Haben und Nicht Haben - visarte-aargau · Roland Guignard für die Aarauer Stadtkirche in den...

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visarte aargau: Tradition und Aufbruch Der Berufsverband visarte (vormals GSMBA Gesellschaft Schweizerischer Maler, Bildhauer und Architekten) vertritt auf politischer und gesellschaftlicher Ebene die Interessen der vi- suell schaffenden Künstlerinnen und Künstler in der Schweiz. Zum Namenswechsel im Jahre 2001 führten unter anderem Mitte der 90er Jahre umfassende Umstrukturierungen. Haupt- anliegen und Ziel des Verbandes ist – wie be- reits bei der Gründung 1866 proklamiert – den Kunstschaffenden beratend zur Seite zu stehen und sich für gute Rahmenbedingung im Zu- sammenhang mit dem künstlerischen Schaf- fen einzusetzen sowie die Organisation von Ausstellungsmöglichkeiten. Zurzeit gehören 18 Regionalgruppen visarte schweiz an, darunter visarte aargau mit aktuell etwas mehr als hundert Aktivmitgliedern, von denen sich einige in Arbeitsgruppen engagieren und mit ihren Anliegen und Forderungen auch an die Öffentlichkeit gelangen. Im Jahre 2005 formierte sich die «Ausstellungsgruppe» unter anderem mit dem Ziel, eine Ausstellungsplatt- form von Kunstschaffenden für Kunstschaffen- de zu sein sowie zeitgenössische Kunst zu zei- gen und zu vermitteln. Der Ausstellungsraum in der Galerie Goldenes Kalb am Ziegelrain in Aarau, der schon zuvor unabhängig von visar- te aargau bereits als Kunstraum genutzt wurde, wird nun seit fünf Jahren von einem Kurato- rinnenteam bestehend aus Mitgliedern der Re- gionalgruppe betreut und geleitet. Dieses stellt ein vielfältiges und anspruchsvolles Ausstel- lungsprogramm zusammen und präsentiert in jährlich sieben bis neun Einzel- oder themati- schen Gruppenausstellungen unterschiedliche künstlerische Positionen. In jüngster Zeit wurde die Dokustelle für Aargauer KünstlerInnen ein- gerichtet und ein Schaufenster für Medienkunst geschaffen. Ebenso wurde das Projekt «A wie Atelier» mitinitiiert, das Schulklassen Einblicke in die Ateliers Aargauer Kunstschaffenden ge- währt und Begegnungen mit diesen ermöglicht. Eine weitere, ebenfalls sehr aktive Gruppe, ist die im letzten Jahr gegründete «Arbeitsgruppe Kulturpolitik», die sich im Wesentlichen auf kulturpolitische Fragestellungen konzentriert, Festgefahrenes kritisch hinterfragt und dazu Podiumsgespräche und Diskussionsrunden ver- anstaltet. Sie kooperiert mit den kantonalen Kulturförderstellen und Kulturveranstaltern, entwickelt Konzepte und sucht nach Lösungen, wie sich die Kunstszene im Kanton Aargau stär- ker verankern, vernetzen und einbinden lässt, um beispielsweise einer Abwanderung von KünstlerInnen in die benachbarten Grossstädte entgegen zu wirken. Gegenwärtig ist Aufbruchstimmung bei visarte aargau spürbar – dank einiger motivier- ter Mitglieder, die durch ihr aktives Tun dem Verband zu einem aufgefrischten Image ver- helfen. Damit einher geht die Hoffnung, junge KünstlerInnen als Mitglieder des Berufsverban- des zu gewinnen. In manchen Köpfen geistert die Vision eines «Zentrums für Kulturpolitik» herum, das Kulturschaffenden Infrastruktur zur Realisierung ihrer Projekte zur Verfügung stellen würde, Anlaufstelle und Treffpunkt für regen Austausch sowie Ausstellungsort sein könnte: Ein ehrgeiziges Projekt, das über visarte aargau hinaus mit Sicherheit Bewegung in den Kulturkanton bringen würde. Cornelia Ackermann, Kunsthistorikerin, Mitglied visarte Kuratorinnenteam Kunst schaffen im Aargau einst und jetzt Bildungszuwachs und Wirtschaftsaufschwung verleiht den bildenden Künsten im späten 19. Jahrhundert Flügel. Die Künstler formieren sich in der GSMBA, die Bürger in Kunstvereinen. Auch im Aargau; Max Burgmeier, Ernest Bolens, Otto Wyler sind die Köpfe. Heute sind sie fast vergessen, aber noch in den 1970er-Jahren wer- den ihre Werke regelmässig gezeigt. Ihr Auf- bruch ist bedeutsam, ihr Verharren in engem Kreis letztlich aber lähmend. Moderne Tenden- zen haben keinen Raum. Der «Krieg» um die ab- strakte Kunst wird im Aargau erst in den späten 1960er-Jahren ausgetragen und zwar mit hefti- gen Bandagen. Als Beispiel sei der Streit um die ungegenständlichen Glasfenster-Entwürfe von Roland Guignard für die Aarauer Stadtkirche in den