Gymnich Gender Studies

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rz.Methoden der feministischen Literatu r- wissenschaft und der Gender Studies tz.t Einführung in die Theorie rz.z Vorstellung der Methode r:.3 Musterinterpretation: Charlotte Brontös JdneEyre $847) rz.4 Kritikder Methode rz.r I Einführung in dieTheorie Wederfür die feministische Literaturwissenschaft noch für die Gender Studies lässtsichein einheitliches Theoriegerüst identifizieren; vielmehr werden unter den beiden Begriffen in theoretischer und methodischer Hinsicht durchaus heterogeneAnsätze subsumiert, die seit den späten 1960er Jahrenvor allem im angloamerikanischen Kulturraum maßgeb- liche Impulse erhalten haben.Im Folgenden soll zunächstein knapper Überblicküber die theoretischen und methodischen Grundzüge der fe- ministischen Literaturwissenschaft und der Gender Studies gegeben wer- den, der sich an der historischen Entwicklung dieser Ansätzeorientiert und die in den einzelnen Entwicklungsphasen jeweils dominanten theo- retischenund methodischen Tendenzen aufzeigt. Ausgehend von demfür siekennzeichnenden gesellschaftskriti- schen Interesse verfolgt die + feministische Literaturwissenschaft das Ziel, die Inhalte und Formen literarischer Texte in Bezug auf ihreDarstellung derGeschlechterordnung generell sowie weibli- cher Figuren im Besonderen zu analysieren unddie Bedingungen der Produktion und Rezeption literarischer Texte in Abhängigkeit von der Kategorie rGeschlechtr in einer patriarchalisch geprägten Gesellschaft zu untersuchen. Dieinterdisziplinär ausgerichteten ä Gender Studies beschäftigen sich mit den historisch und kultu- rell variablen Konstruktionen der Kategorie rGeschlecht( sowie der (hierarchisch organisierten) Geschlechterord nungin unterschied li- chen Diskursen und Medien, darunter auch der Literatur. Zweite Frauenbewegung: Die Phase der Entstehungund Konsolidierung der feministischen Literaturwissenschaft wurde in erster Linie durch die Zweite Frauenbewegung motiviert. Als letztere sich Ende der 1960er Definition I tst

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rz. Methoden derfeministischen Literatu r-wissenschaft undder Gender Studies

tz.t Einführung in die Theorierz.z Vorstellung der Methoder:.3 Musterinterpretation: Charlotte Brontös

Jdne Eyre $847)rz.4 Krit ik der Methode

rz.r I Einführung in die Theorie

Weder für die feministische Literaturwissenschaft noch für die GenderStudies lässt sich ein einheitliches Theoriegerüst identifizieren; vielmehrwerden unter den beiden Begriffen in theoretischer und methodischerHinsicht durchaus heterogene Ansätze subsumiert, die seit den späten1960er Jahren vor allem im angloamerikanischen Kulturraum maßgeb-liche Impulse erhalten haben. Im Folgenden soll zunächst ein knapperÜberblick über die theoretischen und methodischen Grundzüge der fe-ministischen Literaturwissenschaft und der Gender Studies gegeben wer-den, der sich an der historischen Entwicklung dieser Ansätze orientiertund die in den einzelnen Entwicklungsphasen jeweils dominanten theo-retischen und methodischen Tendenzen aufzeigt.

Ausgehend von dem für sie kennzeichnenden gesellschaftskrit i-schen Interesse verfolgt die + feministische Literaturwissenschaftdas Ziel, die Inhalte und Formen literarischer Texte in Bezug aufihre Darstellung der Geschlechterordnung generell sowie weibli-cher Figuren im Besonderen zu analysieren und die Bedingungender Produktion und Rezeption l iterarischer Texte in Abhängigkeitvon der Kategorie rGeschlechtr in einer patriarchalisch geprägtenGesellschaft zu untersuchen. Die interdisziplinär ausgerichtetenä Gender Studies beschäftigen sich mit den historisch und kultu-rell variablen Konstruktionen der Kategorie rGeschlecht( sowie der(hierarchisch organisierten) Geschlechterord nung in u nterschied l i-chen Diskursen und Medien, darunter auch der Literatur.

Zweite Frauenbewegung: Die Phase der Entstehung und Konsolidierungder feministischen Literaturwissenschaft wurde in erster Linie durchdie Zweite Frauenbewegung motiviert. Als letztere sich Ende der 1960er

Definition

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Einführungin die Theorie

Jahre als politische Bewegung formierte, machte sich auch in der Litera-turwissenschaft ein zunehmendes Interesse an feministischen Fragestel-lungen bemerkbar, das sich seit den 1970er Jahren verstärkt in der Ent-wicklung literaturtheoretischer Ansätze mit feministischer Ausrichtungniederschlug. Die feministische Literaturwissenschaft machte es sichvon Anfang an zur Aufgabe, den Blick dafür zu schärfen, dass die Re-präsentation von Frauen in der Literatur in einem Wechselverhältnis zurgesellschaftlichen Geschlechterordnung zu sehen ist. Literarische Texte,so der Grundtenor der feministischen Literaturwissenschaft, werden un-weigerlich durch patriarchalische Gesellschaftsstrukturen beeinflusstund vermögen diese ihrerseits zu stützen oder auch - u. a. im Sinne einesutopischen Gegenentwurfs - zu kritisieren.

Women's Studies: Im Zuge der Institutionalisierung der Women'sStudies (Frauenforschung) als eigenständiger Disziplin an zahlreichenUniversitäten im angloamerikanischen Raum erhielt die feministischorientierte Beschäftigung mit literarischen Texten zusätzliches Gewicht,wenngleich sich die Women's Studies - ähnlich wie die Gender Studies- als kulturwissenschaftlich und interdisziplinär ausgerichteter For-schungszweig keineswegs nur der Literatur widmen, sondern sich dar-über hinaus auch mit diversen anderen Untersuchungsgegenständen be-schäftigen (vgl. Braun/Stephan 2006),

Gesellschaftskritik: Da die Herausbildung der feministischen Litera-turwissenschaft als eigenständigem Ansatz in der literaturwissenschaft-lichen Forschung in Reaktion auf die Zweite Frauenbewegung erfolgte, istes wenig überraschend, dass der feministischen Literaturwissenschaftvon Beginn an ein starkes gesellschaftskritisches Interesse zu eigen war.Auf die bewusste Rückbindung von Texten an den soziokulturellen Kon-text ist es zurückzuführen, dass die feministische LiteraturwissenschaftLiteratur nicht allein als Symbolsystem betrachtet, sondern auch als So-zialsystem. Dies besagt, dass einerseits eine Analyse unterschiedlicherinhaltlicher und struktureller Gesichtspunkte (Figuren, Plot, Raum- undZeitdarstellung usw.) in Bezug auf die Kategorie >Geschlecht< erfolgt [Lite-ratur als Symbolsystem), dass aber andererseits auch die Prozesse der Pro-duktion, Rezeption und Vermittlung literarischer Texte (Literatur als So-zialsystem) in Abhängigkeit vom Wirksamwerden der patriarchalischenGeschlechterordnung gesehen werden.

