H. Oberhauser - download.e-bookshelf.de

30

Transcript of H. Oberhauser - download.e-bookshelf.de

Page 1: H. Oberhauser - download.e-bookshelf.de
Page 2: H. Oberhauser - download.e-bookshelf.de
Page 3: H. Oberhauser - download.e-bookshelf.de

H. Oberhauser

Die blaue DeckeHinrichtung einer Kinderseele

Page 4: H. Oberhauser - download.e-bookshelf.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek

verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie .

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern-sehen, fotomechanische Wieder-

gabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen

Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2011 novum publishing gmbh

ISBN 978-3-99003-628-0Lektorat: Mag. Tamara BarmüllerUmschlagfoto und -gestaltung: H. OberhauserLayout & Satz: novum publishing gmbh

Gedruckt in der Europäischen Union auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier.

www.novumpro.com

A U S T R I A · G E R M A N Y · H U N G A R Y · S P A I N · S W I T Z E R L A N D

w w w . n o v u m p r o . c o m

Page 5: H. Oberhauser - download.e-bookshelf.de

Meiner geliebten Christi und meiner Tochter Evi gewidmet

Page 6: H. Oberhauser - download.e-bookshelf.de
Page 7: H. Oberhauser - download.e-bookshelf.de

7

Der Schmerz, den sie mir zufügte, brannte sich unaus-löschlich in meinen Körper und in meine Seele ein. Damals spürte ich aber nur den körperlichen Schmerz,

diesen furchtbaren Schmerz, der sich von meiner Hand ausgehend wie eine Flamme in meinem Körper ausbreitete. Sie tat mir weh, aber ich konnte nicht weinen, ich spürte den süßen Geschmack meines Blutes im Mund, als ich mir in meine Lippen biss. Ihre linke Hand hielt mein rechtes Handgelenk wie ein Schraubstock, ihr dickes rundes Gesicht verzerrte sich zu einer höhnischen Gri-masse, als sie mir mit der Rechten einen glühenden Feuerhaken, den sie kurz zuvor aus der Glut im offenen Kochherd genommen hatte, auf den rechten Handrücken drückte. Der beißende Rauch meines eigenen verbrannten Fleisches stieg mir in die Nase. Ihre kleinen kurzsichtigen Augen sahen mich hinter den dicken Bril-lengläsern hasserfüllt an, ihre f leischigen Lippen zischten etwas, was ich nicht verstand. Das Feuer im noch immer geöffneten Kochherd verschwamm mir vor Augen. Ich pinkelte mir in die Hose, spürte es in meiner schwarzen Turnhose warm werden, spürte, wie es mir warm und nass entlang meiner nackten In-nenschenkel zu Boden rann.Ich fiel nach hinten zu Boden, als sie abrupt mein Handgelenk losließ. „Die Drecksau pisst sich an!!“ Ihre Stimme überschlug sich kreischend, während sie den Feuerhaken auf den Herd warf. „Wisch das auf, du Sau, du elendige!!“ Ein Tritt traf mich seit-lich in die Rippen. Ich versuchte meinen Handrücken zu schüt-zen, aber es war mir nicht möglich, da bei jeder Berührung mei-ner Hand ein neuerlicher Schmerz durch den Körper jagte. „Steh auf, wisch das weg, du Sau, du elendigliche!!“ Ihre Stimme klang wie eine Kreissäge in meinen Ohren und die Tritte, die mich mit

Page 8: H. Oberhauser - download.e-bookshelf.de

8

voller Wucht überall an meinem Körper trafen, spürte ich kaum mehr. Ich versuchte aufzustehen, versuchte mit der linken Hand den Putzfetzen zu nehmen, der unter dem Herd lag, als ich wie-der unter der Wucht der Tritte, die mich trafen, zu Boden fiel.Meine Bemühungen, den nassen Fleck, der sich auf dem schmut-zigen Boden gebildet hatte, mit dem noch schmutzigerem Putz-fetzen zu entfernen, war total sinnlos, da sich der Urin schon in den Bretterboden gesogen hatte. Aber ich wischte und wischte, als würde ich alles Unheil damit entfernen. Durch meine Schmerzen und meine Angst hörte ich aus weiter Ferne ihr Gekreische.„Wasch den Fetzen aus, du Sau! Und wasch deine Hose, oder glaubst du, ich mache das!! Glaubst, ich habe einen Geldscheißer, dass ich dir eine neue kaufe?!“ Wieder ein Tritt, der mich traf. In der linken Hand den Fetzen stolperte ich zur Zimmertür, die auf den spärlich erleuchteten Gang führte, der längs durch die Bara-cke verlief, in der wir wohnten. Gleich links ging es durch einen Vorraum, der durch eine Holztür vom Gang getrennt war. Von diesem Vorraum aus führte wieder links eine graue Holztür in einen Raum mit vier Waschmuscheln aus grauem Terrazzo. Die fünfte war aus weiß emailliertem Eisen. Mit dem Messinghahn war diese für das Trinkwasser bestimmt. Ich versuchte nun mit der linken Hand den Wasserhahn über einer der Terrazzowasch-muscheln aufzudrehen und warf den stinkenden Fetzen in das Be-cken. Ich zitterte am ganzen Körper. Vielleicht war es die nasse Hose oder der Schmerz, ich wusste es nicht. Weinen konnte ich immer noch nicht. Ich versuchte die Hose von meinem Körper zu ziehen. Diese klebte nass und kalt an mir. Endlich hatte ich die Hose ausgezogen und ich stand nackt, nur mit einem blauen Leibchen bekleidet, vor der Waschmuschel, deren kaltes Wasser bereits übergelaufen war. Das Wasser f loss, sich in eine Lache ver-breitend, über den Betonboden zur Mitte des etwa 16 m2 großen Raumes, wo es in einen durch ein Gusseisengitter abgedeckten Kanal abf loss. Nun warf ich meine nasse schwarze Turnhose in das Wasser im Becken und f lüchtete mich mit meinen nackten Füßen hinter den Kanonenofen, der gleich links, getrennt durch einen Mauervorsprung, neben der Eingangstür stand.

Page 9: H. Oberhauser - download.e-bookshelf.de

9

Beheizt war dieser Ofen nie. Wer sollte ihn auch beheizen? Viele Personen und Familien, die in diesem Obdachlosenlager wohn-ten, konnten kaum ihre eigenen Wohnräume heizen.Ich kauerte also hinter diesem Ofen, in der kindlichen Hoffnung eines Fünfjährigen, der ich damals war, dass mich hier niemand mehr f inden würde und mir keiner mehr Schmerzen zufügen konnte. Es schüttelte mich am ganzen Körper vor Kälte, Schmerz und Angst. Ich begann zu weinen. Eigentlich war es kein Wei-nen, sondern eher ein Wimmern, denn ich hatte Angst, dass mich irgendwer hören könnte. Sie hatte ja recht. Was hatte sie gesagt? „Ich geh zur Ursula ein bisschen tratschen … Stellt nichts an! Helmut, du passt auf Roman und Gerhard auf. Wenn was ist, braucht ihr ja nur zu rufen!“, hatte sie gesagt, als sie zur Frau Stof-fel ging. Ursula, wie sie Frau Stoffel nannte, wohnte gegenüber am Gang, drei Türen weiter, mit ihrem Mann Karl und Sohn Uwe, der um 4 Jahre älter war als ich, also 9. Herr Stoffel mach-te des Öfteren einen guten Kuchen, für den er in einem halbku-gelförmigen Kupferkessel einen Teig anrührte, und wir durften manchmal die Reste ausschlecken, die übrig blieben. Ich musste bestraft werden. Warum musste ich auch zusehen, wie sich mein um ein Jahr jüngerer Bruder Roman stellenwei-se seine hellblonden Locken abschnitt. Wir saßen hinter dem Tisch auf der Bank beisammen, vor uns stand die Petroleumlam-pe und verbreitete ein warmes zuckendes Licht. Ich weiß nicht mehr, wer oder wie wir auf die Idee gekommen sind, Romans Lockenspitzen über der Stirn abzuschneiden und über die Öff-nung des Glaszylinders der Lampe zu halten. Es war aber auch zu schön, wenn sie mit einem Zischen, hell auf lodernd, verbrann-ten. Gleichzeitig stank es so schön. Ich hätte auf ihn aufpassen müssen, dass er so etwas nicht mach-te. Aber ich hatte ihn sogar ermuntert, noch mehr seiner Haa-re in die warme Petroleumf lamme zu werfen. Es war einfach zu schön. Außerdem waren es seine Haare und scheinbar tat es ihm ja auch nicht weh, wie das Glänzen über das abendliche Aben-teuer in seinen Augen zeigte.