Jahren 1968/ 70 erwähnt. Ein kleines «Wunder» mit weitreichenden Folgen ist 1968 die Annahme des ersten Aargau- er Kulturgesetzes, das ein schweizweit beachte- tes Bekenntnis zur Kulturförderung beinhaltet. Die Kultur im Kanton wird zum öffentlichen Thema und gibt auch Privaten Mut zu Eigenini- tiativen. Zwar werden schon in den 1960er-Jah- ren die ersten privaten Galerien eröffnet, doch in den 1970er-Jahren schiessen sie vom Freiamt über den Mutschellen bis ins Fricktal wie Pilze aus dem Boden. Sowohl die etablierten wie nach und nach auch die progressiveren Kunstschaf- fenden finden im Kanton Ausstellungsmöglich- keiten. Die aus heutiger Sicht wichtigsten, weil radikalsten Äusserungen – von Willi Schoders «vie-et-nam» über Beat Zoderers Nietzsche- häutungen bis zu Erika Leubas Frauenkörper – lösen allerdings nach wie vor Entrüstung aus. Dennoch: Die 70er- und 80er-Jahre sind zwei gute Jahrzehnte für die Kunst im Aargau, der in dieser Zeit oft in einem Atemzug mit der Region Luzern respektive der «Innerschweizer Innerlichkeit» genannt wird. Wichtige Künstler und mehr und mehr auch Künstlerinnen treten profiliert in Erscheinung. Aus der Erinnerung tauchen neben den «Ziegelrain»-Künstlern Na- men auf wie Ilse Weber, Willi Müller-Brittnau, Jan Hubertus, Guido Nussbaum, Josef Herzog, Albert Siegenthaler, Gillian White, Rosmarie Vogt, Heidi Widmer, Ruth Kruysse, Otto Grimm, Peter Küng, Marianne Kuhn, Simone Hopfer- wieser, Ruth Berger, Stefan Gritsch. Viele mehr wären zu nennen. Das erneute Abdrängen des Aargaus und anderer vergleichbarer Regionen in ein «Pro- vinz»-Dasein ist ein schleichender Prozess. Dem Trend der Urbanisierung, sowohl was die The- men der Kunst wie ihre Vermittlung anbetrifft, kann die Kleinstadt-Struktur des Aargaus nichts entgegensetzen und auch der mediale Wandel hin zu Kunst mit Fotografie und Video wird in Kantonen ohne Kunstschulen vorerst nur mar- ginal aufgenommen. In der Not orientiert sich der Blick immer mehr auf jene Aargauer Kunst- schaffenden, die sich irgendwo in der Schweiz, in Paris, in Berlin, in New York einen Namen schaffen und dank Kuratoriums-Beiträgen auch als solche bekannt sind. Prominentestes Beispiel: Thomas Hirschhorn. Der Krug geht bekanntlich zum Brunnen bis er bricht. Auf verschiedenen Ebenen, ge- nannt sei z.B. die Definition des «Aargauer Künstlers» im neuen Kulturgesetz, scheint sich jetzt aber erfolgreich Widerstand zu regen. Le- bendige und qualitätvolle «Zellen» zeitgenössi- scher Kunst wehren sich; zu Recht. Das «Salz» für eine ortsspezifische Kulturszene kann man nicht importieren. Die Kulturschaffenden, die vor Ort leben und arbeiten, wahrzunehmen, zu unterstützen und damit auch zu fördern, ist darum eine wichtige politische Aufgabe. Annelise Zwez, Kunstkritikerin Forum Schweiz Aargau International* Liest man in den alten Akten des Aargauischen Kunstvereins, so entdeckt man, dass die Mit- glieder die Unterstützung «einzelner talentvol- ler Künstler unseres Kantons» schon früh zu den zentralen Aufgaben ihres Vereins zählten. Mehr noch: Spätestens seit der Gründung der Aargauischen Sektion der Gesellschaft Schwei- zer Maler, Bildhauer und Architekten (GSMBA, heute visarte) im Jahr 1905 sind Kunstverein und Künstler aufs engste verbunden. Mit Max Wol- finger, Carl Feer, Adolf Weibel, Guido Fischer und Heiny Widmer lag auch die Aargauische Kunstsammlung lange Zeit in den Händen von Künstlern. Die Aargauische Regierung verfügte 1927 sogar, dass fünf Sechstel des verfügbaren Kredites «für den Ankauf oder die Erstellung von Werken lebender Aargauer Künstler» ver- wendet werden soll (Vorschlagsrecht hatte die GSMBA) und ein Sechstel «zum Ankauf von Werken von Aargauischer und Schweizer Künst- ler» für die Gemäldesammlung zur Verfügung steht. Künstlerförderung wurde in diesem Kan- ton also immer schon gross geschrieben. 