Frauenbildforschung: Bei der Frauenbildforschung (Images of WomenCriticism) handelt es sich um einen Ansatz, der insbesondere für dieerste Phase der feministischen Literaturwissenschaft, die sich von denspäten 1960er Jahren bis in die Mitte der 1970er Jahre erstreckte, kenn-zeichnend ist. Dieser Ansatz, der durch Mary Ellmanns Thinking aboutWomen (1968) und Kate Milletts Sexual Politics (1969) entscheidende Im-pulse erhielt, setzt sich z;ttmZiel, die durch den männlichen Blickwinkelgeprägte Repräsentation von Geschlechterstereotypen und speziell vonWeiblichkeitsvorstellungen in literarischen Texten herauszuarbeiten' ge-rade auch in den von männlichen Autoren verfassten Literaturklassikern.In Frauenbildern, wie etwa dem der schönen, aber gefährlichen Femme

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fatale, verdichten sich männliche Wünsche, Bedürfnisse und Angste. DieVerbreitung solcher Frauenbilder in Klassikern der Literatur trägt folglichdazu bei, patriarchalische Denkmuster und damit auch die mit dieseneinhergehenden gesellschaftlichen Machtverhältnisse zu stützen undideologisch zu legitimieren. Die Methodik der Frauenbildforschung lässtsich letztlich nicht nur aufliterarische Texte anwenden, sondern kann zu-mindest weitgehend auch auf nicht-fiktionale Texte sowie auf audiovisu-elle Medien übertragen werden. Dabei ist freilich eine Berücksichtigungder jeweiligen gattungs- und medienspezifischen Darstellungsverfahrenerforderlich - ein Aspekt, der gerade in der frühen Phase der feministi-schen Literaturwissenschaft oft vernachlässigt wurde.

Frauenzentrierte Phase: In der Hochphase der feministischen Litera-turwissenschaft, die in der Mitte der 1970er Jahre einsetzte, rückte imGegensatz zur ersten Phase die Beschäftigung mit von Frauen verfasstenIiterarischen Texten in den Vordergrund. In dieser gynozentrischen, d.h.frauenzentrierten Phase stand neben dem Bemühen um eine Kanonrevi-sion und Kanonerweiterung durch die Einbeziehung von zuvor seitensder Literaturwissenschaft vernachlässigten Werken von Autorinnen vorallem die Auseinandersetzung mit den soziokulturellen Bedingungen,unter denen literarische Werke von Frauen entstanden sind, im Mittel-punkt.

Besonderes Interesse galt zudem der literarischen Beschäftigung mitdiversen Aspekten des weiblichen Lebenszusammenhangs, d. h. mit The-men wie Geschlechterrollen, weiblicher Sozialisation, geschlechtsspezifi-schen Entwicklungsverläufen und weiblicher Emanzipation.

lm von Elaine Showalter geprägten Konzept des) double-voiceddiscourse schlägt sich die Erkenntnis nieder, dass Frauen in einerpatriarchalisch geprägten Gesellschaftsstruktur in den von ihnenverfassten l iterarischen Werken solche Bedürfnisse, Wünsche undAngste, die im Widerspruch zu gesellschaftl ichen Normen undRollenerwartungen stehen, oft allenfalls indirekt, als eine Form vonSubtext, artikulieren können (vgl. Gutenberg 1999).

Daraus ergibt sich in methodologischer Hinsicht die Herausforderung,>zwischen den Zeilen< zu lesen, d. h. Anspielungen nachzuspüren, Bilderzu deuten oder auch unterschwellige Ahnlichkeiten zwischen literari-schen Figuren interpretatorisch auszuwerten.

Französische Literaturtheoretikerinnen: Während die angloamerika-nische feministische Literaturwissenschaft der 1970er und l980er Jahresich dominant mit soziokulturellen Aspekten des weiblichen Lebenszu-sammenhangs und deren Auswirkungen auf literarische Texte beschäf-tigte, basiert die französische feministische Literaturtheorie, für die vorallem die Namen H€löne Cixous, Luce Irigaray und Julia Kristeva stehen,in erster Linie auf psychoanalytischen und poststrukturalistischen

Einführung

in die Theorie

Definition

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Einführungin die Theorie

Definition

Theorien und interessiert sich nur in begrenztem Maße für konkrete so-

ziokulturelle Gegebenheiten.Die psychoanalytischen Ansätze von Jacques Lacan wurden von den

französischen feministischen Theoretikerinnen aufgegriffen und aus

feministischem Blickwinkel kritisch modifiziert und weiterentwickelt.Von Lacan entlehnten die Vertreterinnen des französischen Feminis-mus insbesondere die Annahme, dass die symbolische, gesellschaftli-

che Ordnung, in die das Kind im Prozess des Spracherwerbs integriertwird, männlich strukturiert ist. Demnach sei die Geschlechterdifferenzin der Sprache angelegt, und der eigentliche Platz der Frau sei nicht in

der sprachlich-symbolischen Ordnung zu suchen, sondern im Vorsprach-lichen bzw Semiotischen (Kristeva). Einen Ausweg aus der weiblichen

Erfahrung von Entfremdung sieht der französische Feminismus nicht in

einer Aneignung der sprachlich-symbolischen Ordnung durch die Frau,

sondern in einer Überwindung eben dieser Ordnung durch ein (Wieder-)

Entdecken einer Sprache des Semiotischen. Nur ein weibliches Schrei-ben (öcriture fömtnine; Cixous) bzw. weibliches Sprechen (parler femme;Irigaray) ermögliche Frauen einen Ausbruch aus jenem >Schweigen [...],zu dem sie in der symbolischen Ordnung verurteilt waren( (Weber 1994'

S.21). Da Frauen nicht Teil der sprachlichen (logozentrischenJ Ordnung

seien, äußere sich weibliches Schreiben primär in Strategien wie einemAusbruch aus grammatischen und syntaktischen Normsetzungen undeinem Auflösen fester (Wort-)Bedeutungen. In den 1990er Jahren machtesich immer stärker eine Allianz zwischen der soziokulturell ausgerichte-

ten Tradition der angloamerikanischen feministischen Literaturwissen-schaft und der psychoanalytisch und poststrukturalistisch orientierten

Ansätze innerhalb der feministischen Literaturwissenschaft bemerkbar.Diese Allianz wurde nicht zulelzt im Kontext der Gender Studies frucht-

bar gemacht.Judith Butler: Seit Ende der 1980er Jahre zeichnete sich in der wis-

senschaftlichen Beschäftigung mit der Geschlechterordnung ein Para-

digmenwechsel ab, der insbesondere durch Judith Butlers wegweisendeStudie Gender Ttouble (1990) vorangetrieben wurde.

In ihrer Studie krit isiert Butler die zuvor in der Frauenforschung ver-breitete Unterscheidung von t Sex (biologischem Geschlecht) und+ Gender (sozialem Geschlecht). Sie vertritt die Auffassung, dassauch das vermeintl ich faktische biologische Geschlecht letztl ichnichts anderes sei als ein soziales, diskursiv erzeugtes Konstrukt.Folglich lasse sich das biologische Geschlecht konzeptionell schluss-

endlich nicht klar vom sozialen Geschlecht differenzieren.

Gerade die in dem Begriffspaar ser vs. gender implizierte Auffassung,dass es ein biologisches Geschlecht gebe, welches bereits vor dem Wirk-

samwerden sozialer Diskurse existiere, trägt laut Butler dazu bei, die

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Struktur der Geschlechterdichotomie zu verfestigen und zu perpetuieren.Die Kategorie >Geschlecht< wird gemäß Butler nicht in einem einmaligendiskursiven Akt hergestellt, sondern wird vielmehr in einem fortwähren-den Prozess immer wieder neu verhandelt. In verschiedenen Diskursen,darunter der medizinische, der juristische und der psychologische Dis-kurs, wird die Kategorie rGeschlecht< kontinuierlich erzeugt. Die GenderStudies als kulturwissenschaftlich ausgerichteter Ansatz widmen sichzwar nicht in erster Linie literarischen Texten; gleichwohl lässt sich derKonstruktcharakter von ser und geruder gerade auch in literarischen Tex-ten gut veranschaulichen.

Masculinities: Neben der Konstruktion von Weiblichkeitskonzeptenrückt in den Gender Studies zunehmend auch die diskursive Erzeugungvon Männlichkeitsvorstellungen {Masculinities) in das Zentrum des In-teresses. Seit den 1990er Jahren finden außerdem auch die Zusammen-hänge zwischen der Kategorie >Geschlecht< und Kategorien wie >sozialeKlasse< und >Ethnizität< vermehrt Berücksichtigung in der Theoriebildung.