Page 10: H. Oberhauser - download.e-bookshelf.de

10

Nein, es war lustig. Es gefiel uns einfach, das Zischen und der Geruch der verbrannten Haare.Wir hielten in unserem Tun erschrocken inne und Roman ver-kroch sich sofort unter der Bank, als die Tür aufging und unsere Mutter hereinkam. „Was stinkt denn hier so erbärmlich?!“ Sie hielt in der offenen Tür inne. „Was treibt ihr denn da?!“ Sie schloss die Tür und schaute sich, die Nase rümpfend und die Luft zwei-mal kurz einsaugend, um. In dem schlecht erleuchteten Raum konnte sie die Situation nicht sofort erkennen. „Roman, was machst du unter der Bank?! Komm sofort hervor!“ Sie bückte sich und schaute ein bisschen verwundert unter den Tisch. Zögernd kam Roman unter der Bank hervor. Ihr Blick er-starrte, sie glaubte, im schlechten Licht der Petroleumlampe nicht richtig zu sehen. Sie nahm Roman bei der Schulter und drehte ihn mit einem so abrupten Ruck zum schwachen Lichtschein der Lam-pe, dass er beinahe gefallen wäre. Da sah sie die Bescherung.Der geschrienen Frage „Wer hat dir die Haare abgeschnitten??“ folgten sofort – ohne Chance auf eine Antwort – zwei Schläge mit dem f lachen Handrücken ins Gesicht von Roman.Dem schoss sogleich Blut aus der Nase und breitete sich Rich-tung Oberlippe aus.Inzwischen war unser im Nebenraum schlafender einjähriger Bruder Gerhard aufgewacht und hatte zu schreien begonnen. Aber es kümmerte niemanden.Roman kroch aufheulend sofort wieder unter den Küchentisch, von dem aus er gleich wieder die Flucht unter die Bank fort-setzte. Mutter warf mit einem Ruck einen der Holzsessel, die an der Stirnseite des Tisches standen, zur Seite, sodass er krachend am Boden landete. „Wer war das!!“, schrie sie weiter und versuchte ihn an den Haa-ren unter der Bank hervorzuziehen.Als es ihr endlich gelang, den schreienden und sich wehrenden Roman unter dem Tisch hervorzuziehen, und dieser aufgab, weil er erkannte, dass er gegen Mutter keine Chance hatte, schrie er noch mehr und hielt sich beide Arme schützend über seinen Kopf, um die zu erwartenden Schläge im Vorhinein abzuwehren.

Page 11: H. Oberhauser - download.e-bookshelf.de

11

„Wer war das?!! Wer hat die Haare geschnitten?!!“ Ihr Schrei-en steigerte sich hysterisch wie das Geheul einer Sirene, die ich vom Feueralarm der Lagerwache kannte, dazwischen schrie unser Bruder Gerhard im Nebenraum. „Er, er, er wars!“ Romans beide Arme zeigten ausgestreckt auf mich und immer wieder schrie er laut und voller Angst: „Er, er, er …!“ Mutter ließ ihn los. Er taumelte, und so schnell er konnte, war er unter Angstgeheul und dem Geschrei von Gerhard, das auch immer lauter wurde, unter dem Tisch und hinter der Bank ver-schwunden.„Komm sofort her …!“ Sie schaute mich wütend über den Tisch weg an.Ich kroch von der Bank hinter dem Tisch hervor, auf der ich im-mer noch vor Angst wie versteinert saß.„Komm her, oder soll ich dir Beine machen, du Gfrast. Ich wer-de dir zeigen, wie heiß Feuer ist! Du wirst nie wieder eine Sche-re oder ein Feuer angreifen!!“Sie ergriff mein rechtes Handgelenk und zerrte mich zum Herd, ließ sich auf den davor stehenden Sessel fallen und öffnete das Ofentürchen. Ich sah die rote Glut und wie sie den Feuerhaken in diese legte.Wie gesagt: Sie hatte ja recht! Ich hätte auf Roman und Ger-hard aufpassen sollen!

Ich wollte nicht weinen, ich wollte zu meiner Tat stehen. Es war mir aber nicht möglich. Die Augen quollen über und ein Schluch-zen schüttelte mich. Ich war ganz in mich zusammengesunken. Mit meinem nackten Popo saß ich auf dem kalten Betonboden, aber ich glaube, dass ich das gar nicht gespürt habe. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich hinter dem Ofen saß. Die Augen brannten mir von den Tränen, im Mund hatte ich einen süßlich-salzigen Geschmack, als sich die Tränen mit dem Blut meiner Lippen, auf die ich mich ja gebissen hatte, vermischten. Nicht nur der ver-brannte Handrücken, der ganze Arm schmerzte mich. Die Käl-te schüttelte meinen gesamten Körper. Als meine Tränen lang-

Page 12: H. Oberhauser - download.e-bookshelf.de

12

sam trockneten, nahm ich meinen ganzen Mut zusammen, um mir meine Hand anzusehen. Was ich da sah, verschwamm sofort wieder vor meinen Augen, denn die Tränen schossen mir angesichts des Anblickes, der sich mir bot, sofort wieder, ohne dass ich es wollte, in die Augen. Über die Breite des rechten Handrückens war die Haut schwarz verbrannt. Blasen und Hautfetzen zogen sich entlang einer klaffenden dunkelroten Wunde, die seltsamerweise aber nicht blutete. Die Hand selbst war gerötet und dick angeschwollen. Am Handgelenk sah man – wie ein dunkelrotes Armband – eine Strieme, die von der Umklammerung meiner Mutter her stammte.Durch diesen Anblick wurden meine Schmerzen noch hefti-ger. Ich konnte die Hand vor lauter Zittern kaum ruhig halten. Selbst wenn ich nur einen meiner Finger zu bewegen versuch-te, was mir kaum möglich war, jagte ein furchtbarer Schmerz durch meinen Arm.Durch meine Verzweif lung hörte ich plötzlich Schritte im Vor-raum. Ich versuchte ganz ruhig zu sein. Eine lähmende Angst beschlich mich. Kam „sie“ mich kontrollieren, ob ich den Fet-zen und meine Hose schon gewaschen hatte? Als sich die Tür-schnalle bewegte und die Tür aufging, verkroch ich mich noch weiter hinter dem Kanonenofen.Es war aber, Gott sei Dank, die etwas mollige Gestalt von Frau Stoffel, die hereintrat. Trotz der Erleichterung, dass es nicht „sie“ war, rührte ich mich nicht. „Was ist denn da los!?“ Frau Stoffel sah die Überschwemmung und startete zu dem noch immer laufenden Wasserhahn. Sie beugte sich vorsichtig über den kleinen Fluss am Boden, der gluckernd im Abf luss verschwand. Als sie den Wasserhahn abgedreht hat-te, dürfte sie mein Schluchzen, das ich trotz aller Mühe, die ich mir gab, nicht unterdrücken konnte, gehört haben. Sie schaute um den Mauervorsprung und sah mich hinter dem Ofen kauern.

