Gute Dienste von Evelio Rosero

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Aus dem Spanischen von Matthias Strobel BERLIN VERLAG Evelio Rosero Gute Dienste Roman

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Jede Kirche, »die etwas auf sich hält, stellt ihren Buckligen zur Schau«, sagt Tancredo, ein junger Quasimodo, der in Pater Almidas Pfarrei am Rande von Bogotá lebt. Gemeinsam mit den anderen Bewohnern — der Küster Celeste Machado, seine sexbesessene Patentochter Sabina Cruz und die drei Haushälterinnen, »die Lilias« genannt — bildet er einen bizarren Mikrokosmos.

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Aus dem Spanischen von Matthias Strobel

Berlin Verlag

Evelio Rosero

Gute Dienste Roman

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Für róbinson Quintero und rafael del Castillo

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… hinter dem Kopf Gottes,im fahlen Nacken der Bestie,

in der Schnauze der Seele.César Vallejo

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er hat schreckliche angst, ein Tier zu sein, vor allem don-nerstags, bei den Speisungen. »Davor habe ich angst«, sagt er und entdeckt in der Spiegelung des Fensters seinen Bu-ckel. Seine augen umschleichen seine augen; er ist sich fremd: Was für ein anderer? denkt er, was für ein anderer? er erforscht sein gesicht. »Donnerstags«, murmelt er, »vor allem donnerstags, am Tag der alten.« Der Dienstag ge-hört den Blinden, der Montag den Huren, der Freitag der Familie, der Mittwoch den Straßenkindern und der Sams-tag und Sonntag gehören gott, wie der Pater sagt. »lassen wir den geist ruhen«, bittet er ihn, oder, was auf das glei-che hinausläuft, betet er und schwenkt Weihrauch: Messe, Messe, Messe. Jeden Tag ist Messe, gottes Wort, aber unter der Woche, zur Mittagszeit, ist die Pfarrei die Hölle. Bei den Speisungen hat man selbst keine ruhe, nicht ein-mal, um zu essen. Die andern essen, ja. er aber muss alles überwachen, sich um alles kümmern, von anfang an. Vor allem donnerstags, wenn er schreckliche angst hat, ein Tier zu sein. Um zehn Uhr vormittags strömen die alten herbei, von überall her, aus allen Himmelsrichtungen, Bogotá spuckt sie dutzendweise aus; sie warten ungeduldig in der Schlange, lungern vor der Kirche herum, vor der Seitentür zum Speisesaal, die sich erst um Punkt zwölf Uhr öffnen

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wird, ob es hagelt oder die Sonne brennt, Messerspitzen. Den alten ist kein Wetter recht, und sie ertragen es auch nicht, dass sich die metallene Tür erst um zwölf Uhr öffnet: ihre Schlange ist ein Klagen, Murren, Fluchen. Sie sind die einzigen, die vergessen, dass ihre Speisung ein barmherzi-ges Werk Pater almidas ist. Sie protestieren, als stünden sie vor einem restaurant, als wären sie zahlende gäste. Sie tun so, als wären sie ehrenwerte Kunden und er ihr Kellner, ihr Platzanweiser. »ich werde mich bei ihrem Chef beschwe-ren«, schreien sie. »Wir sind von weit her gekommen.« »ich will meine Suppe, wie lange muss ich denn noch warten?« »ich bin krank.« »ich habe Hunger.« »aufmachen, auf-machen, ich sterbe gleich.« »aufmachen, ich bin schon tot.« Und sie sterben tatsächlich: elf alte sind schon ge-storben in den drei Jahren, seit Pater almida die Speisun-gen der Barmherzigkeit anbietet: in der Schlange sind sie gestorben oder beim Mittagessen, und dann hat er doppelt so viel angst, ein schreckliches Tier zu sein: dann muss er bei leuten anrufen, die nie ans Telefon gehen, bei Ärzten, bei der Polizei, bei instituten und Stiftungen, die mit dem Pater vereinbart haben, in solchen Fällen zu helfen, ver-dienstvolle und wohltätige Menschen, die aber, wenn sie schließlich ans Telefon gehen, so tun, als wüssten sie von nichts, die, wenn man sie am meisten braucht, sagen: »Wir sind schon unterwegs.« »Wir kommen gleich.« »einen augenblick.« Und dann muss er stundenlang bei der lei-che ausharren, im Speisesaal, wo das essen serviert wird, reglos ausharren, er wie der Tote, jeder auf seinem Stuhl, die letzten gäste an dem mit Überresten übersäten Tisch,

