauen Sie selbst,« sagte Stau da -

cher. Alle beug ten sich vor.

»5 Minu ten 32 Sekun den,« kreischte der

Junior und schwenkte den schmut zi gen Fet zen

über dem Kopf.

»Jawohl 5:32! — Wis sen Sie, was das heißt,

meine Her ren, 5:32 für 2000 Meter, — ste hen des

Was ser, ich bitte!«

»Fünfi zwoaradreiß’g, — fünfi zwoaradreiß’g,«

brüllte Kurz weil, der jetzt split ter nackt auf der

Ter rasse des Boots hau ses stand, — wie ein Stier

her un ter.

Eine wilde Begei ste rung ergriff alle Mit glie der.

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5:32!! —

Sogar der Obmann Schön machte einen

dicken Hals und meinte, daß man selbst sei ner -

zeit in Zürich, im See klub, keine bes sere Zeit

gefah ren sei.

»Jawohl, 5:32! und ken nen Sie auch den Ham -

bur ger Rekord im Trai ning?« fuhr Stau da cher

fort. — — »6 Minu ten 2 Sekun den!! bei Wind -

stille, — — mir hat es ein Freund tele gra -

phiert. — — 6:2! — — —! und wis sen Sie auch, was

30 Sekun den Dif fe renz sind? 11 Län gen — klare

Län gen, — jawohl!«

»Sie, Ihre Zeit kann abso lut nicht stimm’,«

wandte sich ein Ber li ner Rude rer, der als Gast

zuge gen war, an Stau da cher, »sehen Se mal, der

eng li sche Pro fes sio nal re kord is 5:55, da wären

Sie ja um 23 Sekun den bes ser. Nu hören Se

mal! — Über haupt die Wie ner ›Zei ten‹ sind ver -

flucht ver däch tig, — viel leicht jehen Ihre Stopp -

uh ren falsch!«

»Schauen S’, daß wei ter kom men, Sö —

fünfifünfafufz’g Sö, — set zen S’ ös in d’ Lot te rie

dö fünfifünfafufz’g, haben S’ über haupt an

Idee — bereits — — was mür Weana für a Kraft

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hab’n,« höhnte Kurz weil von der Ter rasse, —

dann hob er die Arme und brüllte, wie wei land

Ares im tro ja ni schen Krieg, daß es durch die

Erlen wäld chen an den Ufern des Donau ka nals

gellte.

»Hören Se doch nu end lich mit dem Jebrülle

auf — Sie da oben, — oder wol len Sie viel leicht ’n

dreibänd’jes Buch über plan lo ses Jeschrei her -

aus je ben!« rief der Ber li ner ärger lich.

»Pst, pst — nur kei nen Streit,« besänf tigte Stau -

da cher, — »übri gens, meine Her ren, — ich nehme

heute schon die Glück wünsche zu unse rem

künf ti gen gro ßen Siege in Ham burg ent ge gen. —

Meine Her ren, auf die sen Sieg —, meine Her -

ren — hipp — hipp — —.«

Die har mo ni schen Töne einer Dreh or gel

schnit ten ihm die Worte ab — einen Augen blick

Toten stille, dann rhyth mi sches Tram peln im

Anklei de raum der Mann schaft, und alle stimm -

ten begei stert mit ein in das Lied:

»Dös is wos für ’n Weana,

»Für a wean’risches Bluat,

»Wos a wean’rischer Wal zer

»An ’m Weana all’’s tuat«

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Der Aus schluß des Klubs war auf dem Bahn -

hof ver sam melt und war tete auf die aus Ham -

burg heim keh rende Mann schaft in grö ß ter Erre -

gung, denn in den Mor gen blät tern war ein

schreck liches Tele gramm abge druckt gewe sen:

»Ham burg — Ach ter ren nen um den Staats -

preis.

Resul tate: Favo rit — Ham mo nia — Ham -

burg — erste: 6 Minu ten 2 Sekun den; Ruder klub

»Clia« — Wien — letzte:

6 Min. 32 Sek.

Inter es san tes Ren nen zwi schen Favo rit —

Ham mo nia — Ham burg und Ber li ner Ruder -

klub. Wien unter acht Boo ten ach tes, kam nie ernst -

lich in Betracht. Die Arbeit der Öster rei cher saft-

und kraft los und auf fal lend mario net ten haft.«

»Sehen Sie wohl, was habe ich jesagt,« höhnte

der Ber li ner, der schon eine Stunde auf dem Per -

ron war tete, »jerade ne janze Minute schlech tere

Zeit als anjeb lich hier im Trai ning.«

»Ja, es ist schreck lich fatal,« hüstelte der

Obmann, »und wir haben schon gestern Ein la -

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dun gen zum Sie ges fest ver schickt und das Boots -

haus beflaggt und mit Rei sig geschmückt.«

»Es muß rein etwas pas siert sein,« meinte

zögernd ein alter Herr, — dann schrien plötz lich

alle durch ein an der:

»Der Num mer zwei is Schuld — —, der Sulz -

fisch, der zieht ja nicht ein mal das Gewicht sei -

ner Kappe, — der ganze Kerl ist schwab be rig wie

Hek to gra phen masse.«

»Was denn Num mer zwei! Die ganze Back -

bordseite ist kei nen Schuß Pul ver wert.«

»Über haupt, der ›Ein satz‹ fehlt. Catch the

water! — ver ste hen Sie mich, — ver ste hen Sie

eng lisch? Catch the water. Schauen Sie her, so!

catch, catch, catch!«

»Meine Her ren, meine Her ren, was nutzt das

alles: catch, catch, catch, wenn man ›Swi vels‹

hat, wie wol len Sie da ›Ein set zen‹. Hab’ ich

nicht immer gesagt: feste Dol len, was, Herr von

Schwamm? — Ja, feste Dol len, haha, zu mei ner

Zeit: rum — bum — rum bum. —«

»Hätt’ alles nicht g’schadt, aber natür lich

knapp vorm Trai ning bei der Nacht mit Wei -

bern rum lau fen, daran liegt’s. Haben S’ damals

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unsern ›Stroke‹ g’segn in der Bretzelgass’n? Wis -

sen S’, wer die Frau ens per son war? Die blonde

Sport mirzl, wann Sö’s no kenna!« — —

Ein gel len der Pfiff. Der Zug fährt ein.

Aus ver schie de nen Cou pés stei gen die »Clia -

ne sen« aus. Ärger li che Gesich ter, müde, abge -

spannte Mie nen: — — — »Trä ger! Trä ger! — Him -

mel Sakra, sind denn keine Trä ger da!«

»Erzählt’s doch, was ist denn g’schehn? Letzte,

immer Letzte?«

»Der ›Sulz fisch‹,« mur melte Kurz weil ingrim -

mig.

Der schöne Rudi hat es gehört und tritt mit

geschwell ter Hel den brust an ihn heran: »Mein

Herr, ich bin Reser ve leut nant im Artil ler ie re gi -

ment Nr. 23, ver ste hen Sie mich?« Und er zwin -

kert mit ent zün de ten Lidern, und sein Gesicht

ist kleb rig und ruß ge schwärzt, als ob er auf

einem Stem pel kis sen geschla fen hätte. —

»Ruhe, meine Her ren, Ruhe!« Stau da cher ist

es, der eine Fla sche in der Hand hält. —

»Erzäh len, Stau da cher, erzäh len!« — Alles

umdrängt ihn.

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Der kleine Steu er mann hebt die Fla sche in die

Höhe: »Hier ist des Rät sels Lösung, — wis sen

Sie, was da drin ist? — Alster was ser, Ham bur ger

Alster was ser! — — Und da drin soll unse reins

rudern, wo wir an unser dün nes kla res ›Kai ser -

was ser‹ gewöhnt sind, — net wahr, Kurz weil?

Wis sen S’, daß die ses Alster was ser bereits um ein

Fünf tel dicker ist als wie das uns rige!? — (ja, wirk lich,

m’r siecht’s) — Ich hab’s selbst mit dem Aräo me -

ter g’messen, und unsere Zeit ist trotz dem nur

ein Sech stel schlech ter! — Nur ein Sech stel —

meine Her ren! — Hä? Habn S’ an Idee, wie wir

hier g’wonnen hät ten! — Da wären die Ham bur -

ger gar net mit’kommen.«

Alle waren voll Bewun de rung: »Nein, wirk -

lich, alles was recht ist, unser Stau da cher ist ein

fin di ger Kopf, so einen sol len S’ uns zei gen, die,

die … die deut schen Brü der aus dem

›Reich‹ — —«

»Ja, ja! — ’s gibt nur a Kai ser stadt, ’s gibt nur a

Wean!«

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Das Prä pa rat

Die bei den Freunde saßen an einem Eckfenster

des Cafés Radetzky und steck ten die Köpfe

zusam men.

»Er ist fort, — heute nach mit tags mit sei nem

Die ner nach Ber lin gefah ren. — Das Haus ist

voll kom men leer, — ich komme soeben von dort

und habe mich genau über zeugt; — die bei den

Per ser waren die ein zi gen Bewoh ner.«

»Also ist er doch auf das Tele gramm her ein ge -

fal len?!«

»Dar über war ich kei nen Moment im Zwei -

fel; — wenn er den Namen Fabio Marini hört, ist

er nicht zu hal ten.«

»Wun dert mich eigent lich, denn er hat doch

Jahre mit ihm zusam men ge lebt, — bis zu sei nem

Tode, — was könnte er da noch Neues über ihn

in Ber lin erfah ren?«

»Oho, — Pro fes sor Marini soll ihm noch vie les

geheim gehal ten haben, — er hat es selbst ein mal

so gesprächs weise fal len las sen. — unge fähr vor

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einem hal ben Jahr, als unser guter Axel noch

unter uns war.«

»Ist denn tat säch lich etwas Wah res an die ser

geheim nis vol len Prä pa ra tions me thode Fabio

Mari nis, — glaubst du wirk lich so fest daran, Sin -

clair? —«

»Von ›glau ben‹ kann hier gar keine Rede sein.

Mit die sen Augen habe ich in Flo renz eine von

ihm prä pa rierte Kin des lei che gese hen. Ich sage

dir, jeder hätte geschwo ren, daß das Kind bloß

schlafe, — keine Spur von Starre, keine Run zeln,

keine Fal ten — sogar die rosa Haut farbe eines

Leben di gen war vor han den.«

»Hm. — Du denkst, der Per ser könne wirk lich

Axel ermor det und — — —«

»Das weiß ich nicht, Otto kar, aber es ist denn

doch unser bei der Gewis sens pflicht, uns Sicher -

heit über Axels Schick sal zu ver schaf fen. — Was,

wenn er damals durch irgend ein Gift bloß in

eine Art Toten starre ver setzt wor den wäre! —

Gott, wie habe ich auf dem ana to mi schen Insti -

tut den Ärz ten zuge re det, — sie ange fleht, noch

Wie der be le bungs ver su che zu machen. — — —

Was wol len Sie denn eigent lich, hieß es, — der

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Mann ist tot, das ist klar, und ein Ein griff an der

Lei che ohne Erlaub nis des Dr. Dara sche koh ist

unzu läs sig. Und Sie wie sen mir den Kon trakt

vor, in dem ausdrück lich stand, daß Axel dem

jewei li gen Inha ber die ses Schei nes sei nen Kör -

per nach dem Tode ver kaufe und dafür bereits

am so und soviel ten 500 fl. in Emp fang genom -

men und quit tiert habe.«

»Nein, — es ist gräß lich, — und so etwas hat in

unse rem Jahr hun dert noch Geset zes kraft. — So

oft ich daran denke, faßt mich eine namen lose

Wut. — Der arme Axel! — Wenn er eine Ahnung

gehabt hätte, daß die ser Per ser, sein wütend ster

Feind, der Besit zer des Kon trak tes sein

könne! — Er war immer der Ansicht, das ana to -

mi sche Insti tut selbst — — — — — Und konnte

denn der Advo kat gar nichts aus rich ten? —«

»Alles umsonst. — Nicht ein mal das Zeug nis

des alten Milch wei bes, daß Dara sche koh ein mal

in sei nem Gar ten bei Son nen auf gang den

Namen Axels so lange ver flucht habe, bis ihm

im Paro xis mus der Schaum vor den Mund getre -

ten sei, wurde beach tet. — — Ja, wenn Dara sche -

koh nicht euro päi scher medi ci nae doc tor

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wäre! — Wozu aber noch reden, — willst du mit -

ge hen oder nicht, Otto kar, ent schließe dich.«

»Gewiß will ich — aber bedenke, wenn man

uns erwischt — als Ein bre cher! — Der Per ser hat

einen tadel lo sen Ruf als Gelehr ter! Der bloße

Hin weis auf unse ren Ver dacht ist doch, — weiß

Gott, — kein plau si bler Grund. — Nimm es mir

nicht übel, aber ist es wirk lich ganz aus ge schlos -

sen, daß du dich irren konn test, als du Axels

Stimme ver nahmst? — — Fahre nicht auf, Sin -

clair, bitte, sage mir noch ein mal genau, wie das

damals geschah. — Warst du nicht viel leicht

schon vor her irgend wie auf ge regt?« —

»Aber gar keine Spur! — Eine halbe Stunde frü -

her war ich auf dem Hrad schin und sah mir wie -

der ein mal die Wen zel ska pelle und den Veits -

dom an, diese alten fremd ar ti gen Bau ten, mit

ihren Skulp tu ren wie aus geron ne nem Blut, die

immer von neuem einen so tie fen, uner hör ten

Ein druck auf unsere Seele machen, — und den

Hun ger turm und die Alchi mi sten gasse. — Dann

ging ich die Schlo ß stiege herab und bleibe

unwill kür lich ste hen, da die kleine Türe, die

durch die Mauer zum Hause Dara sche kohs

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führt, offen ist. — Im sel ben Augen blick höre ich

deut lich, — es mußte aus dem Fen ster her über

tönen — eine Stimme – und ich schwöre einen

hei li gen Eid dar auf: es war Axels Stimme, —

rufen: — Eins — — zwei — — drei — — vier. —

»Ach Gott, wäre ich doch damals sofort in die

Woh nung ein ge drun gen; — aber ehe ich mich

recht beson nen, hatte der tür ki sche Die ner Dara -

sche kohs die Mau erp forte zuge schla gen. — Ich

sage dir, wir müs sen in das Haus — wir müs -

sen! — Was, — wenn Axel wirk lich noch lebte! —

Schau, — man kann uns ja gar nicht erwi -

schen. — Wer geht denn nachts über die alte

Schlo ß stiege, bitte dich — und ich kann jetzt mit

Sperr ha ken umge hen, daß du stau nen wirst.«

* * *

Die bei den Freunde hat ten sich bis zur Dun kel -

heit in den Stra ßen umher ge trie ben, ehe sie

ihren Plan aus führ ten. Dann waren sie über die

Mauer geklet tert und stan den nun vor dem alter -

tüm li chen Hause, wel ches dem Per ser gehörte.

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Das Gebäude, — ein sam auf der Anhöhe des

Für sten berg schen Par kes, — lehnt wie ein toter

Wäch ter an der Sei ten mauer der gras be wach se -

nen Schlo ß stiege.

»Die ser Gar ten, — diese alten Ulmen da unten

haben etwas namen los Grau en haf tes,« flü sterte

Otto kar Doh nal, »sieh nur, wie dro hend sich der

Hrad schin vom Him mel abhebt, — und diese

erleuch te ten Nischen fen ster dort in der Burg. —

Wahr haft, es weht eine selt same Luft hier auf

der Klein seite. — Als ob sich alles Leben tief in

die Erde zurück gezogen hätte, — aus Angst vor

dem lau ern den Tode, und hast du nicht auch

das Gefühl, daß eines Tages die ses schat ten hafte

Bild plötz lich ver sin ken müsse — wie eine

Vision, — eine Fata mor gana, — daß die ses

schla fende zusam men ge kau erte Leben wie ein

gespen sti sches Tier zu etwas Neuem, Schreck -

haften erwa chen müsse! —

Und sieh nur, da unten die wei ßen Kies -

wege — wie Adern.« —

»Komm doch schon,« drängte Sin clair, »mir

schlot tern die Knie vor Auf re gung, — hier, —

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halte mir unter des sen den Sta tions -

plan.« — — — — —

Die Türe war bald geöff net, und die bei den

tapp ten eine alte Treppe empor, auf die der

dunkle Ster nen him mel durch die run den Fen -

ster kaum einen Schein warf.

»Nicht anzün den, man könnte von unten, —

vom Gar ten haus — das Licht bemer ken, hörst

du Otto kar. — — — — — Geh dicht hin ter

mir. — — — — — Ach tung, hier ist eine Stufe aus ge -

bro chen. — — — — — Die Gang tür ist

offen — — — — hier, hier — links.«

Sie stan den jetzt in einem Zim mer.

»So mach doch kei nen sol chen Lärm!«

»Ich kann nicht dafür: die Türe ist von selbst

wie der zuge fal len.«

— — — — — — — — — — — —

»Wir wer den Licht machen müs sen, ich

fürchte jeden Augen blick etwas umzu wer fen, es

ste hen lau ter Stühle im Weg.«

In die sem Moment blitzte ein blauer Funke an

der Wand auf, — ein Geräusch wurde hör bar —

wie ein seuf zen des Ein at men.

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Lei ses Knir schen schien aus dem Boden, aus

allen Fugen zu drin gen. — —

Eine Sekunde wie der Toten stille, — dann

zählte laut und lang sam eine röchelnde Stimme:

Eins — — — — zwei — — — — drei — —

Otto kar Doh nal schrie auf, kratzte wie wahn -

sin nig an sei ner Streich holz schach tel, — seine

Hände flo gen vor grau en haf tem Ent set zen. —

End lich Licht — Licht! Die bei den Freunde blick -

ten sich in die kalk wei ßen Gesich ter: »Axel!« —

— — vii ier — — fünf — sssechss — sii ie ben —

Dort aus der Nische kam das Zäh len.

»Die Kerze anzün den! Rasch, rasch!«

— acht — neun — zee ehn — elf —

— — — — — — — — — — — —

Von der Decke der Wand ver tie fung an einem

Kup fer stab hing ein mensch li cher Kopf mit blon -

dem Haar. — Der Stab drang mit ten in die Schei -

tel wöl bung. — Der Hals unter dem Kinn mit

einer sei de nen Schärpe umwic kelt, — — und dar -

un ter mit Luft röh ren, und Bron chien die zwei

röt li chen Lun gen flü gel. — Dazwi schen bewegte

sich rhyth misch das Herz, — mit gol de nen Dräh -

ten umwun den, die auf den Boden zu einem klei -

Page 46: Gustav Meyrink Orchideen - m.ngiyaw- · PDF fileDer große Saal, der sonst nur wis sen schaft li - chen Vor trä gen diente, war dicht gefüllt. — In der Mitte, auf einem Podium,

nen elek tri schen Appa rate führ ten. — Die

Adern, straff gefüllt, lei te ten Blut aus zwei dünn -

hal si gen Fla schen empor.

Otto kar Doh nal hatte die Kerze auf einen klei -

nen Leuch ter gestellt und klam merte sich an sei -

nes Freun des Arm, um nicht umzu fal len.

Das war Axels Kopf, — die Lip pen rot, — mit

blü hen der Gesichts farbe, wie lebend. — Die

Augen, weit auf ge ris sen, starr ten mit einem

gräß li chen Aus druck auf einen Brenn spie gel an

der gegen über lie gen den Wand, die mit turk me -

ni schen und kir gi si schen Waf fen und Tüchern

bedeckt schien. — Über all die bizar ren Muster

orien ta li scher Gewebe. —

Das Zim mer war voll prä pa rier ter Tiere —

Schlan gen und Affen in selt sa men Ver ren kun -

gen lagen unter umher ge streu ten Büchern. —

In einer glä ser nen Wanne auf einem Sei ten ti -

sche schwamm ein mensch li cher Bauch in einer

bläu li chen Flüs sig keit.

Die Gips bü ste Fabio Mari nis blick te von

einem Posta mente ernst auf das Zim mer

herab. —

Page 47: Gustav Meyrink Orchideen - m.ngiyaw- · PDF fileDer große Saal, der sonst nur wis sen schaft li - chen Vor trä gen diente, war dicht gefüllt. — In der Mitte, auf einem Podium,

Die Freunde konn ten kein Wort her vor brin -

gen, — hyp no ti siert starr ten sie auf das Herz die -

ser furcht ba ren mensch li chen Uhr, das wie

leben dig zit terte und schlug.

»Um Got tes wil len, — fort von hier, — ich

werde ohn mäch tig. — Ver flucht sei die ses per si -

sche Unge heuer.«

Sie woll ten zur Türe. —

Da! — Wie der die ses unheim li che Knir schen,

das aus dem Munde des Prä pa ra tes zu kom men

schien. —

Zwei blaue Fun ken zuck ten auf und wur den

von dem Brenn spie gel gerade auf die Pupil len

reflek tiert.

Seine Lip pen öff ne ten sich, — schwer fäl lig

streck te sich die Zunge vor, — bog sich hin ter die

Vor der zähne, — und die Stimme röchelte:

Ein Vier—rrr— tel.

Dann schloß sich der Mund und das Gesicht

stierte wie der gerade aus. —

»Gräß lich!! — Das Gehirn funk tio niert —

lebt. — — — — — Fort — fort — ins Freie — — hin -

aus! – Die Kerze, — nimm die Kerze, Sin clair!«

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»So öffne doch, um Him mels wil len — warum

öff nest du nicht?«

»Ich kann nicht, da — da, schau!«

Die innere Tür klinke war eine mensch li che

Hand, mit Rin gen geschmückt — die Hand des

Toten, — die wei ßen Fin ger krall ten ins Leere. —

»Hier, hier, nimm das Tuch, was fürch test du

dich — — es ist doch unse res Axels Hand.«

— — — — — — — — — — — —

Sie stan den wie der auf dem Gang und sahen,

wie die Türe lang sam ins Schloß fiel.

Eine schwarze glä serne Tafel hing daran:

Dr. Moham med Dara sche-Koh

Ana tom

Die Kerze flac kerte im Luft zug, der über die

zie gel stei nerne Treppe empor wehte.

Da tau melte Otto kar an die Wand und sank

stöh nend in die Knie: »Hier! das da — —« und er

wies auf den Gloc kenzug. —

Sin clair leuch tete näher hin. — —

Mit einem Schrei sprang er zurück und ließ

die Kerze fal len. — —

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Der ble cherne Leuch ter klirrte von Stein zu

Stein. — — — — — — — — — — — — —

Wie wahn sin nig, — die Haare gesträubt, — mit

pfei fen dem Atem rasten sie in der Fin ster nis die

Stu fen hinab.

»Per si scher Satan. — Per si scher Satan.«

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Chi märe

Rei fes Son nen licht liegt auf den grauen Stei -

nen, — der alte Platz ver träumt den stil len Sonn -

tag nach mit tag. —

Anein an der ge lehnt schlum mern die müden

Häu ser mit den ver fal le nen Holz trep pen und

heim li chen Win keln, — mit den treuen Maha go -

ni mö beln in den klei nen alt mo di schen Stu ben.

Und warme Som mer luft atmet durch wach -

same offene Fen ster chen.

Ein Ein sa mer geht lang sam über den Platz zur

Kir che des hei li gen Tho mas, die fromm her ab -

sieht auf das ruhige Bild. Er tritt ein. —

Seuf zend fällt die schwere Türe zurück an das

Leder pol ster.

Ver schlun gen ist der laute Schein der Welt —

grün rosa flie ßen die Son nen strah len durch

schmale Kir chen fen ster auf die hei li gen Stein -

qua dern. — Hier unten ruhen die From men aus

vom wech seln den Sein.

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Der Ein same atmet die tote Luft. — Gestor ben

sind die Klänge, andäch tig liegt der Dom im

Schat ten der Töne. — Das Herz wird ruhig und

trinkt den dun keln Weih rauch duft. —

Der Fremde blickt auf die Schar der Kir chen -

bänke, die, wei he voll zum Altar hin ge beugt, wie

auf ein kom men des Wun der war ten.

Er ist einer jener Leben di gen, die das Leid

über wun den und mit andern Augen tief hin ein -

se hen in eine andere Welt. Er fühlt den geheim -

nis vol len Atem der Dinge: Das ver bor gene laut -

lose Leben der Däm me rung.

Die ver leug ne ten, heim li chen Gedan ken, die

hier gebo ren wur den, zie hen unstet —

suchend — durch den Raum. — Wesen ohne

Blut, ohne Freude und Weh — wachs bleich, wie

die kran ken Gewächse der Dun kel heit.

Ver schwie gen schwin gen die roten Ampeln —

fei er lich — an lan gen gedul di gen Stric ken; — der

Luft zug bewegt sie — von den Flü geln der gol de -

nen Erz en gel.

— Da. — — Ein lei ses Schar ren unter den Bän -

ken. — Es huscht zum Bet stuhl und ver steckt

sich. —

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Jetzt kommt es um die Säule geschli chen:

Eine bläu li che Men schen hand!

Auf flin ken Fin gern läuft sie am Boden hin:

eine gespen sti sche Spinne! — horcht. — Klet tert

eine Eisen stange empor und ver schwin det im

Opfer stock. — —

Die sil ber nen Mün zen darin klir ren leise. —

Träu mend ist ihr der Ein same mit dem Auge

gefolgt, und seine Blic ke fal len auf einen alten

Mann, der im Schat ten eines alten Pfei lers

steht. — Die bei den sehen sich ernst an.

»Es gibt viel gie rige Hände hier,« flü stert der

Alte.

Der Ein same nickt.

Aus dem näch ti gen Hin ter grunde zie hen

trübe Gestal ten heran. Lang sam — sie bewe gen

sich kaum.

Betschnec ken! —

Men schen bü sten — Frau en köpfe mit schlei ern -

den Umris sen auf kal ten, schlüpf ri gen Schnek -

kenleibern — mit Kopf tü chern und schwar zen

katho li schen Augen — sau gen sie sich laut los

über die kal ten Flie sen.

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»Sie leben von den lee ren Gebe ten,« sagt der

Alte. »Jeder sieht sie, und doch kennt sie kei -

ner, — wenn sie tag über bei den Kir chen tü ren

hocken.« —

Wenn der Prie ster die Messe liest, schla fen sie

in den Flüster ec ken.

»Hat sie mein Hier sein im Beten gestört?«

fragt der Ein same. —

Der Alte tritt an seine linke Seite: »Wes sen

Füße im leben di gen Was ser ste hen, der ist sel ber

das Gebet! Wußte ich doch, daß heute einer

kom men würde, der sehen und hören kann!« —

Gelbe Licht re flexe hüp fen über die Steine, wie

Irr lich ter.

»Sehen Sie die Gol da dern, die sich hier unter

den Qua dern hin zie hen?« und sein Gesicht flak -

kert.

Der Ein same schüt telt den Kopf: »Mein Blick

dringt nicht so tief. — Oder mei nen Sie es

anders?«

Der Alte nimmt ihn an der Hand und führt

ihn zum Altar. — Das Bild des Gekreu zig ten ragt

stumm.

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Schat ten bewe gen sich leise in den dunk len Sei -

ten lo gen hin ter gebrauch ten kunst vol len Git -

tern: — Sche men alter Stift fräu lein aus ver ges se -

nen Zei ten, die nie mehr wie der keh ren — fremd -

ar tig — ent sa gungs voll wie Weih rauch duft.

Es rau schen ihre schwar zen sei de nen Klei der.

Der Greis deu tet zu Boden: »Hier tritt es fast

zutage, einen Fuß tief unter den Flie sen, — lau te -

res Gold, ein brei ter leuch ten der Strei fen. Die

Adern zie hen sich über den alten Platz bis wei ter

unter die Häu ser. — Wun der bar, daß die Men -

schen nicht längst schon dar auf gesto ßen sind,

als sie das Pfla ster gelegt haben. — Ich allein

weiß es seit vie len Jah ren und habe es nie man -

dem gesagt. — Bis heute. — Kei ner hatte ein rei -

nes Herz.«—

Ein Geräusch! —

In dem glä ser nen Reli quien schrein ist das sil -

berne Herz her ab ge fal len, das in der Kno chen -

hand des hei li gen Tho mas lag. Der Alte hört es

nicht. Er ist ent rückt. Seine Augen schauen

eksta tisch ins Weite mit star rem, gera dem Blick:

»Die jetzt kom men, sol len nicht mehr bet teln

gehen. Es soll ein Tem pel sein aus schim mern -

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dem Gold. — Der Fähr mann holt über — zum

letz ten Mal.«

Der Fremde lauscht den pro phe ti schen Wor -

ten, die flü sternd in seine Seele drin gen, wie fei -

ner, erstic kender Staub aus dem hei li gen Moder

ver sun ke ner Jahr tau sende.

Hier unter sei nen Füßen! Ein blin ken des Szep -

ter gefes sel ter, schla fen der Macht. Es steigt ihm

bren nend in die Augen: Muß denn auf dem

Golde der Fluch sein, läßt er sich nicht ban nen

durch Men schen liebe und Mit leid? — Wie viel

Tau sende ver hun gern! — —

Vom Gloc kenturme tönt die sie bente Stunde.

Die Luft vibriert.

Die Gedan ken des Ein sa men flie gen mit dem

Schall hin aus in eine Welt voll üppi ger Kunst,

voll Pracht und Herr lich keit.

Ihn schau dert. Er sieht den Alten an. — Wie

ver än dert sind die Räume. — Es hallt der Schritt.

Die Ecken der Bet stühle sind abge sto ßen, abge -

schürft der Fuß der stei ner nen Pfei ler. Die weiß -

ge stri che nen Sta tuen der Päp ste bedeckt mit

Staub.

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»Haben Sie das … das Metall mit kör per li chen

Augen gese hen — in den Hän den gehal ten?«

Der Alte nickt. »Im Klo ster gar ten drau ßen,

beim Mut ter got tes bild unter blü hen den Lilien,

kann man es grei fen.« — — — Er zieht eine blaue

Kap sel her vor. »Hier.« Und gibt dem Ein sa men

ein zackiges Ding.

Die bei den Män ner schwei gen. — —

— — — In die Kir che dringt weit her der Lärm

des Lebens: das Volk kehrt heim von den lusti -

gen Wie sen — mor gen ist Arbeits tag. —

Die Frauen tra gen müde Kin der auf dem

Arm.

Der Ein same hat den Gegen stand genom men

und schüt telt dem Alten die Hand — dann wirft

er einen Blick zurück zum Altar. Noch mals

umwogt ihn der geheim nis volle Hauch fried vol -

ler Erkennt nis:

»Vom Her zen gehen Dinge aus — sind herz ge -

bo ren und herz ge fügt.«

Er schlägt das Kreuz und geht.

Am offe nen Tür spalt lehnt der müde Tag.

Fri scher Abend wind weht ihm ent ge gen. —

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Über den Markt ras selt ein Lei ter wa gen, mit

Laub bekränzt, voll lachen der, fröh li cher Men -

schen, und in die Bogen gänge der alten Häu ser

fal len die roten Strah len der sin ken den Sonne.