Gender 5tudies: Die Übergänge zwischen der feministischen Literatur-wissenschaft und den Cender Studies erscheinen in vieler Hinsicht flie-ßend. Während es im Rahmen der feministischen Literaturwissenschaftaber durchaus Positionen gibt, die essentialistische Auffassungen von Ge-schlecht vertreten, die also von naturgegebenen Geschlechterunterschie-den bzw. von einer genuinen Weiblichkeit und Männlichkeit ausgehen,ist für die Gender Studies die Auffassung konstitutiv, dass es sich bei derKategorie >Geschlecht< um ein Konstrukt handelt. Für die Methodik derTextinterpretation bedeutet die Prämisse der Gender Studies, dass ein be-sonderes Augenmerk auf die im Text zu identifizierenden Prozesse derKonstruktion von Geschlecht und Geschlechterdifferenz zu richten ist.Von großem Interesse sind in diesem Kontext oft Phänomene auf sprach-licher Ebene, wie etwa der Gebrauch von Personalpronomina oder dieBildlichkeit, aber auch die Darstellung von Bewusstseinsvorgängen, vonfiguralen Handlungen oder des Redeverhaltens von Figuren können invielfältiger Weise auf den Konstruktcharakter der Kategorie >Geschlecht<verweisen.

12.2 lVorstellung der Methode

Ebenso wenig wie sich für die feministische Literaturwissenschaft unddie Gender Studies eine homogene theoretische Grundlage bestimmenlässt, ist für diese Ansätze eine einheitliche Methodik bei der Interpreta-tion fiktionaler Texte zu identifizieren. Gemeinsam ist den unterschiedlichen methodischen Ansätzen jedoch, dass sie eine kritische Auseinan-dersetzung mit der textuellen Repräsentation der Geschlechterordnungzu operationalisieren suchen. Es geht den Ansätzen bei der Analyse vonTexten folglich um das Erschließen von Zusammenhängen zwischen in-haltlichen wie auch strukturellen textuellen Phänomenen einerseits undgesellschaftlichen Machtstrukturen in Form der Geschlechterordnung

Vorstellungder Methode

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Vorstellungder Methode

andererseits. Das Spektrum der Interpretationsstrategien, die ausgehendvon dieser Prämisse in feministischefi rrrd geftder-orientierten Interpreta-tionen literarischer und audiovisueller Texte zum Tragen gekommen sind,reicht von methodisch wenig reflektierten textimmanenten Strategien(close reading) über narratologische Ansätze bis zu psychoanalytischenund poststrukturalistischen Lesarten.

Interdisziplinäre Ansätze: Das Anliegen, Kritik an soziokulturellenAspekten des weiblichen Lebenszusammenhangs zu üben, das für denFeminismus kennzeichnend ist, hat sich auf die feministische Literatur-wissenschaft übertragen. Die Beschäftigung mit Themen wie der Darstel-lung geschlechtsspezifischer Entwicklungsverläufe oder weiblicher undmännlicher Rollenmuster ging vielfach mit Versuchen einher, Konzepteaus Disziplinen wie der Psychologie und der Soziologie für die Analysefiktionaler Texte fruchtbar zu machen. Derartige interdisziplinäre An-leihen sollten nicht dazu verleiten, fiktionale Texte mimetisch, d.h. als)Abbild( der Realität, zu lesen. Vielmehr müssen die (medien- und gat-tungsspezifischen) Eigenheiten fiktionaler Texte bei der Darstellung derGeschlechterordnung Berücksichtigung finden. Eine zentrale Herausfor-derung für eine feministische bzw. gender-orientierte Literaturinterpreta-tion besteht in methodischer Hinsicht folglich darin, die Semantisierungliterarischer Darstellungsverfahren zu erfassen und somit den spezifi-schen Möglichkeiten einer Auseinandersetzung mit gender-televantenAspekten in fiktionalen, ästhetischen Texten - im Gegensatz etwa zumSachtext - gerecht zu werden.

Feministische Narratologie: Für die frühe Phase der feministischen Li-teraturwissenschaft ist generell eine Tendenz zur Privilegierung inhalts-bezogener Aspekte zu beobachten; so bilden >insbesondere die Figurenund der Plot [...] den Hauptreferenzpunkt dieser Arbeiten [...]; gattungs-spezifischen, formalen Strukturen literarischer Texte wurde hingegenkaum Beachtung geschenkt< (Stritzke 2005, S. 103). Die feministische Nar-ratologie, die Mitte der 1980er Jahre von Susan Sniader Lanser und RobynWarhol begründet wurde, setzt sich hingegen zum Ziel, die inhaltlichenAnliegen und Fragestellungen der feministischen Literaturwissenschaftin produktiver Weise mit den Ansätzen der klassischen, strukturalisti-schen Narratologie zu verbinden, um so die Semantisierung literarischerDarstellungsverfahren speziell im Hinblick auf die Inszenierung der Ka-tegorie >Geschlecht< analysieren zu können. Zu den Aspekten literarischerTexte, die sich als besonders produktiv für eine Analyse im Rahmen einerfeministischen rnd gender-orientierten Narratologie erweisen, zählen diefolgenden (zu den nachfolgenden und weiteren Analysekategorien vgl.ausführlich die entsprechenden Kapitel in Nünning/Nünning 2004):. das Geschlecht von Erzählinstanzen, lyrischem Ich, vermittelnden

Sprecher/innen im Drama und fiktiven Adressat/innen. die Raumdarstellung, z.B. in Form von Korrelationen zwischen räum-

lichen Oppositionen und der traditionellen Geschlechterdichotomieoder durch eine Darstellung der Variation der Raumwahrnehmung inAbhängigkeit vom Geschlecht

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' die Zeitdarstellung, z.B. in Abhängigkeit vom Geschlecht variierendesubjektive Zeiterfahrung

Versucht man, die Frage nach der Semantisierung literarischer Dar-stellungsverfahren wie der oben genannten an theoretische Ansätzeder feministischen Literaturwissenschaft und der Gender Studies anzu-schließen, so bieten sich die übergreifenden Konzepte >Stimme<, >Blick,>Körper< und >Handlungsermächtigung< tagency) zur Systematisierung derAnschlussmöglichkeiten an, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Diegenannten Konzepte liefern eine Art >Suchraster< für feministische undgeruder-orienlierte Lesarten literarischer und audiovisueller Texte, die esermöglichen, theoretische Überlegungen zu inhaltlichen und strukturel-len Aspekten des Textes in Bezug zu setzen.

t. Stimme: Die Beschäftigung mit der Stimme, d.h. insbesondere mitweiblichem Sprechen, aber auch mit dem Schweigen oder Verstummenweiblicher Stimmen auf der Handlungsebene ebenso wie auf der Ebeneder erzählerischen Vermittlung bzw. in Bezug auf ein lyrisches Ich bildeteinen ersten produktiven methodischen Ansatz für eine Auseinanderset-zung mit literarischen Texten und audiovisuellen Texten im Kontext derfeministischen Literaturwissenschaft und der Gender Studies. Richtetman die Aufmerksamkeit auf die Stimme(n), so ergeben sich Anknüp-fungsmöglichkeiten an unterschiedliche theoretische Ansätze innerhalbder feministischen Literaturwissenschaft und der Gender Studies.