Page 13: H. Oberhauser - download.e-bookshelf.de

13

„Ja Helmut, was ist denn mit dir los!?“ Ihr Blick war in diesem Moment eher belustigt über die Situation, in der sie mich vor-fand. Noch konnte sie ja nur mein verweintes Gesicht sehen.„Komm hervor da. Warum versteckst du dich vor mir? Du weinst ja. Was ist los? Ich bin ja kein Gespenst!“ Sie streckte mir ihre Hand entgegen. „Ja, wer hat dir denn deine Hose geklaut? Du verkühlst dich ja hier und wirst krank.“ Ihre Stimme war gütig. Für mich war der besorgte Klang, der mitschwang, wie Balsam auf meiner gequälten Seele. Ich versuchte, ohne meine rechte Hand zu bewegen, hinter dem Ofen hervorzukriechen. Da stand ich nun vor ihr, halb nackt, vor Kälte und vor Schmerzen zitternd. Ich schämte mich. Ihr Blick, der zwar gütig und ein bisschen sorgenvoll war, zeigte aber trotz-dem eine gewisse Belustigung.„Wieso versteckst du deine Hand?!“ Sie griff nach meiner Rech-ten, die ich sorgsam hinter meinen Rücken zu verstecken ver-suchte. „Aaah …“ Ich musste kurz aufschreien, als sie versuchte, meine Hand hinter meinen Rücken hervorzuziehen. Der gütige und belustigende Ausdruck in ihrem Gesicht verschwand schlag-artig, als sie meine Hand sah. „Was ist denn das? Was hast du da gemacht?!“ Ihr Gesichtsaus-druck spiegelte mit einem Mal blankes Entsetzen wieder.Ihre jetzt leise Stimme klang ein bisschen zittrig und brüchig.„Wo ist denn deine Mutter?! Das muss man ja verbinden!!“ Ir-gendwie war sie in diesem Moment hilf los. „Mama wars“, waren die einzigen Worte, die ich über meine eingetrockneten zusammengeklebten Lippen brachte. Aber die-se Worte bereute ich sofort wieder, denn ich wollte nicht, dass Frau Stoffel von meiner Schandtat erfuhr.„Nein, nein, ich wars. Ich habe mich verbrannt!!“ Sofort versuch-te ich die Schuldzuweisung an meine Mutter zu korrigieren. Sie schaute mich an. Ihr Blick war wissend und fragend zu-gleich.„Komm, wir gehen hinein, dass du ins Warme kommst!“ Das waren ihre einzigen Worte auf meine Erklärung. Ihre Stimme klang wieder fest und gütig. Ich konnte den Ausdruck ihrer Au-

Page 14: H. Oberhauser - download.e-bookshelf.de

14

gen in diesem Moment nicht deuten, aber es durchströmte mich ein warmes dankbares Gefühl. Sie nahm mich bei der linken Hand, vorsorglich auf meine rech-te schauend und zog mich hinter sich Richtung Tür.An der Decke des langen Ganges waren vier emaillierte Blech-lampenschirme mit je einer 60 Watt Glühbirne. In diesem kar-gen Licht schien der Bretterboden noch dunkler und schmutzi-ger, als er wirklich war. Links und rechts des Ganges waren je sechs Türen zu sehen. Neben den Türstöcken hing jeweils ein kleines Holzkasterl, in demselben grauen Lack gestrichen wie die Türen selbst. In diesen Kasterln verbargen sich Stromzähler für die einzel-nen Zimmer, in denen Einzelpersonen und Familien eine Blei-be gefunden hatten und die daher als Wohnungen bezeichnet wurden. Uns war zu dieser Zeit gerade wieder einmal die Stromzufuhr abgeschaltet worden, weil meine Mutter die Gebühren, wie so oft mangels Geld, nicht bezahlt hatte. Wir mussten uns daher abends mit Petroleumlicht behelfen.Die erste Tür, gleich rechts nach der Gangtür, war die zu unse-rer Wohnung. Als Frau Stoffel, ohne vorher anzuklopfen, was der Höf lichkeit entsprechend üblich war, diese Tür öffnete, glaubte ich mich vor Angst noch einmal anzumachen. Ich drückte mich fest an sie.Meine Mutter saß links hinten, in dem 4 Meter langen und brei-ten Raum, auf dem Sessel beim Tisch und drehte uns den Rü-cken zu. Neben ihr auf der Bank saß Roman und weinte. Wa-rum er weinte, war mir unklar. Ihm war ja nichts passiert. Im Gegenteil, Mutter strich ihm zärtlich durchs blonde Haar und redete mit leiser Stimme auf ihn ein.Sie hatte unser Eintreten scheinbar gar nicht gehört.„Gretl, sag einmal, bist du wahnsinnig geworden?!!“ Frau Stof-fels Stimme klang schneidend durch den Raum. „Wie kannst du so etwas machen? Du gehörst ja ins Irrenhaus. Wieso verbrennst du den Buam. Du bist ja nicht mehr normal!!“ Frau Stoffel hatte entgegen meiner Aussage die Situation sehr wohl erkannt.

Page 15: H. Oberhauser - download.e-bookshelf.de

15

Unsere Mutter fuhr auf dem Sessel herum. Ihr gerade noch zärt-licher Ausdruck, mit dem sie Roman angeschaut hatte, verwan-delte sich zuerst in hässliche Wut, dann aber, als sie in das eisige Gesicht von Frau Stoffel sah, in Angst.Die Hände von Frau Stoffel schoben mich nach vor, ohne mich loszulassen. Meine Furcht verschwand ein bisschen unter ihren festen Händen.An der rechten Wand war ein kurzer Teil aus weiß gekalktem Mauerwerk. Vor dieser Mauer stand der schwarze Herd. Die Herdplatte war mit silbernen Stahlschienen umrahmt. Das lan-ge schwarze Ofenrohr steckte in dem ebenfalls weiß gekalkten Kamin. Trotz der Wärme, die er ausstrahlte und die angenehm auf meine durchgefrorene Haut traf, ergriff mich bei seinem Anblick Panik.Angst stieg in mir hoch. Ich drückte mich wieder fest gegen Frau Stoffel. Als ob sie ein Gespür dafür hätte, wurde ihr Griff beruhigend fester.„Du brauchst keine Angst zu haben, ich bin ja da.“ Sie beugte sich beruhigend zu mir herunter.Ich werde dieses Gefühl der Dankbarkeit, das ich damals ihr gegen-über verspürte, mein ganzes Leben lang nicht mehr vergessen.„Hol eine Decke! Oder soll er noch eine Lungenentzündung be-kommen, du irres Weib! Du gehörst ja eingesperrt!“, herrsch-te sie meine Mutter lautstark an. Ihre Hände umfassten meine Schultern und sie drückte mich fest gegen ihre Seite. Ein war-mes Glücksgefühl durchströmte mich und ich wünschte mir in diesem Augenblick, dass es ewig anhalten möge.Aus dem Nebenraum war das Schreien von Gerhard verstummt. Wahrscheinlich war er eingeschlafen.Wie in Zeitlupe erhob sich Mutter, aus ihrer Starre erwachend, von ihrem Sessel und bewegte sich in Richtung des türlosen Durchganges, der sich in der linken Wand gegenüber dem Herd befand und in einen Nebenraum führte. Eigentlich war das kein Nebenraum, sondern gleichfalls ein Zimmer, dessen Tür auf den Gang führte.