Der Fremde lehnt an dem stei ner nen Denk -

mal inmit ten des Plat zes und sinnt: Er ruft im

Gei ste den Vor über ge hen den zu, was er soeben

erfah ren. Er hört, wie das Lachen ver -

stummt. — — — Die Bau ten zer stau ben, die Kir -

che stürzt. — — — Aus ge ris sen, im Staube, die

wei nen den Lilien des Klo ster gar tens. —

Es wankt die Erde; die Dämo nen des Has ses

brül len zum Him mel!

Ein Poch werk häm mert und dröhnt und

stampft den Platz, die Stadt und blu tende Men -

schen her zen zu gol de nem Staub. — —

Der Träu mer schüt telt den Kopf und sinnt

und lauscht der klin gen den Stimme des ver bor -

ge nen Mei sters im Her zen:

»Wer eine schlimme Tat nicht scheut und die

nicht liebt, die Glück ver leiht —

Der ist ent sa gend, ein sichts voll, ent schlos sen,

voll von Wesen heit.«

— — — — — — — — — — — —

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Wie ist doch der zackige Broc ken so leicht für

har tes Gold? — — Der Ein same sieht ihn an:

Ein mensch li cher Wir bel kno chen!

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Der Schrec ken

Die Schlüs sel klir ren, und ein Trupp Sträf linge

betritt den Gefäng nis hof. — Es ist zwölf Uhr,

und sie müs sen im Kreise her um ge hen, um Luft

zu schöp fen, paar weise — einer hin ter dem

andern. —

Der Hof ist gepfla stert, nur in der Mitte ein

paar Flec ken dunk les Gras, wie Grab hü gel. —

Vier dünne Bäume und eine Hecke aus trau ri -

gem Ligu ster. —

Ringsum alte gelbe Mau ern mit klei nen, ver git -

ter ten Ker ker fen stern.

Die Sträf linge in ihren grauen Zucht haus klei -

dern, sie reden kaum und gehen immer im

Kreise herum — einer hin ter dem andern. — Fast

alle sind krank. — Skor but, geschwol lene

Gelenke. — Die Gesich ter grau, wie Fen ster kitt,

die Augen erlo schen. Mit freud lo sem Her zen

hal ten sie glei chen Schritt.

Der Auf se her mit Säbel und Mütze steht an

der Hof türe und starrt vor sich hin. —

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Längs der Mauer ist nack te Erde. — Dort

wächst nichts. — Das Leid sickert durch die gel -

ben Wände.

»Lukawsky war eben beim Prä si den ten,« ruft

ein Gefan ge ner den Sträf lin gen durch sein Ker -

ker fen ster halb laut zu. — Der Trupp mar schiert

wei ter. — »Was ist’s mit ihm?« fragt ein Neu ling

sei nen Neben mann. — »Lukawsky, der Mör der,

ist zum Tode ver ur teilt durch den Strang, und

heute glaub’ ich, soll sich’s ent schei den, ob das

Urteil bestä tigt wird oder nicht.« —

»Der Prä si dent hat ihm die Bestä ti gung des

Urteils auf dem Amts zim mer ver le sen.« — »Der

Lukawsky hat kein Wort gesagt, nur getau melt

hat er.« — »Aber drau ßen hat er mit den Zäh nen

geknirscht und einen Wut an fall bekom men.« —

»Die Auf se her haben ihm die Zwangs jac ke ange -

legt und ihn mit Gur ten auf die Bank geschnallt,

daß er kein Glied rüh ren kann bis mor gen

früh.« — »Und ein Kru zi fix haben sie ihm hin ge -

stellt.« — Bruch stück weise hatte der Gefan gene

den Vor bei mar schie ren den dies zuge ru fen. —

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»Auf Zelle Nr. 25 liegt er, der Lukawsky,« sagte

einer der älte sten Sträf linge. — Alle blic ken zum

Git ter fen ster Nr. 25 hin auf. —

Der Auf se her lehnt gedan ken los am Tor und

stößt mit dem Fuß ein Stück altes Brot bei seite,

das im Wege liegt. —

In den schma len Gän gen des alten Land ge rich -

tes lie gen die Ker ker tü ren dicht neben ein an -

der. — Nied rige Eichen tü ren, in das Mau er werk

ein ge las sen, mit Eisen bän dern und mäch ti gen

Rie geln und Schlös sern. — Jede Tür hat einen

ver git ter ten Aus schnitt, kaum eine Spanne im

Geviert. Durch diese ist die Neuig keit gedrun -

gen und läuft längs der Fen ster git ter von Mund

zu Mund: »Mor gen wird er gehenkt!« —

Es ist still auf den Gän gen und im gan zen

Hause, und doch herrscht ein fei nes Geräusch.

Leise, unhör bar, nur zu füh len. — Durch die

Mau ern dringt es und spielt in der Luft, wie

Mückenschwärme. — Das ist das Leben, das

gebun dene, gefan gene Leben! —

Mit ten im Haupt gang, dort wo er wei ter wird,

steht eine alte leere Truhe ganz im Dun keln.

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Laut los, lang sam hebt sich der Deckel. — Da

fährt es wie Todes furcht durchs ganze Haus. —

Den Gefan ge nen bleibt das Wort im Munde stek -

ken. — Auf den Gän gen kein Laut mehr, — daß

man das Schla gen des Her zens hört und das

Klin gen im Ohr. —

Die Bäume und Sträu cher auf dem Hofe rüh -

ren kein Blatt und grei fen mit herbst li chen

Ästen in die trübe Luft. — Es ist, wie wenn sie

noch dunk ler gewor den wären. —

Ein Trupp Sträf linge ist ste hen geblie ben wie

auf einen Wink: Hat nicht jemand geschrien? —

Aus der alten Truhe kriecht lang sam ein

scheuß li cher Wurm. — Ein Blut egel von gigan ti -

scher Form. — Dun kel gelb mit schwar zen Flek -

ken, saugt er sich die Zel len ent lang am Boden

hin. — Bald dick wer dend, dann wie der dünn,

bewegt er sich vor wärts und tastet und sucht. —

Am Kopfe seit lich in jeder Höhle star ren fünf

anein an der ge quetschte Aug äp fel, — ohne Lider

und unbe weg lich. — Es ist der Schrec ken. —

Er schleicht sich zu den Gerich te ten und saugt

ihnen das warme Blut aus — unter halb der

Kehle, dort wo die große Ader das Leben vom

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Her zen zum Kopfe trägt. — Und umschlingt mit

sei nen schlüpf ri gen Rin gen den war men Men -

schen leib. — — —

Jetzt ist er zur Zelle des Mör ders gekom -

men. —

Ein lan ges grau en haf tes Schreien, ohne Unter -

bre chung, wie ein ein zi ger nicht enden der Ton,

dringt auf den Hof. —

Der Auf se her am Tür pfo sten fährt zusam men

und reißt den Tor flü gel auf. — »Alle, marsch hin -

auf, auf die Zel len,« schreit er, und die Gefan ge -

nen lau fen an ihm vor bei, ohne ihn anzu se hen,

die stei ner nen Trep pen hin auf. — Trapp, trapp,

trapp — mit plum pen, gena gel ten Schu hen.

Dann ist es wie der still gewor den, — der Wind

fährt in den öden Hof raum hin un ter und reißt

eine alte Dach luke ab, die klir rend und split -

ternd auf die schmut zige Erde fällt. — — —

Der Ver ur teilte kann nur den Kopf bewe -

gen. — Er sieht die weiß getünch ten Ker ker -

wände vor sich. — Undurch dring lich. — Mor gen

früh um sie ben Uhr wer den sie ihn holen. —

Noch acht zehn Stun den bis dahin. — Und sie -

ben Stun den, dann kommt die Nacht. — — —

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Bald wird Win ter sein, und das Früh jahr

kommt und der heiße Som mer. — Dann wird er

auf ste hen — früh — schon in der Däm me rung,

und auf die Straße gehen, den alten Milch kar ren

anse hen und den Hund davor … Die Frei heit —!

Er kann ja tun was er will. —

Da schnürt es ihm wie der die Kehle. — Wenn

er sich nur bewe gen könnte. — Ver flucht, ver -

flucht, ver flucht — und mit den Fäu sten an die

Mau ern schla gen. — Hin aus! — — — Alles zer bre -

chen und in die Rie men bei ßen. — Er will jetzt

nicht ster ben — will nicht — will nicht! — Damals

hät ten sie ihn hän gen dür fen, als er ihn ermor -

det hat, — den alten Mann, — der schon mit

einem Fuß im Grabe stand. — — — Jetzt hätte er

es doch nicht mehr getan! — — — Der Ver tei di ger

hat das nicht erwähnt. — Warum hat er es den

Geschwo re nen nicht selbst zuge ru fen?! — Sie

hät ten dann anders geur teilt. — Er muß es jetzt

noch dem Prä si den ten sagen. — Der Auf se her

soll ihn vor füh ren. — Jetzt gleich. — — — — — Mor -

gen früh ist’s zu spät, da hat der Prä si dent die

Uni form an, und er kann nicht so dicht an ihn

heran. — Und der Prä si dent würde ihn nicht

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anhö ren. — Dann ist’s zu spät, man kann die vie -

len Poli zei leute nicht mehr wegschic ken. — Das

tut der Prä si dent nicht. — — —

Der Hen ker legt ihm die Schlinge über den

Kopf, — er hat braune Augen und sieht ihm

immer scharf auf den Mund. — Sie rei ßen an,

alles dreht sich — halt, halt — er will noch etwas

sagen, etwas Wich ti ges. — — —

Ob der Auf se her kom men wird und ihn heute

noch los bin den von der Bank? — Er kann doch

nicht so lie gen blei ben die gan zen acht zehn Stun -

den. — Natür lich nicht, der Beicht va ter muß

doch noch kom men, so hat er es immer gele sen.

Das ist Gesetz. — Er glaubt an nichts, aber nach

ihm ver lan gen wird er, es ist sein Recht. — Und

den Schä del wird er ihm ein schla gen, dem fre -

chen Pfaf fen, mit dem stei ner nen Krug

dort. — — — — — Die Zunge ist ihm wie

gedörrt. — Trin ken will er — er ist dur stig. — Him -

mel, Herr gott! — Warum geben sie ihm nichts zu

trin ken! — Er wird sich beschwe ren. Er wird vor -

tre ten und sich beschwe ren, wenn die Inspek -

tion näch ste Woche kommt. — Er wird es ihm

schon ein trän ken, — dem Auf se her, — dem ver -

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fluch ten Hund! — Er wird solange schreien, bis

sie kom men und ihn los bin den, immer lau ter

und lau ter, daß die Wände ein stür zen. — Und

dann liegt er unter freiem Him mel, ganz hoch

oben, daß sie ihn nicht fin den kön nen, wenn sie

um ihn herum gehen und ihn suchen. — — — — —

— — — — — — Er muß irgendwo her ab ge fal len

sein, deucht ihm, — es hat ihm einen sol chen

Ruck gege ben durch den Kör per. —

Sollte er geschla fen haben? — Es ist däm me -

rig. —

Er will sich an den Kopf grei fen, — seine

Hände sind fest ge bun den. — — Vom alten

Turme dröhnt die Zeit — eins, zwei — wie spät

mag’s sein? — Sechs Uhr. — Herr gott im Him -

mel, nur noch drei zehn Stun den, und sie rei ßen

ihm den Atem aus der Brust. — Hin ge rich tet soll

er wer den, erbar mungs los — gehenkt. — Die

Zähne klap pern ihm vor Kälte. — Etwas saugt

ihm am Her zen, er kann es nicht sehen. — Dann

steigt es ihm schwarz ins Gehirn. — Er schreit

und hört sich nicht schreien, — alles schreit in

ihm, die Arme, die Brust, die Beine, — der ganze

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Kör per, — ohne Auf hö ren, ohne Atem ho -

len. — — —

— — — — — — — — — — — —

An das offene Fen ster des Amts zim mers, das

ein zige, das nicht ver git tert ist, tritt ein alter

Mann mit wei ßem Bart und einem har ten, fin -

stern Gesicht und sieht in den Hof raum hinab.

Das Schreien stört ihn, er run zelt die Stirn, —

mur melt etwas und schlägt das Fen ster zu. — —

Am Him mel jagen die Wol ken und bil den

haken för mige Strei fen. — — Zer fetzte Hie ro gly -

phen, wie eine alte, ver lo schene Schrift: »Rich tet

nicht, auf das ihr nicht gerich tet wer det!«

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Jörn Uhl

St sprich (s-prich) wie S-t

und mach die Schnauze süß und lieb lich.

Jörn Uhl war lang, hatte die Augen enge ste -

hend und stroh blon des Haar. — Er war ein Obo -

trit sei ner Abstam mung nach, — mög lich auch,

daß er ein Kaschube war, — jeden falls war er ein

Nord deut scher.

Er lebte abge schlos sen, stand früh vor Son nen -

auf gang mit den Hüh nern auf und wusch sich

dann immer in einer Balje, wäh rend seine Brü -

der noch in den Federn lagen. —

Mach dich nütz lich, war sein Wahl spruch,

und wenn Sonn abends die alte Magd Dor chen

Mahnke mit Gret chen Klempke am Gesin de ti -

sche saß und tühnte, — ach, da schnack te er nu

nie mit. —

Er war so abge schlos sen und gänz lich ver schie -

den von sei nen Geschwi stern, und das kam

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wohl daher, weil seine Mut ter, als sie ihn zeugte,

an etwas ganz ande res gedacht hatte. —

»Tüh nen« — nein, — sagte er sich, biß die

Zähne zusam men und ging hin aus in die Abend -

luft. — —

Er war ein Uhl!!

Dahin ten — weit am Him mel lag das letzte

träu mende Gelb, schwere Nacht wol ken dar -

über, daß die Sterne nicht her vor konn ten. Und

dichte Nebel schleier zogen lang sam über die

Heide. — —

Da kam ein dunk len Schat ten mit etwas Blit -

zen dem über der Schul ter auf das Haus zu. — Es

war Fiete Krey, der so spät noch von Felde

kam. — Ein paar Schritte von ihm weg Lis beth

Sootje, das Süß chen; — und sie trip pelte auf Jörn

zu und bot ihm die kleine Hand.

»’n Tachch, Jörn,« sagte sie so fein zu ihm, als

er ihre Hand hielt. — »Ich komme nu man eben

ein bischen snac ken, — is Dor chen in? — Sieh

mal, ich hab’ mich ein Strick strumpf mit ge -

bracht, — ach, nu hat sich das Strick zeug ver hed -

dert. Laß nachch,« und: »muß mal klar krie gen,«

sagte sie dann, um sich von ihm los zu ma chen. —

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Jörn kuck te ihr auf das blonde Köpf chen. —

Hein tüüt, wollte er zu ihr sagen, Hein tüüt;

aber er sagte es nicht, er dachte es bloß, — er war

ein Uhl! —

Noch oft spä ter im Leben mußte er daran den -

ken, daß er ihr damals nicht Hein tüüt gesagt

hatte, und auch sie dachte spä ter oft daran

zurück, wie sich ihr Strick zeug ver tü dert

hatte. —

So läßt es Gott oft anders gesche hen, als wir

hier auf Erden uns vor neh men. —

Jörn strich noch durch die Wie sen, und es lag

so kühl in der Luft. — Von wei tem dran gen über

die Fel der die Wei sen der Spiel leute aus der

Schenke, bald leise, leise, — bald über mä ßig deut -

lich, — wie es der Abend wind her über trug. —

Als es an zu reg nen fing, lenkte er seine

Schritte dem Hofe zu. —

Es war schon so fin ster gewor den, daß man es

kaum über den Weg sprin gen sah, wenn ein

Pagütz mang das Gras hüpfte. —

Jörn legte seine Kappe ab, als er an den Gesin -

de tisch trat. —

Page 71: Gustav Meyrink Orchideen - m.ngiyaw- · PDF fileDer große Saal, der sonst nur wis sen schaft li - chen Vor trä gen diente, war dicht gefüllt. — In der Mitte, auf einem Podium,

»Hast dein Strick zeug all klar gekriegt?« sagte

er zu Lis beth. — —

»Hab’ es klar gekriegt,« nick te sie. —

»Hest du all ’n Swohn siehn, dej mit ’n Buuk

opn koo len Woter swemm?« fragte da Pie ter

Uhl, sein Bru der, und tat ver trau lich zu Gret -

chen Klempke. —

»Ich geh nu man nach oben,« sagte Jörn ver -

dros sen, der sol che Redens ar ten nicht lei den

mochte. — »Schlaf süß, Lis beth!«

»Schlaf süß, Jörn!« — — — — — — — —

»Baller man, jüü,« rief ihm sein Bru der nach.

»Ja-nu-man«1 — — — seufzte Dor chen Mahnke,

denn sie war hell se hend.

— — — — — — — — — — — —

Jörn Uhl war nach oben gegan gen — in sein

Zim mer, — rei nigte sein Bein kleid, denn er war

arg in Mudd gesackt, und aß noch ein biß chen

Buch wei zen grütze mit Sahne, die er von Mit tag

her in einen Topf getan und hin ter dem Ofen ver -

sto chen hatte. —

»Schmeckt schön,« sagte er.

Dann nahm er einen Foil und machte reine. —

Page 72: Gustav Meyrink Orchideen - m.ngiyaw- · PDF fileDer große Saal, der sonst nur wis sen schaft li - chen Vor trä gen diente, war dicht gefüllt. — In der Mitte, auf einem Podium,

Bis alles wie der blit ze blank gescheu ert war,

nahm er ein Buch vor, das ihm Fiete Krey mal

von Ham burg mit ge bracht hatte, wo gerade

Dom war. —

»Ach, das ist es ja nich,« sagte er. — »Es is wohl

Clau dius, der Wands bec ker Bote: — — ›lie ber

Mond, du gehst so stille‹ — der ruht nu man

schon lange drau ßen in Otten sen.« —

Dann nahm er ein ander Buch aus dem

Spinde und trat für einen klei nen Augen blick an

das Vogel bauer, das vor dem Fen ster hing. —

»Bist du ein klein süßer Finke,« sagte er,

»tüüt — tüüt.« — — Das Vögel chen hatte sein

Köpf chen aus den Flü geln gezo gen und sah nu

ganz starr und erschroc ken ins Lichte. — —

Dann klappte er fin ster die Luke zu, — denn von

drü ben her aus Krö gers Destil la tion tönte das

trun kene Gegröhle der wüsten Gesel len beim

Becher sturz, — und setzte sich in Urahns

geschnitz ten Stuhl. — — — — — War auch so ’n

altes Stück! — Mit steife Lehne, und da, wo die

Farbe weg ge tan war, kuck te nu das schöne

Schnitz werk durch.

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Cla wes Uhl anno domini 1675 stand dar -

über.

Ja, die Uhlen waren ein erb ge ses sen

Geschlecht, knor rig und hah ne bü chen! —

Wie Groß mut ter Jörn zum Manne nahm —

Jörns Groß va ter hieß auch Jörn — da wollte sie

lange nicht Ja und Amen sagen. —

Sie war eine stolze Deern gewe sen, und ver -

schlos sen war sie — ver schlos sen, — hatte Krey -

en blut in den Adern; und noch als sie eine

Göhre war und zu Schule ging zu Pastor Loren -

zen, sprach sie sel ten ein Wort und spielte nie

mit den andern Göh ren. —

Hatte klein harte Fäu ste und rotes Haar, — die

lüttje Deern. —

»Ich tanze nich mit dich,« hatte sie zu ihrem

Bräu ti gam gesagt, »im Tanze liegt etwas Sünd -

haf tes in,« und hatte sich wech von ihm gebo -

gen.

Dann hatte sie noch ein »Rund stück – warm«

mit Tunke geges sen und war allein hin aus ge fah -

ren mit ihren Pfer den über die däm mer fri sche

Heide. —

Page 74: Gustav Meyrink Orchideen - m.ngiyaw- · PDF fileDer große Saal, der sonst nur wis sen schaft li - chen Vor trä gen diente, war dicht gefüllt. — In der Mitte, auf einem Podium,

»Wes halb ich ihn nur nicht liebe,« wie der holte

sie sich immer wie der beim Fah ren.

Dann hielt sie plötz lich an. — Ein Junge badete

dort, nackend, ganz nackend, — sie sah sich ihn

lange an, und er bemerkte es nicht. — Da fühlte

sie, wie etwas in ihre keu sche Seele drang: — —

daß alles in der Natur zur Liebe geschaf fen

war. —

Jetzt wußte sie es, sie hatte es deut lich gese -

hen. — Jetzt wußte sie auch, daß sie Jörn liebe,

aus gan zer Seele liebe. —

Keusch natür lich. —

Da war Jörn leise an ihren Wagen getre ten —

er war ihr nach ge gan gen — und hin ten auf ge ses -

sen. — »Was kiekst du so?« hatte er gesagt. —

Der Knabe aber ver stach sich.

Ihr war ganz flad de rig gewor den. — »Mien

Uhl,« hatte sie gesagt, dann waren sie zu zweit

wei ter gefah ren. — —

So kam es, daß Groß va ter Uhl eine Krey zum

Weibe nahm.

— — — — — — — — — — — — — — — — — — — —

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Wir hat ten Jörn ver las sen, als er Buch wei zen -

grütze mit Jus aß und ein Buch vor ge nom men

hatte. —

Es war: »Fietze Faatz, der Met ten kö nig« von

Pastor Thiet gen und hatte eine Auf lage, — sooo

groß! —

In Ham burch las es jeder, es hieß sogar, daß es

dem nächst aus dem Frens sen schen ins Deut -

sche über setzt wer den solle.

Jörn Uhl las und las. —

Es han delte davon, wie Fietze Faatz noch drei

Jahre alt war, ein klei nen Buttje, — wie er

immerzu ler nen wollte — immerzu! — — — und

mit Nest kü ken, sei nem Schwe ster lein, die ein

klein nied li ches Göhr war — in der Twiete spielte

und im Fleet Stick legrintjes fing. —

Wie er denn nach Schule sollte und nich latei -

nisch konnte. —

Wie Sena tor Stühl kens lütt Jett chen im Grü -

nen Kop pei ster schoß und sie von einem Quittje

und einer lüder li chen Deern das Lied lern ten:

»Op de Brüch, do steit

en ohlen Kerl un fleit,

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un Marei ken Popp

grölt jem dol

dat Signol:

Du kumm man eben ropp,«

und wie der Vater da so böse über war. —

Jörn Uhl las und las; — daß Fietze Faatz 10

Jahre wurde, und 10 1/2, und 10 3/4, und 11

Jahre, und Jett chen Stühl ken immer Schritt mit

ihm im Alter hielt und kei nes das andere darin

über flü geln konnte, — daß Fietze Faatz von Tag

zu Tag ern ster zusah, wenn Jett chen Kop pei ster

schoß, bis sie end lich län gere Klei der erhielt.

Jörn Uhl las die ganze Nacht, — — und Fietze

Fatz war erst 11 1/2 Jahre alt, — las den näch sten

Tag und die kom mende Nacht: — Da war Fietze

Fatz aller dings schon 16 Jahre, aber Jörn hatte

erst ein Drit tel des Buches gele sen und fiel vor

Schwä che vom Stuhl. — —

Wegen des Gepol ters kam das Gesinde nach

oben, — frü her hat ten sie es nicht gewagt — er

war ein Uhl! —

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Voran Fiete Krey, der Gro ß knecht. — Wie der

Jörn sah, scheu erte er sich hin ter den Ohren

und ent setzte sich: der hatte einen lan gen

grauen Bart bekom men und war sel ber beim

Lesen sech zehn Jahre älter gewor den. —

»Junge, — Minsch,« — sagte Krey, — »kuck dich

nu man eben im Spie gel.« — — — — — — —

»Dat kumt von die ver damm ten Bücher,«

setzte er halb laut hinzu, — Lis beth Sootje aber

mochte Jörn nu mit eins gar nicht mehr lei -

den; — — —

Und so blieb es. — — — — — — — —

— — — — — — — — — — — —

— — — — — — — — — — — —

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Das Gehirn

Der Pfar rer hatte sich so herz lich auf die Heim -

kehr sei nes Bru ders Mar tin aus dem Süden

gefreut, und als die ser end lich ein trat in die alter -

tüm li che Stube, eine Stunde frü her, als man

erwar tet hatte, da war alle Freude ver schwun -

den.

Woran es lag, konnte er nicht begrei fen, er

emp fand es nur, wie man einen Novem ber tag

emp fin det, an dem die Welt zu Asche zu zer fal -

len droht.

Auch Ursula, die Alte, brachte anfangs kei nen

Laut her vor.

Mar tin war braun wie ein Ägyp ter und

lächelte freund lich, als er dem Pfar rer die

Hände schüt telte.

Er bleibe gewiß zum Abend es sen zu Hause

und sei gar nicht müde, meinte er. Die näch sten

paar Tage müsse er zwar in die Haupt stadt,

dann aber wolle er den gan zen Som mer daheim

sein.

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Sie spra chen von ihrer Jugend zeit, als der

Vater noch lebte — und der Pfar rer sah, daß Mar -

tins selt sa mer melan cho li scher Zug sich noch

ver stärkt hatte.

»Glaubst du nicht auch, daß gewisse über ra -

schende, ein schnei dende Ereig nisse bloß des -

halb ein tre ten müs sen, weil man eine innere

Furcht vor den sel ben nicht unter drüc ken

kann?« waren Mar tins letzte Worte vor dem

Schla fen ge hen gewe sen. »Und weißt du noch,

wel ches grau en haf tes Ent set zen mich schon als

klei nes Kind befiel, als ich ein mal in der Küche

ein blu ti ges Kalbs hirn sah …«

Der Pfar rer konnte nicht schla fen, es lag wie

ein erstic kender, spuk haf ter Nebel in dem frü her

so gemüt li chen Zim mer.

Das Neue, das Unge wohnte, — dachte der

Pfar rer.

Aber es war nicht das Neue, das Unge wohnte,

es war ein ande res, das sein Bru der her ein ge -

bracht hatte.

Die Möbel sahen nicht so aus wie sonst, die

alten Bil der hin gen, als ob sie von unsicht ba ren

Kräf ten an die Wände gepreßt wür den. Man

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hatte das bange Ahnen, daß das bloße Aus den -

ken irgend eines frem den, rät sel haf ten Gedan -

kens eine ruck weise, uner hörte Ver än de rung

her vor brin gen müsse. — Nur nichts Neues den -

ken, — bleibe beim Alten, All täg li chen, warnt

das Innere. Gedan ken sind gefähr lich wie Blitze!

Mar tins Aben teuer nach der Schlacht bei

Omdur man ging dem Pfar rer nicht aus dem

Sinn: wie er in die Hände der Obe ah ne ger gefal -

len war, die ihn an einen Baum ban -

den — — — — — Der Obi zau be rer kommt aus sei -

ner Hütte, kniet vor ihm hin und legt noch ein

blu ti ges Men schen ge hirn auf die Trom mel, die

eine Skla vin hält.

Jetzt sticht er mit einer lan gen Nadel in ver -

schie dene Par tien die ses Gehirns, und Mar tin

schreit jedes mal wild auf, weil er den Stich im

eige nen Kopfe fühlt.

Was hat das zu bedeu ten?!

Der Herr erbarme sich sei ner! …

Gelähmt an allen Glie dern wurde er damals

von eng li schen Sol da ten ins Feld spi tal gebracht.

* * *

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Eines Tages fand der Pfar rer sei nen Bru der

bewußt los zu Hause vor.

Der Metz ger mit sei ner Fleisch mulde sei

gerade ein ge tre ten, berich tete die alte Ursula, da

plötz lich sei Herr Mar tin ohne Grund ohn mäch -

tig gewor den.

»Das geht so nicht wei ter, du mußt in die Ner -

ven heil an stalt des Pro fes sors Dio kle tian Büf fel -

klein, der Mann genießt einen Welt ruf,« hatte

der Pfar rer zu sei nem Bru der gesagt, als die ser

wie der zu sich gekom men war, und Mar tin wil -

ligte ein. —

* * *

»Sie sind Herr Schlei den? Ihr Bru der, der Pfar -

rer, hat mir bereits von Ihnen berich tet. Neh men

Sie Platz und erzäh len Sie in kur zen Zügen,« sagte

Pro fes sor Büf fel klein, als Mar tin das Sprech zim -

mer betrat.

Mar tin setzte sich und begann:

»Drei Monate nach dem Ereig nis bei Omdur -

man, Sie wis sen, waren die letz ten Läh mungs er -

schei nun gen …«

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»Zei gen Sie mir die Zunge — hm, keine Abwei -

chung, mäßi ger Tre mor,« unter brach der Pro fes -

sor. »Warum erzäh len Sie denn nicht wei -

ter?« — — —

»… waren die letz ten Läh mungs er schei nu -

gen —« setzte Mar tin fort.

»Schla gen Sie ein Bein über das andere, so,

noch mehr, so —« befahl der Gelehrte und

klopfte sodann mit einem klei nen Stahl ham mer

auf die Stelle unter halb der Knie scheibe des

Patien ten. Sofort fuhr das Bein in die Höhe.

»Erhöhte Reflexe,« sagte der Pro fes sor —

»haben Sie immer erhöhte Reflexe gehabt?«

»Ich weiß nicht, ich habe mir nie aufs Knie

geklopft,« meinte Mar tin.

»Schlie ßen Sie ein Auge, jetzt das andere, öff -

nen Sie das linke, so — jetzt rechts — gut — Licht -

re flexe in Ord nung.

»War der Licht re flex bei Ihnen stets in Ord -

nung, beson ders in letz ter Zeit, Herr Schlei -

den?«

Mar tin schwieg resi gniert.

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»Auf sol che Zei chen hät ten Sie eben ach ten

müs sen,« bemerkte der Pro fes sor mit leich tem

Vor wurf und hieß den Kran ken sich ent klei den.

Eine lange, genaue Unter su chung fand statt,

wäh rend wel cher der Arzt alle Kenn zei chen tief -

sten Den kens offen barte und dazu latei ni sche

Worte mur melte.

»Sie sag ten doch vor hin, daß Sie Läh mungs er -

schei nun gen hät ten, ich finde aber keine,« sagte

er plötz lich.

»Nein, ich wollte doch sagen, daß Sie nach

drei Mona ten ver schwun den seien,« ent geg nete

Mar tin Schlei den.

»Sind Sie denn schon so lange krank, mein

Herr?«

Mar tin machte ein ver blüff tes Gesicht.

»Es ist eine merk wür dige Erschei nung, daß

sich fast alle deut schen Patien ten so unklar

ausdrüc ken,« meinte freund lich lächelnd der

Pro fes sor; »da soll ten Sie ein mal einer Unter su -

chung auf einer fran zö si schen Kli nik bei woh -

nen, wie prä gnant sich da selbst der ein fa che

Mann aus drückt. Übri gens hat es nicht viel auf

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sich mit Ihrer Krank heit. Neu ras the nie, wei ter

nichts.

»Es wird Sie wohl gewiß auch inter es sie ren,

daß es uns Ärz ten — gerade in aller letz ter Zeit —

gelun gen ist, die sen Ner ven sa chen auf den

Grund zu kom men. Ja, das ist der Segen der

moder nen For schungs me thode, heute ganz

genau zu wis sen, daß wir füg lich gar keine Mit -

tel — Arz neien — anwen den kön nen.