Die Fragen danach, wer spricht und über was mit wem gesprochen wird,können Hinweise auf die Repräsentation des Wirksamwerdens gesell-schaftlicher Machtverhältnisse im Rahmen der Geschlechterordnungliefern. Sprechen, vor allem das Sprechen von Erzählinstanzen, ist seitensder feministischen Erzähltheorie als Akt der Aneignung traditionell männ-lich konnotierter narrativer Autorität betrachtet worden, was auf der par-tiellen Deutungshoheit von Erzählinstanzen als Vermittlern der erzähltenGeschichte beruht. Dass der Möglichkeit, weibliche Stimmen in der Lite-ratur >hörbar< zu machen, ein emanzipatorisches Potential zugeschriebenwird, ist letztlich darauf zurückzuführen, dass Frauen traditionell in be-stimmten Kontexten zum Schweigen verurteilt bzw. nicht einmal präsentwaren, beispielsweise im medizinischen und juristischen Diskurs, waszwangsläufig zu einer Marginalisierung weiblicher Perspektiven führte.Zur Abwägung des emanzipatorischen Potentials einer Darstellung weib-licher Stimmen in der Literatur sind u.a. Gattungstraditionen im Hinblickauf eine geschlechtsabhängige Distribution von Sprecherrollen zu hinter-fragen. So ersetzen etwa die von Christina Rossetti und Elizabeth BarrettBrowning im 19. Jahrhundert verfassten Sonettzyklen Monna Innominata(Rossetti 1881) und Sonnets from the Portuguese (Barrett Browning 1850)das in der Gattung Sonett traditionell zumeist männliche lyrische Ich durchSprecherinnen, die eine weibliche Sichtweise zum Ausdruck bringen.

Die Frage nach der >Stimme< lenkt zudem die Aufmerksamkeit auf dieImplikationen solcher Texte, in denen sich eine Sprecherinstanz nichteindeutig als >männlich< oder >weiblich< kategorisieren lässt, wie diesetwa in Jeanette Wintersons Roman Writteft on the Body (1992) der Fall

Vorstellung

der Methode

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Vorstellungder Methode

ist, in dem den Leser/innen eine eindeutige Kategorisierung der Erzähl-instanz unmöglich gemacht wird. Beispiele wie das soeben genannte ver-weisen auf den Konstruktcharakter der Kategorie >Geschlecht< und lassensich folglich mit Ansätzen wie dem von Butler verbinden. Ein Vergleichder Redeanteile und Redeinhalte männlicher und weiblicher Figuren inDialogen kann darüber hinaus Aufschluss auf das Aushandeln, die sozia-Ie Konstruktion von Geschlechtsidentitäten geben.

Der französische Feminismus lenkt das Augenmerk insbesondere aulden qualitativen Aspekt des Sprechens. Nicht das Sprechen von Frauenan sich gilt in diesem theoretischen Kontext als Ausdruck von Emanzi-pation, sondern vielmehr eine Abweichung von traditionellen und damitlogozentrisch-patriarchalischen Formen des Sprechens zu Gunsten einesweiblichen, d.h. normabweichenden Sprechens/Schreibens. Gerade vordem Hintergrund des französischen Feminismus kann aber auch weibli-ches Schweigen als semantisch aufgeladen gedeutet werden, als Ausdruckeines Ausschlusses bzw. eines bewussten Rückzugs aus der patriarchali-schen Gesellschaf tsordnung.

z. Blick: Als Suchraster für eine feministische und gender-orientierteIiteraturwissenschaftliche Analyse bietet sich die Frage nach der textu-ellen Inszenierung des männlichen und weiblichen Blickes an. Da Sub-jekt- und Objektpositionen maßgeblich über den Blick verhandelt und infiktionalen Texten inszeniert werden, liefert die Frage >wer wird von wemwie gesehen?< einen produktiven Ansatzpunkt für die Frage, inwieweitSubiekt- und Objektpositionen innerhalb eines Textes männlich oderweiblich besetzt sind und in welchem Verhä'ltnis diese Verteilung zur ge-sellschaftlichen Geschlechterordnung steht.

Das aus der psychoanalytisch orientierten feministischen Filmwissen-schaft stammende und ursprünglich von Laura Mulvey in ihrem wegwei-senden Artikei >>Visual Pleasure and Narrative Cinema< (1975) geprägteKonzept des >male gaze<, des >männlichen Blickes<, lässt sich auch überaudiovisuelle Texte hinaus gewinnbringend einsetzen. Dies gilt eben-falls für die Weiterentwicklung dieser Vorstellung im Konzept des >femalegaze<, des rweiblichen Blickes<. Das Konzept des >male gaze< dient dazu,jene visuellen Strategien im Film zu erfassen und zu deuten, die weiblicheFiguren zum [erotischen) Objekt des männlichen Blicks, d. h. des Blickesmännlicher Figuren wie auch männlicher Zuschauer, machen. Das nurpartiell komplementäre Konzept des >weiblichen Blickes< beschreibt nichtallein eine Inversion des Blickverhaltens, bei der ein weiblicher Blickwin-kel privilegiert und ein Mann zum Objekt dieses Blicks wird, sondernsoll auch einer grundsätzlichen Problematisierung der als voyeuristischempfundenen Relation zwischen Betrachtendem und betrachtetem Ob-jekt dienen (vgl. Doane 1999). Eine Analyse der Blickstrategien erlaubtvielfach Einblicke in den Prozess der Konstruktion von Geschlechterdif-ferenzen und bietet sich für psychoanalytische Fragestellungen an. Auserzähltheoretischer Sicht lässt sich die Frage nach dem Blick und seinenImplikationen über das Phänomen der Fokalisierung operationalisieren(zur Narratologie s. Kap. 5 in diesem Band).

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3. Körperkonzepte: Neben der Analyse der Blickstrategien und darananknüpfend erweist sich auch eine Auseinandersetzung mit der Darstel-lung von männlichen und weiblichen Körpern und den diesen zugrun-de liegenden Körperkonzepten als für viele Texte aufschlussreich. Kör-perkonzepte sind kulturell und historisch variabel und stehen in engemZusammenhang mit der Kategorie >Geschlecht<. In den Gender Studieskommt der Beschäftigung mit Körperlichkeit in letzter Zeit eine wach-sende Bedeutung zu. Zu Repräsentationen von Körperkonzepten in fik-tionalen Texten können verschiedene Vorgehensweisen Zugang bieten.Zunächst sind natürlich explizite, häufig kontrastive Beschreibungenmännlicher und weiblicher Körper zu berücksichtigen, die sich zu den je-weils relevanten kulturspezifischen und geschlechtsabhängigen Körper-konzepten in Bezug setzen lassen. Neben expliziten Beschreibungen vonKörpern kann sich auch die zur Darstellung von Körperlichkeit und sub-jektiver Körperwahrnehmung verwendete Bildlichkeit als aufschlussreicherweisen. So wird beispielsweise eine fragmentierte Wahrnehmung desKörpers, die sich gerade bei weiblichen Figuren recht oft feststellen lässt,vielfach durch eine entsprechende Bildlichkeit zum Ausdruck gebracht.Schließlich können auch Aspekte wie die Darstellung der Bewegung imRaum oder das Berührungsverhalten von männlichen und weiblichenFiguren als Ausdruck der inszenierten Vorstellungen von geschlechtsbe-zogener Körperlichkeit und als Aspekt des Aushandelns von Weiblichkeitund Männlichkeit gelten.

4. Agency: Einen vierten Ansatzpunkt für eine gender-orientierteTextanalyse bietet die Frage nach der Handlungsmächtigkeit undHandlungsermächtigung (agency) in Abhängigkeit von der Kategorie>Geschlecht<. Eine Analyse des Handlungsverlaufs und insbesondere si-gnifikanter Wendepunkte in der Handlung erlaubt eine Annäherungan diesen Gesichtspunkt: Lässt sich eine Korrelation zwischen dem Ge-schlecht der Figuren und deren Einfluss auf den Handlungsverlauf ausma-chen? Eine Beschäftigung mit der ogency muss sich nicht auf die Formender Handlungsermächtigung in einem spezifischen Text beschränken;vielmehr kann diese Fragestellung in sehr produktiver Weise zu gattungs-geschichtlichen Überlegungen in Bezug gesetzt werden. So verweisenetwa die Unterschiede zwischen dem klassischen männlichen Bildungs-roman und dem weiblichen Entwicklungsroman des 19. Jahrhunderts aufdie spezifi schen, soziokulturell bedingten Probleme weiblicher agencyiWährend selbst initiierte Reisen zu den Kennzeichen des traditionellenBildungsromans zählen und zur Entwicklung des Protagonisten in derRegel maßgeblich beitragen, spielt räumliche Mobilität - zumindest sol-che, die auf eine Initiative der weiblichen Figuren zurückgeht - im weib-lichen Entwicklungsroman aufgrund der traditionellen Bindung der Frauan die häusliche Sphäre vielfach eine untergeordnete Rolle.