Page 16: H. Oberhauser - download.e-bookshelf.de

16

Da wir aber mit Vater, Mutter und vier Kindern eine größere Fa-milie waren, hatten wir von der Lagerverwaltung dieses zweite Zimmer dazubekommen. Irgendwer hatte dann in die Trenn-wand, die ja nur aus 8 cm dicken Holzwänden mit Bretterver-kleidung bestand, einen Durchgang gemacht und mit einem Tür-rahmen abgestützt. So hatten wir eine „Zweizimmerwohnung“, indem man einfach vor die Tür, die vom Nebenraum auf den Gang führte, einen Kleiderkasten stellte.Als Mutter wieder aus dem Nebenzimmer kam, hatte sie meine blaue Wolldecke unterm Arm.Richtig gesehen war die Decke auf einer Seite dunkelblau, auf der anderen Seite hellblau.Sie war aus zwei Stücken zusammengenäht und mit einem zwei Zentimeter breiten glänzenden hellblauen Stoff umsäumt. Ich hat-te die Decke von der Schwester meines Vaters, also meiner Tante, als Weihnachtsgeschenk bekommen. Tante Elisabeth, von mei-nem Vater kurz „Lies’“ genannt, arbeitete in Saalfelden in einer Textilfabrik. Sie war meine Taufpatin und hatte mir die Decke als Geschenk aus Reststücken genäht. Frau Stoffel nahm Mutter die Decke mit einem Ruck ab und wi-ckelte mich sofort in diese ein. Sie nahm mich hoch und woll-te mich auf die Kohlenbank setzen, die gleich links neben dem Herd stand.Kaum kamen wir in die Nähe des Herdes, versteifte ich mich auto-matisch, ohne dass mir das bewusst wurde. Ich klammerte mich mit der linken Hand sofort an der Schulter von Frau Stoffel fest.„Du brauchst keine Angst haben, Helmut.“ Sie umfasste mich fester. „Ich will dich ja nur auf die Bank setzen, damit dir wieder warm wird und du nicht krank wirst!“ Ihre Stimme beruhigte mich wie-der und sie setzte mich auf die Kohlenbank neben dem Herd.Als ich die Wärme spürte, verschwand die Angst langsam in mir und ich fühlte mich durch die Decke und Frau Stoffel ge-schützt.„Wie wirst du gemeiner Trampl das dem Toni erklären?“ Frau Stoffel meinte mit Toni meinen Vater, der – noch immer an einer Kriegsverletzung leidend – zu dieser Zeit gerade im Spital war.

Page 17: H. Oberhauser - download.e-bookshelf.de

17

Er hatte eine schwere Operation hinter sich, erzählte uns Mut-ter. Sie sprach von einer „Fünfrippenplastik“. Was immer das auch war, weder konnte ich mit diesem Ausdruck etwas anfan-gen, noch konnte ich mir als Fünfjähriger etwas unter einem Spital vorstellen. Ich wusste auch nicht, was ein Krieg war, aber da alle Welt immer wieder davon redete, musste es ja irgendein furchtbares Geschehen der nahen Vergangenheit sein. Denn im-mer wieder hörten wir, dass die Erwachsenen mit Ehrfurcht und Grauen von diesem Ereignis sprachen. Manchmal schaute ich mir in alten Illustrierten oder Zeitungen, die ich durch Zufall in die Hände bekam, Bilder von Soldaten, Kanonen und Panzern an. Da ich aber damals noch nicht lesen konnte, fand ich diese Bil-der gar nicht so schrecklich, sondern wir spielten manchmal so-gar „Soldaten“, damals im Jahr 1954.„Ich hol jetzt Käthe. Die hat vielleicht eine Brandsalbe. Wir müs-sen ja für den Bub etwas machen, verbinden oder so.“ Frau Stof-fel ging zur Tür. „Lass den Bub ja in Ruh!“, sagte sie, noch be-vor die Tür hinter ihr zuschlug.Es ging mir, abgesehen von dem Schmerz, den ich stechend und brennend in meiner Hand spürte, schon besser. Das Zittern war einer wohligen Wärme gewichen und die Tränen waren restlos getrocknet, wobei meine Augen noch ein bisschen brannten. Ich traute mich kaum, in die Richtung meiner Mutter zu schau-en. Roman saß mit einem ausdruckslosen, aber noch immer ver-weinten Gesicht auf der Bank hinter dem Tisch. Ich glaube nicht, dass er mitbekommen hatte, was hier geschehen war. Ich ver-schwendete keinen Gedanken daran, ob er nun mitschuldig war oder nicht. Ich war nur froh, dass es vorbei war.Mutter saß regungslos mit dümmlich aussehendem Gesicht – ja, ich kann es anders nicht sagen – am Sessel. Sie hatte sich mit den Unterarmen am Tisch aufgestützt und stierte durch ihre dicken Brillen zum Fenster. Ihre Unterlippe hing herab, als gehöre die-se gar nicht zu ihr. Wie gesagt, sie schaute ein wenig dümmlich aus, überhaupt nicht furchterregend. In diesem Augenblick spürte ich keine Angst mehr in mir. Ich wollte sogar zu ihr gehen, ihr irgendetwas Tröstliches sagen,

Page 18: H. Oberhauser - download.e-bookshelf.de

18

aber auch ich war wie sie versteinert, unfähig zu jedweder Be-wegung. Ihre Dauerwellen, wie sie in den Fünfzigern modisch und üb-lich waren, sahen eher struppig und ungepf legt aus, obschon sie sich äußerlich immer hübsch herrichtete und vor allem auf ihre Frisur achtete. Sie hatte eine Lockenschere, die sie immer heiß machte, um ihre Locken zu ondulieren. Wenn sie das machte, schauten wir immer zu und wollten, dass sie auch uns Locken mit dieser Schere drehte. Vor Kurzem hatte sie Roman diesen Wunsch erfüllt und ihm seine blonden Haare zu Locken geformt. Er hatte ihr scheinbar mit diesen Locken sehr gefallen. „Wie ein Engerl siehst du aus!“, schlug sie entzückt die Hände vorm Gesicht zusammen. Vielleicht auch deshalb ihre Wut, weil von den „entzückenden Stirnlocken“ einige fehlten, von mir und Roman abgeschnitten und in der Petroleumlampe verbrannt. Er schaute schon ein bisschen komisch aus. Ein Engerl mit in Stu-fen geschnittenen Stirnlocken.Gab es so ein Engerl überhaupt?„Gretl, bist du deppert wur’n, du gehörst ja in Guglhupf. Dir g’hörn ja die Kinder weggenommen!“ Frau Zemanek war im Schlepptau von Frau Stoffel ins Zimmer gestürmt.Sie war eine 68-jährige, weißhaarige Frau, die gegenüber auf Tür Nr. 1 wohnte. Sie war nicht nur gütig und liebevoll, wir hatten ihr auch sonst viel zu verdanken. Sie lehrte uns im Wald gute von giftigen Pilzen zu unterscheiden, sie zeigte uns, wo die besten Beeren wuchsen, und ging mit uns zum Klaubholz-sammeln, sodass genug Brennholz zum Kochen und Heizen da war. In ihrer Wohnung hingen Leinensäcke von der Zimmerde-cke, in der sie viele essbare Schätze wie Brot, Gemüse und Pilze trocknete, mit denen sie uns oft über unseren immerwährenden Hunger hinweghalf.Sie war wie eine gute Großmutter zu uns. Von den Barackenbewohnern wurde sie liebevoll „Käthe“ geru-fen und war auch dank ihrer Heilkräuterkenntnisse eine beliebte