»Ziel be wußt das Krank heits bild im Auge

behal ten! Tag für Tag! Sie wür den stau nen, was

wir damit erzie len kön nen. Sie ver ste hen!

»Und dann die Haupt sa che: Ver mei den Sie

jede Anstren gung, das ist Gift für Sie — und

jeden zwei ten Tag mel den Sie sich bei mir zur

Visite. — Also noch mals: keine Auf re gung!«

Der Pro fes sor schüt telte dem Kran ken die

Hand und schien infolge der gei sti gen Anstren -

gung sicht lich erschöpft.

— — — — — — — — — — — —

Das Sana to rium, ein mas si ver Stein bau, bil -

dete das Eck einer sau be ren Straße, die das unbe -

leb te ste Stadt vier tel schnitt.

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Gegen über zog sich das alte Palais der Grä fin

Zah radka hin, des sen stets ver hängte Fen ster

den krank haft ruhi gen Ein druck der leb lo sen

Straße ver stärkte.

Fast nie ging jemand durch die selbe, denn der

Ein gang in das viel be suchte Sana to rium lag auf

der ande ren Seite bei den Zier gär ten, neben den

bei den alten Kasta nien bäu men.

— — — — — — — — — — — —

Mar tin Schlei den liebte die Ein sam keit, und

der Gar ten mit sei nen Tep pich pflan zen, sei nen

Roll stüh len und lau ni schen Kran ken, mit dem

lang wei li gen Spring brun nen und den dum men

Glas ku geln war ihm ver lei det.

Ihn zog die stille Straße an und das alte Palais

mit den dunk len Git ter fen stern. Wie mochte es

drin nen aus se hen?

Alte ver bli chene Gobe lins, ver schos sene

Möbel, umwic kelte Glas lü ster. Eine Grei sin mit

buschi gen, wei ßen Augen brauen und her ben,

har ten Zügen, die der Tod und das Leben ver -

ges sen hatte. —

Tag für Tag schritt der Mann das Palais ent -

lang. —

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In sol chen öden Stra ßen muß man dicht an

den Häu sern gehen. —

Mar tin Schlei den hatte den ruhi gen, eigen tüm -

li chen Schritt, den Men schen haben, die lange in

den Tro pen gelebt. Er störte den Ein druck der

Straße nicht; sie paß ten so zuein an der, diese welt -

frem den Daseins for men.

Drei heiße Tage waren gekom men, und jedes -

mal begeg nete er auf sei nem ein sa men Weg

einem Alten, der stets eine Gips bü ste trug.

Eine Gips bü ste mit einem Bür ger ge sicht, das

sich nie mand mer ken konnte. —

Dies mal waren sie zusam men ge sto ßen — der

Alte war so unge schickt.

Die Büste neigte sich und fiel lang sam zu

Boden.

Alles fällt lang sam, nur wis sen es die Men -

schen nicht, die keine Zeit haben zur Beob ach -

tung. —

Der Gips kopf zer brach, und aus den wei ßen

Scher ben quoll ein blu ti ges Men schen ge hirn. —

Mar tin Schlei den blick te starr hin, er streck te

sich und wurde fahl. Dann brei tete er die Arme

aus und schlug die Hände vors Gesicht.

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Mit einem Seuf zer stürzte er zu Boden. — — —

Der Pro fes sor und die bei den Assi stenz ärzte

hat ten den Vor gang von den Fen stern zufäl lig

mit ange se hen.

Der Kranke lag jetzt im Unter su chungs zim -

mer. Er war gänz lich gelähmt und ohne Bewußt -

sein.

Eine halbe Stunde spä ter war der Tod ein ge tre -

ten. —

Ein Tele gramm hatte den Pfar rer ins Sana to -

rium beru fen, der jetzt wei nend vor dem Mann

der Wis sen schaft stand: »Wie ist das nur alles so

rasch gekom men, Herr Pro fes sor?« —

»Es war vor aus zu se hen, lie ber Pfar rer,« sagte

der Gelehrte. »Wir hiel ten uns streng an die

Erfah run gen, die wir Ärzte im Laufe der Jahre

in der Heil me thode gemacht haben, aber wenn

der Patient sel ber nicht befolgt, was man ihm

vor schreibt, so ist eben jede ärzt li che Kunst ver -

lo ren.«

»Wer war denn der Mann mit der Gips bü ste?«

unter brach der Pfar rer.

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»Da fra gen Sie mich nach Neben um stän den,

zu deren Beob ach tung mir Zeit und Muße

fehlt — las sen Sie mich fort fah ren:

Hier in die sem Zim mer habe ich wie der holte

Male Ihrem Bru der auf das ausdrück lichste die

Ent hal tung von jeg li cher Art Auf re gung ver ord -

net — ärzt lich ver ord net! Wer nicht folgte, war

Ihr Bru der. Es erschüt tert mich selbst tief, lie ber

Freund, aber Sie wer den mir recht geben:

Strikte Befol gung der ärzt li chen Vor schrift ist

und bleibt die Haupt sa che, und ich selbst war

Augen zeuge des gan zen Unglücks fal les.

»Schlägt der Mann in höch ster Auf re gung die

Hände vor den Kopf, wankt, tau melt und stürzt

zu Boden. Da war jede Hilfe zu spät. — Ich kann

Ihnen schon heute das Ergeb nis der Obduk tion

vor aus sa gen: Hoch gra dige Blut leere des

Gehirns, infolge dif fu ser Skle ro sie rung der

grauen Hirn rinde. Und jetzt beru hi gen Sie sich,

lie ber Mann, beher zi gen Sie den Satz und ler nen

Sie dar aus: Wie man sich bet tet, so liegt man. —

Es klingt hart, aber Sie wis sen, die Wahr heit

will starke Jün ger haben.«

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Eine Sug ge stion

23. Sep tem ber

So. — Jetzt bin ich fer tig mit mei nem System

und sicher, daß kein Furcht ge fühl in mir ent ste -

hen kann.

Die Geheim schrift kann nie mand ent zif fern.

Es ist doch gut, wenn man alles vor her genau

über legt und in mög lichst vie len Gebie ten auf

der Höhe des Wis sens steht. Das soll ein Tage -

buch für mich sein, kein ande rer als ich ist es zu

lesen imstande, und ich kann jetzt gefahr los nie -

der schrei ben, was ich zu mei ner Selbst be ob ach -

tung für nötig halte. — Verstec ken allein genügt

nicht, der Zufall bringt es an den Tag. —

Gerade die heim lich sten Verstec ke sind die

unsi cher sten. — Wie ver kehrt alles ist, was man

in der Kind heit lernt! — Ich aber habe mit den

Jah ren zu ler nen ver stan den, wie man den Din -

gen ins Innere sieht, und ich weiß ganz genau,

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was ich zu tun habe, damit auch nicht eine Spur

von Furcht in mir erwa chen kann.

Die einen sagen, es gibt ein Gewis sen, die

ande ren leug nen es; — das ist dann bei den ein

Pro blem und ein Anlaß zum Streite. — Und wie

ein fach doch die Wahr heit ist: Es gibt ein Gewis -

sen und es gibt kei nes, je nach dem man daran

glaubt. —

Wenn ich an ein Gewis sen in mir glaube, sug -

ge riere ich es mir. Ganz natür lich.

Selt sam ist dabei nur, daß, wenn ich an ein

Gewis sen glaube, es dadurch nicht nur ent steht,

son dern auch sich ganz selb stän dig mei nem

Wun sche und Wil len ent ge gen zu stel len ver -

mag. — — —

Ent ge gen stel len! – Son der bar! — Es stellt sich

also das Ich, das ich mir ein bilde, dem Ich gegen -

über, mit dem ich es mir selbst geschaf fen habe,

und spielt dann eine recht unab hän gige

Rolle. — — —

Eigent lich scheint es aber auch in andern Din -

gen so zu sein. Z. B. schlägt manch mal mein

Herz schnel ler, wenn man von dem Morde

spricht, und ich stehe dabei und bin doch sicher,

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daß sie mir nie auf die Spur kom men kön nen.

Ich erschrec ke nicht im gering sten in sol chen Fäl -

len, — ich weiß es ganz genau, denn ich beob -

achte mich zu scharf, als daß es mir ent ge hen

könnte, und doch fühle ich mein Herz schnel ler

schla gen.

Die Idee mit dem Gewis sen ist wirk lich das

Teuf lisch ste, was je ein Prie ster erdacht. —

Wer wohl der erste war, der die sen Gedan ken

in die Welt brachte! — Ein Schul di ger? Kaum!

Und ein Schuld lo ser? Ein soge nann ter Gerech -

ter? —Wie hätte der sich so in die Fol gen einer

sol chen Idee hin ein den ken kön nen?! —

Es kann nur so sein, daß irgend ein Alter es

Kin dern als Schreck gespenst dar ge stellt hat. —

Mit dem Instinkt der dro hen den Wehr lo sig keit

des Alters gegen über der kei men den bru ta len

Kraft der Jugend. —

Ich kann mich ganz gut erin nern, wie ich noch

als gro ßer Junge für mög lich gehal ten hätte, daß

sich die Sche men der Erschla ge nen an die Fer -

sen des Mör ders hef ten und ihm in Visio nen

erschei nen. — —

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Mör der! — Wie listig schon wie der das Wort

gewählt und gebaut ist. – Mör der! Es liegt

ordent lich etwas Röcheln des drin. —

Ich denke, der Buch stabe »Ö« ist die Wur zel,

aus der das Ent setz li che aus-klingt. — —

Wie einen die Men schen mit Sug ge stio nen

ordent lich umstellt haben!

Aber ich weiß schon, wie ich diese Gefah ren

ent werte. Tau send mal habe ich mir die ses Wort

an jenem Abend vor ge sagt, bis es die Schreck -

lichkeit für mich ver lo ren hat. — Jetzt ist es mir

ein Wort wie jedes andere. — —

— — Ich kann mir ganz gut vor stel len, daß

einen unge bil de ten Mör der die Wahn ideen, von

den Toten ver folgt zu wer den, in den Irr sinn het -

zen, aber nur den, der nicht über legt, nicht wägt,

nicht vor aus denkt. — Wer ist denn heut zu tage

gewöhnt, in bre chende Augen voll Todes angst

kalt blü tig hin ein zu schauen, ohne ein inne res

Leck davon zu tra gen oder in gur gelnde Keh len

den Fluch zurück zudrosseln, vor dem man sich

heim lich doch fürch tet. — Kein Wun der, daß so

ein Bild leben dig wer den kann und dann eine Art

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Gewis sen erzeugt, dem man schließ lich

erliegt. —

Wenn ich über mich nach denke, muß ich

beken nen, daß ich eigent lich gera dezu genial

vor ge gan gen bin. —

Zwei Men schen kurz hin ter ein an der zu ver gif -

ten und dabei alle Spu ren des Ver dach tes zu ver -

wi schen, ist wohl schon Düm me ren, als ich bin,

geglückt; aber die Schuld, das eigene Schuld ge -

fühl zu erstic ken, noch ehe es gebo ren,

das — — — Ich glaube wirk lich, ich bin der ein -

zige — — —

Ja, wenn einer das Unglück hätte, all wis send

zu sein, für den gäbe es schwer lich einen inne ren

Schutz: — so aber habe ich wohl weis lich meine

eigene Unwis sen heit benützt und klug ein Gift

gewählt, das eine Todes art erzeugt, deren Ver -

lauf mir gänz lich unbe kannt ist und auch blei ben

soll. —

Mor phium, Strych nin, Cyan kali; — alle ihre

Wir kun gen kenne ich oder könnte ich mir vor -

stel len: Ver ren kun gen, Krämpfe, blitz ar ti ges Nie -

der stür zen, Schaum vor dem Mund. — Aber

Cura rin! — Ich habe keine Ahnung, wie bei die -

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sem Gift der Todes kampf aus se hen mag, und

wie sollte sich da eine Vor stel lung in mir bil den

kön nen?! Dar über nach zu le sen werde ich mich

natür lich hüten, und zufäl lig oder unfrei wil lig

etwas dar über mit anhö ren zu müs sen, ist aus ge -

schlos sen. — Wer kennt denn heute über haupt

den Namen Cura rin?!

Also! — Wenn ich mir nicht ein mal ein Bild

von den letz ten Minu ten mei ner bei den Opfer

(welch alber nes Wort) machen kann, wie könnte

mich ein sol ches je ver fol gen? — Und sollte ich

den noch davon träu men, so kann ich mir beim

Erwa chen die Unhalt bar keit einer sol chen Sug -

ge stion direkt bewei sen. Und wel che Sug ge stion

wäre stär ker als ein sol cher Beweis!

— — — — — — — — — — — —

26. Sep tem ber.

Merk wür dig, gerade heute nachts träumte

ich, daß die bei den Toten links und rechts hin ter

mir her ge hen. — Viel leicht, weil ich gestern die

Idee vom Träu men nie der ge schrie ben habe!? —

Da gibt es jetzt nur zwei Wege, um sol chen

Traum bil dern den Ein tritt zu ver ram meln:

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Ent we der fort wäh rend sie sich inner lich vor zu -

hal ten, um sich daran zu gewöh nen, wie ich es

mit dem dum men Wort »Mör der« mache, oder

zwei tens diese Erin ne rung ganz aus zu rei ßen aus

dem Gedächt nisse. —

Das erstere? – Hm. — — Das Traum bild war zu

scheuß lich! — — Ich wähle den zwei ten Weg. —

Also: »Ich will nicht mehr daran den ken! Ich

will nicht! Ich will nicht, nicht, nicht mehr daran

den ken! — Hörst Du! — Du sollst gar nicht mehr

daran den ken! —«

Eigent lich ist diese Form: »Du sollst nicht

usw.« recht unüber legt, wie ich jetzt bemerke,

man soll sich nicht mit »Du« anre den, —

dadurch zer legt man sozu sa gen sein Ich in zwei

Teile: in ein Ich und ein Du, und das könnte mit

der Zeit ver häng nis volle Wir kun gen haben! —

— — — — — — — — — — — —

5. Okto ber

Wenn ich das Wesen der Sug ge stion nicht so

genau stu diert hätte, könnte ich wirk lich recht

ner vös wer den: Heute war es die achte Nacht,

daß ich jedes mal von dem sel ben Bilde geträumt

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habe. — Immer die zwei hin ter mir her, auf

Schritt und Tritt. — — Ich werde heute abends

unter die Leute gehen und etwas mehr als sonst

trin ken. —

Am lieb sten ginge ich ins Thea ter, — aber

natür lich: gerade heute ist »Mac -

beth«. — — — — — —

— — — — — — — — — — — —

7. Okto ber

Man lernt doch nie aus. — Jetzt weiß ich,

warum ich so hart näc kig davon träu men

mußte. — Para cel sus sagt ausdrück lich, daß man,

um bestän dig leb haft zu träu men, nichts ande res

zu tun brau che, als ein- oder zwei mal seine

Träume nie der zu schrei ben. Das werde ich aber

näch stens gründ lich blei ben las sen.

Ob das so ein moder ner Gelehr ter wüßte.

Aber auf den Para cel sus schimp fen, das kön nen

sie.

— — — — — — — — — — — —

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13. Okto ber.

Ich muß mir heute genau auf schrei ben, was

pas siert ist, damit nicht in mei ner Erin ne rung

etwa Dinge dazu wach sen, die gar nicht gesche -

hen sind. — —

Seit eini ger Zeit hatte ich das Gefühl — die

Träume bin ich Gott sei dank los — als ob stets

jemand links hin ter mir ginge. —

Ich hätte mich natür lich umdre hen kön nen,

um mich von der Sin nes täu schung zu über zeu -

gen, das wäre aber ein gro ßer Feh ler gewe sen,

denn schon dadurch hätte ich mir selbst gegen -

über heim lich zuge ge ben, daß die Mög lich keit

von etwas Wirk li chem über haupt vor han den

sein könne. — Das hielt so einige Tage an. – Ich

blieb gespannt auf mei ner Hut. —

Wie ich nun heute früh an mei nen Früh stücks -

tisch trete, habe ich wie der die ses lästige Gefühl,

und plötz lich höre ich ein knir schen des

Geräusch hin ter mir. — Ehe ich mich fas sen

konnte, hatte mich der Schrec ken über mannt,

und ich war her um ge fah ren. — Einen Augen -

blick sah ich ganz deut lich mit wachen Augen

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den toten Richard Erben, grau in grau, — dann

huschte das Phan tom blitz schnell wie der hin ter

mich,— aber doch nicht mehr so weit, daß ich es

nur wie vor her bloß ahnen kann. — Wenn ich

mich ganz grad richte und die Augen stark nach

links wende, kann ich seine Kon tu ren sehen,

sowie im Augen schim mer; — drehe ich aber den

Kopf, so weicht die Gestalt im sel ben Maß

zurück. —

Es ist mir ja ganz klar, daß das Geräusch nur

von der alten Auf wär te rin ver ur sacht sein

konnte, die kei nen Augen blick still ist und sich

immer an den Türen her um drückt. —

Sie darf mir von jetzt ab nur mehr in die Woh -

nung, wenn ich nicht zu Haus bin. Ich will über -

haupt kei nen Men schen mehr in die Nähe

haben. — —

Wie mir das Haar zu Berge stand! — ich denke

mir, daß das davon kommt, daß sich einem die

Kopf haut zusam men zieht. — —

Und das Phan tom?: Die erste Emp fin dung

war ein Nach we hen aus den frü he ren Träu -

men, — ganz ein fach —; und das Sicht bar wer den

ent stand ruck weise durch den plötz li chen

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Schrec ken. — Schrec ken, Furcht, Haß, Liebe

sind lau ter Kräfte, die das Ich zer tei len und

daher die eige nen, sonst ganz unbe wu ß ten

Gedan ken sicht bar machen kön nen, daß sie sich

im Wahr neh mungs ver mö gen wie in einem

Reflek tor spie geln.—

Ich darf jetzt län gere Zeit gar nicht unter Leute

und muß mich scharf beob ach ten, denn das

geht so nicht mehr wei ter. —

Unan ge nehm ist, daß das gerade auf den drei -

zehn ten des Monats fal len muß. — Ich hätte wirk -

lich gegen das alberne Vor ur teil mit dem drei -

zehn ten, das eben auch in mir zu stec ken

scheint, von allem Anfang an ener gisch kämp -

fen sol len. — Übri gens, was liegt an die sem

unwich ti gen Umstande. — — — — — —

— — — — — — — — — — — —

20. Okto ber.

Am lieb sten hätte ich meine Kof fer gepackt

und wäre in eine andere Stadt gefah ren. —

Schon wie der hat sich die Alte an der Tür zu

schaf fen gemacht. —

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Wie der die ses Geräusch, — dies mal rechts hin -

ter mir. — Der selbe Vor gang wie neu lich. – Jetzt

sehe ich rechts mei nen ver gif te ten Onkel, und

wenn ich das Kinn auf die Brust drüc ke, — so

quasi auf meine Schul tern schiele, — alle beide

links und rechts. —

Die Beine kann ich nicht sehen. Es scheint mir

übri gens, als ob die Gestalt des Richard Erben

jetzt mehr her vor ge tre ten, — näher zu mir

gekom men wäre.

Die Alte muß mir aus dem Hause, — das wird

mir immer ver däch ti ger, — aber ich werde noch

einige Wochen ein freund li ches Gesicht

machen, — damit sie nicht Miß trauen schöpft. —

Auch das Über sie deln muß ich noch hin aus -

schie ben, es würde den Leu ten auf fal len, und

man kann nicht vor sich tig genug sein. —

Mor gen will ich wie der das Wort »Mör der«

ein paar Stun den lang üben, es fängt an, unan ge -

nehm auf mich zu wir ken, — um mich wie der an

den Klang zu gewöh nen. — — —

Eine merk wür dige Entdec kung habe ich

heute gemacht: ich habe mich im Spie gel beob -

ach tet und gese hen, daß ich beim Gehen mehr

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mit dem Ballen auf trete als frü her und daher ein

leich tes Schwan ken spüre. — Die Redens art

vom »festen Auf tre ten« scheint einen tie fen, inne -

ren Sinn zu haben, wie über haupt in den Wor -

ten ein psy cho lo gi sches Geheim nis zu stec ken

scheint. — Ich werde dar auf ach ten, daß ich wie -

der mehr auf den Fer sen gehe. —

Gott, wenn ich nur nicht immer über Nacht

die Hälfte von dem ver gäße, was ich mir tags -

über vor nehme. — Rein, als ob der Schlaf alles

ver wi schen würde.

— — — — — — — — — — — —

1. Novem ber.

Letz tes mal habe ich doch absicht lich nichts

über das zweite Phan tom nie der ge schrie ben,

und doch ver schwin det es nicht. — Gräß lich,

gräß lich. — Gibt es denn kei nen Wider stand? —

Ich habe doch ein mal ganz klar unter schie den,

daß es zwei Wege gibt, um mich aus der Sphäre

sol cher Bil der zu rücken. — Ich habe doch den

zwei ten ein ge schla gen und bin dabei immer wäh -

rend auf dem ersten! —

War ich denn damals sin nes ver wirrt? —

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Sind die bei den Gestal ten Spal tun gen mei nes

Ichs oder haben sie ihr eige nes unab hän gi ges

Leben?

— — — Nein, nein! — Dann würde ich sie ja füt -

tern mit mei nem eige nen Leben! — — — — — Also

sind es doch wirk li che Wesen! — Grau en haft! —

Aber nein, ich betrachte sie doch nur als selb stän -

dige Wesen, und was man als Wirk lich keit

betrach tet, das ist — das ist — — — Herr gott,

barm her zi ger, ich schreibe ja nicht, wie man

sonst schreibt. — Ich schreibe ja, als ob mir

jemand dik tie ren würde. — — — — Das muß von

der Geheim schrift kom men, die ich immer erst

über set zen muß, ehe ich sie flie ßend lesen

kann. —

Mor gen schreibe ich das ganze Buch noch ein mal kur -

rent ab. – Herr gott, steh mir bei in die ser lan gen

Nacht. — — — — — — —

— — — — — — — — — — — —

10. Novem ber.

Es sind wirk li che Wesen, sie haben mir im

Traum ihren Todes kampf erzählt. — Jesus

schütze mich, — ja — Jesus, Jesus! — Sie wol len

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mich erdros seln! — Ich habe nach ge le sen; — es

war die Wahr heit, – Cura rin wirkt so, genau

so. — Woher wüß ten sie es, wenn sie nur Schein -

we sen wäre. — — —

Gott im Him mel, — warum hast du mir nie

gesagt, daß man nach dem Tode wei ter lebt, —

ich hätte ja kei nen ermor det.

Warum hast du dich mir nicht mir als Kind

geof fen bart? — — —

— — — Ich schreibe schon wie der so, wie man

spricht; und ich will nicht.

— — — — — — — — — — — —

12. Novem ber.

Ich sehe wie der klar, jetzt, wo ich das ganze

Buch abge schrie ben habe. — Ich bin krank. Da

hilft nur kal ter Mut und kla res Wis sen. —

Für mor gen früh habe ich mir den Dr. Wet ter -

strand bestellt, der muß mir genau sagen, wo

der Feh ler lag. — Ich werde ihm alles haar klein

berich ten, er wird mir ruhig zuhö ren und das

über Sug ge stion ver ra ten, was ich noch nicht

weiß. —

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Er kann im ersten Augen blick unmög lich für

wahr hal ten, daß ich wirk lich gemor det habe, —

er wird glau ben, ich sei bloß wahn sin nig. —

Und daß er es sich zu Hause nicht mehr über -

legt, dafür werde ich sor gen: — — Ein Gläs chen

Wein!!!

— — — — — — — — — — — —

13. Novem ber.

— — — — — — — — — — — —

— — — — — — — — — — — —

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G. M.

»Mackintosh ist wie der hier, das Mist viech.«

Ein Lauf feuer ging durch die Stadt.

George Mackintosh, den Deutsch ame ri ka ner,

der vor fünf Jah ren allen adieu gesagt, hatte

jeder noch gut im Gedächt nis, — seine Strei che

konnte man gerade sowe nig ver ges sen wie das

scharfe, dunkle Gesicht, das heute wie der auf

dem »Gra ben« auf ge taucht war. —

Was will denn der Mensch schon wie der hier?

Lang sam, aber sicher war er damals weg ge -

ekelt wor den; — alle hat ten daran mit ge ar bei -

tet, — der mit der Miene der Freund schaft, jener

mit Tücke und fal schen Gerüch ten, aber jeder

mit einem Quent chen vor sich ti ger Ver leum -

dung — und alle diese klei nen Nie der träch tig kei -

ten erga ben schließ lich zusam men eine so große

Gemein heit, daß sie jeden ande ren Mann wahr -

schein lich zer quetscht hätte, den Ame ri ka ner

aber nur zu einer Abreise bewog. — — —

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Mackintosh hatte ein Gesicht, scharf wie ein

Papier mes ser, und sehr lange Beine, und das

allein schon ver tra gen die Men schen schlecht,

die die Ras sen theo rie so gerne miß ach ten. —

Er war schreck lich ver haßt, und anstatt die sen

Haß zu ver rin gern, indem er sich land läu fi gen

Ideen ange paßt hätte, stand er stets abseits der

Menge und kam alle Augen blic ke mit etwas

neuem: — Hyp nose, Spi ri tis mus, Hand le se -

kunst, ja eines Tages sogar mit einer sym bo li -

schen Erklä rung des Ham let. — Das mußte

natür lich die guten Bür ger auf brin gen und ganz

beson ders kei mende Genies, wie z. B. den

Herrn Tewin ger vom Tage blatt, der soeben ein

Buch unter dem Titel »Wie ich über Shake -

speare denke« her aus ge ben wollte.

— — — — — — — — — — — —

Und die ser »Dorn im Auge« war wie der hier

und wohnte mit sei ner indi schen Die ner schaft

in der »roten Sonne«.

»Wohl nur vor über ge hend?« forschte ihn ein

alter Bekann ter aus.

»Natür lich, — vor über ge hend, denn ich kann

mein Haus ja erst am 15. August bezie hen. — Ich

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habe mir näm lich ein Haus in der Fer di nand -

straße gekauft.« —

Das Gesicht der Stadt wurde um einige Zoll

län ger: — Ein Haus in der Fer di nand straße! —

Woher hat die ser Aben teu rer das Geld?! —

Und noch dazu eine indi sche Die ner schaft. —

Na, wer den ja sehen, wie lange er machen

wird! — — —

— — — — — — — — — — — —

Mackintosch hatte natür lich schon wie der

etwas Neues: — Eine elek tri sche Maschi ne rie,

mit der man Gol da dern in der Erde sozu sa gen

wit tern könne, — eine Art moder ner wis sen -

schaft li cher Wün schel rute. —

Die mei sten glaub ten es selbst ver ständ lich

nicht: »Wenn es gut wäre, hät ten das doch schon

andere erfun den!«

Nicht weg zu leug nen war aber, daß der Ame ri -

ka ner wäh rend der fünf Jahre unge heuer reich

gewor den sein mußte, — wenig stens behaup tete

dies das Aus kunfts bu reau der Firma Schnuff lers

Eidam steif und fest.

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— — Und rich tig, es ver ging auch keine

Woche, daß er nicht ein neues Haus gekauft

hätte. —

Ganz plan los durch ein an der; eines auf dem

Obst markt, dann wie der eines in der Her ren -

gasse, — aber alle in der inne ren Stadt. —

Um Got tes wil len, will er es viel leicht bis zum

Bür ger mei ster brin gen? —

Kein Mensch konnte dar aus klug wer den. —

— — — — — — — — — — — —

»Haben Sie schon seine Visi ten karte gese hen?

Da schauen Sie her, das ist denn doch schon die

höch ste Frech heit. — Bloß ein Mono gramm, —

gar kein Name! — Er sagt, er brau che nicht mehr

zu hei ßen, er hätte Geld genug!« — — — — —

— — — — — — — — — — — —

Mackintosh war nach Wien gefah ren und ver -

kehrte dort, wie das Gerücht ging, mit einer

Reihe Abge ord ne ten, die täg lich um ihn waren.

Was er mit ihnen gar so wich tig tat, konnte

man nicht und nicht her aus be kom men, aber

offen bar hatte er seine Hand bei dem neuen

Gesetz ent wurf über die Umän de rung der

Schurf rechte im Spiele. — —

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Täg lich stand etwas in den Zei tun gen, —

Debat ten für und wider, — und es sah ganz

danach aus, als ob das Gesetz, daß man hin -

fort — natür lich nur außer ge wöhn li chen Vor -

komm nis sen — auch mit ten in den Städ ten Frei -

schürfe errich ten dürfe, recht bald ange nom -

men wer den würde. — — —

Die Geschichte sah merk wür dig aus, und die

all ge meine Mei nung lau tete, daß wohl irgend

eine große Koh len ge werk schaft dahin ter stek -

ken müsse. — — —

Mackintosh allein hatte doch gewiß kein so

star kes Inter esse daran, — wahr schein lich war er

nur von irgend einer Gruppe vor ge scho ben.