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dem Totentisch, an dem die anderen alten, obwohl einer von ihnen gestorben ist, einfach weiteressen, ohne inne-zuhalten, ja sogar ihre Scherze treiben auf Kosten des Ver-storbenen, sich dessen essen einverleiben. »Dir nützt es ja nichts mehr.« Den Hut nehmen sie ihm weg, den Schal, das Taschentuch, die Schuhe. Zum glück stirbt nicht jeden Donnerstag ein alter. Was aber nicht heißt, dass er nicht fürchtet, zum Tier zu werden. Das fürchtet er immer, diese schreckliche angst hat er immer, vor allem donnerstags, nach der Speisung, wenn er den Saal räumen muss. »Pater almida erwartet euch nächste Woche«, sagt er dann, und die Schlacht beginnt. Verzweifelte Stimmen branden auf, erschüttern den Tisch, die Teller, die Bestecke. Wie ver-dutzte Kinder sind sie dann. Sie flehen ihn an, als wäre er ein Verwandter, eine erinnerung: Sie geben ihm seltsame namen, namen, von denen er hinterher träumt, nicht glau-ben kann, dass es wirklich diese namen waren: Ehich, Sche-kinah, Ajin, Haytfadik. »Du willst uns doch wohl nicht rauswerfen«, sagen sie. Protestieren. Heulen. Schreien be-schwörend: »ich will nicht weg von hier. Wo kann ich mich nur verstecken?« er muss sie von den Stühlen zerren, diese faulen gesellen, die meistens eingeschlafen sind, die Mä-gen prall gefüllt mit Suppe und zerkleinertem Schweine-fleisch: ihnen wird Brei serviert, weil sie keine Zähne mehr haben und schon gar kein künstliches gebiss, und außer-dem essen sie langsam, unendlich langsam, absichtlich langsam, als wollten sie, dass es nie zu ende geht. ihre Speisung dauert ewig. Doch irgendwann geht sie zu ende, sehr zu ihrem Unmut, aber sie geht zu ende, und er muss

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sie anschreien, damit sie aufwachen, antreiben wie störri-sches Vieh, sogar hochheben, aus dem Saal tragen, vor sich her schubsen, aus der Kirche jagen. »Wir werden Pater almida rufen«, wehren sich die Wacheren, »wir werden uns beschweren.« er stößt sie vorwärts, einen nach dem ande-ren, spielt notgedrungen den Henker, die alten Frauen ver-suchen, ihn zu beißen, hängen sich ihm an den Hals, ver-haken ihre Finger in seinen Haaren, verlangen nach Pater almida, sie sind seine großmütter, sagen sie, seine Tanten, seine Mütter, seine Bekannten, und sie bieten sich an als Hausmädchen für die Kirche, als Köchinnen oder gärtne-rinnen oder Schneiderinnen, manche kriechen unter den Tisch, kauern sich zusammen und sträuben sich wie wilde Tiere, strecken ihm drohend die Fingernägel entgegen, dann muss er sich auf alle viere begeben, sie suchen, sie jagen, sie fangen, sie hervorziehen, aber damit ist sein Tag-werk noch immer nicht vollbracht, denn selbst wenn die meisten alten sich damit abfinden, dass sie gehen müssen, bleiben einige im Saal verstreut zurück, stellen sich tot oder sterbend, und manch einer hat ihn schon getäuscht, hat ihn in die irre geführt, hat ihn davon überzeugt, dass er tot ist. »Wir sind schon tot«, sagen die naivsten, wenn sie sich zu erkennen geben. »ich bin schon tot, also stör mich nicht.« andere jedoch verharren wie erstarrt, ausgestreckt auf dem kalten, ziegelsteinernen Bett – das nichts anderes ist als eine Pfütze aus verschütteter Suppe und reis –, die augen weiß, die glieder steif; er legt ihnen das Ohr an die Brust: ihr Herz ist nicht zu hören, wenigstens scheint es so, dann wendet er Tricks an, um ihnen auf die Schliche zu kom-