Page 19: H. Oberhauser - download.e-bookshelf.de

19

Hilfe bei diversen Wehwehchen. Herr Schober, der mit Frau und drei Töchtern in der letzten Wohnung der Baracke wohnte, belegte sie mit dem Prädikat „Rauchfangtaub’n“ und behauptete, dass sie niemals eine Unterhose anhatte, was Herrn Stoffel dazu veranlass-te, als er gerade einmal den Gang vor seiner Wohnung aufkehrte, blitzschnell mit dem Besenstiel unter ihre weiten Röcke zu fahren, um diese genauso schnell zu heben. Ich war zufällig Zeuge, konn-te aber von einer fehlenden Unterhose nichts bemerken. Vielleicht auch deshalb, weil alles viel zu schnell vor sich ging. Frau Zema-nek kicherte dazu laut und kreischend und lief, trotz ihres Alters, schnell davon und verschanzte sich in ihrer Wohnung.

„Was könn’ ma denn machen, Käthe?“ Frau Stoffel stand schräg hinter Frau Zemanek, die sich mit ihren sanften Händen, denen man die in ihrem Leben geleistete Arbeit ansah, meine rechte Hand nahm, um sich die „Bescherung“, wie sie sagte, anzusehen.„Ich hole eine Brandsalbe und einen Verband, oder hast du et-was zu Hause, Gretl?“ Sie wendete sich meiner Mutter zu. Die-se zuckte zusammen, als hätte man sie aus dem Schlaf gerissen. Überhaupt machte sie den Eindruck, als ob sie das Ganze gar nichts angehen würde und die beiden Frauen, die sich jetzt um mich kümmerten, sie nur belästigten.„Nein, wieso sollte ich so etwas zu Hause haben, ich bin ja keine Apotheke!“ Langsam kehrte ihre Selbstsicherheit, die sie eigent-lich immer an den Tag legte, zurück.„Weilst deinen Buam verbrannt hast, du Trudsch’n, du blöde. Also red’ nicht so saudeppat daher, sondern richt’ ihm sein Bett her, dass wir ihn dann gleich niederlegen.“ Frau Zemanek wen-dete sich der Tür zu, während sich Frau Stoffel neben mich auf die Kohlenbank setzte.Sie legte ihren Arm um meine Schulter und sah sich meinen Hand-rücken mit noch immer ungläubigen Augen noch einmal an.„Tut’s stark weh?“ Ihre Stimme klang warm und voller Mitgefühl.Von den Ereignissen und dem noch immer wütenden Schmerz waren meine Lippen wie zugeklebt. Ich konnte keine Antwort geben, sondern sah sie nur dankbar an.

Page 20: H. Oberhauser - download.e-bookshelf.de

20

„Da siehst du, wie stur er ist!“, kam es gehässig von meiner Mut-ter aus der Ecke. „Er gibt nie Antwort, wenn man etwas fragt, aber schlimm sein, das kann er!“ Ihre Stimme bekam die alte Festigkeit zurück. „Soll ich vielleicht zusehen, wie er uns die Bude anzündet?! Oder darf ich ihn vielleicht nicht mehr bestra-fen?! Das arme Hascherl, das arme.“ Ihre Stimme nahm wieder leicht den mir bekannten hysterischen Tonfall an, sodass mich wieder Angst beschlich.„Du spinnst ja, Gretl, du kannst den Bub’n nicht einfach ver-brennen! Was hat er eigentlich angestellt, dass du so etwas Graus-liches mit ihm machst?“ Die Stimme von Frau Stoffel ließ an Schärfe nichts fehlen. „Er hat Roman die Haare geschnitten und die schönen Locken in der Petroleumlampe verbrannt“, kam es jammernd und an-klagend von meiner Mutter zurück. „Er soll es dir selbst erzäh-len, der sture Bock!“ „Und wegen so einem Blödsinn verbrennst du dem Buam die halbe Hand?! Sag’, bist du noch normal?!“ Die Stimme von Frau Stoffel durchschnitt das Zimmer. „Und Roman? Hat sich der das gefallen lassen? Vielleicht hat ihm das auch gefallen!“ Sie schau-te fragend und erzürnt sogleich zu Roman, der sich sofort auf seiner Bank duckte.„Roman würde so etwas nie tun! Der ist ja nicht so schlimm wie Helmut, der kann sich ja gar nicht wehren“, war die etwas beleidigte Antwort meiner Mutter, weil Frau Stoffel Zweifel an der Geschichte hatte.Roman kam wieder aus seiner gebückten Haltung hinter dem Tisch hervor.„Er war’s, er war’s!“ Mit auf mich gerichtetem Finger wieder-holte er die Anschuldigung. „Na, siehst du!“, triumphierte mei-ne Mutter.„Aber geh’, dein kleiner Liebling kann und darf ja alles, richt endlich das Bett für Helmut her.“ Der Druck ihres Armes um meine Schultern verstärkte sich an-genehm. Ich fühlte mich jetzt trotz der Schmerzen sauwohl und als Frau Zemanek mit einer alten Schuhschachtel in den Hän-

Page 21: H. Oberhauser - download.e-bookshelf.de

21

den, in der allerlei Krimskrams war, wieder eintrat und auf uns zukam, fühlte ich mich geborgen und umsorgt, wie es schöner nicht hätte sein können.„So, gib’ mir deine Hand, die Schmerzen werden bald aufhö-ren.“ Frau Zemanek kramte aus der Schachtel eine kleine Dose, in der sich eine Salbe befand.„Ich gebe dir jetzt ein bisschen Salbe auf die Hand, das wird ein kleines bisschen wehtun, aber danach werden die Schmerzen leichter. Du musst ein bisschen die Zähne zusammenbeißen, aber du bist ja ein tapferer Bua.“ Sie hatte mit ihrem Zeigefinger ein bisschen gelblich-weiße Salbe aus der geöffneten Dose genom-men. Ich erwartete den unvermeidlichen angekündigten Schmerz, aber zu meiner Überraschung war die Salbe angenehm kühl und linderte augenblicklich das Brennen meiner Wunde.

Als ich erwachte, war es Nacht. Mein Bett, aus schwarz la-ckiertem Stahlrohr, stand im Nebenraum, der von meinen El-tern „Schlafzimmer“ genannt wurde, gegenüber dem Durch-gang an der Bretterwand. Ich war fest in meine blaue Decke gehüllt. Trotzdem war mir eiskalt. Mir war so kalt, dass es mich am ganzen Körper schüttelte. In meiner rechten Hand pochte das Blut. Der Schmerz war aber eher gering. Ich schlug die Au-gen auf und erschrak furchtbar. Im Durchgang stand ein kleiner Teufel. Ich sah in der Dunkelheit seine zottigen Haare und die Hörner auf seinem Kopf. Er hatte eine große dreigezackte Ga-bel in der Hand, wie die Heugabeln, welche die Männer hatten, die manchmal im Sommer die Wiese vor der Baracke mähten und denen ich dann immer zusah, und winkte mir zu, ich solle zu ihm kommen. Schnell schloss ich die Augen und drehte ich mich auf die andere Seite, also zur Wand. Da ich aber dabei mit der verletzten Hand gegen die Wand schlug, wurde das sofort mit einem Schmerz, der durch meine Hand und meinen Arm jagte, bestraft. Ich schrie kurz auf. Die Angst erfasste mich aber sofort wieder, denn zwischen der Wand und mir saß ein Neger-lein – ich weiß nicht mehr, war es ein Bub oder ein Mädchen – vor einem Spinnrad und schaute mich erzürnt ob der Störung