— — — — —

— — — — — — — — — — — —

Er rei ste übri gens bald nach Hause zurück

und schien ganz vor treff li cher Laune. — So

freund lich hatte man ihn noch nie gese hen. — —

»Es geht ihm aber auch gut, — erst gestern hat

er sich wie der eine ›Rea li tät‹ gekauft, — es ist

jetzt die 13.,« — erzählte beim Beam ten ti sche im

Kasino der Herr Ober kon trol lor vom Grund -

buch samt. — »Sie kennen’s ja: das Eckhaus ›zur

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ange zwei fel ten Jung frau‹ schräg vis-à-vis von

den ›drei eiser nen Trot teln‹, wo jetzt die städ ti -

sche Inund ations-Bezirks was ser be schau drin

ist.« —

»Der Mann wird sich noch ver spe ku lie ren

und so,« meinte da der Herr Bau rat, — »wis sen

Sie, um was er jetzt wie der ange sucht hat, meine

Her ren?: — Drei von sei nen Häu sern will er ein -

rei ßen las sen, das in der Perl gasse, — das vierte

rechts neben dem Pul ver turm und das Numero

cons crip tio nis 47184/II. — Die neuen Bau pläne

sind schon bewil ligt!« —

* * *

Alles sperrte den Mund auf. — —

Durch die Stra ßen jagte der Herbst wind, — die

Natur atmete tief auf, ehe sie schla fen geht. — —

Der Him mel ist so blau und kalt, und die Wol -

ken so backig und stim mungs voll, als hätte sie

der liebe Gott eigens vom Mei ster Wil helm

Schulz malen las sen. —

O, wie wäre die Stadt so schön und rein, wenn

der ekel hafte Ame ri ka ner mit sei ner Zer stö -

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rungs wut nicht die klare Luft mit dem fei nen

Mau er staub so ver gif tet hätte, — — daß aber

auch so etwas bewil ligt wird! —

Drei Häu ser ein rei ßen, na gut, — aber alle drei -

zehn gleich zei tig, da hört sich denn doch alles

auf. —

Jeder Mensch muß ja schon husten, und wie

weh das tut, wenn einem das ver dammte Zie gel -

pul ver in die Augen kommt. — —

— — — — — — — — — — — —

»Das wird ein schön verrück tes Zeug wer den,

was er uns dafür auf bauen wird. — Sezes sion

natür lich, — ich möchte dar auf wet ten,« hieß

es. —

— — — — — — — — — — — —

»Sie müs sen wirk lich nicht recht gehört haben,

Herr Sche bor! — was?! gar nichts will er dafür

hin bauen? — Ist er denn irr sin nig gewor den, —

wozu hätte er denn dann die neuen Bau pläne

ein ge reicht?« —

— — — — »Bloß damit ihm vor läu fig die Bewil li -

gung zum Ein rei ßen der Häu ser erteilt wird!« —

— — — — ? ? ? ? ? ? — — — —

— — — — — — — — — — — —

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»Meine Her ren, wis sen Sie das Neue ste

schon,« der Schloß baua spi rant Vys kot schil war

ganz außer Atem: — »Gold in der Stadt, ja

wohl, — Gold! — Viel leicht grad’ hirr zu unsrrn

Fißen.«

Alles sah auf die Füße des Herrn von Vys kot -

schil, die flach wie Bis kuits in den Lack stiefeln

sta ken. —

— — — Der ganze »Gra ben« lief zusa men. —

»Wer hat da was gesaagt von Gold?« rief der

Herr Kom mer zien rat Löwen stein. —

— — —: »Mr. Mackintosh will gold hal ti ges

Gestein in dem Boden grund sei nes nie der ge ris -

se nen Hau ses in der Perl gasse gefun den haben«

bestä tigte ein Beam ter des Berg bau am tes, —

»man hat sogar tele gra phisch eine Kom mis sion

aus Wien beru fen«. — — — —

— — — — — — — — — —

Einige Tage spä ter war George Mackintosh

der gefei ert ste Mann der Stadt. — In allen Läden

hin gen Pho to gra phien von ihm, — mit dem kan -

ti gen Pro fil und dem höh ni schen Zug um die

schma len Lip pen. —

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Die Blät ter brach ten seine Lebens ge schichte,

die Sport be richt er stat ter wuß ten plötz lich genau

sein Gewicht, sei nen Brust- und Bizeps um fang,

ja sogar, wie viel Luft seine Lunge fasse. —

Ihn zu inter vie wen war auch gar nicht

schwer. —

Er wohnte wie der im Hotel »zur roten Sonne,«

ließ jeder mann vor, bot die wun der voll sten

Zigar ren an und erzählte mit entzüc kender Lie -

bens wür dig keit, was ihn dazu geführt hatte,

seine Häu ser ein zu rei ßen und in den frei ge wor -

de nen Bau grün den nach Gold zu gra ben: —

Mit sei nem neuen Appa rat, der durch Stei gen

und Fal len der elek tri schen Span nung genau

das Vor han den sein von Gold unter der Erde

anzeige, und der sei nem eige nen Gehirn ent -

sprun gen sei, hatte er nachts nicht nur die Kel ler

sei ner Gebäude genau durch forscht, son dern

auch die aller sei ner Nach bar häu ser, in die er

sich heim lich Zutritt zu ver schaf fen gewußt. —

»Sehen Sie, da haben Sie auch die amt li chen

Berichte des Berg bau am tes und das Gut ach ten

des emi nen ten Sach ver stän di gen Pro fes sor Senk -

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recht aus Wien, der übri gens ein alter guter

Freund von mir ist.« — —

— — — — Und rich tig, da stand es schwarz auf

weiß, mit dem amt li chen Stem pel beglau bigt, —

daß sich in sämt li chen drei zehn Bau plät zen, die

der Ame ri ka ner George Mackintosh käuf lich

erwor ben, Gold in der dem Sande bei ge meng -

ten, bekann ten Form gefun den habe, und zwar

in einem Quo tien ten, der auf eine immense

Menge Gold beson ders in den unte ren Schich -

ten mit Sicher heit schlie ßen lasse. Diese Art des

Vor kom mens sei bis jetzt nur in Ame rika und

Asien nach ge wie sen wor den, doch könne man

der Ansicht des Mr. Mackintosh, daß es sich

hier offen kun dig um ein altes Fluß bett der Vor -

zeit handle, ohne wei te res bei pflich ten. Eine

genaue Ren ta bi li tät lasse sich zif fern mä ßig natür -

lich nicht aus füh ren, aber daß hier ein Metall -

reich tum erster Stärke, ja viel leicht ein ganz bei -

spiel lo ses Lager ver bor gen liege, sei wohl außer

Zwei fel. —

Beson ders inter es sant war der Plan, den der

Ame ri ka ner von der mut maß li chen Aus deh -

nung der Gold mine ent wor fen, und der die voll -

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ste Aner ken nung der sach ver stän di gen Kom -

mis sion gefun den hatte.

Da sah man deut lich, daß sich das ehe ma lige

Fluß bett von einem Haus des Ame ri ka ners

anfan gend zu den übri gen in kom pli zier ten Win -

dun gen gerade unter den Nach bar häu sern hin -

zog, um wie der bei einem Eckhause

Mackintoshs in der Zelt ner gasse in der Erde zu

ver schwin den. —

Die Beweis füh rung, daß es so und nicht

anders sein konnte, war so ein fach und klar, daß

sie jedem, — selbst wenn er nicht an die Prä zi -

sion der elek tri schen Metall kon sta tie rungs ma -

schine glau ben wollte — ein leuch ten mußte.

— — — — War das ein Glück, daß das neue

Schurf recht bereits Geset zes kraft erlangt

hatte. —

Wie umsich tig und ver schwie gen der Ame ri -

ka ner aber auch alles vor ge se hen hatte. — —

Die Haus her ren, in deren Grund und Boden

plötz lich sol che Reich tü mer sta ken, saßen auf ge -

bla sen in den Kaf fees und waren des Lobes voll

über ihren fin di gen Nach barn, den man frü her

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so grund los und nie der träch tig ver leum det

hatte. — — —

»Pfui über sol che Ehr ab schnei der!« — — —

Jeden Abend hiel ten die Her ren lange Ver -

samm lun gen und berie ten sich mit dem Advo ka -

ten des enge ren Komi tees, was nun mehr gesche -

hen solle. — — —

»Ganz ein fach! — Alles genau dem Mr.

Mackintosh nach ma chen,« meinte der, »neue

ixbe lie bige Bau pläne über rei chen, wie es das

Gesetz ver langt, dann ein rei ßen, ein rei ßen, ein -

rei ßen, damit man so rasch wie mög lich auf den

Grund komme. — Anders geht es nicht, — denn

schon jetzt in den Kel lern nach zu gra ben, sei

nutz los und übri gens nach § 47 a Unter ab tei -

lung Y gebro chen durch römisch XXIII unzu läs -

sig.« — — —

— — — — Und so geschah es. —

Der Vor schlag eines über klu gen aus län di -

schen Inge ni eurs, sich erst zu über zeu gen, ob

nicht Mackintosh am Ende gar den Gold sand

auf die Fund stel len heim lich habe hin schaf fen

las sen, um die Kom mis sion zu täu schen, —

wurde nie der ge lä chelt. — — — —

Page 117: Gustav Meyrink Orchideen - m.ngiyaw- · PDF fileDer große Saal, der sonst nur wis sen schaft li - chen Vor trä gen diente, war dicht gefüllt. — In der Mitte, auf einem Podium,

— — — — — — — — — —

Ein Gehäm mer und Gekrach in den Stra ßen,

das Fal len der Bal ken, das Rufen der Arbei ter

und das Ras seln der Schutt wa gen, dazu der ver -

dammte Wind, der den Staub in dich ten Wol -

ken umher blies! — es war zum Ver stand ver lie -

ren. — —

Die ganze Stadt hatte Augen ent zün dung, die

Vor zim mer der Augen kli nik platz ten fast vor

dem Andrang der Patien ten, und eine neue Bro -

schüre des Pro fes sors Wochen schrei ber »über

den befrem den den Ein fluß moder ner Bau tä tig -

keit auf die mensch li che Horn haut« war bin nen

weni ger Tage ver grif fen. —

Es wurde immer ärger. —

Der Ver kehr stock te, — in dich ter Menge bela -

gerte das Volk die »rote Sonne«, und jeder wollte

den Ame ri ka ner spre chen, ob er denn nicht

glaube, daß sich auch unter andern Gebäu den

als den im Plan bezeich ne ten — Gold fin den

müsse. —

Mili tär pa trouil len zogen umher, an allen Stra -

ßen ec ken kleb ten die Kund ma chun gen der

Behör den, daß vor Ein tref fen der Mini ste ria ler -

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lässe streng stens ver bo ten sei, noch andere Häu -

ser nie der zu rei ßen. —

Die Poli zei ging mit blan ker Waffe vor: —

kaum daß es nützte. —

Gräß li che Fälle von Gei stes stö rung wur den

bekannt: — In der Vor stadt war eine Witwe

nachts und im Hemde auf das eigene Dach

geklet tert und hatte unter gel lem Gekreisch die

Dach zie gel von den Bal ken ihres Hau ses geris -

sen. — — —

Junge Müt ter irr ten wie trun ken umher, und

arme ver las sene Säug linge vertrock neten in den

ein sa men Stu ben. — —

Ein Dunst lag über der Stadt, — dun kel, — als

ob der Dämon Gold seine Fle der maus flü gel aus -

ge brei tet hätte. — — —

— — — — — — — — — —

End lich, end lich war der große Tag gekom -

men, — die frü her so herr li chen Bau ten waren

ver schwun den — wie aus dem Boden geris sen,

und ein Heer von Berg knap pen hatte die Mau -

rer abge löst.

— — — Schau fel und Spitz haue flo gen: — —

— — — — — — — — — —

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Von Gold — — keine Spur! — Es mußte also

wohl tie fer lie gen, als man ver mu tet hatte. — —

— — — — — — — — — —

— — — — Da! — — ein selt sa mes rie sen gro ßes

Inse rat in den Tages blät tern: —

— — — »George Mackintosh an seine teu ern Bekann -

ten und die ihm so lieb gewor dene Stadt! —

Umstände zwin gen mich, allen für immer

Lebe wohl zu sagen. —

Ich schenke der Stadt hier mit den gro ßen Fes -

sel bal lon, den ihr heute nach mit tags auf dem

Josefs platz das erste mal auf stei gen sehen und

jeder zeit zu meine Gedächt nisse umsonst benut -

zen könnt. Jeden ein zel nen der Her ren noch -

mals zu besu chen, fiel mir schwer, darum lasse

ich in der Stadt eine große Visi ten karte

zurück.« — — — —

»Also doch wahn sin nig! —

›Visi ten karte in der Stadt zurück lassen!‹ hel ler

Unsinn! —

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Was soll denn das Ganze über haupt hei ßen?

Ver ste hen Sie das viel leicht?« — so rief man

allent hal ben. —

»Befrem dend ist nur, daß der Ame ri ka ner vor

acht Tagen seine sämt li chen Bau plätze heim lich

ver kauft hat!«

— Der Pho to graph Maloch war es, der end lich

Licht in das Rät sel brachte, — er hatte als ersten

den Auf stieg mit dem ange kün dig ten Fes sel bal -

lon mit ge macht und die Ver wü stun gen der

Stadt von der Vogel per spek tive auf ge nom -

men. —

Jetzt hing das Bild in sei nem Schau fen ster, und

die Gasse war voll Men schen, die es betrach ten

woll ten.

Was sah man da?

Mit ten aus dem dunk len Häu ser meer leuch te -

ten die lee ren Grund flä chen der zer stör ten Bau -

ten in wei ßem Schutt und bil de ten ein zackiges

Geschnör kel:

»G. M.«

Die Initia len des Ame ri ka ners! — —

— — — — Die mei sten Haus her ren hat der

Schlag getrof fen, nur dem alten Herrn Kom mer -

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zien rat Schlüs sel bein war es ganz Wurst; — sein

Haus war sowieso bau fäl lig gewe sen. —

Er rieb sich nur ärger lich die ent zün de ten

Augen und knurrte: —

»Ich hab’s ja immer gesagt, für was Ern stes hat

der Mackintosh nie Sinn gehabt.« —

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Bolo gne ser Trä nen

Sehen Sie den Hau sie rer dort mit dem wir ren

Bart? Tonio nennt man ihn. Gleich wird er zu

unse rem Tische kom men. Kau fen Sie ihm eine

kleine Gemme ab oder ein paar Bolo gne ser Trä -

nen; — Sie wis sen doch: diese Glas trop fen, die in

der Hand in win zige Split ter — wie Salz — zer -

sprin gen, wenn man das faden för mige Ende

abbricht. — Ein Spiel zeug, wei ter nichts. Und

betrach ten Sie dabei sein Gesicht, — den Aus -

druck!

— — — — — — — — — —

— — — — — — — — — —

Nicht wahr, der Blick des Man nes hat etwas

Tie fer grei fen des? — Und was in der klang lo sen

Stimme liegt, wenn er seine Waren nennt: Bolo -

gne ser Trä nen, gespon ne nes Frau en haar. Nie

sagt er gespon ne nes Glas, immer nur Frau en -

haar. — — — — — Wenn wir dann nach Hause

gehen, will ich Ihnen seine Lebens ge schichte

Page 123: Gustav Meyrink Orchideen - m.ngiyaw- · PDF fileDer große Saal, der sonst nur wis sen schaft li - chen Vor trä gen diente, war dicht gefüllt. — In der Mitte, auf einem Podium,

erzäh len, nicht in die sem öden Wirts haus — — —

drau ßen am See — im Park —

Eine Geschichte, die ich nie mals ver ges sen

könnte, auch wenn er nicht mein Freund gewe -

sen wäre, denn Sie hier jetzt als Hau sie rer sehen

und der mich nicht mehr erkennt —

Ja, ja — glau ben Sie es nur, er war mir ein guter

Freund, — frü her, als er noch lebte, — seine Seele

noch hatte, — noch nicht wahn sin nig war. — — —

Warum ich ihm nicht helfe? — Da läßt sich nicht

hel fen. Füh len Sie nicht, daß man einer Seele

nicht hel fen soll, die — blind gewor den — sich

auf ihre eigene, geheim nis volle Weise wie der

zum Lichte tastet, — viel leicht auch zu einem

neuen hel lern Licht? —

Und es ist nichts mehr als ein Tasten der Seele

nach Erin ne rung, wenn Tonio hier Bolo gne ser

Trä nen feil bie tet! — Sie wer den dann hören, —

gehen wir jetzt fort von hier. —

* * *

— — — Wie zau ber haft der See im Mond licht

schim mert!

Page 124: Gustav Meyrink Orchideen - m.ngiyaw- · PDF fileDer große Saal, der sonst nur wis sen schaft li - chen Vor trä gen diente, war dicht gefüllt. — In der Mitte, auf einem Podium,

— — — Das Schilf, da drü ben am Ufer! — So

näch tig — dun kel! — Und wie die Schat ten der

Ulmen auf der Was ser flä che schlum mern — — —

dort in der Bucht! — —

— — — In man cher Som mer nacht saß ich auf

die ser Bank, wenn der Wind flü sternd, —

suchend durch die Bin sen strich und die plät -

schern den Wel len schlaf trun ken an die Wur zeln

der Ufer bäume schlu gen, — und dachte mich

hinab in die zar ten heim li chen Wun der des

See’s, sah in der Tiefe leuch tende, glit zernde

Fische, wie sie leise im Traume die röt li chen Flos -

sen bewe gen, — alte, moos grüne Steine, ertrun -

kene Äste und totes Holz und schim mernde

Muscheln auf wei ßem Kies.

Wäre es nicht bes ser, man läge — ein Toter —

da unten auf wei chen Mat ten von schau keln -

dem Tang — und hätte das Wün schen ver ges sen

und das Träu men?! —

Doch ich wollte Ihnen von Tonio erzäh len.

— — — — — — — — — —

Wir wohn ten damals alle drü ben in der

Stadt; — wir nann ten ihn Tonio, obwohl er

eigent lich anders heißt.

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Von der schö nen Mer ce des haben Sie wohl

auch nie gehört? Eine Kreo lin mit rotem Haar

und so hel len, selt sa men Augen.

Wie sie in die Stadt kam, weiß ich nicht

mehr, — jetzt ist sie seit lan gem ver schol len. — —

Als Tonio und ich sie ken nen lern ten, — auf

einem Feste des Orchi deen clubs —, war sie die

Geliebte eines jun gen Rus sen.

Wir saßen in einer Veranda, und aus dem

Saale weh ten die fer nen süßen Töne eines spa ni -

schen Lie des her aus zu uns. —

— — Gir lan den tro pi scher Orchi deen von

unsag ba rer Pracht hin gen von der Decke

herab: — Catt lëya aurea, die Kai se rin die ser

Blu men, die nie mals ster ben, — Odon tog los sen

und Den dro bien auf mor schen Holz stüc ken —,

weiße leuch tende Loe lien, wie Schmet ter linge

des Para die ses. — Kas ca den tief blauer Lyka -

sten, — und von dem Dickicht die ser wie im

Tanze ver schlun ge nen Blü ten loderte ein betäu -

ben der Duft, der mich immer wie der durch -

strömt, wenn ich des Bil des jener Nacht

gedenke, das scharf und deut lich wie in einem

magi schen Spie gel vor mei ner Seele steht: Mer -

Page 126: Gustav Meyrink Orchideen - m.ngiyaw- · PDF fileDer große Saal, der sonst nur wis sen schaft li - chen Vor trä gen diente, war dicht gefüllt. — In der Mitte, auf einem Podium,

ce des auf einer Bank aus Rin den holz, die

Gestalt halb ver deckt hin ter einem leben den

Vor hang vio let ter Van deen. — Das schmale lei -

den schaft li che Gesicht ganz im Schat ten.

Kei ner von uns sprach ein Wort. —

Wie eine Vision aus tau send und einer

Nacht —; mir fiel das Mär chen ein von der Sul ta -

nin, die eine Eule war und bei Voll mond zum

Fried hof schlich, um auf den Grä bern vom Flei -

sche der Toten zu essen. Und Mer ce des Augen

ruh ten — wie for schend auf mir.

Dump fes Erin nern wachte in mir auf, als ob

mich einst mals in wei ter Ver gan gen heit —, in

einem fer nen, fer nen Leben, — kalte, starre

Schlan ge nau gen so ange blickt, daß ich es nie

mehr ver ges sen konnte.

Den Kopf hatte sie vor ge beugt und die phan ta -

sti schen schwarz und pur pur gespren kel ten Blü -

ten zun gen eines bir me si schen Bul bo phyl lums

waren in ihrem Haar ver fan gen, wie um neue

uner hörte Sün den ihr ins Ohr zu rau nen.

Damals begriff ich, wie man um solch ein Weib

seine Seele geben könne. — — —

Page 127: Gustav Meyrink Orchideen - m.ngiyaw- · PDF fileDer große Saal, der sonst nur wis sen schaft li - chen Vor trä gen diente, war dicht gefüllt. — In der Mitte, auf einem Podium,

— — — Der Russe lag zu ihren Füßen. — Auch

er sprach kein Wort. — —

— — — Das Fest war fremd ar tig — wie die

Orchi deen selbst — und selt sa mer Über ra schun -

gen voll. Ein Neger trat durch die Por tie ren und

bot glit zernde Bolo gne ser Trä nen in einer Jaspis -

schale. — Ich sah, wie Mer ce des lächelnd dem

Rus sen etwas sagte, — sah, wie er eine Bolo gne -

ser Träne zwi schen die Lip pen nahm, lange so

hielt und sie dann sei ner Gelieb ten gab. —

In die sem Augen blick schnellte, los ge rankt

aus dem Dun kel des Blät ter ge wir res, eine rie sige

Orchi dee, — das Gesicht eines Dämons, mit

begehr li chen dur sti gen Lef zen, — ohne Kinn,

nur schil lernde Augen und ein klaf fen der, bläu li -

cher Gau men. Und die ses furcht bare Pflan zen -

ge sicht zit terte auf sei nem Sten gel; wiegte sich

wie in bösem Lachen, — auf Mer ce des Hände

star rend. Mir stand das Herz still, als hätte

meine Seele in einen Abgrund geblickt.

Glau ben Sie, daß Orchi deen den ken kön nen?

Ich habe in jenem Augen blick gefühlt, daß sie es

kön nen, — gefühlt, wie ein Hell se hen der fühlt,

daß diese phan ta sti schen Blü ten über ihre Her -

Page 128: Gustav Meyrink Orchideen - m.ngiyaw- · PDF fileDer große Saal, der sonst nur wis sen schaft li - chen Vor trä gen diente, war dicht gefüllt. — In der Mitte, auf einem Podium,

rin froh lock ten. — Und sie war eine Orchi deen -

kö ni gin, diese Kreo lin mit ihren sinn li chen,

roten Lip pen, dem leise grün li chen Haut schim -

mer und dem Haar von der Farbe toten Kup -

fers. — — — — Nein, nein — Orchi deen sind keine

Blu men, — sind sata ni sche Geschöpfe, — Wesen,

die nur die Fühl hör ner ihrer Gestalt uns zei gen,

uns Augen, Lip pen, Zun gen in sinn be tö ren den

Far ben wir beln vor täu schen, daß wir den

scheuß li chen Vipern leib nicht ahnen sol len, der

sich — unsicht bar — tod brin gend ver birgt im Rei -

che der Schat ten.

Trun ken von dem betäu ben den Duft tra ten

wir end lich in den Saal zurück.

Der Russe rief uns ein Wort des Abschieds

nach. — In Wahr heit ein Abschied, denn der Tod

stand hin ter ihm. — Eine Kes sel ex plo sion — am

näch sten Mor gen — zer riß ihn in Atome.

— — — — —

Monate waren um, da war sein Bru der Ivan

Mer ce des Gelieb ter, ein unzu gäng li cher, hoch -

mü ti ger Mensch, der jeden Ver kehr mied. —

Beide bewohn ten die Villa beim Stadt tor, — abge -

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schie den von allen Bekann ten, — und leb ten nur

einer wil den, wahn sin ni gen Liebe.

Wer sie so gese hen, wie ich, abends in der

Däm me rung durch den Park gehen, anein an der -

ge schmiegt, sich fast im Flü ster tone unter hal -

tend, welt ver lo ren — kei nen Blick für die Umge -

bung, — der begriff, daß eine über mäch tige,

unse rem Blute fremde Lei den schaft diese bei -

den Wesen zusam men ge schmie det hielt. — — —

Da — plötz lich — kam die Nach richt, daß auch

Ivan ver un glückt, bei einer Bal lon fahrt, die er

schein bar plan los unter nom men, auf rät sel hafte

Weise aus der Gon del gestürzt sei.

Wir alle dach ten, Mer ce des werde den Schlag

nicht ver win den.

— — Wenige Wochen spä ter — im Früh jahr —

fuhr sie in ihrem offe nen Wagen an mir vor über.

Kein Zug in dem regungs lo sen Gesicht sprach

von aus ge stan de nem Schmerze. Mir war, als ob

eine ägyp ti sche Bron ze sta tue, die Hände auf

den Knien ruhend, den Blick in eine andere

Welt gerich tet, und nicht ein leben des Weib an

mir vor bei ge fah ren sei. — — — Noch im Träume

ver folgte mich der Ein druck: Das Stein bild des

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Mem non mit sei ner über mensch li chen Ruhe

und den lee ren Augen in einer moder nen Equi -

page in das Mor gen rot fah rend, — immer wei ter

und wei ter durch pur pur leuch tende Nebel und

wal len den Dunst der Sonne zu. — Die Schat ten

der Räder und Pferde unend lich lang, — selt sam

zer zo gen, — grau vio lett, wie sie im Lichte des

Früh mor gens gespen ster gleich über die

tauig-nas sen Wege zucken.

— — — — — — — — — — — —

Lange Zeit war ich dann auf Rei sen und sah

die Welt und man ches wun der bare Bild, doch

haben wenige so auf mich gewirkt. — Es gibt Far -

ben und For men, aus denen unsere Seele wache,

leben dige Träume spinnt. — Das Tönen eines

Stra ßen git ters in der Nacht stunde unter unserm

Fuß, ein Ruder schlag, eine Duft welle, die schar -

fen Pro file eines roten Häu ser da ches, Regen -

trop fen, die auf unsere Hände fal len, — sie sind

oft die Zau ber worte, die sol che Bil der in unser

Emp fin den zurück winken; — und es liegt ein tief

melan cho li sches Klin gen wie Har fen töne in sol -

chem Erin ne rungs füh len.

Page 131: Gustav Meyrink Orchideen - m.ngiyaw- · PDF fileDer große Saal, der sonst nur wis sen schaft li - chen Vor trä gen diente, war dicht gefüllt. — In der Mitte, auf einem Podium,

Ich kehrte heim und fand Tonio als des Rus -

sen Nach fol ger bei Mer ce des. — Betäubt von

Liebe, gefes selt an Herz, — an Sin nen, — gefes selt

an Hän den, gefes selt an Füßen, — wie jener. —

Ich sah, — sprach Mer ce des oft: die selbe zügel -

lose Liebe auch in ihr. — Zuwei len fühlte ich wie -

der ihren Blick for schend auf mir ruhn.

Wie damals in der Orchi deen nacht.

In der Woh nung Manu els — unse res gemein sa -

men Freun des — kamen wir manch mal zusam -

men, — Tonio und ich. Und eines Tages saß er

dort am Fen ster, — gebro chen. Die Züge ver -

zerrt, wie die eines Gefol ter ten.

Manuel zog mich schwei gend bei seite.

Es war eine merk wür dige Geschichte, die er

mir hastig flü sternd erzählte: Mer ce des, Sata ni -

stin, — eine Hexe —! Tonio hatte es aus Brie fen

und Schrif ten, die er bei ihr gefun den, ent deckt.

Und die bei den Rus sen waren von ihr durch die

magi sche Kraft der Ima gi na tion, — mit Hilfe von

Bolo gne ser Trä nen, — ermor det wor den. —

Ich habe das Manu skript spä ter gele sen: Das

Opfer, heißt es darin, wird zur sel ben Stunde in

Stüc ke zer schmet tert, wenn man die Bolo gne ser

Page 132: Gustav Meyrink Orchideen - m.ngiyaw- · PDF fileDer große Saal, der sonst nur wis sen schaft li - chen Vor trä gen diente, war dicht gefüllt. — In der Mitte, auf einem Podium,

Träne, die von ihm im Munde getra gen und

dann in hei ßer Liebe ver schenkt wurde, in der

Kir che beim Hoch amt zer bricht.

Und Ivan und sein Bru der hat ten ein so plötz li -

ches schau er li ches Ende gefun den! —

— — — Wir begrif fen Tonios starre Ver zweif -

lung. — Auch wenn am Gelin gen des Zau bers

nur der Zufall die Schuld getra gen hätte, wel -

cher Abgrund dämo ni scher Lie bes emp fin dung

lag in die sem Weibe! — Ein Emp fin den, so

fremd und unfa ß bar, daß wir nor ma len Men -

schen mit unse rer Erkennt nis wie in Trieb sand

ver sin ken, wenn wir den Ver such wagen, mit

Begrif fen in diese schreck lichen Rät sel einer

kreb si gen Seele hin ab zu leuch ten. — —

Wir saßen damals die halbe Nacht — wir

drei — und horch ten, wie die alte Uhr tickend

die Zeit zer nagte, und ich suchte und suchte ver -

geb lich nach Wor ten des Tro stes in mei nem

Hirn, — im Her zen, in der Kehle; — und Tonios

Augen hin gen unver wandt an mei nen Lip pen:

er war tete auf die Lüge, die ihm noch Betäu -

bung brin gen konnte. — — — —

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Wie Manuel — hin ter mir — den Ent schluß

faßte —, den Mund öff nete, um zu reden, — ich

wußte es, ohne mich umzu se hen. Jetzt — jetzt

würde er es sagen. — — Ein Räus pern, ein Schar -

ren mit dem Stuhl, — — — dann wie der Stille,

eine ewig lange Zeit. Wir fühl ten, jetzt tastet sich

die Lüge durch das Zim mer, unsi cher tap pend

an den Wän den, wie ein see len lo ser Sche men

ohne Kopf.

End lich Worte — ver lo gene Worte — wie ver -

dorrt: »Viel leicht — — — — — — — — viel leicht — —

liebt sie dich anders, als — — — — als die andern.«

Toten stille. Wir saßen und hiel ten den Atem

an: — daß nur die Lüge nicht stirbt, — — sie

schwankt hin und her auf gal ler te nen Füßen

und will fal len, — — — nur eine Sekunde

noch! — —

Lang sam, lang sam began nen sich Tonios

Züge zu ver än dern: Irr licht Hoff nung!

— — — Da war die Lüge Fleisch gewor -

den! — — —

— — — — — — — — — — — —

— — — Soll ich Ihnen noch das Ende erzäh len?

Mir graut, es in Worte zu klei den, — ste hen wir

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auf, mir läuft ein Schauer über den Rücken, wir

haben zu lange hier auf der Bank geses sen. Und

die Nacht ist so kalt.

— — — Sehen Sie, das Fatum blickt auf den

Men schen wie eine Schlange, — es gibt kein Ent -

rin nen. — Tonio ver sank aufs neue in einen Wir -

bel rasen der Lei den schaft zu Mer ce des, er

schritt an ihrer Seite, — ihr Schat ten. — Sie hielt

ihn umklam mert mit ihrer teuf li schen Liebe wie

ein Polyp der Tief see sein Opfer.

— — — An einem Kar frei tag pack te das Schick -

sal zu: Tonio stand früh mor gens im April sturm

vor der Kir chen tür, bar haupt, in zer ris se nen

Klei dern, die Fäu ste geballt, und wollte die

Menge am Got tes dien ste hin dern. — Mer ce des

hatte ihm geschrie ben — und er war dar über

wahn sin nig gewor den; — in sei ner Tasche fand

man ihren Brief, in dem sie ihn um eine Bolo gne ser

Träne bat.

Und seit jenem Kar frei tag steht Tonios Geist

in tie fer Nacht.

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Bla mol

»Wahr haf tig lich, ohne Betrug und gewiß,

ich sage dir: so wie es unten ist, ist es

auch oben.«

Tabula sma rag dina.

Der alte Tin ten fisch saß auf einem dicken

blauen Buche, das man in einem geschei ter ten

Schiffe gefun den, und sog lang sam die Druk -

kerschwärze her aus.

Land be woh ner haben gar kei nen Begriff, wie

beschäf tigt so ein Tin ten fisch den gan zen Tag

über ist.

Die ser da hatte sich auf Medi zin gewor fen,

und von Früh bis Abend muß ten die bei den

armen klei nen See sterne, — weil sie ihm soviel

Geld schul dig waren, — umblät tern hel fen.

Auf dem Leibe, — dort wo andere Leute eine

Taille haben, trug er einen gol de nen Zwic ker —

ein Beu te stück. Die Glä ser stan den weit ab —

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links und rechts —, und wer zufäl lig durch sah,

dem wurde gräß lich schwin de lig.