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men, er fleht um die geduld Hiobs und kitzelt sie an den verdreckten Ohren, an den Wimpern, unter den stinkenden achseln und an den Fußsohlen, die noch viel schlimmer stinken, steckt seine Finger in ihre alten, vom Schweiß ganz feuchten Schuhe, in denen es von ameisen wimmelt, in ihre Schuhe aus rissigem leder, deren Sohlen von den Jahren durchlöchert sind, in ihre Schuhe, die sie nie aus-ziehen, genauso wenig wie die Strümpfe – wenn sie denn welche tragen –, und wenn er bis zur Haut vordringt, bis zur glitschigen Haut, stößt er auf eine eiseskälte, dass sich alles in ihm sträubt, dann kratzt er heftig an der Sohle, drängend, und nur wenn er keine reaktion erhält, kneift er sie, kneift sie immer stärker, immer heftiger, es ist der aller-letzte Test, bis sie schließlich reagieren, grinsen, lachen, verhalten erst, dann ängstlich, winselnd, schreiend, und dann: »lass mich in ruhe, ich bin tot.« Und sie beharren darauf: »Fass mich nicht an, ich bin ein Toter, ich bin schon tot, siehst du das denn nicht?« Und schließlich, wutent-brannt: »Du hast mich getötet.« Und sie beschimpfen ihn: »Du buckliges Schwein.« Dann schäumt in den tiefsten Tiefen seiner Brust die Wut auf, dann hat er angst, zum Tier zu werden und all diese Männer- und Frauenskelette abzunagen, von denen man nicht weiß, ob sie Kinder sind oder alte, von denen man nicht weiß, ob sie gut sind oder böse, von denen man nicht weiß, was sie sind, die wider Willen die schlimmsten Übel dieser Welt bergen, Pater almida bläut es ihm ein: »Du musst dich dareinfügen, Tancredo«, sagt er, es gebe nichts Schlimmeres als das alter, nichts Bedauerlicheres, Mitleidwürdigeres, »es ist die letzte

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große Prüfung gottes«, sagt er, und es stimmt, aber es gibt auch nichts Schlimmeres, als herausfinden zu müssen, ob sie tot sind oder nicht, nichts Schrecklicheres als seine angst, ein Tier zu sein, denn es ist seine aufgabe, ihnen auf die Schliche zu kommen, ganz allein muss er sich um die Speisungen kümmern, um alle Speisungen, vor allem aber um die Speisungen der alten, der immer zahlreicher wer-denden alten, der unverschämten alten, die sich tot stel-len, um in den Himmel der Pfarrei zu gelangen, sie zehren an seiner geduld, bringen ihn aus der Fassung, rauben ihm den Mut, zermürben ihn, und am schlimmsten ist es, wenn ein alter tatsächlich gestorben ist und er ihn trotzdem dieser irrwitzigen Prüfung hat unterziehen müssen – oder vielmehr sich selbst –, diesem abartigen, unumgänglichen Kitzeln und Kneifen.

»Das ist dein Kreuz«, sagt der Pater dann zu ihm, »und deine erlösung. Füge dich darein, Tancredo.«

am ende sieht er, wie sie von dannen ziehen, sich in alle Himmelsrichtungen zerstreuen, ein dezimiertes Heer, jeder mit seiner last, mit seinem Beutel, in dem sie die reste aufbewahren, und er weiß nicht, wohin sie gehen, wo sie in dieser und der nächsten nacht schlafen werden, wo morgen essen. »Vielleicht in einer anderen Kirche«, denkt er, redet es sich ein, um seine gewissensbisse zu lindern: die Schreie und Stöße, mit denen er sie aus der Kirche ge-scheucht hat, »andere Hände werden ihnen helfen«, denkt er und schließt die Tür, und noch während er sie schließt, warten an der kleinen, gegenüberliegenden Tür, die ins in-nere der Kirche führt, als hätte eine unsichtbare Hand sie