Page 22: H. Oberhauser - download.e-bookshelf.de

22

an. Sofort drehte ich mich auf die andere Seite. Diesmal pass-te ich aber auf meine Hand auf, dass ich mir nicht wehtat. Aber der kleine Teufel war noch immer da und winkte. Ich drehte meine Augen von dem Durchgang weg, Richtung Tisch, der in der Mitte des Raumes vor einem Eckbett stand, das sich gleich neben dem Durchgang über die Zimmerecke bis unter die Fens-terwand erstreckte. Auf dem Tisch stand eine schwarz gekleidete Nonne, wie ich sie schon in diversen Illustrierten gesehen hatte, und schraubte an der Glühbirne herum, die im Blechlampen-schirm über dem Tisch an der Decke angebracht war. Gott sei Dank, dachte ich, beachtete sie mich nicht, sondern beschäftig-te sich intensiv mit der Lampe. Die Nonne war also das gerin-gere Übel. Aber die Angst blieb und ich versuchte mich unter der Decke – frei nach der Devise „Seh’ ich dich nicht, siehst du mich nicht“ – zu verstecken. Irgendwann schlief ich aber dann doch ein und wachte erst wieder durch die Stimme von Frau Zemanek auf.„Wir müssen unbedingt mit dem Buam zum Arzt. Das gehört angeschaut“, hörte ich sie sagen. „Außerdem hat er Fieber, der hat ja richtigen Schüttelfrost, siehst du das nicht!“„Nein, nein, der wird schon wieder. Das bisschen Fieber bringt niemand gleich um“, war die Antwort meiner Mutter. Ich weiß zwar nicht warum, aber ich ließ meine Augen weiter zu und stellte mich schlafend.„Was ist denn mit Helmut?“ Das war die Stimme meines um drei Jahre älteren Bruders Günther, der am Vorabend mit Uwe unter-wegs gewesen war und den Vorfall nicht miterlebt hatte.„Aber nichts. Er hat sich wehgetan!“, hörte ich Mutter mit un-geduldig zischender Stimme abweisend antworten, so nach dem Motto „Es geht dich nichts an“.„Gretl, wenn du nicht gehst, geh’ ich mit dem Buam zum Arzt. Zieh’ ihn an. Ich komme gleich“, sagte Frau Zemanek bestimmt. „Und Günther, du ziehst dich auch an, du kommst mit!“ Ihr Ton-fall war befehlend und duldete keinen Widerspruch. „Mama, was hat denn Helmut wirklich?“, versuchte es Gün-ther noch einmal.

Page 23: H. Oberhauser - download.e-bookshelf.de

23

„Ich hab’ dir schon gesagt, dass dich das nichts angeht!“, kreisch-te sie ihn jetzt an, und als ich die Augen öffnete, sah ich gerade noch, wie er sich duckte, um einer Ohrfeige, die sie ihm offen-sichtlich geben wollte, zu entkommen.Günther war ein – für sein Alter – cleveres Kerlchen, das den Mut hatte, sich manchmal seiner Haut zu wehren, und auch des Öfteren zurückmaulte.„Ich wollt’ ja nur wissen, was er hat“, kam es widersprechend über seine Lippen und f lugs war er im Nebenraum verschwunden.Frau Zemanek hatte mich auf ihre kräftigen Arme genommen und trug mich trotz des heftigen Gezeters meiner Mutter Rich-tung Tür.Der gelbe Pullover, den ich jetzt anhatte, war mir um zwei Num-mern zu groß. Meine schwarze Turnhose war über Nacht wieder trocken geworden, sodass ich sie wieder anziehen konnte. Schu-he hatten weder Günther noch ich an. Es war Frühsommer und wir liefen den ganzen Sommer ohne Schuhe. Nur wenn Günther in die Schule ging, hatte er Schuhe an. Er war ja damals schon 8 Jahre alt.Frau Zemanek drehte sich zu meiner Mutter. „Einen Kranken-schein hast du ja wie immer nicht, oder?!“, wollte sie in der be-reits von Günther geöffneten Tür wissen.„Nein, ich hab’ andere Sachen zu tun, als mich um so einen Scheiß’ zu kümmern“, kam es mit trotziger Stimme von meiner Mutter zurück, die sich inzwischen auf einen Sessel gesetzt hat-te und einen Arm um Romans Schulter legte, der inzwischen auch munter war und sich an sie schmiegte.„Sag’ aber dem Arzt, dass er sich selbst verbrannt hat“, schlug ihre Stimme plötzlich in Angst um und sie sah Frau Zemanek f lehend an. Da ich über die Schulter von Frau Zemanek meiner Mutter genau ins Gesicht sehen konnte, erfüllte mich ihre Angst ein bisschen mit Schadenfreude.Ohne eine Antwort verließen wir drei die Wohnung und ließen eine maulende und keifende Mutter zurück. Beim Verlassen der Baracke schlug uns wärmender Sonnenschein entgegen. Wir gingen die Hauptstraße des Lagers entlang zum

Page 24: H. Oberhauser - download.e-bookshelf.de

24

rückwärtigen Ausgang. Das Lager selbst hatte eigentlich nur zwei Ein- bzw. Ausgänge. Im Osten kam man durch eine Art Umfah-rungsstraße von der Wientalseite her in das Lager. Das war der eigentliche Haupteingang. Auf dieser Straße sah man gelegent-lich auch Autos, die aber nur ganz selten direkt in unser Lager kamen, vielmehr fuhren sie in das Karosseriewerk „Perl-Auhof“, welches sich, im Süden durch eine Mauer getrennt, über die ge-samte Länge erstreckte. Im Norden war das Lager durch einen ca. 200 Meter breiten, ungepf legten auähnlichen Grüngürtel be-grenzt. Dieser Grüngürtel war mit einem Gitterzaun umgeben, der immer wieder an der östlichen Eckstelle eingeschnitten wur-de, um eine Abkürzung in das Lager zu ermöglichen. Außerhalb des Grüngürtels befand sich die Wientalstraße, die sich entlang des Wienf lusses Richtung Westen schlängelte.Im Westen war das Lager von Restmauern des Lainzer Tier-gartens begrenzt und in einem Teilstück dieser Mauer befand sich ein Durchgang, der Teile eines eisernen Beschlages aufwies und daher von den Bewohnern unseres Lagers als das „eiserne Türl“ bezeichnet wurde. Die Hauptstraße selbst war eigentlich keine Straße, sondern ein breiter Weg, der aus grobem Kies be-stand, welcher in Teer und Beton gewalzt war. Rechter Hand standen parallelzur Straße zwei Reihen Baracken mit den dazugehörigen Holz-schuppen, Waschküchen und Mistcontainern. Hinter diesen zwei Reihen standen nochmals 28 Baracken in willkürlicher Anord-nung, bis hin zum Grüngürtel. Links waren große Wiesen, unter-brochen von einem betonierten Platz, der zum Wäschetrocknen diente, einem aus Kies gewalzten Fußballplatz und einem klei-nen Hügel, liebevoll „Bergerl“ genannt, unter dem sich die Was-serversorgung für das Lager verbarg.Am Ende dieser Wiese war das eingezäunte Grundstück des la-gereigenen Kindergartens, auf dem sich sogar ein kleines beto-niertes Schwimmbecken befand.Frau Zemanek hatte mich inzwischen mit den Worten „Du wirst mir langsam zu schwer, Helmut“ abgesetzt und ich versuchte, mich an ihrer Hand festhaltend, mit ihrem Gehtempo mitzu-