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Musterinterpretation :Charlotte Brontös

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r2.3 | Musterinterpretation: Charlotte Brontäslane Eyre (t8+Z)

Bei dem für die Musterinterpretation ausgewählten Textausschnitt han-delt es sich um eine der wohl bekanntesten Szenen aus einem der Klas-siker der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts, Charlotte BrontösRoman Jane Eyre (1847). Brontös Roman ist seitens der feministischenLiteraturwissenschaft und der Gender Studies bereits vielfach diskutiertworden. Neben der zugleich als Erzählerin fungierenden Titelfigur JaneEyre hat vor allem eine weitere weibliche Figur das Interesse der Litera-turwissenschaft auf sich gezogen, obwohl sie im Handlungsverlauf nurselten in Erscheinung tritt und nicht einmal ein einziges Wort spricht:Bertha Mason, die aus der Karibik stammende und als wahnsinnig gel-tende erste Mrs. Rochester, die in einem Raum im obersten Stock vonMr. Rochesters Herrenhaus Thornfield vor der Öffentlichkeit verborgengehalten wird, so dass selbst die anderen Bewohner des Hauses, mit Aus-nahme der mit ihrer Bewachung beauftragten Grace Poole, nichts vonihrer Existenz wissen. Sogar einer der klassischen Texte der feministi-schen Literaturwissenschaft. Sandra Gilberts und Susan Gubars StudieTlrc Modwoman in the Attic (1978), spielt im Titel auf diese Figur an. Andieser Figur und an der im Folgenden zitierten Szene, in der die erste Mrs.Rochester ihren wichtigsten Auftritt hat, Iassen sich in verdichteter Formviele der Aspekte aufzeigen, die für die feministische Literaturwissen-schaft und die Gender Studies von besonderem Interesse sind. In der zi-tierten Szene erfährt die Titelfigur von der Existenz von Rochesters Ehe-frau. Dies geschieht unmittelbar, nachdem ihre geplante Eheschließungmit Rochester durch den berechtigten Vorwurf der versuchten Bigamieverhindert wurde, und bildet insofern hinsichtlich der Spannungslen-kung einen der Höhepunkte des Romans.

Mustertext He [Mr Rochester] Iifted the hangings from the wall, uncovering the se-cond door: this, too, he opened. In a room without a window, there burnta fire, guarded by a high and strong fender, and a lamp suspended fromthe ceiling by a chain. Grace Poole bent over the fire, apparently cookingsomething in a saucepan. ln the deep shade, at the farther end of theroom, a figure ran bäckwards and forwards. What it was, whether beastor human being, one could not, at fust sight, tell: it grovelled, seemingly,on all fours; it snatched and growled like some strange wild animal: but itwas covered with clothing, and a quantity of dark, grizzled hair, wild as amane, hid its head and face.>Good-morrow, Mrs Poole!< said Mr Rochester. >How ale you? and how isyour char6e to-day?.,We're tolerable, sir, I thank you,, replied Grace, lifting the boiling messcarefully on to the hob: >rather snappish, but not'rageous.(

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A fierce cry seemed to give the lie to her favourable report: the clothedhyena rose up, and stood tal l on i ts hind-feet.>Ah! sir, she sees you!< exclaimed Grace: >you'd better not stay.(ronly a few moments, Grace: you must allow me a few moments.(lTake care, then, sir! - for God's sake, take care!<The maniac bellowed: she parted her shaggy locks from her visage, andgazed wildly at her visitors. I recognized well that purple face - thosebloated features. Mrs Poole advanced.,Keep our of the way,, said Mr Rochester, thrusting her aside: ,she has noknife now, I suppose? and I'm on my guard.<iOne never knows what she has, sir: she is so cunning: i t is not in mortaldiscretion ro fathom her craft..,We had better leave her,, whispered Masotr.>Go to the devil!< was his brothlr-in-law's recommendation.fWarel< cried Graee. The three gentlemen retreated simultaneously. MrRochester f lung me beh ind h im: the lunat ic sprang and grapp led h isthroat viciously, and laid her teeth to his cheek: they struggled. She wasa big woman, in statrire almost equalling her husband, and corpulentbesides: she showed vir i le force in the conlest - more than once shea imost th ro t t led h im, a th le t i c as he was. He cou ld have se t t led her w i tha well planted blow; but he would not strike: he would only wrestle. Atlast he mastered her arms; Grace Poole gave him a cord, and he pinionedthem behind her: with more rope, which was at hand, he bound her to thechair. The operation was performed amid the flercest yells and the mostconvulsive plunges. Mr Rochester then turned to the spectators: he lookedat them with a smile both acid and desolate.rThat is my wife,< said he. >Such is the sole conjugal embrace I am ever toknow - such are the endearments which are to solace my leisure hours!And this is what I wished to have< [laying his hand on my shoulder) ,thisyoung girl, who stands so grave and quiet at the mouth of hell, lookingcollectedly at the gambols of a demon. I wanted her just as a change afterthat fierce ragout. Wood and Briggs, look at the difference! Compare theseclear eyes with the red ba1ls yonder - this face with that mask - this formwith that bulk; [...]<. (Brontö: Jane Eyre, S. 321-322)

Körperdarstellung: Zu den Aspekten, die in der Textstelle aus Sicht derfeministischen Literaturwissenschaft und der Gender Studies von beson-derem Interesse sind und die unmittelbar die Aufmerksamkeit auf sichlenken, zähit die kontrastierende Darstellung des weiblichen und desmännlichen Körpers. An der körperlichen Erscheinung ebenso wie ankörperlichen Attributen wie physischer Stärke bzw. deren Fehlen werdentraditionell Geschlechterstereotypen festgemacht. Aus Sicht der GenderStudies stellt sich bezüglich der Darstellung von Körpern und Körper-iichkeit darüber hinausgehend die Frage, inwieweit durch die Körperdar-stellung Geschlechterunterschiede erst konstruiert und zugleich als >na-

türlich< festgeschrieben werden. Die oben zitierte Textstelle erweist sich

Muster interpretat io n :

Char lot te Brontäs

Jane Eyre

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Musterinterpretation :Charlotte Brontös

lane EYre

in dieser Hinsicht als äußerst interessant, wird an ihr doch implizit undexplizit in Bezug auf Bertha ein Körperkonzept entworfen, das sehr starkmännliche Züge aufweist. So wird sie als >big woman( beschrieben, >in

stature almost equalling her husband, and corpulent besides: she showedvirile force in the contest<. Dass sie ihrem Ehemann hinsichtlich Staturund körperlicher Stärke nahezu ebenbürtig erscheint, steht im eklatantenGegensatz zu den sehr ausgeprägten Vorstellungen von der physischenSchwäche der Frau in der viktorianischen Zeit, die sie von männlichemSchutz abhängig macht.