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dorthingestellt, ihm ungelegen kommend, die Bürsten und der Besen, die drei mit Wasser gefüllten eimer, die Hand-tücher, die desinfizierende Seife, die endlose arbeit: Boden und Wände müssen geschrubbt werden, peinlich sauber geschrubbt; blitzblank geputzt die Scheiben des einzigen Fensters; funkelnd die Kreuze, die die Wände schmücken; glänzend poliert der große, rechteckige, einfache Tisch aus Zedernholz, ein Tisch wie beim letzten abendmahl; und auch die Stühle, die exakt neunundneunzig Stühle, müssen makellos sauber werden, zurechtgerückt für den nächsten Tag, den Freitag der Familie, der einzigen Speisung, an der der Pater teilnimmt, der er vorsitzt in Begleitung derer, mit denen er lebt: den drei lilias, dem Sakristan Machado, dessen Patentochter Sabina Cruz und ihm, dem akolythen, ihm, Tancredo, ihm, dem Buckligen.

Was für ein anderer? Was für ein anderer?

Tancredo wendet den Blick vom Fenster und betrachtet sich prüfend: blanke not.

normalerweise ist es fünf Uhr nachmittags, wenn er mit dem Putzen zu ende ist, und erst dann taucht in der kleinen Tür eine der lilias auf; auf einem Tablett aus Blei bringt sie sein Mittagessen. er isst allein zu Mittag, verschwitzt, nach Putzlappen riechend, nach Desinfektionsmittel, den Kopf über den Teller gebeugt, manchmal fast angsterfüllt. angst, weil er früher oder später den Kopf hebt und das gefühl hat, immer noch umringt zu sein von den gesichtern mit den zahnlosen, speicheltropfenden Mündern, die sich im-mer weiter öffnen, die ihn verschlingen, arm für arm, Bein

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für Bein, die gierig seinen Kopf einsaugen, und nicht nur mit dem Mund: auch mit den augen verschlingen sie ihn, mit diesen toten augen. Dann schlägt er mit der Faust auf den Tisch, aber sie verschwinden nicht. ich bin die Spei-sungen, denkt er und schreit: »ich bin die Speisungen, noch immer bin ich ihre Speisungen«, und inmitten des gezeters wie von alten, die auf Straßen flüchten, stößt Tancredo ein röcheln aus, ein letztes röcheln, dies ist dein Kreuz, sagt der Pater, dein Kreuz. er schließt die augen und sieht an-dere augen, viele augen. Dann hat er schreckliche angst, ein Tier zu sein, ein einsames Tier, ein Tier, das mit sich selbst allein ist, sich selber frisst.

an diesem Donnerstag jedoch rettet ihn eine andere der lilias vor seiner angst. es ist merkwürdig: er hat sein Mit-tagessen noch nicht beendet, da taucht die lilia im Tür-rahmen auf, ihre feucht hallende Stimme, die drängend flüstert: »Pater almida braucht Sie. er ist im Kabinett.« es ist die kleinste der drei lilias: Vor Kälte zitternd, steht sie auf der Schwelle, wischt sich die Hände an der Schürze ab und seufzt lautstark. alles, was mit dem Pater zu tun hat, versetzt sie in aufregung, bringt sie zum Stottern; sie ist von hysterischer Beflissenheit; ihre augen glänzen wie zu Tode erschrocken; hinter ihrer kleinen, gebeugten gestalt sieht Tancredo einen Teil des Pfarrgartens, die Weiden, den großen, runden Brunnen aus gelbem Stein, das dunk-ler werdende Violett des abends. »gehen Sie schon, ihr Mittagessen stelle ich beiseite«, sagt sie in ihr schwarzes Schultertuch gehüllt und geht mit ausgebreiteten armen

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auf das Tablett zu, »ihr Mittagessen wärme ich ihnen auf. Sie können es später in ihrem Zimmer zu sich nehmen.«

es ist merkwürdig, denn in den drei Jahren, die es die Speisungen nun gibt, hat Pater almida noch nie befohlen, Tancredos Mittagessen zu unterbrechen, die ruhepau-se danach. Seine anweisungen diesbezüglich waren ein-deutig: »Tancredo darf beim Mittagessen nicht gestört werden.« an einem Dienstag der Blinden hat er sich sogar einmal über die drei lilias aufgeregt, weil sie Tancredo, kaum hatte er sein Tagwerk vollendet, um Hilfe in der Küche baten: den Kühlschrank wollten sie verschieben, den Kohleherd entrußen, die vier elektrischen Herde ver-rücken, um dahinter zu fegen und bei der gelegenheit den Mäusebau zu entfernen, an den keine der sechs Pfarrkatzen herangekommen war. »Tancredo kann morgen früh hel-fen«, hatte der Pater gesagt, »oder an irgendeinem anderen Morgen, aber nicht nach der Speisung. er muss zu Mittag essen, muss sich erholen und sich dem Studium widmen, bevor er sich zur ruhe legt.« ausdrücklich gesagt hatte er es: »auf gar keinen Fall dürft ihr Tancredo nach den Speisungen belästigen, es sei denn, er und ich vereinbaren etwas anderes.«