Page 25: H. Oberhauser - download.e-bookshelf.de

25

kommen. Wir gingen forschen Schrittes, sodass Günther kaum folgen konnte, Richtung „eisernes Türl“.„Wir gehen zum Onkel Doktor, der macht alles wieder gut!“ Ihre hellblauen Augen, mit denen sie immer lustig und freund-lich in die Welt sah, schauten mich aufmunternd an. „Dann gehen wir zum Rossf leischhacker und kaufen euch was zum Essen, denn ihr werdet ja sicher Hunger haben“, stellte sie uns in Aussicht.„Können wir nicht gleich etwas zum Essen kaufen?“ Günther hatte uns mit schnellen Schritten eingeholt, als er etwas vom Es-sen hörte. Wir hatten immer Hunger. Günther am meisten, hat-te ich den Eindruck, denn wenn wir einmal zwischendurch ein Stück Brot oder etwas anderes Essbares bekamen, hatte er seinen Anteil mit ein, zwei Bissen verschlungen.„Geh’, gib ma’ a Stuck’s!“, bettelte er dann denjenigen von uns an, bei dem er noch ein Reststück sah. Er sagte immer „Stuck’s“, nicht Stück. Vielleicht, um in diesen Augenblicken eine gewisse Vertrautheit oder Unterwürfigkeit entstehen zu lassen, die den Angebettelten dazu veranlassen sollte, ihm ein Stück des Be-gehrten abzugeben. Dieses fordernde „Geh’, gib ma’ a Stuck’s!“ klingt mir heute noch vertraut in den Ohren.„Nein, Günther, zuerst gehen wir zum Doktor und dann gibt es was zu essen“, war die resolute Antwort. Schmollend zog er sich wieder hinter Frau Zemanek zurück.Wir gingen durchs „eiserne Türl“, kamen am Försterhaus vorbei, an den schmucken Einfamilienhäusern, die sich rechter Hand be-fanden und in denen die „besseren Leute“, wie die Lagereinwoh-ner sagten, wohnten. Durch ein riesiges schmiedeeisernes Tor sah man auf der linken Seite das „Führichschloß“ und gegenüber links einen riesigen Obstgarten. Der „Führichgarten“, der uns sehr oft als Versorgung für unseren Obstbedarf diente, indem wir einfach über den an manchen Stellen niedergetretenen Zaun stiegen, um uns das Begehrte preisfrei zu holen. Nach der Rechtskurve sahen wir schon die Häuser und Geschäfte von der Ortschaft „Haders-dorf-Wurzbachtal“, die an der Wientalstraße lag. Rechts, am An-fang der Straße, lag der Eingang zu einem großen parkähnlichen

Page 26: H. Oberhauser - download.e-bookshelf.de

26

Garten, in dem die Villa des Arztes stand. Doktor Babinsky, ein Mann mit strengem Blick und dichtem weißem Haar über seiner hohen Stirn, empfing uns mit abweisender Miene.„Was gibt es schon wieder, Frau Zemanek?“, war die erste Frage. „Haben Sie schon wieder die Oberhofer-Buben mit? Sie wissen doch, dass ich mit den Oberhofers immer Schwierigkeiten we-gen des Krankenscheines habe.“ Er saß hinter einem mächtigen Schreibtisch und machte keine Anstalten, sich Frau Zemaneks Anliegen überhaupt anzuhören.„Aber Herr Doktor, schauen Sie sich den Buben doch an! Er hat sich furchtbar verbrannt und hat hohes Fieber. Sie können mich doch nicht einfach wegschicken.“ Ihre Stimme war f lehend, aber doch fest und bestimmt.„Und was soll ich da machen? Soll ich vielleicht sein Bett hü-ten, oder ihn in den Schlaf singen?!“ Seine Stimme erhob sich leicht und er wurde, sich mit beiden Armen auf den mächtigen Tisch stützend, um eine Nuance größer. „Das wird schon ver-heilen und gegen das Fieber machen sie Essigpatscherln. So, und nun lassen Sie den nächsten Patienten, den ich nicht gratis be-handeln muss, herein!“ Er lehnte sich wieder, seiner Macht be-wusst, in seinen großen vornehmen Stuhl zurück. Für ihn war die Angelegenheit erledigt.Frau Zemanek verharrte kurz. Günther hatte sich hinter ihr ver-steckt. Ich hatte Angst vor dem „Onkel Doktor“ und sah Frau Zemanek, die mich beim Eintritt in die Ordination wieder auf den Arm genommen hatte, an, um sein erbostes Gesicht nicht sehen zu müssen.Als sie die Türschnalle schon in der Hand hatte und die Tür halb geöffnet war, drehte sie sich noch einmal kurz um. „Sie haben ja kein Herz im Leib, Sie, Sie Arzt, Sie …!“, sprach’s und schlug die Tür von außen so kräftig zu, dass die wartenden Patienten erschraken. „Macht nichts“, sagte sie mehr zu sich selbst als zu uns, „wir ge-hen zur Vedera.“ Ihre hellblauen Augen bekamen den freundlichen und immer lustigen Ausdruck wieder zurück, denn davor hatten sie ein wü-

Page 27: H. Oberhauser - download.e-bookshelf.de

27

tendes Funkeln gezeigt, das ich ganz selten in ihnen sah. „Die ist sowieso besser als der geldgierige Quacksalber da, gell, Hel-mut?“ Mir kam vor, als ob der Kies, der am Weg lag, beim Verlassen der Villa, des Herrn Doktor Babinsky, lauter unter ihren Schrit-ten, als beim Betreten, knirschte.„Komm, Günther, jetzt bekommt ihr eure Wurst doch vorm Arzt“, beschloss sie und schaute sich nach Günther um, der ein bisschen betreten hinter ihr nachlief.„Jö“, sagte der, „ich hab sowieso schon einen großen Hunger!“ Seine Augen leuchteten auf und er kam sofort hinter uns hervor, um auf gleicher Höhe, sogar einige Schritte voraus, die Rich-tung zum Rossf leischhauer einzuschlagen.Unsere Augen und Nasen saugten den Anblick und den Geruch der Würste voller Gier auf.In dem Geschäft war es immer angenehm kühl. Das kam wahr-scheinlich von dem schachbrettartigen, schwarz-weißen Fliesen-boden und dem mit einer Marmorplatte belegten Verkaufspult.„Guten Tag, was darf ’s sein?!“ Die Frau, die hinter dem Pult im Wurstparadies stand, hatte ihre dunklen Haare, die schon von einigen grauen Strähnen durchzogen waren, zu einem Zopf, der wiederum zu einem Knödel geformt war, hochgesteckt.„Tag! Geben Sie mir zwei Semmeln mit Extrawurst.“ Frau Ze-manek setzte mich auf das Verkaufspult, was ihr einen strafen-den Blick der Frau hinter dem Pult eintrug.„Er ist krank. Wir müssen zum Arzt“, sagte Frau Zemanek ent-schuldigend, „und die Kinder haben schon Hunger.“„Oje, was hat er denn?“ Die Verkäuferin schnitt gerade die zwei-te Semmel auf. Ihr Blick glitt mitleidig zu mir.„Fieber und Schüttelfrost.“ Frau Zemanek suchte in den unend-lichen Tiefen ihrer Kleidertaschen nach ihrem Geldbörsel.„Da habt ihr, wenn euch der Hunger schon so plagt!“ Die Ver-käuferin hatte von einem riesigen Kranz Dürrewurst zwei dicke Scheiben abgeschnitten und hielt sie uns hin.Blitzschnell hatte Günther beide Scheiben an sich genommen und genauso blitzschnell verschwanden diese in seinem Mund.