Zu beachten ist bei der Deutung der Implikationen der Darstellung derKörperlichkeit, dass es nicht um eine Umkehr stereotyper Vorstellungenvon körperlichen Geschlechtsunterschieden geht; vielmehr wird an derobigen Textstelle, wie auch sonst oft in Jane Eyre, Rochesters physischeStärke sogar besonders hervorgehoben (>more than once she almostthrottled him, athletic as he was<d, was die außergewöhnliche Stärke sei-ner Ehefrau zusätzlich unterstreicht. Die zahlreichen Verfilmungen vonJane Eyre entwerfen in Bezug auf die körperliche Erscheinung durchausunterschiedliche Vorstellungen von Bertha. Während einige Verfilmun-gen die physische Stärke in Übereinstimmung mit dem Roman auch visuell hervorheben, wirkt die gefangengehaltene Frau in Franco ZeffirellisVerfilmung von Jane Eyre aus dem Jahr 1996 eher fragil.

Inszenierung von Weiblichkeit vs. Unweiblichkeit: Mehr noch alsdas Aussehen ist es Berthas Verhalten, ihre Körpersprache, wodurchdie Figur von Weiblichkeitsstereotypen abweicht. Dies beginnt bereitsbei ihrem unruhigen Hin- und Herlaufen (>a figure ran backwards andforwards<), das an ein gefangenes Tier erinnert, und findet im wildenAngriff auf ihren Ehemann seinen Höhepunkt: >the lunatic sprang andgrappled his throat viciously, and laid her teeth to his cheek: they strug-gled<. Das Verhalten an dieser Stelle, insbesondere die Tatsache, dassBertha ihren Ehemann mit den Zähnen zu verletzen sucht, widersprichtnicht allein Weiblichkeitsvorstellungen, sondern erinnert an den Angriffeines wilden Tiers (oder eines Vampirs, mit dem Bertha an anderer Stel-le im Roman verglichen wird). Der Ringkampf mit seiner Frau wird vonRochester selbst in der Figurenrede als Perversion ehelichen Zusammen-lebens dargestellt, wenn er ausruft: >>Such is the sole conjugal embraceI am ever to know - such are the endearments which are to solace myleisure hours!<< Der >unweibliche< Charakter von Berthas Verhalten wirddurch den Vergleich mit der Protagonistin Jane zusätzlich unterstri-chen, wird doch letztere im Gegensatz zur tobenden Bertha als >graveand quiet< beschrieben. Auch die Gegenüberstellung der physischenAttribute verstärkt den Eindruck, dass die beiden Frauen als Kontrast-figuren präsentiert werden: >clear eyes< vs. >red balls<, >this face< vs.>that mask<, >this form< vs. )that bulk<. Mit dieser Kontrastierung stehtes in Einklang, dass Rochester sich schützend vor Jane stellt bzw. sie einwenig unsanft hinter sich schiebt (>Mr Rochester flung me behind him<<)und der Protagonistin damit weibliche Schutzbedürftigkeit im Sinne derzeitgenössischen Vorstellungen von weiblicher Fragilität unterstellt.

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Die Rollenverteilung zwischen Rochester und Jane korreliert in dieserSzene mit der klassischen Distribution der Geschlechterrollen in der pa-triarchalischen Gesellschaft. Die Konstruktion von Janes >\A/eiblichkeikdurch das Verhalten Rochesters geht Hand in Hand mit der Konstruktionvon Berthas >Unweiblichkeit<.

Wie bereits die obigen Ausführungen angedeutet haben, liefert die vonJudith Butler in ihrer Studie Gender TtoubLe entwickelte Vorstellung vomperformativen Charakter von Geschlechtsidentität und von Geschlechtebenfalls einen interessanten Interpretationsansatz für die oben zitierteTextstelle ars Jane Eyre. An der Textstelle lässt sich der Prozess des Gen-dering, d. h. der Kategorisierung eines Individuums im Hinblick auf denFaktor >Geschlecht<, nicht nur durch die Gegenüberstellung von Jane undBertha exemplarisch nachvollziehen. Ein Aspekt, anhand dessen sich die-ser Prozess ebenfalls aufzeigen lässt, ist die Verwendung von Personal-pronomina. Zunächst wird in der obigen Textstelle auf die Ehefrau vonEdward Rochester Iediglich mit dem Personalpronomen lt Bezug genom-men, das suggeriert, dass es sich bei ihr nicht einmal um ein menschli-ches Wesen handelt - eine Einschätzung, die sich auf das Aussehen unddie oben beschriebene Wertung des Verhaltens stützt. Nachdem jedochGrace Poole in der Figurenrede auf die soeben noch seitens der Erzählin-stanz als >clothed hyena< bezeichnete Gestalt mit dem PersonalpronomensheBezuggenommen hat, erscheint deren Geschlecht festgelegt, was sichdarin niederschlägt, dass auf sie fortan durchgängig mit dem weiblichenPersonalpronomen referiert wird.

Stimme und Perspektive: Setzt man sich, wie in Abschnitt 2 vorge-schlagen, bei der Interpretation des Textausschnitts mit der Frage nachder >Stimme< auseinander, dann wird rasch ein auffälliges Ungleichge-wicht bei der Verteilung der Redeanteile im Figurendialog deutlich. DerDialog auf der Handlungsebene wird recht eindeutig von Mr. Rochesterdominiert. So ist er es denn auch in erster Linie, der in der Figurenre-de Deutungen des Verhaltens seiner Ehefrau liefert, wobei er - gerade-zu im wörtlichen Sinne - auf die Strategie der Dämonisierung zurück-greift, wenn er sie beispielsweise als >demon< oder >that fierce ragout<bezeichnet und von ihrem Aufenthaltsort als >the mouth of hell<. sprichtund einen Kontrast zwischen Jane und Bertha etabliert. Grace Poole, dievon Rochester als Wärterin für Bertha eingestellt wurde, ist die einzigeder anwesenden Frauenfiguren, die sich am Dialog beteiligt. Jane, dieim Verlauf des Romans sonst im Figurendialog durchaus oft durch sehrselbstbewusste Außerungen hervortritt, die deutlich ihre eigene Positionerkennen lassen, scheint es die Sprache verschlagen zu haben. Die Auße-rungen der ersten Mrs. Rochester beschränken sich auf Lautäußerungen,die mit menschlicher Sprache nichts gemein zu haben scheinen und diesogar durch die Wahl der Verben und durch Vergleiche als tierartige Lautekategorisiert werden: >it [...] growled like some strange wild animal<<, >>Afierce cry<, >jThe maniac bellowed<, )fiercest yells<. Das Fehlen von Rede-anteilen der beiden wichtigsten weiblichen Figuren in der Szene lässt sichals Wirksamwerden patriarchalischer Strukturen deuten.

Musterinterpretation :Charlotte Brontöslane Eyre

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Musterinterpretation :Charlotte Brontäs

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Die Tatsache, dass mit dem Ausbleiben von verständlichen sprachli-chen Außerungen eine klare Konturierung von Berthas Perspektive fehlt,ist nicht nur seitens der feministischen Literaturwissenschaft hervorge-hoben worden. Schriftstellerinnen aus dem 20. Jahrhundert, allen voranJean Rhys mitWide Sargasso Sea (1966), haben sich in fiktionalen Textenum eine >Rekonstruktion< der Perspektive der Madwoman in the Attic< be-müht. Das Fehlen sprachlicher Außerungen Berthas in dem obigen Text-ausschnitt lässt sich auch vor dem Hintergrund der Sprachkritik des fran-zösischen Feminismus lesen. Die Tatsache, dass die erste Mrs. Rochestersich nicht durch sprachliche Außerungen artikuliert, sondern lediglichdurch Schreie. Knurren oder - an anderen Stellen im Roman - durch Ge-lächter, scheint sie im Sinne der Vorstellungen von einer männlich be-setzten sprachlich-symbolischen Ordnung in den vorsymbolischen,vorsprachlichen und damit weiblichen Bereich zu verweisen. Ihre Aus-grenzung und der ihr zugeschriebene Wahnsinn lassen sich demnach alsMarginalisierung des Weiblichen in der patriarchalischen Ordnung lesen.