Seither haben die drei lilias ihn nie wieder um Hilfe gebeten, außer bei den aufgaben, die er schon von Kind auf mit ihnen teilt: sie jeden Samstag zum Markt zu begleiten, die einkäufe zu tragen, sie in der Speisekammer zu ver-stauen, die Funktionstüchtigkeit der Öfen zu überprüfen, die elektrischen Defekte zu reparieren, einen nagel ein-zuschlagen oder herauszuziehen, häusliche Verrichtungen,

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die ihn wenig fordern. alle Tätigkeiten in den letzten drei Jahren, seit er auf der abendschule sein abitur nachgeholt hat, sind um die Speisungen herumgruppiert, um die Spei-sungen und um seine Studien, die von Pater almida höchst-persönlich angeleitet und überwacht werden: die kommen-tierte lektüre der Bibel zum Beispiel oder das lateinlernen.

Jetzt aber wird das Studieren wohl warten müssen, ver-mutet er, ebenso wie das Duschen und das Umziehen. er wird sich in das Kabinett begeben müssen – eine art Büro, in dem der Pater seinen irdischen Verpflichtungen nach-kommt und wo er jetzt auf ihn wartet, ihn sehen will, er braucht mich, denkt er, wie die kleinste der lilias es mit solcher Dringlichkeit formuliert hat.

Der ehrenwerte Pater Juan Pablo almida war nicht allein. an dem langen Tisch saß auch der Sakristan Celeste Ma-chado. Blass wie ein Bettlaken betrachtete der Sakristan den Buckligen verblüfft, als sähe er ihn zum ersten Mal. Der Sakristan war ein düsterer Mensch; ein Schatten wie die lilias, nicht nur, weil er schwarz gekleidet war, sondern auch wegen seiner extremen Zurückhaltung, ein schwarzer Kreis, ein dunkles loch. Ziemlich taub noch dazu, schlich er wie ein Schatten in der Pfarrkirche umher, tauchte auf wie eine Wand. Stumm und düster. Steinern. Seine inner-liche Finsternis ließ einen gefrieren. Denn seine augen und sein gesicht schrien Hass und Widerwille heraus, ekel, der sich noch zu steigern schien, wenn die lilias in der nähe waren, die vor ihm flüchteten, oder Tancredo, der ihn igno-rierte. reden – oder seine Stimme erklingen lassen – tat er

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nur mit dem Pater oder mit Sabina, seiner Patentochter, und dann auch nur das nötigste.

Juan Pablo almida, der mit seinen sechzig Jahren – die wie fünfzig wirkten – voll im Saft stand, aus allen Poren ge-sundheit atmete, saß am Kopfende des Tisches und leitete das gespräch. gerade hatte er etwas gesagt, das sein buck-liger akolyth nicht hatte verstehen können, das aber, wie er ahnte, auf ihn gemünzt gewesen war: Sie sprachen über ihn. Der Sakristan betrachtete ihn immer noch, als hätte er es mit einer bedauerlichen Halluzination zu tun. Warum so überrascht? fragte sich Tancredo, eine Kirche, die etwas auf sich hält, stellt ihren Buckligen zur Schau, das müssten sie am besten wissen. Vielleicht erstaunte sie auch die enorme größe seines Kopfes, die Weisheit in seinen augen – wie Pater almida es einmal beschrieben hatte –, seine für einen Buckligen zu hohe Statur, die außerordentliche Muskula-tur, die gott ihm geschenkt hatte, ohne dass er ihn darum gebeten hätte. resigniert zuckte er mit den Schultern und beschloss, sich eine Weile bewundern zu lassen. almida und der Sakristan tranken den Mandellikör, den die Pfarrei nur ihren ganz besonderen gästen kredenzte, oder seinen unerwartetsten Besuchern. Pater almida deutete auf einen Stuhl zu seiner rechten. als Tancredo sich setzte, spürte er den warmen luftzug von Sabina Cruz, die im hintersten Winkel des Kabinetts an dem schwarzen Schreibtisch kau-erte und diskret die Tasten einer Schreibmaschine anschlug. Um den Kopf trug sie das blaue Tuch; sie drehte sich nicht einmal zu ihm um.