— — — — Tie fer Friede lag ringsum. — —

Mit einem Male kam der Polyp ange schos -

sen, — die sack förmige Schnauze vor ge streckt,

die Fang arme lang nach schlep pend wie ein

Ruten bün del, und ließ sich neben dem Buche

nie der. — War tete, bis der Alte auf schaute, grü -

ßte dann sehr tief und wickelte eine Zinn büchse

mit ein ge pre ß ten Buch sta ben aus sich her aus. —

»Sie sind wohl der vio lette Pulp aus dem Stein -

butt gä ß chen,« nick te gnä dig der Alte, — »rich tig,

rich tig, habe ja Ihre Mut ter gut gekannt, — gebo -

rene ›von Octo pus‹. (Sie, Barsch, brin gen Sie

mir ‘mal den Got ha schen Poly pen al ma nach

her.) Nun, was kann ich für Sie tun, lie ber

Pulp?«

»Inschrift, — ehüm, ehüm — Inschrift — lesen,«

hüstelte der ver le gen (er hatte so eine schlei mige

Aus spra che) und deu tete auf die Blech büchse. —

Der Tin ten fisch stierte auf die Dose und

machte gestielte Augen wie ein Staats an walt:

»Was sehe ich, — Bla mol! — Das ist ja ein

unschätz ba rer Fund — gewiß aus dem gestran de -

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ten Weih nachts damp fer? — Bla mol — das neue

Heil mit tel, — je mehr man davon nimmt, desto

gesün der wird man!

»Wol len das Ding gleich öff nen las sen. Sie,

Barsch, schie ßen Sie mal zu den zwei Hum mern

rüber, — Sie wis sen doch, Koral len bank, Ast II,

Brü der Scis sors, — aber rasch.«

Kaum hatte die grüne See rose, die in der Nähe

saß, von der neuen Arz nei gehört, huschte sie

sogleich neben den Poly pen: — — Ach, sie nahm

sie so gerne ein; — ach, für ihr Leben gern! —

Und mit ihren vie len hun dert Grei fern führte

sie ein entzüc kendes Gewim mel auf, daß man

kein Auge von ihr abwen den konnte. —

Hai — fisch! — war sie schön! Der Mund war

ein biß chen groß zwar, doch das ist gerade bei

Damen so pikant.

Alle waren ver gafft in ihre Reize und über sa -

hen ganz, daß die bei den Hum mern schon ange -

kom men waren und emsig mit ihren Sche ren an

der Blech büchse her um schnit ten, wobei sie sich

in ihrem tschnet schen den Dia lekt unter hiel -

ten. —

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Ein letz ter Ruck, und die Dose fiel aus ein an -

der.

Wie ein Hagel schauer sto ben die wei ßen Pil -

len her aus und — leich ter als Kork — ver schwan -

den sie blitz schnell in die Höhe.

Erregt stürzte alles durch ein an der: »Auf hal -

ten, auf hal ten!«

Aber nie mand hatte rasch genug zugrei fen

kön nen. Nur der See rose war es geglückt, noch

eine Pille zu erwi schen, die sie schnell in den

Mund steck te.

All ge mei ner Unwil len; — am lieb sten hätte

man die Brü der Scis sors geohr feigt.

»Sie, Barsch, Sie haben wohl auch nicht auf pas -

sen kön nen? — Wozu sind Sie eigent lich Assi -

stent bei mir?!

War das ein Schimp fen und Kei fen! Bloß der

Pulp konnte kein Wort her aus brin gen, hieb nur

wütend mit den geball ten Fang ar men auf eine

Muschel, daß das Perl mut ter krachte.

Plötz lich trat Toten stille ein: — Die See rose!

Der Schlag mußte sie getrof fen haben: sie

konnte kein Glied rüh ren. Die Füh ler weit von

sich gestreckt, wim merte sie leise.

Page 139: Gustav Meyrink Orchideen - m.ngiyaw- · PDF fileDer große Saal, der sonst nur wis sen schaft li - chen Vor trä gen diente, war dicht gefüllt. — In der Mitte, auf einem Podium,

Mit wich ti ger Miene schwamm der Tin ten -

fisch hinzu und begann eine geheim nis volle

Unter su chung. Mit einem Kie sel stein schlug er

gegen einen oder den andern Füh ler oder stach

hin ein. (Hm, hm, Babyns ki sches Phä no men,

Stö rung der Pyra mi den bah nen.) Nach dem er

schließ lich mit der Schärfe eines Flos sen sau mes

der See rose einige Male kreuz und quer über

den Bauch gefah ren war, — wobei seine Augen

einen durch drin gen den Blick annah men, — rich -

tete er sich wür de voll auf und sagte: »Sei ten -

strangs kle rose. — Die Dame ist gelähmt.«

»Ist noch Hilfe? Was glau ben Sie? Hel fen Sie,

hel fen Sie, — ich schieß rasch in die Apo theke,«

rief da das gute See pferd.

»Hel fen?! — Herr, sind Sie ver rückt? Glau ben

Sie viel leicht, ich habe Medi zin stu diert, um

Krank hei ten zu hei len?« — Der Tin ten fisch

wurde immer hef ti ger, — »mir scheint, Sie hal ten

mich für einen Bar bier, oder wol len Sie mich ver -

höh nen? Sie, Barsch, — Hut und Stock, — ja!«

Einer nach dem andern schwamm fort: »Was

einen hier in die sem Leben doch alles tref fen

kann, schreck lich — nicht?«

Page 140: Gustav Meyrink Orchideen - m.ngiyaw- · PDF fileDer große Saal, der sonst nur wis sen schaft li - chen Vor trä gen diente, war dicht gefüllt. — In der Mitte, auf einem Podium,

Bald war der Platz leer, nur hin und wie der

kam der Barsch mür risch zurück, nach eini gen

ver lo re nen oder ver ges se nen Din gen zu suchen.

* * *

Auf dem Grunde des Mee res regte sich die

Nacht. Die Strah len, von denen nie mand weiß,

woher sie kom men und wohin sie ent schwin -

den, schweb ten wie Schleier in dem grü nen Was -

ser und schim mer ten so müde, als soll ten sie nie

mehr wie der keh ren.

Die arme See rose lag unbe weg lich und sah

ihnen nach in her bem Weh, wie sie lang sam,

lang sam in die Höhe stie gen.

Gestern um diese Zeit schlief sie schon längst,

zur Kugel geballt, in siche rem Ver steck — und

jetzt! — Auf offe ner Straße umkom men zu müs -

sen, wie ein — Tier! — Luft per len tra ten ihr auf

die Stirne.

Und mor gen ist Weih nach ten!!

An ihren fer nen Gat ten mußte sie den ken, der

sich, weiß Gott wo, her um trieb. — Drei Monate

nun schon Tang witwe! wahr haf tig, es wäre kein

Page 141: Gustav Meyrink Orchideen - m.ngiyaw- · PDF fileDer große Saal, der sonst nur wis sen schaft li - chen Vor trä gen diente, war dicht gefüllt. — In der Mitte, auf einem Podium,

Wun der gewe sen, wenn sie ihn hin ter gan gen

hätte.

Ach, wäre doch wenig stens das See pferd bei

ihr geblie ben! —

Sie fürch tete sich so! —

Immer dunk ler war es, daß man kaum mehr

die eige nen Füh ler unter schei den konnte.

Breit schult rige Fin ster nis kroch her vor hin ter

Stei nen und Algen und fraß die ver schwom me -

nen Schat ten der Koral len bänke.

Gespen stisch glit ten schwarze Kör per vor -

über — mit glü hen den Augen und vio lett auf -

leuch ten den Flos sen. — Nacht fi sche! — Scheuß li -

che Rochen und See teu fel, die in der Dun kel heit

ihr Wesen trei ben, — — — Mords in nend hin ter

Schiffs trüm mern lau ern. —

Scheu und leise wie Diebe öff nen die

Muscheln ihre Scha len und locken den spä ten

Wan de rer auf wei chen Pfühl zu grau si gem

Laster.

In wei ter Ferne bellte ein Hunds fisch.

— — — Da zuckt durch die Ulven hel ler Schein:

Eine leuch tende Meduse führt trun kene Zecher

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heim; — Aal gi gerln mit schlum pi gen Murä nen -

dir nen an der Flosse.

Zwei silber ge schmück te junge Lachse sind ste -

hen geblie ben und blic ken ver ächt lich auf die

berauschte Schar. Wüster Gesang erschallt:

»In dem grü nen Tange — —

hab’ ich sie gefragt,

Ob sie nach mir ver lange. — —

Ja, hat sie gesagt.

Drauf hat sie sich gebückt —

und ich hab’s sie gezwickt.

Ach im grü nen Tange …«

»No, no, aus dem Weg da, Sö, — Sö Frech -

lachs — Sö,« brüllt ein Aal plötz lich. —

Der Sil berne fährt auf: »Schwei gen Sie! Sie

haben’s nötig, »wea ne risch« zu reden, — Glau -

ben wohl, weil Sie das ein zige Viech sind, das

nicht im Don au ge biet vor kommt.

»Pst, pst,« beschwich tigte sie die Meduse,

»schä men Sie sich doch, schauen Sie dort hin!« —

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Alle ver stum men und blic ken voll Scheu auf

einige schmäch tige, farb lose Gestal ten, die sitt -

sam ihres Weges zie hen.

»Lan zett fisch chen,« flü sterte einer.

? ? ? ? ?

— — — O, das sind hohe Her ren, — Hof räte,

Diplo ma ten und so; — ja, die sind schon von

Geburt dazu bestimmt, wahre Natur wun der:

Haben weder Gehirn noch Rück grat. —

Minu ten stum mer Bewun de rung, dann

schwim men alle fried lich wei ter.

Die Geräu sche ver hal len, — Toten stille senkt

sich nie der.

Die Zeit rückt vor. — Mit ter nacht, die Stunde

des Schrec kens.

Waren das nicht Stim men? — Cre vet ten kön -

nen es doch nicht sein, — jetzt so spät?! —

Die Wache geht um: Poli zei krebse! —

Wie sie schar ren mit gepan zer ten Bei nen;

über den Sand knir schend ihren Raub in Sicher -

heit brin gen.

Wehe, wer ihnen in die Hände fällt; — vor kei -

nem Ver bre chen scheuen sie zurück, — — und

ihre Lügen gel ten vor Gericht wie Eide.

Page 144: Gustav Meyrink Orchideen - m.ngiyaw- · PDF fileDer große Saal, der sonst nur wis sen schaft li - chen Vor trä gen diente, war dicht gefüllt. — In der Mitte, auf einem Podium,

Sogar der Zit ter ro chen erbleicht, wenn sie

nahen.

Der See rose stockt der Herz schlag vor Ent set -

zen, sie, eine Dame, wehr los, — auf offe nem

Platze! — Wenn sie sie erblic ken! Sie wer den sie

vor den Poli zei rat, den schur ki schen Mein eid -

krebs, schlep pen, — den grö ß ten Ver bre cher der

Tief see — und dann — und dann — —

Sie nähern sich ihr, — — jetzt — —, ein Schritt

noch, und Schande und Ver der ben wer den die

Fänge um ihren Leib schla gen.

Da erbebt das dunkle Was ser, die Koral len -

bäume äch zen und zit tern wie Tang, ein fah les

Licht scheint weit hin.

Krebse, Rochen, See teu fel ducken sich nie der

und schie ßen in wil der Flucht über den Sand,

Fel sen bre chen und wir beln in die Höhe.

Eine bläu lich glei ßende Wand, — so groß wie

die Welt, fliegt durch das Meer.

Näher und näher jagt der Phosphor schein: die

leuch tende Rie sen flosse der Tin to rera, des

Dämons der Ver nich tung, fegt ein her und reißt

abgrund tiefe glü hende Trich ter in das schäu -

mende Was ser.

Page 145: Gustav Meyrink Orchideen - m.ngiyaw- · PDF fileDer große Saal, der sonst nur wis sen schaft li - chen Vor trä gen diente, war dicht gefüllt. — In der Mitte, auf einem Podium,

Alles dreht sich in rasen der Hast, und die See -

rose fliegt durch den Raum in brau sende Wei -

ten, hin auf und hinab, — über Län der von sma -

rag de nem Gischt. —

Wo sind die Krebse, wo Schande und Angst!

Das brül lende Ver der ben stürmt durch die

Welt. — Ein Bac cha nal des Todes, ein jauch zen -

der Tanz für die Seele.

Die Sinne erlö schen, wie trü bes Licht.

Ein furcht ba rer Ruck. — Wir bel ste hen, und

schnel ler, schnel ler, immer schnel ler und schnel -

ler dre hen sie sich zurück und schmet tern auf

den Grund, was sie ihm ent ris sen.

Man cher Pan zer brach da.

Als die See rose nach dem Sturze end lich aus

tie fer Ohn macht erwachte, fand sie sich auf wei -

che Algen gebet tet.

Das gute See pferd — es war heute gar nicht ins

Amt gegan gen — beugte sich über das Lager.

Küh les Mor gen was ser umfä chelte ihr Gesicht,

sie blick te um sich. Schnat tern von Enten mu -

scheln und das fröh li che Meckern einer Geis -

brasse drang an ihr Ohr.

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»Sie befin den sich in mei nem Land häus chen,«

beant wor tete das See pferd ihren fra gen den

Blick und sah ihr tief in die Augen. »Wol len Sie

nicht wei ter schla fen, gnä dige Frau, es würde

Ihnen gut tun!«

Die See rose konnte aber beim besten Wil len

nicht. Ein unbe schreib li ches Ekel ge fühl zog ihr

die Mund win kel her un ter.

»War das ein Unwet ter heute nacht, mir dreht

sich noch alles vor den Augen von dem Gewir -

bel,« fuhr das See pferd fort, — »darf ich Ihnen

übri gens mit Speck — so einem recht fet ten

Stück chen Matro sen speck auf war ten!!«

Beim blo ßen Hören des Wor tes Speck über -

kam die See rose eine der ar tige Übel keit, daß sie

die Lip pen zusam men pres sen mußte. — Ver ge -

bens. Ein Wür gen erfa ßte sie (dis kret blick te das

See pferd zur Seite), und sie mußte erbre chen.

Unver daut kam die Bla mol pille zum Vor schein,

stieg mit Luft bla sen in die Höhe und ver -

schwand.

Gott sei Dank, daß das See pferd nichts

bemerkt hatte. —

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Die Kranke fühlte sich plötz lich wie neu ge bo -

ren.

Behag lich ballte sie sich zusam men.

O Wun der, sie konnte sich wie der ballen,

konnte ihre Glie der bewe gen wie frü her.

Entzüc ken über Entzüc ken!

Dem See pferd tra ten vor Freude Luft bläs chen

in die Augen. »Weih nach ten, heute ist wirk lich

Weih nach ten,« jubelte es unun ter bro chen, und

das muß ich gleich dem Tin ten fisch mel den; Sie

wer den sich unter des sen recht, recht aus schla -

fen.

»Was fin den Sie denn so wun der ba res an der

plötz li chen Gene sung der See rose, mein lie bes

See pferd?« fragte der Tin ten fisch und lächelte

mild. »Sie sind ein Enthu si ast, mein jun ger

Freund!

»Ich rede zwar sonst prin zi piell mit Laien (Sie,

Barsch, einen Stuhl für den Herrn) nicht über

die medi zi ni sche Wis sen schaft, will aber dies -

mal eine Aus nahme machen und trach ten,

meine Aus drucks weise Ihrem Auf fas sungs ver -

mö gen mög lichst anzu pas sen. Also, Sie hal ten

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Bla mol für ein Gift und schie ben sei ner Wir kung

die Läh mung zu. O, wel cher Irr tum! Neben bei

bemerkt ist Bla mol längst abge tan, es ist ein Mit -

tel von gestern, heute wird all ge mein Idio tin chlo -

rür ange wandt (die Medi zin schrei tet näm lich

unauf halt sam vor wärts). Daß die Erkran kung

mit dem Schluc ken der Pille zusam men traf, war

blo ßer Zufall, — alles ist bekannt lich Zufall —

denn erstens hat Sei ten strangs kle rose ganz

andere Ursa chen, die Dis kre tion ver bie tet mir,

sie zu nen nen, und zwei tens wirkt Bla mol wie

alle diese Mit tel gar nicht beim Ein neh men, son -

dern ledig lich beim Ausspuc ken. Auch dann

natür lich nur gün stig.

Und was end lich die Hei lung anbe langt? —

Nun, da liegt ein deut li cher Fall von Auto sug ge -

stion vor. — In Wirk lich keit (Sie ver ste hen, was ich

meine: ›Das Ding an sich‹ nach Kant) ist die

Dame genau so krank wie gestern, wenn sie es

auch nicht merkt. Gerade bei Per so nen mit min -

der wer ti ger Denk kraft set zen Auto sug ge stio nen

so häu fig ein. — Natür lich will ich damit nichts

gesagt haben, — Sie wis sen wohl, wie hoch ich

die Damen schätze: ›Ehret die Frauen, sie flech -

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ten und weben — — — — Und jetzt, mein jun ger

Freund, genug von die sem Thema, es würde Sie

nur unnö tig auf re gen. —

»A pro pos, — Sie machen mir doch abends das

Ver gnü gen? es ist Weih nacht und — meine Ver -

mäh lung.«

»Wa —? — Vermä — — —,« platzte das See pferd

her aus, faßte sich aber noch recht zei tig: »O, es

wird mir eine Ehre sein, Herr Medi zi nal rat.«

»Wen hei ra tet er denn?« fragte er beim Hin aus -

schwim men den Barsch. — »Was Sie nicht sagen:

die Miesmuschel?? — Warum nicht gar! — Schon

wie der so eine Geld hei rat.«

Als abends die See rose, etwas spät, aber mit

blü hen dem Teint an der Flosse des See pfer des in

den Saal schwamm, wollte der Jubel kein Ende

neh men. Jeder umarmte sie, selbst die Schlei er -

schnec ken und Herz mu scheln, die als Braut jung -

fern fun gier ten, leg ten ihre mäd chen hafte Scheu

ab.

Es war ein glän zen des Fest, wie es nur rei che

Leute geben kön nen; die Eltern der Mies mu -

Page 150: Gustav Meyrink Orchideen - m.ngiyaw- · PDF fileDer große Saal, der sonst nur wis sen schaft li - chen Vor trä gen diente, war dicht gefüllt. — In der Mitte, auf einem Podium,

schel waren eben Mil lio näre und hat ten sogar

ein Meer leuch ten bestellt.

Vier lange Austern bänke waren gedeckt. —

Eine volle Stunde wurde schon geta felt, und

immer kamen noch neue Leckerbissen. Dazu

kre denzte der Barsch unab läs sig aus einem

schim mern den Pokal (natür lich die Öff nung

nach unten) hun dert jäh rige Luft, die aus der

Kabine eines Wracks stammte.

Alles war bereits ange hei tert. — Die Toa ste auf

die Mies mu schel und ihren Bräu ti gam gin gen in

dem Knal len der Kork po ly pen und dem Klap -

pern der Mes ser mu scheln völ lig unter.

Das See pferd und die See rose saßen am äußer -

sten Ende der Tafel, ganz im Schat ten, und ach te -

ten in ihrem Glück kaum der Umge bung.

Der junge Mann drück te ihr zuwei len ver stoh -

len den einen oder ande ren Füh ler, und sie

lohnte ihn dafür mit einem Glut blick.

Als gegen Ende des Mah les die Kapelle das

schöne Lied spielte:

»Ja, küs sen, — scher zen

mit jun gen Herrn

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ist selbst bei Frauen

sehr modern,«

und sich dabei die Tisch nach barn der bei den

ver schmitzt zublin zel ten, da konnte man sich

dem Ein druck nicht ver schlie ßen, daß die all ge -

meine Auf merk sam keit hier aller lei zarte Bezie -

hun gen mut ma ßte.

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Hony soit qui mal y pense.

»Du, Fredy, was bedeu tet den eigent lich dir rote,

rie sige ›29‹ dort drü ben über dem Podium?«

»Na, weißt du, Gib son, du stellst manch mal

Fra gen!? — Was die ›29‹ bedeu tet! — Wes halb

sind wir denn hier? — weil Sil ve ster ist — Sil ve -

ster 1929!« —

Die Her ren lach ten alle über Gib sons Zer -

streut heit.

Graf Oskar Gul brans son, der unten im Saale

stand, blick te zur Brü stung empor, und als er die

fröh li chen Gesich ter mit den modi schen, lang

herab hän gen den Schnurr bart spit zen B la chi -

nois über dem ver schnör kel ten Gelän der sah,

mußte er unwill kür lich mit la chen und rief hin -

auf: »Jemand einen Witz gemacht, eh? — Mes sie -

urs, wenn Sie wüß ten, wie furcht bar lustig Sie

mit Ihren mon go lisch glat tra sier ten Schä deln da

oben auf dem gol de nen Bal kon aus se hen! —

Wie Voll blut ta ta ren. — War ten Sie, ich komme

auch hin auf, ich muß nur meine Dame auf ihren

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Sitz füh ren. — Es fängt näm lich gleich an —: die

Kom tesse Jei te les wird ein Lied von Knut Sper -

ling sin gen und der Kom po nist sie sel ber auf der

Harfe beglei ten, kurz: — XXer legte die Hände

wie Schall dämp fer an die Wan ge nYY — es wird

schau—der—haft!«

»Wirk lich ein pracht vol ler alter Ari sto krat, die -

ser Graf Oskar, — rie sig vor nehm, und wie er

durch das gelbe Sei den ge wim mel da unten

schießt, wie ein Hecht,« sagte einer der Her ren,

ein Russe, namens Zybin — »ich habe neu lich

ein Bild von ihm in der Hand gehabt, wie er vor

fünf und zwan zig Jah ren oder so unge fähr, aus -

sah, — Frack, — ganz schwarz — von anno dazu -

mal, aber trotz dem ver dammt ele gant.«

— »Muß übri gens eine scheuß li che Mode

gewe sen sein, schon die Idee, sich anlie gend und

noch dazu schwarz zu klei den,« warf Fred

Hamil ton dazwi schen, »wenn da auf einem Balle

ein paar Her ren bei einer Dame stan den, mußte

das ja rein aus se hen, als ob sich die Raben um

ein Aas — — — — — —«

»In galan ten Ver glei chen lei sten Sie wirk lich

Über na tür li ches, Fredy,« unter brach der Graf,

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der etwas atem los, so schnell war er die Stu fen

hin auf ge lau fen, hin zu trat — »aber jetzt rasch,

Mes sie urs, ein Glas Sekt, ich habe mich von

Frau Werie bereits ver ab schie det und möchte

mich recht, recht, recht amü sie ren.«

»Apro pos, Graf, wer ist das junge Mäd chen

dort?« fragte Gib son, der immer noch von der

Balu strade in den oval gebau ten Saal hin ab sah,

aus dem eine Flut von hell ro ten Pol stern, zu Sit -

zen für die Zuschauer auf ein an der ge legt, in

entzüc kendem Kon trast zu den gold gel ben tür ki -

schen Plu der ho sen der Damen und eine

Nüance dunk le ren Toga ve stons der Her ren her -

vor leuch tete.

»Wel che mei nen Sie, lie ber Gib son?«

»Die dekol le tierte dort.«

All ge meine Hei ter keit.

»Sie sind wirk lich köst lich, Gib son; — die

dekol le tierte! — Es sind doch alle dekol le tiert! —

Aber ich weiß, wen Sie mei nen, — die kleine Chi -

ne sin, nicht wahr, neben dem Pro fes sor R. mit

dem schlecht rasier ten Kopf? — Das ist ein Fräu -

lein von Chün-lünt sang. — — — — Ah, da ist ja

schon der Cham pa gner!«

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Ein livrier ter Pavian war vor ge tre ten und wies

zum Zei chen, daß der Wein ser viert sei, mit sei -

ner zot ti gen Hand auf den schil lern den Vor -

hang, der den Hin ter grund des Bal kons

abschloß.

»Eigent lich für Affen eine sehr kleid same

Tracht,« bemerkte ein Herr halb laut, um das

Tier, das mit tels Hyp nose dres siert war und

jedes Wort ver stand, nicht zu krän ken.

»Beson ders die Idee, die Knöpfe mit Num -

mern zu ver se hen, ist sehr sinn reich, — dadurch

kann man sie von ein an der unter schei den, —

setzte Fredy hinzu, — »übri gens erin nert das an

die krie ge risch lächer li chen Zei ten vor fünf und -

zwan zig Jah ren. — — — — —«

Der dröh nende Schall einer Tri ton mu schel

schnitt ihm das Wort ab: das Kon zert begann.

Die Bogen lam pen erlo schen, und der Saal in

sei nem zar ten Schmuck aus japa ni schen Pfir sich -

blü ten und Efeu ver sank in tiefe Fin ster nis.

»Gehen wir, Mes sie urs, es ist höch ste Zeit, —

sonst über rascht uns der Gesang,« flü sterte der

Graf, und man schlich auf den Zehen in das

Trink zelt.

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Hier war alles schon vor be rei tet, — die Atlas -

pol ster im Kreise geord net und zum Sit zen oder

Lie gen geschlich tet, kleine Wan nen aus Chi na -

por zel lan dane ben, voll Nel ken blät ter zum

Trock nen der Fin ger, — die Sekt kel che, mit dem

per len den Gemisch von indi schem Soma und

Cham pa gner soeben ange füllt, sta ken in Schul -

ter höhe in gol de nen Draht schlin gen, wel che

vom Pla fond her ab hän gend durch ryth misch lei -

ses Erzit tern den Wein in ste tem Mous sie ren

erhiel ten.

Von den Zelt wän den strahlte gleich mä ßig mil -

des Kalt licht aus und floß in mär chen haf tem

Glanze über die wei chen sei de nen Tep pi che.

»Ich glaube, heute bin ich an der Reihe?« sagte

Mon sieur Choat, ein kir gi si scher Edel mann, —:

»Jumbo, Jumbo,« — und er rief in den win zi gen

Schall trich ter an dem Metall stab, der mit ten

vom Boden des Gema ches empor durch einen

Aus schnitt im Pla fond bis zur vol len Höhe des

Hau ses reichte; — »Jumbo, Jumbo, die Kugel,

rasch, rasch!«

Im näch sten Augen blick glitt der Affe laut los

aus der Dun kel heit die Stange herab, befe stigte

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eine kopf große, geschlif fene Beryll ku gel an zwei

Schlin gen und ver schwand behende wie der in

die Höhe.

Der Kir gise zog ein Mes cal-Etui her vor und

warf den wei ten Sei den är mel zurück: »darf ich

viel leicht einen der Her ren bit ten?!« —

Geschickt brachte ihm der Graf mit einer Pra -

vazschen Spritze eine Injek tion am Arme bei:

»So, das wird gerade für eine oder zwei Visio nen

aus rei chen.«

Mon sieur Choat schob die Beryll ku gel ein

wenig höher, so daß er sie bequem fixie ren

konnte und lehnte sich zurück: »Also —, wor auf

soll ich meine Gedan ken rich ten, meine Her -

ren?«

»Auf den neuen Pro phe ten in Shambhala, —

Sze nen aus einer römi schen Arena, — Orion ne -

bel, — Buddha im Stif tungs gar ten Kosambi,« rie -

fen alle durch ein an der; jeder wollte etwas ande -

res. —

— »Wie wäre es, wenn Sie ein mal erfor schen

woll ten, wo eigent lich das Para dies gestan den

haben mag,« schlug Graf Oskar vor.

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Gib son nützte die gün stige Gele gen heit und

schlüpfte unbe merkt aus dem Zelt, er hatte dies

visio näre Schauen — die sen neuen Sport — nach -

ge rade satt bis zum Über druß; — was kam dabei

her aus? Far ben präch tige Hal lu zi na tio nen, die

jeder schil derte, so leben dig er konnte, — und

was es eigent lich sei, ob unbe wu ßte Gedan ken,

die der Beryll reflek tierte, ob ver ges sene Vor stel -

lun gen aus frü he rem Dasein, — war doch nie -

mand zu sagen imstande.

Er trat an die Brü stung und schaute hinab.

Har fen ak korde, durch bro chen von abge ris -

sen gesun ge nen Tönen, die zuwei len im Hin ter -

grunde von einem jähen inten si ven Auf blit zen

eines Licht fun kens, — rot, blau, grün, — beglei tet

waren, zit ter ten durch die Dun kel heit. —

Moderne Musik!

Er lauschte gespannt die sen auf re gen den

Weck rufen, die selt sam ruck weise an das Herz

bran de ten, als soll ten sie beim näch sten Puls -

schlag die durch das Leben dünn ge schab ten

Schei de wände der Seele zu neuer, uner hör ter

Verzüc kung durch bre chen.

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Der Saal da unten lag in Fin ster nis, nur die

Dia man ta graf fen im Haar und am Halse der

Frauen und Mäd chen war fen fun kelnd den

Schein von win zi gen Radi um per len, die wie

Leucht kä fer grün lich erglom men, auf in Opal pu -

der schim mernde Busen.

Unbe weg lich stan den die Her ren hin ter ihren

Damen, und hie und da sah man die ver gol de -

ten Fin ger nä gel auf blit zen, wenn sie, Küh lung

zufä chelnd mit der Hand in die unmit tel bare

Nähe des phospho res zie ren den Haar schmuc kes

gerie ten.

Gib son mühte sich den Platz her aus zu fin den,

wo Fräu lein von Chün-lünt-sang sit zen

mußte, — noch heute wollte er den Gra fen bit -

ten, ihn vor zu stel len — — — —, da faßte ihn

jemand am Arm und zog ihn höf lich in das Zelt

zurück.

»Ach, ver zei hen Sie, lie ber Gib son, wenn wir

Sie gestört haben — aber Sie sind ja ein gro ßer

Schrift ge lehr ter, und Mon sieur Choat hat da so

merk wür dige Visio nen im Beryll gehabt und

meint, daß sie sich wirk lich auf das Para dies, —

den Gar ten Eden, — bezie hen könn ten …«

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»Ja, den ken Sie nur, eine vor sint flut li che

unend lich üppige Land schaft erschien mir,«

bestä tigte der Kir gise, »dabei Nord licht, unsag -

bar pracht voll, — weiß mit rosa Rän dern, wie

Spit zen her ab hän gend vom Him mel, und die

Sonne, glü hend rot, zog am Hori zont ent lang,

ohne unter zu ge hen; es war, als ob sich das Fir -

ma ment im Kreise drehe und — — — — —«

»Das sind doch alles die Him mels zei chen des

Polar krei ses, nicht wahr? — den ken Sie nur, die

Wiege der Mensch heit auf dem Nord pol!« unter -

brach Graf Oskar, — »übri gens tro pi sches Klima

war tat säch lich in grauer Vor zeit dort oben.«

Gib son nick te mit dem Kopf: »Wis sen Sie,

daß das alles sehr merk wür dig ist, — wie heißt es

denn nur schnell im Zen da ve sta? Ja: ›Dort oben

sah man die Sonne, die Sterne, den Mond ein mal nur

kom men und gehen im Jahr‹, — und: — ›es schien ein

Jahr ein einz’ger Tag zu sein‹, auch steht im

Rig-Veda, daß damals die Mor gen däm me rung

tage lang am Him mel stand, ehe die Sonne auf -

ging XXdie Her ren stie ßen sich an: was der

Mensch für ein unglaub li ches Gedächt nis

hatYY und dann sagt schon Ana xi me nes — — —«

Page 161: Gustav Meyrink Orchideen - m.ngiyaw- · PDF fileDer große Saal, der sonst nur wis sen schaft li - chen Vor trä gen diente, war dicht gefüllt. — In der Mitte, auf einem Podium,

»Ich bitte dich um Got tes wil len, hör’ schon

auf mit dei ner Gelehr sam keit,« rief Fredy und

schlug den Vor hang zurück, — »ah: die Musik ist

aus.«

Blen dende Helle strömte her ein.