Die Bedeutung, die dem Fehlen sprachlicher Außerungen seitens derersten Mrs. Rochester zukommt, lässt sich durch den Vergleich der obi-gen Textstelle mit der Interpretation dieser Szene in einer der jüngsten

Verfilmungen des Romans zusätzlich verdeutlichen. Während die meis-ten Verfilmungen dem Roman insofern folgen, als sie der >Madwoman inthe Attic< keine sprachlichen Außerungen in den Mund legen, äußert dieFigur in der BBC-Verfilmung aus dem Jahr 2006 ein Wort, welches aller-dings hochgradig semantisch aufgeladen ist: Sie sagt, zu Jane gewandt,>puta< (spanisch für >Hure<). Durch dieses eine Wort eröffnet sich für dieZuschauer/innen eine völlig neue Lesart der Figur. Wenn die erste Mrs.Rochester Jane als >Hure< anspricht, dann signalisiert dies, dass die gefan-gengehaltene Frau die Situation versteht, was ihre Klassifizierung als geis-

tig verwirrt zumindest partiell in Frage stellen muss. Dass sie Spanischspricht, unterstreicht zudem ihre Herkunft aus einer der Kolonien in derKaribik - ein Aspekt, der seitens der Forschung immer wieder als Grundfür eine doppelte Marginalisierung (d. h. aufgrund ihres Geschlechtsund ihrer Herkunft) herausgestellt wird, die sie zu einem Opfer in der bri-tischen patriarchalisch organisierten Gesellschaft macht.

Neben den Stimmen, die sich im Dialog äußern, ist auch die Erzäh-lerstimme von zentraler Bedeutung für die Interpretation' In der obenzitierten Textstelle ist es - wie auch sonst durchgängig in lane Eyre - dieTitelfigua die ihre eigene Geschichte aus der Retrospektive erzählt. ImVerlauf der Erzählung tritt sie auch immer wieder durch wertende Kom-mentare sehr deutlich als erzählendes Ich in Erscheinung. Die Tatsache,dass Jane ihre eigene Geschichte erzählt, wird in der Forschung oft alsAkt der Handlungsermächtigung (agency) betrachtet. Aber welche Im-plikationen hat die Rolle von Jane als Erzählinstanz speziell für die In-terpretation der obigen Textstelle? Die von negativ konnotierten Begriffendurchsetzte Darstellung der ersten Mrs. Rochester gibt das Entsetzen undden Abscheu wieder, den die Protagonistin offenbar beim Anblick der ge-fangengehaltenen Frau empfindet. Anzeichen von weiblicher Solidarität

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oder auch nur von Empathie, die aus feministischer Sicht von großem In-teresse wären, sucht man in der obigen Textstelle vergeblich. Die Art undWeise. wie Jane die ihr fremde Frau in der Textstelle darstellt. erweckt denEindruck, dass die Sichtweise der Protagonistin maßgeblich durch patri-archalische Denkmuster geprägt ist. An anderen Stellen im Roman findensich hingegen durchaus Hinweise darauf, dass Jane für die gefangenge-haltene Frau Mitgefühl verspürt (s. S. 328). Die Frage, ob man Jane auf-grund ihrer hochgradig negativen Darstellung der ersten Mrs. Rochestereine >Komplizenschaft< mit patriarchalischen Denkmustern unterstellenkann, muss im Zusammenhang mit jenen Lesarten gesehen werden, die -

im Sinne des Konzepts des d.oable-voiced.iliscoanse - Parallelen zwischenJane und Bertha herausgearbeitet haben.

Doppelgängermotiv: In der feministischen Literaturwissenschaft wirdBertha oft als Doppelgängerin oder >dunkler Spiegel< Janes interpretiert,denn Bertha bringt in der oben zitierten Szene jene verzweifelte Wut zumAusdruck, die Jane in ihrer Kindheit ebenfalls erlebt hat und die sie imVerlauf ihrer Erziehung [weitgehend) zu kontrollieren gelernt hat. AlsKind, im Haushalt ihrer Tante Mrs. Reed, wurde Jane von verschiedenenFiguren als wahnsinnig bezeichnet oder mit einem Tier verglichen (>>badanimal<, 41; >rat<, 42; >mad caI<<, 44; >wild cat<<, 59). Zudem machte sie- ähnlich Bertha - die Erfahrung von Gefangenschaft. Als Strafe für feh-lenden Respekt und aggressives Verhalten wurde Jane von ihrer Tante im>red room< eingesperrt und sollte zunächst sogar von den Bediensteten aneinen Stuhl gebunden werden (Kapitel 2), was eine offensichtliche Paral-lele zur Behandlung, die Bertha erfährt, bildet (>>with more rope [...] hebound her to the chair<|. Die eindringliche Darstellung der Angste, die der>red room< in dem Kind Jane auslöste, macht die red room-Szene zu einerder einprägsamsten des Romans. Mit Freud ließe sich Bertha aufgrund derParallelen zur Protagonistin als Repräsentation von Janes >Es<, von ihrenunterdrückten Aggressionen und sexuellen Trieben, interpretieren. ImSinne des double-voiced discourse lassen sich folglich Janes Abscheu undEntsetzen beim Anblick von Bertha nicht nur als Komplizenschaft mitder patriarchalischen Gesellschaftsordnung lesen, sondern auch als Aus-druck der Angst vor einer Seite ihrer Persönlichkeit, die ihr in der Kindheiteine Marginalisierung eingebracht hat, die derjenigen, die Bertha erfährt,durchaus ähnelte. Jane scheint in der oben zitierten Szene zu beobachten,was auch ihr in der patriarchalischen Gesellschaft droht, wenn sie sichderen Normen nicht fügt.

Blick: Von Interesse ist in der oben zitierten Textstelle auch die Insze-nierung des Blicks, der allerdings weniger erotische Konnotationen zuhaben scheint als vielmehr die groteske Erscheinung Berthas und derenMarginalisierung zusätzlich unterstreicht. Es ist in erster Linie Roches-ter. der die Blicke der Anwesenden lenkt und damit ebenso wie durchseine sprachlichen Außerungen implizit Autorität für sich beansprucht.Schon die Art und Weise, wie er die Anwesenden in den Raum führt,macht diesen geradezu zur Bühne. Seine gefangengehaltene Ehefrau wirdals Soektakel inszeniert. In ihrer Monstrosität und scheinbar fehlenden

Musterinterpretation :Charlotte BrontäsJane Eyte

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Page 16: Gymnich Gender Studies

Kritik der Methode

Menschlichkeit wird sie zum Gegenstand des kollektiven (scheinbarmitleidlosen) Blicks der Anwesenden. Auf diese Weise wird ihr Statusals Objekt, der auch durch das oben erläuterte Fehlen von Redeanteilenevoziert wird, zusätzlich betont. Aber auch Jane wird von Rochester zumGegenstand des kollektiven Blicks und zum Objekt reduziert, wenn erim Kontext des Vergleichs der beiden Frauen, verbunden mit einer besitz-ergreifenden Geste, sagt: >rAnd this is what I wished to have< (laying hishand on my shoulder)<. Wenngleich der Kontrast zwischen den beidenFrauenfiguren in der obigen Szene sicher dominant ist, sind also sogar indieser Szene Parallelen angelegt, wenn man die Blickstrategien berück-sichtigt. Eine Beschäftigung mit der Inszenierung des Blicks in den un-terschiedlichen Verfilmungen des Romans ist ebenfalls äußerst ergiebigund vermag zusätzlich zu betonen, welche Bedeutung dem Blick für eineInterpretation im Kontext feministischer Lesarten zukommt. So kommt esbeispielsweise in Zeffirellis Verfilmung zu einem längeren Blickkontaktzwischen Jane und Bertha, der auf eine Verbindung zwischen den Figu-ren hinweisen kann.