»Da ist ja meine rechte Hand«, sagte Pater almida, ohne

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die augen von Tancredo zu wenden. Der Sakristan nickte kurz. er legte sich die flache Hand hinters Ohr, um ja kein Wort zu verpassen, eine charakteristische geste, die ihn zwang, das gesicht zur Seite zu neigen, den Hals zu recken und folglich den gesprächspartner aus den augenwinkeln zu betrachten, als bespitzelte er ihn.

almida kam gleich zur Sache: er erklärte dem Buck-ligen, dass unser Sakristan hier ein außerordentliches inte-resse daran habe, mehr über die Speisungen der Barmher-zigkeit zu erfahren. So drückte er es aus: ein außerordentliches Interesse.

»Tancredo«, sagte er in vertraulichem Tonfall, »heute fand doch eine Speisung für die alten statt, nicht wahr? War sie gut besucht?«

»nur drei Stühle sind leer geblieben, Pater.«»Und es sind insgesamt neunundneunzig Stühle.« Sicht-

lich zufrieden nahm almida einen Schluck aus seinem glas.Der Sakristan nickte anerkennend. er richtete seine

hellen, großen, wässrigen augen auf den Buckligen. Sein Mund deutete ein ungläubiges lächeln an.

»Sind die Speisungen immer so gut besucht?«, fragte er.nicht nur Tancredo musterten seine augen, auch die

Umgebung der antwort. ein zögerndes Schweigen stellte sich ein. Das Verhör, das sich anbahnte, verblüffte Tancredo, weil so unerwartet, nach wie vor. außerdem fühlte er sich erschöpft, ausgelaugt: nach den alten, die auf allen vieren durch den Saal gekrochen waren, auf und unter dem Tisch, in Suppe gebadet, in Schmutz und Spucke getränkt, wie bei einer römischen Orgie oder einem Hexensabbat, empörten

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ihn die nachforschungen des Sakristans. Wieder hatte er diese schreckliche angst, ein Tier zu sein, oder den Wunsch danach, was noch schlimmer war. er stellte sich vor, wie er den Tisch an die Decke warf; gegen die Stühle der Kirchen-vertreter trat; die beiden umriss; auf ihre geweihten Köpfe pinkelte; sich Sabina vorknöpfte, ihren bleigrauen rock einer frommen Jungfer anhob, die reinheit ihrer bis zum Hals zugeknöpften Bluse schändete, ihre Brüste betatschte, ihren Bauchnabel zwickte, ihre Schenkel, ihren Hintern. er musste diese schreckliche angst, ein Tier zu sein, dem Pater beichten, dachte er entsetzt, so schnell wie möglich. er musste ihm seinen inneren aufruhr offenbaren, oder er würde daran ersticken. Seine Hände schwitzten, seine Knie schlugen unter dem Tisch aneinander.

aber Pater Juan Pablo almida munterte ihn auf.»Berichte uns von deinen erfahrungen, Tancredo, dei-

nen Schlussfolgerungen. Wir unterhalten uns schon die ganze Zeit über die Speisungen der Barmherzigkeit und haben nur darauf gewartet, dass du fertig bist.«

Der Bucklige wandte sich an den Sakristan. »es kommt drauf an«, sagte er halbherzig. »an manchen Tagen sind die Speisungen nicht so gut besucht. ich meine, es ist mal so, mal so. Dieses Jahr ist es anders als letztes Jahr. aber das ist ihnen bekannt, wie mir scheint.«

Damit hatte er die Frage im großen und ganzen beant-wortet. Der Sakristan war jedoch nicht zufrieden.

»Tun Sie einfach so, als wüsste ich von nichts«, sagte er. »es ist also von Tag zu Tag anders?«

»genau«, kam er nicht umhin zu erwidern.