Ein plät schern des, prit scheln des, tät scheln des

Geräusch erfüllte den Saal und wollte nicht

enden. —

»Welch’ ein Applaus, meine Her ren, sehen Sie

nur, wie der Opal pu der in die Luft steigt, — über

die Brü stung kommt eine wahre Wolke her auf.«

»Eine recht merk wür dige Mode, diese Art zu

applau die ren,« sagte jemand, »daß sie übri gens

dezent wäre, könnte man nicht — — —«

»Na, und wie weh das tun muß, — ich möchte

keine Dame sein, bestimmt nicht — — — à pro -

pos, wis sen Sie nicht, Graf, wer die erste war, die

diese Mode erfand?«

»Das kann ich Ihnen ganz genau sagen,« sagte

die ser lachend, »das war vor Jah ren die Für stin

Jup pi hoy, eine sehr kor pu lente Dame, die gewet -

tet hatte, die Menge werde ihr auch das nach ma -

chen, — und sie hatte nicht nur die Cou rage, son -

dern auch — — — die Cor sage dazu. — Sie kön -

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nen sich vor stel len, wel ches Ent set zen das

damals erregte.« —

Wie der scholl das plät schernde, prit schelnde, tät -

schelnde Geräusch aus dem Saal empor.

Die kleine Gesell schaft schwieg nach denk lich.

»Warum eigent lich die Her ren nicht auch mit applau -

die ren dür fen,« sagte plötz lich Gib son träu me -

risch.

Einen Augen blick große Ver blüf fung, dann

bra chen alle in ein stür mi sches, schal len des

Geläch ter aus.

Gib son wurde rot: »Aber ich meine es doch

gar nicht so; hony soit qui mal y pense.« — —

Die Hei ter keit ver dop pelte sich; Fred Hamil -

ton wand sich auf sei nem Pol ster: »Ha, ha, ha,

um Got tes wil len, hör’ auf, — ich sterbe, — mir

scheint, du hast an deine kleine Chi ne sin

gedacht.«

Dröh nende Gong schläge hall ten durch das

Haus.

Der Graf hob sein Glas in die Höhe: »Mes sie -

urs, wol len Sie nicht ansto ßen, so hören Sie

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doch,« — vor Lachen konnte er kaum wei ter spre -

chen, — »Mes sie urs, — es schlägt soeben 24

Uhr, — pro sit Neu jahr 1929, pro sit, pro sit!« –

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Der Opal

Der Opal, den Miß Hunt am Fin ger trug, fand

all ge meine Bewun de rung.

»Ich habe ihn von mei nem Vater geerbt, der

lange in Ben ga len diente, und er stammt aus

dem Besitze eines Brah ma nen,« sagte sie und

strich mit den Fin ger spit zen über den gro ßen

schim mern den Stein. »Sol ches Feuer sieht man

nur an indi schen Juwe len, — liegt es am Schliff

oder an der Beleuch tung, ich weiß es nicht, aber

manch mal kommt es mir vor, als ob der Glanz

etwas Beweg li ches, Ruhe lo ses an sich hätte, wie

ein leben di ges Auge.«

»Wie ein leben di ges Auge,« wie der holte nach -

denk lich Mr. Har grave Jen nings.

»Fin den Sie etwas daran, Mr. Jen nings?«

— — — — — — — — — — — —

Man sprach von Kon zer ten, von Bäl len und

Thea ter, — von allem Mög li chen, aber immer

wie der kam die Rede auf indi sche Opale.

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»Ich könnte Ihnen etwas über diese Steine,

über diese soge nann ten Steine mit tei len,«

meinte schließ lich Mr. Jen nings, »aber ich

fürchte, Miß Hunt dürfte dadurch der Besitz

ihres Rin ges für immer ver lei det sein. Wenn Sie

übri gens einen Augen blick war ten, will ich das

Manu skript in mei nen Schrif ten suchen.«

Die Gesell schaft war sehr gespannt.

* * *

»Also hören Sie, bitte. (Was ich Ihnen hier vor -

lese, ist ein Stück aus den Rei sen oti zen mei nes

Bru ders, — wir haben damals beschlos sen, nicht

zu ver öf fent li chen, was wir gemein sam erleb -

ten.)

Also: Bei Maha wa li pur stößt das Dschun gel

in einem schma len Strei fen bis hart ans Meer.

Kanal ar tige Was ser stra ßen, von der Regie -

rung ange legt, durch zie hen das Land von

Madras fast bis Trit schi no po lis, den noch ist das

Innere uner forscht und einer Wild nis gleich,

undurch dring lich, ein Fie ber herd.

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Unsere Expe di tion war eben ein ge trof fen,

und die dun kel häu ti gen tamu li schen Die ner

luden die zahl rei chen Zelte, Kisten und Kof fer

aus den Boo ten, um sie von Ein ge bo re nen

durch die dich ten Reis fel der, aus denen nur hie

und da Grup pen von Pal my ra pal men — wie

Inseln in einem wogen den hell grü nen See —

empor ra gen, in die Fel sen stadt Maha wa li pur

schaf fen zu las sen.

Oberst Sturt, mein Bru der Har grave und ich

nah men sofort Besitz von einem der klei nen

Tem pel, die, aus einem ein zi gen Fel sen her aus ge -

hauen, eigent lich her aus ge schnitzt, wahre Wun -

der werke alt dra wi di scher Bau kunst dar stel len.

Die Früchte bei spiel lo ser Arbeit buddhi sti scher

From mer, mögen sie jahr hun der te lang den

Hym nen der begei ster ten Jün ger des gro ßen

Erlö sers gelauscht haben, — jetzt die nen sie brah -

mi ni schem Shi va kult, wie auch die sie ben aus

dem Fels rüc ken gemei ßel ten hei li gen Pago den

mit den hohen Säu len hal len.

Aus der Ebene stie gen trübe Nebel, schweb ten

über den Reis fel dern und Wie sen und lösten die

Kon tu ren heim zie hen der Buckelochsen vor den

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roh ge zim mer ten indi schen Kar ren in regen bo -

gen ar ti gen Dunst auf. Ein Gemisch von Licht

und geheim nis vol ler Däm me rung, das sich

schwer um die Sinne legt und wie Zau ber duft

von Jas min und Holun der dol den die Seele in

Träume wiegt.

In der Schlucht vor dem Auf gang zu den Fel -

sen lager ten unsere Mah rat ten-Sepoys in ihren

wil den male ri schen Kostü men und den rot und

blauen Tur bans, und wie ein brau sen der Lob ge -

sang des Mee res an Shiva, den All zer stö rer,

dröhn ten und hall ten die Wogen schläge aus den

offe nen Höh len gän gen der Pago den, die sich

ver ein zelt längs des Gesta des hin zie hen.

Lau ter und grol len der schwol len die Töne der

Wel len zu uns empor, wie der Tag hin ter den

Hügeln ver sank und Nacht wind sich in den

alten Hal len fing.

Die Die ner hat ten Fackeln in unse ren Tem pel

gebracht und sich in das Dorf zu ihren Lands leu -

ten bege ben. Wir leuch te ten in alle Nischen und

Win kel. Viele dunkle Gänge zogen durch die

Fels wände, und phan ta sti sche Göt ter sta tuen in

tan zen der Stel lung, die Hand flä chen vor ge -

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streckt mit geheim nis vol ler Fin ger hal tung, deck -

ten mit ihren Schat ten die Ein gänge wie Hüter

der Schwelle.

Wie wenige wis sen, daß alle diese bizar ren

Figu ren, ihre Anord nung und Stel lung zuein an -

der, die Zahl und Höhe der Säu len und Lin gams

Myste rien von uner hör ter Tiefe andeu ten, von

denen wir Abend län der kaum eine Vor stel lung

haben.

Har grave zeigte uns ein Orna ment an einem

Sockel, einen Stab mit vier und zwan zig Kno ten,

an dem links und rechts Schnüre her ab hin gen,

die sich unten teil ten: Ein Sym bol, das

Rückenmark des Men schen dar stel lend, und in

Bil dern dane ben Erklä run gen der Eksta sen und

über sinn li chen Zustände, deren der Yogi auf

dem Wege zu den Wun der kräf ten teil haf tig

wird, wenn er Gedan ken und Gefühle auf die

betref fen den Rückenmarksabschnitte kon zen -

triert. —

»Dies da Pin gala, gro ßer Son nen strom,« nick -

te bestä ti gend Akhil Rao, unser Dol metsch.

Da faßte Oberst Sturt mei nen Arm:

»Ruhig — — — hören Sie nichts?«

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Wir horch ten gespannt in der Rich tung des

Gan ges, der, von der kolos sa len Sta tue der Göt -

tin Kala Bhai rab ver bor gen, sich in die Fin ster -

nis zog.

Die Fackeln kni ster ten — sonst Toten stille.

Eine lau ernde Stille, die das Haar sträubt, wo

die Seele bebt und fühlt, daß etwas geheim nis -

voll Grau en haf tes blitz ar tig ins Leben bricht,

wie eine Explo sion, und nun unn ab wend bar

eine Fol gen tod brin gen der Dinge aus dem Dun -

kel des Unbe kann ten, — aus Ecken und Nischen

empor schnel len muß.

In sol chen Sekun den ringt sich stöh nende

Angst aus dem rhyth mi schen Häm mern des

Her zens — wort ähn lich, wie das gur gelnde,

schau er li che Lal len der Taub stum men:

Ugg—ger, — Ugg—ger, Ugg—ger. —

Wir horch ten ver ge bens — kein Geräusch

mehr.

»Es klang wie ein Schrei tief in der Erde,« flü -

sterte der Oberst.

Mir schien es, als ob das Stein bild der Kala

Bhai rab, des Cho ler adä mons, sich bewege:

unter dem zuckenden Lichte der Fackeln

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schwank ten die sechs Arme des Unge heu ers,

und die schwarz und weiß bemal ten Augen flak -

kerten wie der Blick eines Irr sin ni gen.

»Gehen wir ins Freie, zum Tem pel ein gang,«

schlug Har gave vor, »es ist ein scheuß li cher Ort

hier.« —

Die Fel sen stadt lag im grü nen Lichte wie eine

stein ge wor dene Beschwö rungs for mel.

In brei ten Strei fen durch glit zerte der Mond -

schein das Meer, einem rie si gen, wei ß glü hen den

Schwerte gleich, des sen Spitze sich in der Ferne

ver lor.

Wir leg ten uns auf die Platt form zur Ruhe —

es war wind still und in den Nischen wei cher

Sand.

Doch es kam kein rech ter Schlaf.

Der Mond stieg höher, und die Schat ten der

Pago den und stei ner nen Ele fan ten schrumpf ten

auf dem wei ßen Fels bo den zu krö ten ähn li chen

phan ta sti schen Flä chen zusam men. »Vor den

Raub zü gen der Moguln sol len alle diese Göt ter -

sta tuen von Juwe len gestrotzt haben — Hals ket -

ten aus Sma rag den, die Augen aus Onix und

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Opal,« sagte plötz lich Oberst Sturt halb laut zu

mir, unge wiß, ob ich schliefe. — Ich gab keine

Ant wort.

Kein Laut als die tie fen Atmzüge Akhil Raos.

Plötz lich fuh ren wir alle ent setzt empor. Ein

gräß li cher Schrei drang aus dem Tem pel — ein

kur zes, drei fa ches Auf brül len oder Auf la chen

mit einem Echo wie von zer schel len dem Glas

und Metall.

Mein Bru der riß ein bren nen des Scheit von

der Wand, und wir dräng ten uns auf den Gang

hinab in das Dun kel.

Wir waren vier, was war da zu fürch ten.

Bald warf Har grave die Fackel fort, denn der

Gang mün dete in eine künst li che Schlucht ohne

Deckenwölbung, die von grel lem Mond licht

beschie nen in eine Grotte führte.

Feu er schein drang hin ter den Säu len her vor,

und von den Schat ten gedeckt schli chen wir

näher.

Flam men loder ten von einem nied ri gen Opfer -

stein, und in ihrem Licht kreis bewegte sich tau -

melnd ein Fakir, behängt mit den grell bun ten

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Fet zen und Kno chen ket ten der ben ga li schen

Dhur gaan be ter.

Er war in einer Beschwö rung begrif fen und

warf unter schluch zen dem Win seln den Kopf

nach der Art der tan zen den Der wi sche mit

rasen der Schnelle nach rechts und links, dann

wie der in den Nacken, daß seine wei ßen Zähne

im Lichte blitz ten.

Zwei mensch li che Kör per mit abge schnit te -

nen Köp fen lagen zu sei nen Füßen, und wir

erkann ten sehr bald an den Klei dungs stüc ken

die Lei chen zweier unse rer Sepoys. Es mußte ihr

Todes schrei gewe sen sein, der so gräß lich zu uns

empor ge klun gen.

Oberst Sturt und der Dol metsch war fen sich

auf den Fakir, wur den aber von ihm im sel ben

Augen blick an die Wand geschleu dert.

Die Kraft, die in die ser abge mer gel ten Aske -

ten ge stalt wohnte, schien unbe greif lich, und ehe

wir noch zusprin gen konn ten, hatte der Flie -

hende bereits den Ein gang der Grotte gewon -

nen.

Hin ter dem Opfer stein fan den wir die abge -

schnit te nen Köpfe der bei den Mah rat ten.«

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— — — — — — — — — — — —

Mr. Har grave Jen nings fal tete das Manu skript

zusam men: »Es fehlt ein Blatt hier, ich werde

Ihnen die Geschichte sel ber zu Ende erzäh len:

»Der Aus druck in den Gesich tern der Toten

war unbe schreib lich. Mir stockt heute noch der

Herz schlag, wenn ich mir das Grauen zurück -

rufe, das uns damals alle befiel. Furcht kann

man es nicht gut nen nen, was sich da in den

Zügen der Ermor de ten ausdrück te, — ein ver -

zerr tes, irr sin ni ges Lachen schien es. — Die Lip -

pen, — die Nasen flü gel empor ge zo gen, — der

Mund weit offen und die Augen, — die Augen —

es war fürch ter lich; stel len Sie sich vor, die

Augen — her vor ge quol len — zeig ten weder Iris

noch Pupille und leuch te ten und fun kel ten in

einem Glanze wie der Stein hier an Miß Hunts

Ring.

»Und wie wir sie dann unter such ten, zeigte es

sich, daß sie wirk li che Opale waren.

Auch die spä tere che mi sche Ana lyse ergab

nichts ande res. Auf wel che Weise die Aug äp fel

hat ten zu Opa len wer den kön nen, wird mir

immer ein Rät sel blei ben. Ein hoher Brah mane,

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den ich ein mal fragte, behaup tete, es geschähe

durch soge nannte Tan triks (Wort zau ber), — und

der Pro zeß gehe blitz schnell, und zwar vom

Gehirn aus vor sich; doch wer ver mag das zu

glau ben! Er setzte damals noch hinzu, daß alle

indi schen Opale glei chen Ursprungs seien, und

daß sie jedem, der sie trüge, Unglück bräch ten,

da sie ein zig und allein Opfer ga ben für die Göt -

tin Dhurga, die Ver nicht erin alles orga ni schen

Lebens — blei ben müß ten.«

Die Zuhö rer stan den unter dem Eindruc ke

der Erzäh lung und spra chen kein Wort.

Miß Hunt spielte mit dem Ring. — — — —

»Glau ben Sie, daß Opale wirk lich des we gen

Unglück brin gen, Mr. Jen nings,« sagte sie end -

lich.

»Wenn Sie es glau ben, bitte, ver nich ten Sie

den Stein!« — — — — und Mr. Jen nings nahm ein

spit zes Eisen stück, das als Brief be schwe rer auf

dem Tische lag, und häm merte leise auf den

Opal, bis er in musche lige, schim mernde Split ter

zer fiel.

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Der Unter gang

Chlod wig Dohna, ein ner vö ser Mensch, der

unun ter bro chen — jawohl unun ter bro chen, —

sozu sa gen mit ange hal te nem Atem, acht ge ben

muß, um nicht jeden Moment sein psy chi sches

Gleich ge wicht zu ver lie ren und eine Beute sei -

ner fremd ar ti gen Gedan ken zu wer den! —

Dohna, der mit der Pünkt lich keit einer

Maschine kommt und geht, fast nie spricht und

sich mit den Kell nern im Klub, um jedes über -

flüs sige Wort zu mei den, nur durch Zet tel ver -

stän digt, die seine Anord nun gen für die kom -

mende Woche ent hal ten, der soll krank haft ner -

vös sein?! —

Das ist ja rein zum Lachen!

»Er muß unter sucht wer den,« mein ten die

Her ren und beschlos sen, um Dohna ein wenig

aus zu ho len, kur zer hand eine Fest lich keit im

Klub, der er nicht gut aus wei chen konnte.

Sie wuß ten ganz gut, daß ein beson ders höf li -

ches und kor rek tes Beneh men ihn am leich te -

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sten in eine ange regte Stim mung ver setze, und

wirk lich ging Dohna frü her, als man gehofft

hatte, aus sich her aus. —

»Ich möchte so gerne wie der ein mal ein See -

bad auf su chen,« meinte er, »wie in frü he ren Zei -

ten, wenn ich nur den Anblick der mehr oder

weni ger nack ten Men schen ver mei den könnte.

»Sehen Sie, noch vor fünf Jah ren konnte mich

ein mensch li cher Kör per unter Umstän den

sogar begei stern, — grie chi sche Sta tuen waren

mir ein Kunst ge nuß. — Und jetzt? — Seit mir die

Schup pen von den Augen gefal len sind, quält

mich ihr Anblick wie phy si scher Schmerz. — Bei

den moder nen Skulp tu ren mit den wir beln den

oder über schlan ken For men geht es noch halb -

wegs, aber ein nack ter leben der Mensch ist und

bleibt mir das Grau en haf te ste, das sich den ken

läßt. — Die klas si sche Schön heit ist eine Schul -

sug ge stion, die sich ver erbt wie eine anstek -

kende Krank heit. —

Betrach ten Sie doch ein mal eine Hand. Ein

wider li cher Fleisch klum pen mit fünf ver schie -

den lan gen, scheuß li chen Stum meln! Set zen Sie

sich ruhig hin, schauen Sie so eine Hand an und

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wer fen Sie alle Erin ne run gen fort, die daran hän -

gen, — betrach ten Sie sie, kurz gesagt, wie etwas

ganz Neues, und Sie wer den ver ste hen, was ich

meine.

»Und gar wenn Sie das Exper iment auf die

ganze mensch li che Gestalt aus deh nen! Da faßt

einen das Grau sen, ich möchte sagen, die Ver -

zweif lung, — eine nagende Todes pein. Man fühlt

den Fluch der Ver trei bung aus dem Para dies am

eige nen Flei sche.

»Ja! — Wirk lich schön ist eben nur das, was

man sich mit Gren zen nicht vor stel len kann, —

etwa der Raum; alles andere, begrenzte, selbst

der präch tig ste Schmet ter lings flü gel, ruft den

Ein druck der Ver krüp pe lung wach. —

»Die Rän der, die Gren zen der Dinge, wer den

mich noch zum Selbst morde trei ben; sie machen

mich so elend, und es würgt mich, wie sie mir in

die Seele schnei den. —

»Bei man chen For men tritt mich dies Lei den

weni ger quä lend an, — wie ich schon sagte: bei

den sti li sier ten Linien der Sezes sion, aber uner -

träg lich wird es bei den natür li chen, die quasi

frei wach sen. —

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»Der Mensch! — Der Mensch! Was pei nigt

einen so beim nack ten Men schen?! Ich kann es

nicht ergrün den. Feh len ihm Federn oder Schup -

pen, oder Licht aus strah lun gen?

»Ich sehe ihn immer wie ein Gerüst vor mir,

um das herum die eigent li che Hülle fehlt — leer

wie ein Rah men ohne Bild. — Doch wohin soll

ich die Augen geben, die so gar nicht zu die ser

Vor stel lung pas sen und so unbe grenzt schei -

nen?« —

Chlod wig Dohna hatte sich ganz in dem

Thema ver lo ren, sprang end lich auf und ging

erregt im Zim mer auf und ab, indem er ner vös

an sei nen Nägeln biß.

»Sie haben sich wohl viel mit Meta phy sik oder

Phy sio gno mik befaßt?« fragte ein jun ger Russe,

Mon sieur Petroff.

»Ich? Mit Phy sio gno mik? — Nein. Brau che es

auch gar nicht.

»Wenn ich bloß die Hosen beine eines Men -

schen ansehe, weiß ich alles über ihn und kenne

ihn bes ser, als er sich selbst.

»Lachen Sie nicht, mein Herr, es ist mein vol -

ler Ernst.«

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Die Frage mußte Dohna immer hin in sei nen

sich fort spin nen den Grü be leien unter bro chen

haben, — er setzte sich zer streut nie der und emp -

fahl sich plötz lich steif und förm lich von den

Her ren, die ein an der befrem det ansa hen, aber

nicht son der lich befrie digt schie nen: — es war

ihnen zu wenig gewe sen.

Am näch sten Tag fand man Dohna tot vor sei -

nem Schreib ti sche.

Er hatte sich erschos sen.

Vor ihm lag ein fuß lan ger Berg kri stall mit spie -

geln den Flä chen und schar fen Kan ten.

* * *

Der Ver stor bene war vor fünf Jah ren ein fröh li -

cher Mensch gewe sen, der von Ver gnü gen zu

Ver gnü gen eilte und mehr auf Rei sen als zu

Hause war.

Zu die ser Zeit lernte er in dem Kur orte Levico

einen indi schen Brah mi nen Mr. Lala Bul bir

Singh ken nen, der in sei nen Anschau un gen

große Umwäl zun gen her vor brachte.

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An den Ufern des regungs lo sen Cal do -

nazzo-Sees hat ten sie oft geweilt, und Dohna

hatte mit tie fer Ver wun de rung die Reden des

Inders ange hört, der, in allen euro päi schen Wis -

sens zwei gen auf das Gründ lich ste geschult, den -

noch über sie in einer Weise sprach, die erken -

nen ließ, daß er sie nicht viel höher als Kin der -

spiel zeug ach tete.

Kam er auf sein Lieb lings thema: die direkte

Erkennt nis der Wahr heit, so ging von sei nen

Wor ten, die er stets in einem eigen tüm li chen

Rhyth mus anein an der reihte, eine über wäl ti -

gende Kraft aus, und dann schien es, als ob das

Herz der Natur still stände und das unru hige

Schilf gespannt die ser ural ten hei li gen Weis heit

lausche.

Aber auch viele selt same Berichte erzählte er

Dohna, die wie Mär chen klan gen: von der

Unsterb lich keit im Kör per und dem gehei men

pro fun den Wis sen der Raja hyo gis.

Aus dem Munde die ses ern sten, gelehr ten

Man nes hör ten sie sich um so wun der ba rer und

kon tra strei cher an. Gera dezu wie eine Offen ba -

rung aber wirkte der uner schüt ter li che Glau -

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ben, mit dem er von einem bevor ste hen den

Welt un ter gange sprach:

Im Jahre 1904 werde sich nach einer Reihe

schreck licher Erd be ben ein gro ßer Teil Asiens,

der unge fähr dem Umfange Chi nas ent spricht,

all mäh lich in einen ein zi gen gigan ti schen Kra ter

ver wan deln, in dem ein Meer geschmol ze ner

Metall mas sen zutage tritt.

Die unge heure glü hende Ober flä che würde

natur ge mäß in kur zer Zeit durch Oxy da tion

allen Sau er stoff der Erde auf sau gen und die

Mensch heit dem Erstic kungstode preis geben.

Lala Bul bir Singh hatte die Kennt nis die ser

Vor her sage aus jenen gehei men Manu skrip ten

geschöpft, die in Indien ein zig und allein einem

Hoch grad brah mi nen zugäng lich sind und für

einen sol chen jeden Zwei fel an Wahr heit aus -

schlie ßen.

Was aber Dohna beson ders über raschte, war

die Erzäh lung, daß ein neuer euro päi scher Pro -

phet, namens Jan Dole schal, der sich in Prag auf -

halte, erstan den sei und die glei che Kennt nis

ledig lich aus sich selbst und durch gei stige Offen -

ba run gen erhal ten habe. —

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Wie der Inder steif und fest behaup tete, sei

Dole schal nach gewis sen gehei men Zei chen auf

Brust und Stirne die Wie der ver kör pe rung eines

Yogi aus dem Stamme der Sikhs, der zur Zeit des

Guru Nanak gelebt und jetzt die Mis sion habe,

einen Teil der Mensch heit aus dem all ge mei nen

Unter gange zu erret ten. —

Er pre dige, wie vor 3000 Jah ren der große Hin -

du leh rer Pat an jali, — die Methode, durch Anhal -

ten des Atems und gleich zei tige Kon zen tra tion

der Gedan ken auf ein gewis ses Ner ven zen trum

die Tätig keit der Lun gen auf zu he ben und das

Leben unab hän gig von atmo sphä ri scher Luft zu

gestal ten.

Dohna war sodann in Gesell schaft Lala Bul bir

Singhs in die Nähe Prags gereist, um den Pro -

phe ten in eige ner Per son ken nen zu ler nen.

Auf dem Land sitze eines Für sten fand das

Zusam men tref fen statt. —

Nie mand, der nicht bereits zur Sekte gehörte

oder von Gläu bi gen ein ge führt wurde, durfte

die Besit zung betre ten.

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Dole schals Ein druck war noch fas zi nie ren der

als der des Brah mi nen, mit dem ihn übri gens

eine tiefe Freund schaft ver band. —

Der heiße kon ver gie rende Blick sei ner schwar -

zen Augen war uner träg lich und drang wie ein

glü hen der Draht ins Gehirn.

Dohna ver lor jeden see li schen Halt unter dem

über wäl ti gen den Ein flusse die ser bei den Män -

ner. —

Er lebte wie im Tau mel dahin und hielt mit der

klei nen Gemeinde die vor ge schrie be nen stun -

den lan gen Gebete. — Halb träu mend hörte er

die rät sel haf ten eksta ti schen Reden des Pro phe -

ten, die er nicht ver stand, und die den noch wie

Ham mer schläge in sein Herz fie len und ein quä -

len des Dröh nen im gan zen Kör per her vor rie -

fen, um ihn bis tief in den Schlaf zu ver fol gen. —

Jeden Mor gen zog er mit den übri gen auf die

Anhöhe des Par kes, wo eine Gruppe Arbei ter

unter Lei tung des Inders beschäf tigt war, ein

tem pel ähn li ches acht ec kiges Gebäude zu voll en -

den, des sen Sei ten teile ganz aus dicken Gla sta -

feln bestan den.

Page 184: Gustav Meyrink Orchideen - m.ngiyaw- · PDF fileDer große Saal, der sonst nur wis sen schaft li - chen Vor trä gen diente, war dicht gefüllt. — In der Mitte, auf einem Podium,

Durch den Boden des Tem pels führ ten mäch -

tige Metall röh ren zu einem nahe lie gen den

Maschi nen raum. —

* * *

Einige Monate spä ter befand sich Dohna

schwer ner ven lei dend in Beglei tung eines

befreun de ten Arz tes in einem Fischer dorfe der

Nor man die als jener son der bare, sen si tive

Mensch, dem die For men der Natur eine unun -

ter bro chene geheim nis volle Spra che rede ten. —

Sein letz tes Erleb nis mit dem Pro phe ten hatte

ihn fast getö tet, und die Erin ne rung daran war

bis zu sei nem Tode nicht mehr von ihm gewi -

chen.

— — — — — — — — — — — —

Er war mit Män nern und Wei bern der Sekte

in dem glä ser nen Tem pel ein ge schlos sen. —

In der Mitte der Pro phet mit unter schla ge nen

Bei nen auf einem roten Posta mente und sein

Bild bricht sich in den acht ec kigen Glas wän den,

daß es scheint, als sei er in hun dert Ver kör pe run -

gen zuge gen. —

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Scheuß li cher, stin ken der Rauch von ver brann -

tem Bil sen kraut wir belt aus einer Pfanne und

legt sich schwer wie die Hände der Qual auf die

Sinne. —

Ein schluch zen des, schlap fen des Geräusch

dringt aus dem Boden her auf: sie pum pen die Luft

aus dem Tem pel. — —

Erstic kenden Gase fal len zur Decke her ein, in

der armdic ke Schläu che mün den: Stick stoff. —

Wie Schlan gen des Todes legt sich die schnü -

rende Angst um Hals und Kopf. —

Der Atem wird röchelnd, das Herz häm mert

zum Zer sprin gen.

Die Gläu bi gen schla gen an die Brust.

Der Pro phet sitzt wie aus Stein gehauen, und

alle füh len sich von sei nen star ren schwar zen

Augen ver folgt, die ihnen aus den Ecken dro -

hend ent ge gen spie geln. —

— — — — — — — — — — — —

Halt, halt! — Um Got tes wil len Luft, — Luft! —

Ich erstic ke. —

Alles dreht sich im Wir bel, der Kör per ver -

renkt sich, die Fin ger kral len sich in die Kehle. —

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Heu lende Schmer zen wie der Tod das Fleisch

von den Kno chen saugt.

Wei ber wer fen sich zu Boden und win den sich

im Krampfe des Erstic kens. —

Die dort reißt sich mit blu ti gen Nägeln die

Brust auf. —

In den Spie geln die schwar zen Augen wer den

immer mehr und bedec ken die Wände.

Begra bene Sze nen aus dem Leben tre ten vor

die Seele, und wirre Erin ne run gen tan zen: Der

Cal do nazzo-See rauscht wie die Bran dung, —

Länder strec ken ver dun sten, — der Cal do -

nazzo-See rauscht wie die Bran dung, — Länder -

strec ken ver dun sten, — der See ist ein Meer aus

glü hen dem Kup fer gewor den, und grüne Flam -

men hüp fen über dem Kra ter.

Aus der erstic kenden Brust don nert der Herz -

schlag, und Lala Bul bir Singh fliegt als Geier

über die Glut.

— — — Dann ist alles zer bro chen, erstickt,

gebor sten.

Noch ein Aufflac kern kla ren Bewußt seins:

Aus den Ecken spie gelt die sta tu en hafte Gestalt

Dole schals, seine Augen sind tot, und ein grau -

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en haf tes Lächeln liegt wie eine Maske auf sei -

nem Gesicht. —

Risus sar do ni sus, — das Lei chen grin sen —, so

nann ten es die Alten.