Handlungsermächtigung: Die Frage nach der Handlungsermächtigungsteht in der zitierten Textstelle in engem Zusammenhang mit der Seman-tisierung des Raumes. Die Tatsache, dass Bertha gefangengehalten wird,soll ein folgenreiches Handeln der Figur verhindern. Dennoch ist nichtnur ihre Existenz für den Handlungsverlauf wichtig (als Hindernis fürdie Heirat von Jane und Rochester), sondern auch ihr aktives Handeln.Immer wieder gelingt es ihr, aus ihrem Gefängnis zu entkommen unddamit unwissentlich wichtige Wendepunkte im Handlungsverlauf vor-zubereiten. So legt sie eines Nachts Feuer in Mr. Rochesters Schlafzim-mer und führt damit eine wichtige Annäherung zwischen Rochester undJane herbei. Sie ist es auch, die, wiederum durch ein Feuer, die ZerstörungThornfields auslöst, bei der sie selbst den Tod findet. Rochester überlebtdas Feuer, ist iedoch fortan blind und verliert eine Hand. Wie diese Bei-spiele zeigen, sind Berthas Handlungen durchgängig destruktiver Natur,aber auch folgenreich. In ihren destruktiven Aktionen lässt sich Hass derFigur gegen patriarchalische Strukturen, die ihre Gefangenschaft legiti-mieren, erkennen. Dieser Hass mag angesichts ihrer Situation durchausfür manche Leser/innen nachvollziehbar sein, wie die in der feministi-schen Forschung häufig anzutreffende Interpretation der Figur als Opferzu erkennen gibt.

12.4 1 Kritik der Methode

Die feministische Literaturwissenschaft und die Gender Studies gehörenzu jenen Ansätzen, die aus der Literaturwissenschaft nicht mehr wegzu-denken sind, wie die überwältigende Zahl von Studien, die aus diesen Be-reichen vorliegt, nachdrücklich unter Beweis stellt. Wie eingangs bereitsbetont wurde, ist für die feministische Literaturwissenschaft wie auchfür die Gender Studies ein Methodenpluralismus kennzeichnend, der

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schon aus den unterschiedlichen theoretischen Ansätzen resultiert, dieunter diesen Begriffen subsumiert werden. Insgesamt hat in der feminis-tischen Literaturwissenschaft und den Gender Studies im Vergleich zumanchen anderen Ansätzen eine deutlich weniger intensive Methoden-diskussion stattgefunden. Aufgrund der interdisziplinären Ausrichtungder feministischen Literaturwissenschaft und in noch stärkerem Maßeder Gender Studies wird die Methodik vielfach anderen Disziplinen oderAnsätzen entlehnt, so etwa psychoanalytischen oder dekonstruktivisti-schen Ansätzen. Generell ist gerade bezüglich der feministischen Litera-turwissenschaft eine Tendenz festzustellen, die Frage nach inhaltlichenAspekten, also etwa nach der Darstellung geschlechtsspezifischer Rol-lenerwartungen oder Entwicklungsverläufe, gegenüber der Frage nachden zum Tragen kommenden Darstellungsverfahren, also dem >Wie<,einseitig zu privilegieren. Die feministische und gender-orientierte Er-zähltheorie, die eine ausdifferenzierte, medienadäquate Methodik zurAnalyse der Zusammenhänge zwischen inhaltlichen und strukturellenAspekten entwickelt hat, wird bislang nur zögernd rezipiert und findet inder überwiegenden Mehrzahl der Studien aus dem Bereich der feministi-schen Literaturwissenschaft und der Gender Studies nach wie vor keinenNiederschlag.

Gerade bei feministisch ausgerichteten Studien älteren Datums un-terbleibt bisweilen eine Berücksichtigung der ästhetischen Dimensionliterarischer Texte. Erst dann, wenn man die medien- und gattungsspe-zifischen Möglichkeiten von Texten bei der Inszenierung der Kategorie>Geschlecht< in den Blick nimmt, vermag man dem besonderen Leistungs-vermögen von Literatur als >Interdiskurs< (sensu Jürgen Link) gerechtzu werden. Ina Schabert hat in den beiden Bänden ihrer 1997 und 2006veröffentlichten Geschichte der englischen Literatur aus der Sicht der Ge-schlechterforschung modellhaft gezeigt, wie sich die Beschäftigung mitsoziokulturellen Faktoren, die Berücksichtigung der Produktions- undRezeptionsbedingungen in Abhängigkeit vom Geschlecht und eine konse-quente Auseinandersetzung mit inhaltlichen und strukturellen Aspektenliterarischer Texte äußerst produktiv verbinden lassen.

Feministisch ausgerichtete tnd gender-orientierte Ansätze haben sichin Bezug auf realistische Texte ebenso wie bei der Analyse experimen-teller Texte als außerordentlich ergiebig erwiesen. Experimentelle Texte,welche die Stabilität der Kategorie >Geschlecht< - im kulturellen wie auchim biologischen Sinne - in Frage stellen, wie es etwa Virginia Woolfs Ro-man Orlando (1928) oder Jeanette Wintersons Roman Written on the Body(1992) tun, bieten eine exzellente Projektionsfläche für feministische undgender-orienlierte Studien. Wie die Arbeiten aus dem Bereich der feministischen Literaturwissenschaft und der Gender Studies gezeigt haben,eignen sich diese beiden Ansätze keineswegs nur für Texte von Autorin-nen oder gar für Texte mit einer dezidiert feministischen Agenda, wennauch die Analyse solcher Texte besonders ergebnisreich sein mag. Textemännlicher Autoren erweisen sich ebenfalls als aufschlussreich für eineAnalyse im Sinne der feministischen Literaturwissenschaft und der Gen-

Kritik der Methode

t",

Page 18: Gymnich Gender Studies

Literatul

Literatur

der studies, wie schon die Frauenbildforschung in der ersten Phase der

feministischen Literaturwissenschaft unter Beweis gestellt hat.

Der Ansatz des französischen Feminismus eignet sich sicherlich in

besonderem Maße für solche Texte, die in experimenteller Weise mit

sprachlichen und strukturellen Darstellungsverfahren umgehen. Die

Privilegierung einer Form des Schreibens' die durch ein hohes Maß an Re-

gelverstößen gekennzeichnet ist und damit den Vorstellungen von weib-

Iichem Schreiben (öcriture fömintne) entspricht, ist nicht zuletzl deshalb

kritisiert worden, weil experimentelles Erzählen in Werken von männli-

chen Autoren wie Jean Genet oder James Joyce bisweilen als Musterbei-

spiel weiblichen Schreibens betrachtet worden ist.Wie die obige Beispielinterpretation zeigen sollte, kann neben dem

weiblichen Schreiben auch das Schweigen in produktiver Weise vor dem

Hintergrund von Vorstellungen des französischen Feminismus gelesen

werden. Die Interpretationen in dem von Ingeborg Weber herausgegebe-nen sammelb and weiblichkeit und weibliclrcs schreiben. Poststrukturalis-mus, weiblicheÄsthetik, kalturelles selbstverständnis zeigen exemplarisch

die Möglichkeiten auf, die speziell der Ansatz des französischen Feminis-

mus für die Interpretation von von Frauen verfassten literarischen Texten

bietet, gehen aber auch kritisch auf die Grenzen dieses Ansatzes ein'

Insgesamt handelt es sich bei den Ansätzen, die unter den Begriffen

feministische Literaturwissenschaft und Gender studies subsumiert wer-

den, um äußerst produktive Ansätze für die Interpretation fiktionaler

Texte. In theoretischer wie auch in methodischer Hinsicht bieten sich viel-

fältige Möglichkeiten für eine Verknüpfung mit anderen in diesem Band

vorgestellten Methoden, so etwa psychoanalytischen, postkolonialen oder

auch narratologischen Ansätzen.

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