Page 28: H. Oberhauser - download.e-bookshelf.de

28

„Ja sag einmal“, lachte die Verkäuferin, „du musst aber einen Hun-ger haben.“ Sie schnitt noch ein Stück ab und hielt es mir hin.„Na! Wie sagt man denn?“ Frau Zemanek schaute zuerst Gün-ther und dann mich streng an.„Danke!“ Kam es wie im Chor über unsere Lippen, wobei das Danke von meinem Bruder eher einem Grunzen ähnelte, da die beiden Wurstscheiben für seinen Mund doch zu groß waren und er jetzt eher einem Hamster glich, mit seinen vollen Backen.Jeder von uns beiden mit einer Wurstsemmel gesegnet, verlie-ßen wir glückselig das Geschäft.Unser Weg führte weiter in Richtung Wientalstraße, die aber in diesem Abschnitt Hadersdorferhauptstraße hieß. An unseren Wurstsemmeln kauend gingen wir an der Feuerwehr vorbei, ka-men zum „Layer“, einem Lebensmittelgeschäft, dem gegenüber auf der anderen Straßenseite die Milchfrau war. Am rechten Eck befand sich das Gasthaus „Zum Rehböckl“, aus dem es immer so gut nach Gulasch und Bier roch, mit seinem riesigen Gastgarten, in dem große Linden standen und einen herrlichen Schatten spen-deten. Als wir beim „Konsum“, einem weiteren Geschäft in dieser Straße, kurz stehen blieben, um die Hauptstraße zu überqueren, waren die Wurstsemmeln in unseren Bäuchen verschwunden. Zu dieser Zeit, in den 50er-Jahren, brauchte man nicht lange warten, um die Hauptstraße überqueren zu können, denn es wa-ren nur vereinzelt Autos unterwegs. Es ging nun der Hauptstra-ße entlang ins Zentrum von Hadersdorf. Da waren der „Vogge-neder“, wieder ein Lebensmittelkaufmann, eine Trafik und eine Drogerie. Bei den Lebensmittelgeschäften standen oft Obst- und Gemüsekisten am Gehsteig und so manches dieser wunderbar schmeckenden Dinge landete, ohne zu bezahlen, beim Vorbei-gehen in unserer Tasche. Mir gefielen immer die Werbetafeln, damals noch hauptsächlich aus Blech, die in großer Vielzahl an den Geschäften angebracht waren. Ich schaute mir diese oft sehr lange an. Da waren „Maggi“, „Pez“, „Schwechater Bier“, „Him-meltau“ und viele, viele andere.Da ich damals noch nicht lesen konnte, merkte ich mir die vie-len Firmennamen wie Bilder und legte mir damit ein inneres

Page 29: H. Oberhauser - download.e-bookshelf.de

29

Bilderlexikon an. Mich faszinierten damals schon alle Arten von gezeichneten oder gemalten Bildern. Über die Wientalbrücke kamen wir in den Kern von Haders-dorf.Hadersdorf war ein Teil vom 14. Wiener Gemeindebezirk und gleichzeitig das westliche Ende von Wien, indem es nahtlos an Pur-kersdorf grenzte, das sich bereits in Niederösterreich befand.Stadteinwärts war Hadersdorf links von der Westbahn und rechts vom Wienf luss begrenzt, die damit auch natürliche Baugrenzen zogen und diesem Stadtteil von Wien einen ländlichen Charak-ter verliehen. Frau Dr. Vedera war eine schlanke dunkelhaarige Frau. Ihre Stim-me war tief und erinnerte an einen Mann. Vielleicht lag das aber auch an dem leichten dunklen Haarf laum, der über ihren Lippen wuchs und den man gegen das Licht deutlich sah.„Frau Doktor, können Sie sich bitte den Buben anschauen? Er hat sich verbrannt und die ganze Nacht gefiebert!“ Frau Zema-nek schaute die Ärztin bittend an.„Na, schau’ ma einmal.“ Die Ärztin, kleiner und viel zarter in ihrer Figur als Frau Zemanek, nahm mich, ohne viel zu fragen, und setzte mich auf einen Holzhocker, dessen Sitzf läche sich drehen konnte.„Zieh einmal deinen Pullover aus“, sagte sie, wobei sie mir die-sen gleich selbst auszog, aber sehr vorsichtig bei meiner rechten Hand war. „Na“, meinte sie dann, als sie meinen schmalen Körper sah, „dem Buben fehlen aber auch einige Kilo.“„Ja, Helmut hatte bis zum dritten Lebensjahr schwere Rachitis und kann erst seit einem Jahr richtig gehen“, beeilte sich Frau Ze-manek mit der Antwort, glücklich darüber, dass die Frau Doktor, ohne viel zu fragen, gleich mit der Untersuchung begann.Die Ärztin wickelte mir nun vorsichtig den Verband von mei-ner rechten Hand.„Um Gottes willen, wie ist denn das passiert?“ Ihr Gesicht war regungslos. Frau Zemanek schaute betreten zu Boden und ver-suchte sich um die Antwort zu drücken.

Page 30: H. Oberhauser - download.e-bookshelf.de

30

„So, Bub …“ Die Ärztin schien auch keine Antwort zu erwar-ten. „Du hältst jetzt die Hand ganz ruhig. Ich muss die Wunde ein bisschen reinigen und das wird ein bisserl wehtun.“ Sie ging mit wallendem weißem Arbeitsmantel zu einem Glas-schrank, in dem viele Schachterln und Flaschen zu sehen wa-ren.„So, jetzt heißt es Zähne zusammenbeißen. Aber du schaffst das sicher, du bist ja schon ein großer Bub.“ Sie hatte ein kleines Fla-scherl und weiße weiche Watte in den schmalen Händen. Die Versorgung der Wunde ging schnell und ohne viel Schmerzen, und als sie mich mit dem Stethoskop abgehört hatte, sagte sie: „So, du kannst dich wieder anziehen, du bist ein tapferer Bub.“Sie setzte sich hinter ihren Schreibtisch und zog einen Rezept-block zu sich. Es war ganz ruhig im Raum, während sie auf die-sem Block etwas aufschrieb. Frau Zemanek war zu mir getreten und hatte mir beim Anziehen geholfen, da ich mit meiner we-hen Hand ein bisschen unbeholfen war. Sie war ein bisschen ver-legen, aber scheinbar froh, dass sie auf die gestellte Frage keine Antwort geben musste. „Sie wissen schon, dass ich eigentlich Anzeige erstatten müsste?“, kam es hinter dem Rücken von Frau Zemanek vom Schreib-tisch. Ein Zusammenzucken verriet das Erschrecken von unse-rer Wohltäterin. Sie richtete sich langsam auf und drehte sich zum Schreibtisch um.Die Ärztin schaute über die Ränder ihrer Brillen, welche sie nun aufhatte, Frau Zemanek streng an.„Ich habe es ja nicht getan, Frau Doktor“, gab sie nun Antwort, ohne aber Mutter zu verraten, und ging einen Schritt auf den Schreibtisch zu.„Das habe ich auch nicht angenommen, Frau Zemanek. Ich kenne Sie ja lange genug, um zu wissen, dass Sie so etwas zu machen gar nicht imstande sind. Die Buben müssen froh sein, dass es Sie gibt“, kam es beruhigend und freundlich von der Ärztin zurück.„Das Fieber ist weg. Es war wahrscheinlich nur ein Nervenfieber von seiner Verwundung. Der Bub muss ja furchtbare Schmer-zen gehabt haben.“