Dann schwarze Nacht, ein kal ter Wind stoß

fährt über den Kör per. — Eis wo gen drin gen in

die Lun gen, und das Schluch zen der Pum pen ist

ver stummt.

Aus der Ferne klingt die rhyth mi sche Stimme

Lala Bul bir Singhs: »Dole schal ist nicht tot, er ist

in ›Samadhi‹ — der Verzüc kung der Pro phe -

ten! — —

Das alles hatte Doh nas Inner stes unheil bar

erschüt tert und die Tore sei ner Seele erbro -

chen. —

Ja, wenn es einen Schwa chen trifft, wirft es ihn

um. —

Und seine Seele ist wund geblie ben.

Die Erde werde ihm leicht.

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»Krank«

Der Gesell schafts raum des Sana to ri ums war

stark besucht, wie immer; — alles saß still und

war tete auf die Gesund heit.

Man sprach mit ein an der nicht, da man vom

andern eine Krank heits ge schichte befürch tete —

oder Zwei fel an der Behand lungs me thode. —

Es war unsag bar öde und lang wei lig, und die

faden deut schen Sinn sprü che, mit schwar zen

Glanz buch sta ben auf weiße Kar tons gepappt,

wirk ten wie ein Brech reiz. — —

An einem Tische, mir gegen über, saß ein klei -

ner Junge, den ich bestän dig ansah, weil ich

sonst mei nen Kopf in eine noch unbe que mere

Lage hätte brin gen müs sen.

Geschmack los ange zo gen, sah er unend lich

stu pid aus mit sei ner nied ri gen Stirn. — An sei -

nem Sam met är meln und Hosen hatte die Mut -

ter weiße Spit zen be sätze befe stigt. —

— — — — — — — — — — — —

Page 189: Gustav Meyrink Orchideen - m.ngiyaw- · PDF fileDer große Saal, der sonst nur wis sen schaft li - chen Vor trä gen diente, war dicht gefüllt. — In der Mitte, auf einem Podium,

Auf uns allen lastete die Zeit, — sog uns aus,

wie ein Polyp.

Ich hätte mich nicht gewun dert, wenn plötz -

lich diese Men schen wie ein Mann, ohne soge -

nannte Ver an las sung, mit einem Wut ge heul auf -

ge sprun gen wären und alles — Tische, Fen ster,

Lam pen — in Rase rei zer trüm mert hät ten.

Warum ich nicht selbst so han delte, war mir

eigent lich unver ständ lich; ver mut lich unter ließ

ich es aus Furcht, daß die ande ren nicht gleich -

zei tig mit ma chen wür den, und ich hätte mich

dann beschämt wie der nie der set zen müs sen.

Dann sah ich wie der die wei ßen Spit zen be -

sätze und fühlte, daß die Lan ge weile noch quä -

len der und drüc kender gewor den war; — — ich

hatte das Gefühl, als ob ich eine große graue

Kau tschuk-Kugel in der Mund höhle hielte, die

immer grö ßer wurde und mir ins Gehirn hin ein

wuchs. — —

In sol chen Momen ten der Öde ist einem son -

der ba rer weise auch der Gedanke an irgend eine

Ver än de rung ein Greuel.

Der Junge reihte Domi no steine in ihre Schach -

tel ein und nahm sie dann in fie ber haf ter Angst

Page 190: Gustav Meyrink Orchideen - m.ngiyaw- · PDF fileDer große Saal, der sonst nur wis sen schaft li - chen Vor trä gen diente, war dicht gefüllt. — In der Mitte, auf einem Podium,

wie der her aus, um sie anders zu legen. — Es war

näm lich kein Stein mehr übrig, und doch war

die Schach tel nicht ganz voll — wie er gehofft —

es fehlte bis zum Rand noch eine ganze

Reihe. — — —

Er pack te seine Mut ter end lich hef tig beim

Arm, deu tete in wil der Ver zweif lung auf diese

Asym me trie und brachte nur die Worte her aus:

»Mama, Mama!« — Die Mut ter hatte soeben mit

einer Nach ba rin über Dienst bo ten und ähn li che

ern ste Dinge gespro chen, die das Frau en herz

bewe gen, und blick te nun glanz los — wie ein

Schau kel pferd — auf die Schach tel. —

»Leg’ die Steine quer,« sagte sie dann.

Im Gesicht des Kin des blitzte ein Hoff nungs -

strahl auf, — und von neuem ging es mit lüster -

ner Lang sam keit an die Arbeit. — —

Wie der ver strich eine Ewig keit.

Neben mir kni sterte ein Zei tungs blatt. — —

Wie der fie len mir die Sinn sprü che in die

Augen, — und ich fühlte mich dem Wahn sinn

nahe. — —

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Jetzt! — — Jetzt — — das Gefühl kam von außen

über mich, sprang mir auf den Kopf, wie der

Hen ker.

Ich starrte den Jun gen an, — von ihm zog es zu

mir her über. — — Die Schach tel war jetzt voll,

aber ein Stein war übrig geblie ben!

Der Junge riß die Mut ter fast vom Stuhl. — Sie

hatte schon wie der von Dienst bo ten gespro chen

und stand auf und sagte: »Wir gehen nun zu

Bett, du hast lange genug gespielt.« —

Der Junge gab kei nen Laut von sich, er stierte

nur mit irren Augen um sich, — — — die wil de ste

Ver zweif lung, die ich je gese hen. —

Ich wand mich in mei nem Fau teuil und

krampfte die Hände, — es hatte mich ange steckt.

Die bei den gin gen hin aus, und ich sah, daß es

drau ßen reg nete. — — Wie lange ich noch saß,

weiß ich nicht mehr. — Ich träumte von all den

trü ben Erleb nis sen mei nes Lebens, — sie sahen

mit schwar zen Domino-Augen ein an der an, als

ob sie etwas Unheim li ches such ten, und ich

wollte sie in einen grü nen Sarg ein rei hen, — —

aber jedes mal waren ihrer zu viel oder zu

wenig. — —

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Der Tod des Sel chers Schmel

Die schlaf trun kene Geschichte

Wenn einer glaubt, daß die gehei men Leh ren

des Mit tel al ters mit den Hexen pro zes sen aus ge -

stor ben seien, oder daß sie gar auf bewu ß ter

oder unbe wu ß ter Täu schung beru hen, — ist er

arg im Irr tum.

Nie mand hatte das bes ser begrif fen als Ama -

deus Veverka, der heute im okkul ten Orden der

Her me ti schen Brü der schaft von Luxor unter

sym bo li sti schem Gepränge zum »super ieur

inconnu« erho ben wor den war und jetzt nach -

denk lich — durch schau ert von den Leh ren des

Buches Ambert kend — auf einem behaue nen

Stein block am Abhange der »Nus ler Stiege« sitzt

und schlaf trun ken in die blaue Nacht hin aus -

gähnt.

Der junge Mann läßt alle die fremd ar ti gen Bil -

der im Gei ste an sich vor über zie hen, die heute

abend vor sein Auge getre ten waren — — er hört

wie aus wei ter Ferne noch die ein tö nige Stimme

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des Arch-Zen sors Ganesha: »Die erste Figur,

über wel che man das Wort Hom aus spre chen

muß, zei get sich unter einer schwarz und gelb

gemisch ten Farbe, sie ist in dem Hause des

Saturn. Wenn unser Geist ein zig mit die ser Figur

beschäf tigt ist, wenn unsere Augen fest auf sie

gehef tet sind und wir uns selbst den Namen

Hom aus spre chen, so öff nen sich die Augen des

Ver stan des, und man erwirbt sich das Geheim -

nis — — —«

Und die Brü der des Ordens stan den umher,

das blaue Band um die Stirn geschlun gen und

die Stäbe mit Rosen bekränzt. — Freie For scher,

die die Tie fen der Gott heit ergrün den, mit Mas -

ken und wei ßen Tala ren, damit kei ner den

andern kenne und kei ner vom andern wisse. —

XXWenn man sich aber auf der Straße begeg -

net, erkennt man sich am Hän de druck.YY —

Ja, ja — sol che Insti tu tio nen sind oft uner -

forsch lich und wun der bar.

Ama deus Veverka greift unter seine Weste, ob

er das Abzei chen sei ner neuen Würde, die gol -

dene Münze mit dem email lier ten Trau ben kern

noch habe, und wiegt sich im Gefühle stol zer

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Über le gen heit über diese schla fen den Men -

schen im nächt li chen Häu ser meer, die nichts

Bes se res ken nen, als die Myste rien der Magi -

strat ser lässe und wie man gut esse und viel

trinke.

Er wie der holt sich, an den Fin gern zäh lend, all

das, was von jetzt ab streng geheim zu hal ten sei.

Wenn das so fort geht, — flü stert ihm jenes nie -

der träch tige innere Ich zu, das begei sterte deut -

sche Poe ten so schön unter dem Sinn bild des

»schwar zen Rit ters zur Lin ken« ver hül len, »so

werde ich schließ lich noch das Ein mal eins

geheim hal ten müs sen.

Selbst ver ständ lich jagte er mit einem ener gi -

schen Fuß tritt die sen Teu fel in seine fin stere

Welt zurück, wie es einem jun gen Super ieur

inconnu geziemt, und wie es die Bru der schaft

von ihm erwar tet. —

Die letzte Stra ßen la terne in sei ner Nähe hat

man erdros selt, und über der dunst ver hüll ten

Stadt flim mert nur das schwa che Licht der

Sterne. — Sie blin zen gelang weilt auf das graue

Prag und geden ken trüb se lig der alten Zei ten,

da noch der Wal len stei ner von sei nem Schlosse

Page 195: Gustav Meyrink Orchideen - m.ngiyaw- · PDF fileDer große Saal, der sonst nur wis sen schaft li - chen Vor trä gen diente, war dicht gefüllt. — In der Mitte, auf einem Podium,

auf der Klein seite grü belnd empor zu ihnen

blick te. — Und wie die Alchy mi sten Kai ser

Rudolfs in ihren Schwal ben ne stern auf der Dali -

borka nächt lich koch ten und mur mel ten und

erschreckt die Feuer lösch ten, wenn der Mars in

Mon des nähe kam. — Die Zei ten des Nach den -

kens sind um, und Prag liegt und schnarcht wie

ein betrun ke nes Markt weib.

Ringsum hüge li ges Land. — Ernst und geheim -

nis voll schweigt das Nus ler Tal vor dem träu me -

ri schen Geheim jün ger, — im fer nen Hin ter -

grunde die mas si gen tief dunk len Wäl der, in

deren Lich tun gen die Strol che schla fen, die bei

der Pra ger Poli zei noch keine Anstel lung als

Detek tive gefun den haben.

Weiße Nebel tan zen auf den nas sen Wie sen, —

aus tie fer Ferne ruft das ver träumte Pfei fen der

Loko mo tive eine kranke Sehn sucht wach.

Ama deus Veverka denkt und denkt: Wie

stand es doch in dem alten Manu skript über die

ver hei ße nen Offen ba run gen der inne ren Natur,

das wäh rend der zwang lo sen Bespre chung Bru -

der Seso stris vor ge le sen hatte?

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:»Wenn du in den Nacht him mel siehst und

willst das Schauen erlan gen, so richte dei nen

Blick auf einen Punkt, den du dir in wei ter Ferne

denkst, und schiebe ihn immer wei ter und wei -

ter von dir weg, bis du fühlst, daß die Ach sen dei -

ner Augen sich nicht mehr schnei den. — Dann

wirst du mit den Augen der Seele sehen: ern ste,

trau rige und komi sche Dinge, — wie sie im

Buche der Natur auf ge zeich net sind —; Dinge,

die kei nen Schat ten wer fen. — Und dein Sehen

wird mit dem Den ken ver schmel zen.«

Der junge Mann sieht hin aus in das wol ken -

lose Dun kel, bis er seine Augen ver gißt. — Geo -

me tri sche Figu ren ste hen am Him mel, wach sen

und ver än dern sich, dunk ler als die Nacht. —

Dann schwin den sie und Geräte erschei nen, wie

sie das banale Leben braucht: ein Rechen, eine

Gieß kanne, Nägel, eine Schau fel. — Und jetzt

ein Ses sel mit grü nem Rips bezo gen und mit zer -

bro che ner Lehne.

Veverka quält sich ab, die alte Lehne durch

eine neue zu erset zen. — Ver ge bens. — Jedes mal,

wenn er glaubt, am Ziele zu sein, zer rinnt das

Bild und fährt in seine alte Form zurück. — End -

Page 197: Gustav Meyrink Orchideen - m.ngiyaw- · PDF fileDer große Saal, der sonst nur wis sen schaft li - chen Vor trä gen diente, war dicht gefüllt. — In der Mitte, auf einem Podium,

lich ver schwin det es ganz, die Luft scheint wie

Was ser und rie sige Fische mit leuch ten den

Schup pen und gol de nen Punk ten schwim men

ein her. — Wie sie die pur pur nen Flos sen bewe -

gen, hört er es im Was ser brau sen. —

Erschreckt zuckt Ama deus zusam men, wie ein

jäh Erwa chen der. — Ein ein tö ni ges Sin gen dringt

durch die Nacht. — Er steht auf: Ein paar Leute

aus dem Volke, — sla wi scher Sing sang. Schwer -

mü tig nen nen es die, die davon erzäh len, und es

doch nie gehört haben.

Glück lich der Sterb li che, der es nie ver nom -

men. —

Im Westen ragt das Palais des Sel chers

Schmel.

Wer kennt ihn nicht, den Hoch ver dien ten!

Sein Ruhm klingt über die Lande bis an das

blaue Meer. — Goti sche Fen ster schauen stolz

hinab ins Tal. —

Die Fische sind ver schwun den, und Ama deus

Veverka sucht von neuem das Seh feld in der

Unend lich keit. Ein hel ler Fleck, kreis rund, der

sich mehr und mehr wei tet, leuch tet auf. Rosa

Gestal ten tre ten in den Brenn punkt, mikro sko -

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pisch klein und doch so scharf, wie durch eine

Linse gese hen. — Von blen den dem Licht beschie -

den, — und die Kör per wer fen kei nen Schat ten.

Ein unab seh ba rer Zug mar schiert heran,

rhyth misch im Takt, — es schüt tert die Erde.

Schweine sind es — Schweine! Auf recht gehende

Schweine! — Voran die edel sten unter ihnen, die

ersten im Zuge der See len wan de rung, die schon

auf Erden die tap fer sten waren — und jetzt vio -

lette Cere vis kap pen tra gen und Kou leur band,

damit jeder sehe, in wel cher Gestalt sie sich der -

einst wie der ver kör pern wer den.

Es schril len die Querp fei fen der Spiel leute, —

immer brei ter drän gen die rosa Gestal ten, und

in ihrer Mitte wankt ein dunk ler, gebück ter,

mensch li cher Sche men, gefes selt an Hän den

und Füßen. — Es geht zum Richt platz, — zwei

gekreuzte Schin ken kno chen bezeich nen die

Stätte. Schwere Ket ten von Knack würsten hän -

gen an dem Gefan ge nen nie der und schlep pen

ihm nach in dem wir beln den Staube. —

— Die Querp fei fen sind ver stummt, es steigt

der Kan tus:

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»Das ist der Sel cher Schmel,

Das ist der Sel cher Schmel,

das ist der lederne Sel cher Schmel,

sa, sa

Sel cher Schmel.«

Das ist der Sel cher Schmel!

— — — — — — — — — — — —

Jetzt haben sie halt gemacht, sam meln sich im

Kreise und har ren des Urteils. Der Gefan gene

soll sagen, was er zu sei ner Ver tei di gung vor zu -

brin gen hat. Jedes Schwein weiß doch, daß man

dem Beschul dig ten alle Anklags punkte zu nen -

nen hat. Genauso wie in einem Offi ziers-Ehren -

rate. — —

Ein rie si ger Eber mit blu ti ger Schürze hält die

Ver tei di gungs rede.

Er weist dar auf hin, daß der Ange klagte nur

im besten Glau ben und in flam men der Begei ste -

rung für die hei mi sche Indu strie zu han deln ver -

meinte, als er tau sende und aber tau sende der

ihri gen dem Magen der Gro ß stadt über lie ferte.

Alles umsonst. — Die zu Rich tern ernann ten

Schweine las sen sich durch die Bestim mun gen

des Gesetz bu ches nicht beir ren und zie hen erbar -

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mungs los die schon vor be rei te ten Urteile aus

den Taschen. Wie sie es so oft bei Leb zei ten gese -

hen haben, und wie es Sitte auf Erden. —

Der Ver ur teilte hebt fle hend die Hände empor

und bricht zusam men.

Das Bild erstarrt — ver schwin det und kehrt

von neuem wie der. — So rollt die Ver gel tung ab,

bis auch das letzte Schwein gerächt ist.

— — — — — — — — — — — —

Ama deus Veverka fährt aus dem Schlum mer,

er hat sich mit dem Kopf an dem Griff sei nes

Stoc kes gesto ßen, den er in bei den Hän den hält.

Wie der fal len ihm die Augen zu und wirre

Begriffe tan zen in sei nem Hirn.

Dies mal wird er sich alles genau mer ken,

damit er es weiß, wenn er erwacht.

Die Melo die will ihm nicht aus dem Kopf:

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»Wer kommt dort von der Höh,

Wer kommt dort von der Höh?

Wer kommt dort von der leder nen Höh,

sa, sa

leder nen Höh,

Wer kommt dort von der Höh.«

und dage gen läßt sich nicht ankämp fen.

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Der Mann auf der Fla sche

Melanch thon tanzte mit der Fle der maus, wel che

den Kopf unten und oben die Füße hatte.

Die Flü gel um den Leib geschla gen und in den

Kral len ze hen einen gro ßen, gol de nen Rei fen

steif empor hal tend, wie um anzu deu ten, daß sie

von irgendwo her ab hänge, sah sie ganz abson -

der lich aus, und es mußte einen merk wür di gen

Ein druck auf Melanch thon machen, wenn er

beim Tan zen bestän dig durch die sen Ring zu

sehen gezwun gen war, der genau in seine

Gesichts höhe reichte.

Sie war eine der ori gi nell sten Mas ken auf dem

Feste des per si schen Prin zen, — auch eine der

scheuß lich sten aller dings — diese Fle der maus. —

Sogar Sei ner Durch laucht — Moham med

Dara sche-Koh, dem Gast ge ber, war sie auf ge fal -

len.

»Schöne Maske, ich kenne dich,« hatte er ihr

zuge nickt und damit große Hei ter keit bei den

Neben ste hen den erregt.

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»Es ist bestimmt die kleine Mar quise X, die

intime Freun din der Für stin,« meinte ein hol län -

di scher Rats herr, geklei det im Stile Rem -

brandts — es könne gar nicht anders sein, jeden

Win kel wisse sie im Schlosse — ihren Reden

nach —, und vor hin, als meh re ren Kava lie ren

der ›fro stige‹ Ein fall gekom men, sich von dem

alten Kam mer die ner Filz stie fel und Fackeln brin -

gen zu las sen, um drau ßen im Parke Schnee bal -

len zu wer fen, wobei die Fle der maus aus ge las -

sen mit ge tollt habe —, hätte er wet ten mögen,

ein ihm wohl be kann tes Hya zint harm band an

ihrem Hand ge lenk auf blit zen gese hen zu haben.

»Ach, wie inter es sant,« mischte sich ein blauer

Schmet ter ling ins Gespräch, »könnte da nicht

Melanch thon vor sich tig ein wenig son die ren, ob

Graf Faast, wie es in letz ter Zeit den Anschein

hat, bei der Für stin wirk lich Hahn im Korbe ist.«

— — »Ich warne dich, Maske, sprich nicht so

laut,« unter brach ernst der hol län di sche Rats -

herr, — »nur gut, daß die Musik den Wal zer -

schluß for tis simo spielte — vor weni gen Augen -

blic ken noch stand der Prinz hier ganz in der

Nähe!«

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»Ja, ja — am besten kein Wort über sol che

Dinge,« mischte sich flü sternd ein ägyp ti scher

Anu bis ein, — »die Eifer sucht die ses Asia ten

kennt keine Gren zen; — und es liegt viel leicht

mehr Zünd stoff im Schlosse auf ge häuft, als wir

alle ahnen. — Graf de Faast spielt schon zu lange

mit dem Feuer, und wenn Dara sche-Koh

wüßte — — —«

Eine rauhe, zot tige Figur, ein geschlun ge nes

Knäuel aus Seil dar stel lend, bahnte sich, — in wil -

der Flucht vor einem hel le ni schen Krie ger in

schim mern dem Waf fen schmuck — eine Gasse

durch die Gruppe der Mas ken, die den bei den

ver ständ nis los nach sa hen, wie sie auf flin ken

Gum mi soh len über den spie gel glat ten Stein bo -

den husch ten.

»Hät test du denn keine Angst, durch ge hauen zu

wer den, Myn heer Kan nit ver stahn, wenn du der

Gor di sche Kno ten wärest und wüß test, daß

Alex an der der Große hin ter dir her ist?« spot -

tete die umge kehrte Fle der maus und tippte mit

dem Fächer auf des Hol län ders ernst hafte Nase.

— »Ei, ei, ei, schöne Mar quise Fle der maus, der

scharfe Geist ver rät sich stets,« lächelte ein baum -

Page 205: Gustav Meyrink Orchideen - m.ngiyaw- · PDF fileDer große Saal, der sonst nur wis sen schaft li - chen Vor trä gen diente, war dicht gefüllt. — In der Mitte, auf einem Podium,

lan ger »Jun ker Hans« mit Schweif und Pfer de -

fuß, — »wie schade, ach wie schade, daß man

dich — Füß chen oben — nur als Fle der maus so

auf dem Kopfe ste hen sehen darf.«

— Jemand stieß ein brül len des Geläch ter aus.

Alle dreh ten sich um und sahen einen dicken

Alten mit brei ten Hosen und einem Och sen -

kopf. —

— »Ah, der pen sio nierte Herr Han dels ge richts -

vi ze prä si dent hat gelacht,« meinte troc ken der

Jun ker Hans.

* * *

Da ertönt dump fes Läu ten, und ein Hen ker

im roten Talar der west fä li schen Vehme, — eine

erzene Gloc ke schwin gend, stellt sich inmit ten

des unge heu ren Saa les auf — über sein blit zen -

des Beil gelehnt.

Aus den Nischen und Log gien strö men die

Mas ken her bei: Har le kins, — »Ladies with the

rose«, — Men schen fres ser, Ibise und gestie felte

Kater, Pique fünf, Chi ne sin nen, deut sche Dich -

ter mit der Auf schrift »Nur ein Vier tel stünd -

Page 206: Gustav Meyrink Orchideen - m.ngiyaw- · PDF fileDer große Saal, der sonst nur wis sen schaft li - chen Vor trä gen diente, war dicht gefüllt. — In der Mitte, auf einem Podium,

chen«, Don Qui xo tes und Wal len stei ni sche Rei -

ter, Kolom bi nen, Bajad Pren und Domi nos in

allen Far ben. —

— Der rote Hen ker ver teilt Täfel chen aus

Elfen bein mit Gold schrift unter der Menge.

»Ah, Pro gramme für die Vor stel lung!!«:

»Der Mann in der Fla sche«

Mario net ten-Komö die im Gei ste Aubrey Beards leys

von Prinz Moham med Dara sche-Koh.

Per so nen:

Der Mann in der Fla sche Miguel Graf de Faast

Der Mann auf der Fla sche Prinz Moham med Dara sche-Koh

Die Dame in der Sänfte * * *

Vam pire, Mario net ten, Buckelige, Affen, Musi kan ten.

Ort der Hand lung:

Ein offe ner Tiger-Rachen.

Page 207: Gustav Meyrink Orchideen - m.ngiyaw- · PDF fileDer große Saal, der sonst nur wis sen schaft li - chen Vor trä gen diente, war dicht gefüllt. — In der Mitte, auf einem Podium,

»Was?! Vom Prin zen selbst ist das Pup pen -

spiel?«

»Ver mut lich eine Szene aus 1001 Nacht?« — —

»Wer wird denn die Dame in der Sänfte

geben?« hört man neu gie rige Stim men durch ein -

an der fra gen.

»Uner hörte Über ra schun gen ste hen uns

heute noch bevor, — oh ja,« — zwit schert ein nied -

li cher Incroy able in Her me lin und hängt sich in

einen Abbé ein, »weißt du, der Pier rot vor hin,

mit dem ich die Taran tella tanzte, das war der

Graf de Faast, der den Mann in der Fla sche spie -

len wird, und er hat mir viel anver traut: — Die

Mario net ten wer den schreck lich unheim lich

sein, aber nur für die, die es ver ste hen, weißt

du, — und einen — — — — Ele fan ten hat der Prinz

eigens aus Ham burg tele gra phisch

bestellt — — — aber du hörst mir ja gar nicht

zu!« — und ärger lich läßt die Kleine den Arm

ihres Beglei ters los und läuft davon.

— Durch die wei ten Flü gel tü ren flu ten immer

neue Scha ren von Mas ken aus den Neben ge mä -

chern in die Fest halle, sam meln sich plan los in

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der Mitte, lau fen durch ein an der wie das ewig

wech selnde Far ben spiel eines Kalei do sko pes,

oder drüc ken sich an den Wän den zusam men,

die wun der vol len Fres ken Ghir lan da jos zu

bestau nen, die bis zur blauen, ster nen be sä ten

Decke empor stei gend gleich Mär chen ge län den

den Saal umrah men.

Wie eine bunt schil lernde Insel des Lebens

liegt die Halle, — umspült von den Gefil den far -

ben ge bun de ner Phant asien, die, einst in froh

pochen den Künst ler her zen erwacht, eine jetzt

kaum mehr ver ständ lich ein fa che und lang same

Spra che den hasten den See len des Heute zurau -

nen.

— — — — — — — — — — — —

Die ner rei chen Erfri schun gen auf Sil ber tas sen

in das fröh li che Gewoge, — Sor bet und

Wein. — — Ses sel wer den gebracht und in die

Fen ster ni schen gestellt.

Mit schar ren dem Geräusch schie ben sich die

Wände der einen Schmal seite zurück, und lang -

sam rollt eine Bühne aus dem Dun kel vor, mit

rot braun und gelb geflamm ter Umrah mung

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und wei ßen Zäh nen oben und unten: ein sti li -

sier ter, gäh nen der Tiger ra chen.

In der Mitte der Szene steht eine rie sige kugel -

för mige Fla sche, — aus fußdic kem Glas, — fast

zwei Mann hoch und sehr geräu mig. Rosa Sei -

den vor hänge im Hin ter grunde des Thea ters. —

Die kolos sa len Eben holz tü ren des Saa les flie -

gen auf, und mit maje stä ti scher Ruhe tritt ein

Ele fant, — gold- und juwe len ge schmückt, — her -

ein. Auf sei nem Nacken der rote Hen ker, lenkt

ihn mit dem Stiel sei nes Bei les.

Von den Spit zen sei ner Stoß zähne schwin gen

Ket ten von Ame thy sten, — nicken Wedel aus

Pfau en fe dern.

Gold ge wirkte Decken hän gen ihm in rosin-far -

be nen Qua sten über die Flan ken bis auf den

Boden herab.

Die unge heure Stirne hin ter einem Netz mit

fun keln den Edel stei nen, schrei tet er gelas sen

durch den Fest raum.

In Zügen umdrän gen ihn die Mas ken und

jauch zen der bun ten Schar vor neh mer Dar stel -

ler zu, die in einem Palan kin auf sei nem Rücken

sit zen: Prinz Dara sche-Koh mit Tur ban und Rei -

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he ra graffe. — Graf de Faast als Pier rot neben

ihm. — Mario net ten und Musi kan ten leh nen

starr und steif wie Holz pup pen.

Der Ele fant ist bei der Bühne ange langt und

hebt mit dem Rüs sel Mann um Mann aus dem

Palan kin; — Hän de klat schen und lau ter Jubel,

als er den Pier rot nimmt und in den Hals der Fla -

sche hin ab glei ten läßt, dann den Metall dec kel

schließt und den Prin zen oben drauf setzt.

Die Musi kan ten haben sich im Halb kreis nie -

der ge las sen und zie hen selt same, dünne, gespen -

stisch aus se hende Instru mente her vor.

Ernst haft sieht der Ele fant ihnen zu, dann

kehrt er lang sam um und schrei tet zum Ein gang

zurück. Toll und aus ge las sen wie Kin der hän gen

sich ihm scha ren weise die Mas ken an Rüs sel,

Ohren und Stoß zähne und wol len ihn jauch -

zend zurück halten; — — das Tier spürt ihr Zer -

ren kaum.

Die Vor stel lung beginnt; — irgend wo her, wie

aus dem Boden her auf, tönt leise Musik. —

— Pup pen or che ster und Mario net ten blei ben

leb los wie aus Wachs. — —

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Der Flö ten blä ser stiert mit glä ser nem, blöd sin -

ni gem Aus druck zur Decke; — die Züge der

Roko ko di ri gen tin in Perüc ke und Feder hut,

den Takt stock wie lau schend erho ben und den

spit zen Fin ger geheim nis voll an die Lip pen

gelegt, sind in grau en haft lüster nem Lächeln ver -

zerrt.

Im Vor der grund der Bühne die Mario net ten;

ein buck liger Zwerg mit kalk wei ßem Gesicht,

ein grauer grin sen der Teu fel und eine fahle

geschminkte Sän ge rin mit roten lech zen den Lip -

pen schei nen in sata ni scher Bos heit um ein

schreck liches Geheim nis zu wis sen, das sie in

brün sti gem Krampfe erstar ren ließ. — — — — —

Das haar sträu bende Ent set zen des Schein to -

des brü tet über der regungs lo sen Gruppe.

— — Nur der Pier rot in der Fla sche ist in ruhe lo -

ser Bewe gung, — schwenkt sei nen spit zen Filz -

hut, ver beugt sich, tief mit un ter grüßt er hin auf

zu dem per si schen Prin zen, der mit gekreuz ten

Bei nen unbe weg lich auf dem Deckel der Fla sche

sitzt, — dann wie der schnei det er tolle Gri mas -

sen.

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Seine Luft sprünge brin gen die Zuschauer zum

Lachen, — — — — wie gro tesk er aus sieht!

Die dicken Glas wände ver zer ren sei nen

Anblick so selt sam; — manch mal hat er Glotz au -

gen, die her vor quel len und so wun der lich fun -

keln, dann wie der gar keine Augen, nur Stirne

und Kinn, — oder ein drei fa ches Gesicht; —

zuwei len ist er dick und gedun sen, dann wie der

ske let tar tig dürr und lang bei nig wie eine

Spinne. — Oder sein Bauch schwillt zur Kugel

an.

Jeder sieht ihn anders, je nach dem sein Blick

auf die Fla sche fällt.

In gewis sen kur zen Zeit räu men, ohne jeden

erkenn ba ren, logi schen Zusam men hang

kommt ruck weise ein spuk haf tes, sekun den lan -

ges Leben in die Gestal ten, das gleich dar auf wie -

der in die alte, grau en volle Lei chen starre ver -

sinkt, daß es scheint, als hüpfe das Bild über tote

Zwi schen räume hin weg von einem Ein druck

zum andern, — wie der Zei ger einer Turm uhr

traum haft von Minute zu Minute zuckt.

— Ein mal hat ten die Figu ren aus schnel len den

Knie keh len her aus drei gespen sti sche Tanz -

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schritte seit wärts der Fla sche zuge macht; — und

im Hin ter grund ver renkte sich ein ver wach se -

nes Kind wie in laster haf ter Qual. —

Von den Musi kan ten einer, — wie ein Basch kir

mit irrem, wim pern lo sem Blick und bir nen för -

mi gem Schä del — nick te dazu und spreizte mit

einem Aus druck schreck hafter Ver wor fen heit

seine dür ren, gräß li chen Fin ger, die trom mel -

schle gel ar tig in kugel för mige Enden aus lie fen,

wie wäch serne Sym bole einer geheim nis vol len

Ent ar tung.

Dann wie der war an die Sän ge rin ein phan ta -

sti sches weib li ches Zwit ter we sen her an ge sprun -

gen, — mit lan gen, schlot tern den Spit zen hös -

chen und in tän zeln der Stel lung erstarrt.

Wie erfri schen des Auf at men wirkte es förm -

lich, als mit ten in eine sol che Pause der Regungs -

lo sig keit durch die rosa sei de nen Vor hänge aus

dem Hin ter grunde eine ver schlos sene Sänfte

aus San del holz von zwei Moh ren auf die Szene

getra gen und in die Nähe der Fla sche nie der ge -

stellt wurde, auf die jetzt von oben plötz lich ein

fah les, mond schein ar ti ges Licht fiel.

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Die Zuschauer waren sozu sa gen in zwei Lager

geteilt, die einen — unfä hig sich zu rüh ren und

sprach los — ganz im Banne die ser traum haft

vam pyr ar ti gen, rät sel haf ten Mario net ten tänze,

von denen ein dämo ni sches Flui dum ver gif te ter,

uner klär li cher Wol lust aus strömte, — wäh rend

die andere Gruppe, zu plump für der lei see li sche

Schrec ken, nicht aus dem Lachen über das spa -

ßige Geba ren des Man nes in der Fla sche her aus -

kam.

Die ser hatte zwar die lusti gen Tänze auf ge ge -

ben, aber sein jet zi ges Beneh men kam ihnen

nicht min der komisch vor.

Durch alle mög li chen Mit tel trach tete er offen -

bar, irgend etwas ihm äußerst drin gend Schei -

nen des dem auf dem Flaschen dec kel sit zen den

Prin zen ver ständ lich zu machen.

Ja, er schlug und sprang zuletzt gegen die Wan -

dun gen, als wolle er sie zer bre chen oder gar die

Fla sche umwer fen.

Dabei hatte es den Anschein, als schreie er

laut, obwohl natür lich nicht das lei se ste

Geräusch durch das fußdic ke Glas drang.

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Die pan to mi mi schen Gebär den und Ver ren -

kun gen des Pier rots beant wor tete der Per ser

von Zeit zu Zeit mit einem Lächeln, — oder er

wies mit dem Fin ger auf die Sänfte.

Die Neu gier des Publi kums erreichte den

Höhe punkt, als man bei einer sol chen Gele gen -

heit deut lich bemerkte, daß der Pier rot sein

Gesicht län gere Zeit fest an das Glas drück te,

wie um etwas drü ben am Sänf ten fen ster zu

erken nen, dann aber plötz lich wie ein Wahn sin -

ni ger die Hände vor den Kopf schlug, als hätte

er etwas Gräß li ches erblickt, sich auf die Knie

warf und die Haare raufte. — Dann sprang er

auf und raste mit sol cher Schnelle in der Fla sche

herum, daß man bei den spie geln den Ver zer run -

gen manch mal nur noch ein hel les, umher flat -

tern des Tuch zu sehen ver meinte.

Groß war auch das Kopf zer bre chen im Publi -

kum, was es denn eigent lich mit der »Dame in

der Sänfte« für eine Bewandt nis habe; man

konnte wohl wahr neh men, daß ein wei ßes

Gesicht an die Sänf ten scheibe gepreßt war und

unbe weg lich zur Fla sche her über sah, — alles

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andere aber verdeck te der Schat ten, und man

war auf blo ßes Raten ange wie sen.

»Was nur der Sinn die ses unheim li chen Pup -

pen spiels sein mag,« flü sterte der blaue Domino

und schmiegte sich ängst lich an den Jun ker

Hans.

Erregt und mit gedämpf ter Stimme tauschte

man seine Mei nun gen aus.

Einen so recht eigent li chen Sinn habe das

Stück nicht, — — nur Dinge, die nichts Gehirn li ches

bedeu ten, könn ten den ver bor ge nen Zutritt zur

Seele fin den, — meinte ein Feu er sa la man der,

und so, wie es Men schen gäbe, die beim Anblick

der wäs ser igen Abson de run gen blut lee rer Lei -

chen, von ero ti schem Tau mel geschüt telt, kraft -

lose Schreie der Verzüc kung aus stie ßen, so gäbe

es gewiß auch — — — —

»Kurz und gut, — Wol lust und Ent set zen wach -

sen auf einem Holz,« unter brach die Fle der -

maus, »aber glaubt mir, ich zit tere am gan zen

Kör per vor Auf re gung, es liegt etwas unsag bar

Grau en haf tes in der Luft, das ich nicht abschüt -

teln kann, immer wie der legt es sich um mich,

wie dicke Tücher. — Geht das von dem Pup pen -

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spiel aus? Ich sage nein; — auf mich strömt es

vom Prin zen Dara sche-Koh über. Warum sitzt

er so schein bar teil nahms los da, oben auf der Fla -

sche? Und doch läuft manch mal so ein Zucken

über sein Gesicht!! — — — Irgend etwas Unheim -

li ches geht hier vor, ich lasse mir’s nicht neh -

men.«

»Eine gewisse sym bo li sti sche Bedeu tung

glaube ich doch her aus ge fun den zu haben, und

dazu paßt ganz gut, was du eben sag test,« —

mischte sich Melanch thon in das Gespräch, »ist

denn nicht der ›Mann in der Fla sche‹ der Aus -

druck der im Men schen ein ge schlos se nen Seele,

die ohn mäch tig zuse hen muß, wie die Sinne, —

die Mario net ten — sich frech ergöt zen und wie

nun alles der unauf halt sa men Ver we sung im

Laster ent ge gen geht?«

Lau tes Geläch ter und Hän de klat schen schnitt

ihm die Rede ab.

Der Pier rot hatte sich auf dem Boden der Fla -

sche zusam men ge krümmt und umkrallte mit

den Fin gern sei nen Hals. — Dann wie der riß er

den Mund weit auf, deu tete in wil der Ver zweif -

lung auf seine Brust und nach oben — — und fal -

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tete schließ lich fle hend die Hände, als wolle er

etwas vom Publi kum erbit ten.

»Er will zu trin ken haben, —- na ja — so eine

große Fla sche und kein Sekt drin — gebt ihm

doch zu trin ken, ihr Mario net ten,« rief ein

Zuschauer.

Alles lachte und klatschte Bei fall.

Da sprang der Pier rot wie der auf, riß sich die

wei ßen Klei der von der Brust, machte eine tau -

melnde Bewe gung und fiel der Länge nach zu

Boden.

»Bravo, bravo — Pier rot — gro ß ar tig gespielt;

da capo, da capo« jubelte die Menge.

Als jedoch der Mann sich nicht mehr rührte

und keine Miene machte, die Szene zu wie der ho -

len, legte sich lang sam der Applaus, und die all -

ge meine Auf merk sam keit wandte sich den

Mario net ten zu.

Diese stan den noch immer in der sel ben gei -

ster haf ten Stel lung, die sie zuletzt ein ge nom men

hat ten, doch lag jetzt eine Art Span nung in ihren

Mie nen, die frü her nicht wahr zu neh men gewe -

sen. Es schien, als ob sie auf irgend ein Stich wort

war te ten.

Page 219: Gustav Meyrink Orchideen - m.ngiyaw- · PDF fileDer große Saal, der sonst nur wis sen schaft li - chen Vor trä gen diente, war dicht gefüllt. — In der Mitte, auf einem Podium,

Der buck lige Zwerg mit dem kalk wei ßen

Gesicht drehte schließ lich vor sich tig seine

Augen nach dem Prin zen Dara sche-Koh. —

Der Per ser rührte sich nicht.

Seine Züge sahen ver fal len aus.

End lich trat von den Figu ren im Hin ter grund

einer der Moh ren zögernd an die Sänfte heran

und öff nete den Schlag.

Und da geschah etwas höchst Selt sa mes.

Steif fiel ein nack ter weib li cher Kör per her aus

und schlug mit dump fem Klat schen lang hin.

Einen Augen blick Toten stille, dann schrien

tau send Stim men durch ein an der; — — — es brau -

ste der Saal.

»Was ist’s? - Was ist gesche hen?!«

Mario net ten, Affen, Musi kan ten — alles

sprang zu; Mas ken schwan gen sich auf die

Bühne:

Die Für stin, die Gemah lin Dara sche-Kohs, lag

da, — ganz nackt, auf ein stäh ler nes Stan gen ge -

rüst geschnürt.

— Die Stel len, wo die Stric ke in das Fleisch ein -

schnit ten, waren blau unter lau fen.

Im Munde stak ihr ein sei de ner Kne bel. —

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Unbe schreib li ches Ent set zen lähmte alle

Arme.

— »Der Pier rot,« gellte plötz lich eine

Stimme, — »Der Pier rot!« — —, eine wahn sin -

nige, unbe stimmte Angst fuhr wie ein Dolch stoß

in alle Her zen.

— »Wo ist der Prinz?!«

Der Per ser war wäh rend des Tumul tes spur los

ver schwun den. —

— — — — — — — — — — — —

— — — — — — — — — — — —

Schon stand Melanch thon auf den Schul tern

des Jun ker Hans, ver ge bens, — er konnte den

Deckel der Fla sche nicht heben, und das kleine

Luft ven til war, — — — zuge schraubt!

»So schlagt doch die Wan dun gen ein, schnell,

schnell!«

Der hol län di sche Rats herr ent riß dem roten

Hen ker das Beil, mit einem Satz sprang er auf

die Bühne. —

— — Es klang wie eine gebor stene Gloc ke, als

die Schläge schmet ternd nie der fie len; — ein

schau er li cher Ton.

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Tiefe Sprünge zuck ten durch das Glas wie

weiße Blitze — — — — — die Schneide der Axt bog

sich.

End lich — end lich — — — die Fla sche brach in

Trüm mer.

Dar in nen lag — erstickt — die Lei che des Gra -

fen de Faast — — die Fin ger in die Brust gekrallt.

Durch die Festes halle mit laut lo sem Flü gel -

schlag — unsicht bar — zogen die schwar zen Rie -

sen vö gel des Ent set zens.

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Coa gu lum

Hamil kar Bal drian, der ein same Son der ling, saß

vor sei nem Fen ster und blick te durch die Schei -

ben in die herbst li che Däm me rung. — — — Am

Him mel stan den dun kel ge ballt grau blaue Wol -

ken, die lang sam ihre Umrisse ver än der ten, wie

das Schat ten spiel einer Rie sen hand, die sich

irgendwo in unsicht ba rer Ferne träg bewegte.

Über dem fro sti gen Dunst der Erde ein blin -

des trau ri ges Abend rot.

Dann san ken die Wol ken, lager ten schwer im

Westen, und durch den Nebel späh ten die

Sterne mit glit zern den Augen.

Grü belnd erhob sich Bal drian und schritt auf

und ab. Eine schwere Sache das — mit der Gei -

ster be schwö rung! Aber hatte er nicht alles

streng befolgt, was das große Gri moire des

Hono rius vor schrieb?! — Gefa stet, gewacht, sich

gesalbt und täg lich das Seuf zer lein der hl. Vero -

nika her ge sagt?

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Nein, nein, — es muß gelin gen, der Mensch ist

auf Erden das Höch ste und die Kraft der Hölle

ihm unter tan. —

Er ging wie der zum Fen ster und war tete

lange, bis die Hör ner des Mon des, gelb und

trüb, sich über die erstarr ten Äste der Ulmen

scho ben.

Dann zün dete er vor Auf re gung zit ternd sei -

nen alten Leuch ter an und holte aller hand selt -

same Dinge aus Schrank und Truhe: Zau ber -

kreise, grü nes Wachs, einen Stock mit Krone,

troc kene Kräu ter. Knüpfte alles in ein Bün del,

stellte es sorg fäl tig auf den Tisch und begann,

ein Gebet mur melnd, sich lang sam aus zu zie hen,

bis er ganz nackt war.

Der flac kernde Leuch ter warf hämi sche

Reflexe auf den ver fal le nen Grei sen kör per mit

der wel ken, gelb li chen Haut, die ölig glän zend

sich über den spit zen Knieen, Len den- und

Schul ter kno chen spannte. Der kahle Schä del

nick te über der ein ge sun ke nen Brust, und sein

kugel för mi ger, grau si ger Schat ten fuhr an der

kalk wei ßen Wand unschlüs sig umher, als ob er

etwas suchen wolle in qual vol ler Unge wiß heit.

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Frö stelnd ging der Alte zum Ofen, hob einen

gla sier ten tönerne Topf herab und löste die

raschelnde Hülle, die ihn ver schloß; — eine fet -

tige, übel rie chende Masse war darin. Heute

gerade vor einem Jahr hatte er sie zusam men ge -

schmol zen: — Man dra go ra wur zel, Bil sen kraut,

Wachs und Sper ma zeti und — und —, er schüt -

telte sich vor Ekel, — eine zu Brei ver kochte Kin -

der lei che; — die Toten frau hatte sie ihm ver -

kauft.

Zögernd grub er seine Fin ger in das Fett,

schmierte es sich auf den Leib, ver rieb es in den

Knie keh len und Ach sel höh len, dann wischte er

seine Hände auf der Brust ab und zog ein altes

ver gilb tes Hemd an: das »Erb hemd«, das man

zum Zau bern braucht, — und seine Klei der dar -

über. — Die Stunde war da!

Ein Stoß ge bet und das Bün del mit den Gerä -

ten. Nur nichts ver ges sen, sonst hat der Böse die

Macht, den Schatz noch im letz ten Augen blick

zu ver wan deln, wenn Tages licht dar auf

fällt. — — Oh, sol che Fälle sind schon dage we -

sen!

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Halt, die Kup fer platte, Kohlen bec ken — und

Zun der zum Anglim men!

Mit unsi chern Schrit ten tappt Bal drian die

Treppe hinab.

Das Haus war in frü he ren Zei ten ein Klo ster

gewe sen, jetzt wohnte er ganz allein darin, und

das Wasch weib aus der Nach bar schaft brachte

ihm tag über, was er brauchte.

Krei schen und Dröh nen einer schwe ren eiser -

nen Türe und ein ver fal le ner Raum öff nete

sich. —

Kel ler ge ruch und dicke Spinn we ben über all,

Schutt in den Ecken und Scher ben schim me li ger

Blu men töpfe.

Ein paar Hände voll Erde in die Mitte des Rau -

mes getra gen — — — — — — so! (denn die Füße

des Exor zi sten müs sen auf Erde ste hen) — eine

alte Kiste zum Sit zen, den Per ga ment kreis aus ge -

brei tet. Mit dem Namen Tetra gram ma ton nach

Nor den; sonst kann das grö ßte Unglück gesche -

hen. Jetzt den Zun der und die Koh len ange zün -

det!

— — — — — — — — — — — —

Was war das?

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Das Pfei fen von Rat ten — nichts sonst.

Kräu ter auf die Glut: Gin ster, Nacht schat ten,

Stech ap fel;. — Wie das pras selt und qualmt.

Der Alte löscht die Laterne aus, beugt sich

über die Pfanne und atmet den gif ti gen Rauch

ein; er kann sich kaum auf recht hal ten, so

betäubt es ihn.

Und das schreck liche Sau sen in den Ohren!

Mit dem schwar zen Stock berührt er die

Wachs häuf chen, die auf der Kup fer platte lang -

sam zer schmel zen, und mur melt mit letz ter

Kraft und stoc kender Stimme die Beschwö -

rungs for meln des Gri moi res:

»— — — rechte Him mels brot und Speise der

Engel — — — — Schrec ken der Teu fel bist — — — —

ob ich gleich voll sün di gen Unflats — — — —

diese rei ßen den Wölfe und stin ken den Höllen -

böc ke zu bezwin gen gewür di get

werde — — — — — Har nisch — — — — zau dert ihr

län ger ver ge bens — — — — — Aimay mon Asta -

roth — — — — — die sen Schatz nicht mehr län ger

zu ver weh ren — — — — — Asta roth — — — — — —

beschwöre — — — — — Eheye — — — Escher -

eheye.«

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Er muß sich nie der set zen, Todes angst befällt

ihn; — die dros selnde unbe stimmte Furcht

dringt durch den Boden und die Mau er rit zen,

senkt sich von der Decke herab — das grau en -

hafte Ent set zen, das das Nahe sein der haß er füll -

ten Bewoh ner der Fin ster nis ver kün det!

Es pfei fen die Rat ten. Nein, nein — — nicht Rat -

ten — — ein gel len des Pfei fen, das den Kopf zer -

sprengt.

Das Sau sen!

Es ist das Blut in den Adern. Das Sau -

sen! — — — — — — von Flü geln. Die Koh len ver -

glim men.

Da, da: — — Schat ten an der Wand. Der Alte

stiert mit glä ser nen Augen hin. — — — Moder flek -

ke sind es und abge schupp ter Bewurf.

— — — — Sie bewe gen sich, sie bewe gen

sich — — — —: ein Kno chen schä del mit Zäh -

nen — — Hör nern! — — und leere, schwarze

Augen höh len. Ske let tarme schie ben sich lang -

sam geräusch los nach, ein Unge heuer wächst

aus der Wand — in hockender Stel lung, und

erfüllt das Gewölbe. Das Gerippe einer rie si gen

Kröte mit dem Schä del eines Stie res.

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Die gebleich ten Kno chen heben sich fast grell

aus der Dun kel heit ab. — — — Der höl li sche Asta -

roth!

Der Alte hat sich aus dem Zau ber kreis in

einen Win kel geflüch tet und preßt sich bebend

an die kalte Mauer, er kann das ret tende Bann -

wort nicht sagen, die schwar zen, gräß li chen

Augen höh len ver fol gen ihn und star ren auf sei -

nen Mund. Sie haben ihm die Zunge gelähmt, —

er kann nur mehr röcheln in furcht ba rer

Angst. —

Lang sam, ste tig kriecht das Gespenst auf ihn

zu — — (er glaubt das Schlür fen der Rip pen auf

den Stei nen zu hören) — — und hebt tastend die

Krö ten hand nach ihm. — — — An den Kno chen -

fin gern klir ren sil berne Ringe mit glanz lo sen ver -

staub ten Topa sen —, ver mo derte Schwimm -

häute ver bin den lose die Glie der und strö men

einen ent setz li chen Geruch aus nach ver we stem

Fleisch.

Jetzt — — faßt es ihn an. — — Eisige Kälte steigt

ihm ins Herz. — — Er will — will — —, da schwin -

den die Sinne, und er fällt vorn über aufs

Gesicht.

Page 229: Gustav Meyrink Orchideen - m.ngiyaw- · PDF fileDer große Saal, der sonst nur wis sen schaft li - chen Vor trä gen diente, war dicht gefüllt. — In der Mitte, auf einem Podium,

— — — — — — — — — — — —

Die Koh len sind erlo schen, nar ko ti scher

Rauch hängt in der Luft und ballt sich längs der

Decke. Durch das ver git terte, win zige Kel ler fen -

ster wirft das Mond licht gelbe schräge Strah len

in den Win kel, wo Bal drian bewußt los liegt.

Er träumt, daß er fliege. Sturm wind peitscht

ihm den Leib. Ein schwar zer Bock rast vor ihm

durch die Luft, er fühlt die zot ti gen Läufe dicht

vor sei nen Augen, und die tol len Hufe schla gen

ihm fast ins Gesicht.

Unter ihm die Erde, — weit, weit. Dann fällt er,

wie durch einen schwarz samt nen Trich ter

immer tie fer und schwebt über einer Land -

schaft. Er kennt sie gut: Dort der moos be wach -

sene Grab stein, — auf dem Erdbuc kel der kahle

Ahorn mit den ent blät ter ten Ästen, die sich wie

fleisch lose Arme zum Him mel kramp fen.

Herbst li cher Reif auf dem nächt li chen Sumpf -

gras.

Das Moor was ser steht seicht im Boden und

schim mert durch den Nebel wie ein gro ßes

erblin de tes Auge.

Page 230: Gustav Meyrink Orchideen - m.ngiyaw- · PDF fileDer große Saal, der sonst nur wis sen schaft li - chen Vor trä gen diente, war dicht gefüllt. — In der Mitte, auf einem Podium,

Sind das nicht Gestal ten in dunk len Hül len,

die dort im Schat ten des Grab stei nes sich sam -

meln mit blit zen den Waf fen und metall fun keln -

den Köp fen und Span gen?! Sie lagern sich im

Halb kreis zu einer gespen sti schen Bera tung.

Des Alten Seele durch zuckt ein Gedanke: Der

Schatz! Die Sche men der Toten sind’s, die einen

ver gra be nen Schatz hüten! Und sein Herz

stockt vor Hab gier.

Er späht hinab von sei ner Höhle, — immer

näher rückt die Erde, jetzt klam mert er sich an

den Zwei gen des Ahorns an, leise — leise. —

Da. — Ein dür rer Ast biegt sich und ächzt. —

Die Toten schauen zu ihm empor. — — — Er kann

sich nicht mehr hal ten und fällt — fällt mit ten

unter sie.

Sein Kopf schlägt hart auf den Grab stein.

* * *

Er erwacht, und sieht die Moder flec ke an der

Wand. Keu chend tau melt er zur Türe, die

Treppe hin auf mit bre chen den Knieen.

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Er wirft sich auf das Bett, — — seine zahn lo sen

Kie fer schlot tern vor Furcht und Kälte.

Die rote fil zige Decke legt sich um ihn, raubt

ihm den Atem, bedeckt ihm Mund und Augen.

Er will sich umdre hen und kann nicht, auf sei -

ner Brust hockt ein wol li ges scheuß li ches Tier:

die Fle der maus des Fie ber schlafs, mit rie si gen

pur pur nen Flü geln, und hält ihn mit ihrer Last

unwi der steh lich in die dump fig schmut zi gen Pol -

ster gepreßt.

Den gan zen Win ter lag der Greis an den Fol -

gen die ser Nacht danie der. Lang sam ging es mit

ihm zu Ende.

Er sah von sei ner Lager stätte zu dem klei nen

Fen ster hin über, wenn die Schnee floc ken im

Sturm vor bei flo gen und unge dul dige Tänze auf -

führ ten, oder empor zur wei ßen Zimmer dec ke,

auf der ein paar Flie gen ihre plan lo sen Wan de -

run gen hiel ten.

Und wenn von dem alten Kachel ofen her es

gar so gut nach ver brann ten Wachol der bee ren

roch, (»Kre che, Kre che« — ach wie er husten

mußte) da malte er sich aus, wie er im Früh jahr

drau ßen beim Hai de grab den Schatz heben

Page 232: Gustav Meyrink Orchideen - m.ngiyaw- · PDF fileDer große Saal, der sonst nur wis sen schaft li - chen Vor trä gen diente, war dicht gefüllt. — In der Mitte, auf einem Podium,

werde, von dem er geträumt, und fürch tete nur,

daß sich der selbe viel leicht doch ver wan deln

könne, denn so ganz in Ord nung war die

Beschwö rung des Asta roth ja nicht gewe sen.

Einen genauen Plan hatte er auf einem abge ris -

se nen Buch dec kel gezeich net: den ein sa men

Ahorn baum, den klei nen Moor wei her und hier

† den Schatz, — ganz in der Nähe des ver wit ter -

ten Grab stei nes, den jedes Kind kennt.

* * *

Der Buch dec kel lag auf dem Bür ger mei ster -

amt und Hamil kar Bal drian auf dem Fried hof

drau ßen.

»Einen Mil lio nen schatz hatte der Alte ent -

deckt, er war nur zu schwer gewe sen, daß er ihn

hätte aus gra ben kön nen,« lief das Gerücht

durch das Städt chen und man ben ei dete sei nen

Nef fen, den Erben, einen Schrift stel ler.

Die Gra bun gen began nen, die Stelle war im

Plane so deut lich bezeich net.

Einige Spa ten sti che nur — — — da — — da:

Hurra, hurra, hurra! eine eiserne, rost be deck te Kas sette!

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In Tri umph wurde sie auf die Amts stube getra -

gen. Berichte gin gen in die Haupt stadt, der Erbe

sei von dem Funde zu ver stän di gen, eine Kom -

mis sion an Ort und Stelle zu ent sen den usw. —

usw.

Der kleine Bahn hof wim melte von Men schen,

Beamte in Uni form, Repor ter, Detek ti ven, Ama -

teur pho to gra phen, ja, sogar der Herr Lan des -

mu seums di rek tor war ange kom men, um den

inter es san ten Fleck Erde zu besich ti gen.

Alles zog hin aus auf die Heide und glotzte

stun den lang in das frisch gegra bene Loch, vor

dem der Flur schütz Wache hielt.

Das saf tige Moor gras war zer tre ten von den

vie len gekerb ten Gum mi schu hen, aber die hell -

grü nen Wei her sträu cher in ihrem jugend fri -

schen Früh lings schmuck blin zel ten ein an der

mit den sei de nen Wei den kätz chen listig zu, und

wenn ein Wind stoß kam, krümm ten sie sich in

plötz lich aus bre chen dem stum men Geläch ter,

daß ihre Häup ter die Was ser flä che berühr ten.

Warum wohl?

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Auch die Krö ten kö ni gin, die dicke mit der rot -

ge tupf ten Weste, die in ihrer Veranda aus

Ranun cu lus und Pfeil kraut die süße Mai en luft

genoß und doch sonst immer so wür de voll tat,

weil sie 100.003 Jahre alt war, hatte heute wahre

Anfälle von Lach krämp fen. Sie riß das Maul

auf, daß ihre Augen ganz ver schwan den und

schlen kerte wie beses sen die linke Hand in die

Luft. Fast wäre ihr dabei ein sil ber ner Topas ring

vom Fin ger gefal len.

Unter des sen war von der Kom mis sion die

gefun dene Kas sette geöff net wor den.

Ein fau ler Geruch ent strömte ihr, so daß im

ersten Augen blick alles zurück prallte. Selt sa mer

Inhalt!

Eine ela sti sche Masse, zwei far big, zäh und von glän -

zen der Ober flä che. —

Es wurde hin und her gera ten und der Kopf

geschüt telt.

»Ein alche mi sti sches Prä pa rat — offen bar,«

meinte end lich der Herr Lan des mu seums di rek -

tor.

»Alche mi stisch, — alche mi stisch,« lief es von Mund

zu Mund.

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»Alche mi stisch? — Wie schreibt man das? —

Mit zwei L?« drängte sich ein Zei tungs mensch

vor.

»Neb bich, ä Dün ger mit tel« mur melte ein ande -

rer vor sich hin.

Die Kas sette wurde wie der ver schlos sen und

an das wis sen schaft li che Insti tut für Che mie

und Phy sik mit dem Ersu chen um ein all ge mein

ver ständ li ches Gut ach ten ver sandt.

Alle wei te ren Nach gra bun gen in der Moor -

heide blie ben erfolg los.

Auch die ver wit terte Grab schrift auf dem

Stein gab kei nen Auf schluß: Willi Ober knei fer †††

Leut nant i. R.?? dar un ter ein ge mei ßelt zwei

gekreuzte Fuß tritte, die sich wahr schein lich auf

irgend ein ver schlei er tes Ereig nis im Leben des

Ver bli che nen bezo gen?

Offen bar war der Mann den Hel den tod gestor -

ben.

Die gerin gen Mit tel des erben den Schrift stel -

lers waren durch die Kosten gänz lich zusam men -

ge schmol zen, und das wis sen schaft li che Gut ach -

ten, daß nach drei Mona ten ein traf, — gab ihm

den Rest.

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Zuerst einige Sei ten hin durch die unter nom -

me nen ver geb li chen Ver su che ange führt, dann

die Eigen schaf ten der rät sel haf ten Mate rie auf ge -

zählt und zum Schluß das Resul tat, daß die

Masse in kei ner Hin sicht in die Zahl der bis her

bekann ten Stoffe ein ge reiht wer den könne.

Also wert los! — Die Kas sette kei nen Hel ler

wert!

Am sel ben Abend noch setzte der Her bergs -

wirt den armen Schrift stel ler vor die Tür. — Die

Schatz af färe schien abge tan.

Doch noch eine ganz kleine Auf re gung sollte

dem Städt chen blü hen.

Am näch sten Mor gen rannte der Dich ter

ohne Hut mit wal len den Locken durch die Stra -

ßen zum Magi strat.

»Ich weiß es,« schrie er immer fort, »ich weiß

es.«

Man umringte ihn. »Was wis sen Sie?«

»Ich habe heute auf dem Moor über nach tet,«

keuchte er atem los, — »über nach tet — uch — da

ist mir ein Geist erschie nen und hat mir gesagt,

was es ist. — Frü her — uch — sind dort drau ßen

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so viele ehren rät li che Ver samm lun gen abge hal ten

wor den — uch — und da — uch — — —«

»Zum Teu fel, was ist’s also mit der Mate rie?«

rief einer.

Der Dich ter fuhr fort:

»— spe zi fi sches Gewicht 23, glän zende Außen -

seite, zwei far big, in allen klein sten Tei len gebro chen und

dabei zusam men kle bend wie Pech, — unge mein dehn bar,

pene tran ter — — —«

Die Menge wurde unge dul dig. Aber das stand

ja doch schon in der wis sen schaft li chen Ana -

lyse!

»Also, der Geist sagte mir, es sein ein fos si les koa -

gu lier tes Offi zier seh ren wort! —

»Und ich habe gleich an ein Bank haus

geschrie ben, um die ses Kurio sum zu Geld zu

machen.«

Da schwie gen sie, grif fen ihn und sahen, daß

er irre redete.

Wer weiß, ob der Ärm ste nicht mit der Zeit

wie der ver nünf tig gewor den wäre, als aber die

Ant wort auf sei nen Brief kam:

»Wir bedau ern, Ihnen mit tei len zu müs sen, quä -

stio nier ten Arti kel weder lom bar die ren noch

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per comp tant akqui rie ren zu kön nen, da wir

kein Wert ob jekt in dem sel ben, auch wenn er

nicht fos sil und koa gu liert wäre, — zu erblic ken

ver mö gen. Wol len Sie sich immer hin an ein

Haus zur Ver wer tung von Abfall stof fen wen -

den.

Hoch ach tend

A. B. C. Wucher stein Nach fol ger.«

Da schnitt er sich die Kehle durch. —

Jetzt ruht er neben sei nem Onkel Hamil kar

Bal drian.

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End note:

1 »Ja-nu-man« nicht zu ver wech seln mit Hanu -

man — der Affen kö nig — brah mi ni scher Göt ter fi -

gur.