1968 wurde sie im Gesetz verankert und mit dem Aar- gauer Kuratorium auch institutionalisiert. Aus Sicht des Aargauer Kunsthauses bot die Auflösung der allzu engen Verbindung zwi- schen den Kunstschaffenden und der Institu- tion in den 1970er Jahren die Chance, ein um- fassenderes Sammlungskonzept zu formulieren und ein «musée idéal» zu entwerfen (vgl. Aus- stellung Haben und Nicht Haben, 1974), dessen Umsetzung in den letzten Jahren konsequent verfolgt wurde. Das neue, erweiterte Aargauer Kunsthaus bietet seit 2003 die Möglichkeit, vor allem Schweizer Kunst in ihren verschiedenen Facetten zu präsentieren und parallel dazu ein interessantes und ambitioniertes Ausstellungs- programm zu organisieren. – Selbstverständlich ist die Aargauer Kunst ein integraler Bestandteil davon. Für die exponentiell gestiegene Zahl der Aargauer Künstlerinnen und Künstler gibt es seit über 100 Jahren nicht nur die Plattform der Jahresausstellung, vielmehr ist der Ortsbezug stets ein starker Leitgedanke beim Ausbau der Sammlung und im Ausstellungsprogramm: So wie aber bereits bei Gründung des Aargaui- schen Kunstvereins vor 150 Jahren der Blick weit über die Region reichte und man eine Samm- lung mit Werken der besten (und bekanntesten) Schweizer Künstler anstrebte, erscheint es auch aus heutiger Sicht förderlich, den Dialog und den Austausch zu pflegen, die lokale Kunstsze- ne also immer von neuem mit anderen Kreisen, Strömungen und Themen zu kombinieren und zu konfrontieren. Wenn der Rückblick zeigt, wie eine allzu protektionistische Haltung in eine Sackgasse führt, kennen wir aus jüngster Zeit auch genügend Beispiele internationaler Museen mit Sammlungen von grenzenloser Unverbindlichkeit. So hat das Aargauer Kunst- haus das Verhältnis von innen und aussen stets reflektiert und gerade dadurch sein spezifisches Profil erhalten. 2010 feiern wir Jubiläum: Wir feiern 150 Jahre Aargauischer Kunstverein und 50 Jah- re Aargauer Kunsthaus. Im Zentrum des Jubi- läums steht aber die Kunst und mit ihr die Künstlerinnen und Künstler. Die visarte aargau trägt dieses Fest mit und feiert mit der vorlie- genden Publikation auch sich selbst. Dass sich die Künstlerinnen und Künstler damit in Erin- nerung rufen, um mit uns in die Zukunft zu bli- cken, passt bestens ins inhaltliche Programm unseres Jubiläums. Stephan Kunz, Kurator/stv. Direktor Aargauer Kunsthaus * Titel einer Ausstellungsreihe im Aargauer Kunsthaus 1970 bis 1975 Impressum Herausgeberin: visarte aargau, visarte Ausstellungsraum Goldenes Kalb, Aarau Projektleitung: Sadhyo Niederberger, Sara Rohner Mitarbeit: Cornelia Ackermann, Arlette Ochsner, Sandra Walti Gestaltung: Sandra Walti, belle vue, Aarau Bildbearbeitung, Internet, Diashow: Arlette Ochsner, Lenzburg Druck: Kasimir Meyer AG, Wohlen Auflage 2010: 1000 Ex. ©visarte aargau Wir bedanken uns bei der Kulturstiftung der Neuen Aargauer Bank, die den visarte Ausstellungsraum während drei Jahren grosszügig unterstützt hat und damit Wesentliches zu dessen Weiterbestehen und zur Realisierung dieser Publikation beigetragen hat. «visarte aargau produziert: 127 x Kunst auf A6» ist eine umfangreiche Post- kartensammlung und gleichzeitig eine Bestandesaufnahme des aktuellen professionellen Kunstschaffens im Kanton Aargau. Der Inhalt öffnet ein breites Spektrum: Kunstschaffende, die auf ein rei- ches und anerkanntes Werk zurückschauen können, sind genauso vertre- ten wie junge Künstlerinnen und Künstler, deren Weg noch vor ihnen liegt. Zeichnung, Druckgrafik, Malerei, Objekte, Fotografie, Performance, Colla- ge, Videostills, Installationen, Internetkunst – jede Postkarte steht für eine Künstlerin, einen Künstler und je ein Werk, das es zu entdecken gilt. Die Publikation soll das Kennenlernen des vielfältigen Kunstschaffens er- möglichen und als Sammlung in keinem Büchergestell fehlen. Wir hoffen, dass die Postkarten in die ganze Welt verschickt werden. Wir danken den teilnehmenden Künstlerinnen und Künstlern für ihre persönlichen Beiträge, den Institutionen und Städten, die das Projekt finanziell unterstützt haben und allen, die zum Gelingen dieser Publika- tion beigetragen haben. Sadhyo Niederberger und Sara Rohner, Kunstschaffende, Projektleitung «127 x Kunst auf A6», Kuratorinnen im visarte Ausstellungsraum im Goldenen Kalb STADT AARAU

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visarte aargau: Tradition und AufbruchDer Berufsverband visarte (vormals GSMBA Gesellschaft Schweizerischer Maler, Bildhauer und Architekten) vertritt auf politischer und gesellschaftlicher Ebene die Interessen der vi-suell schaffenden Künstlerinnen und Künstler in der Schweiz. Zum Namenswechsel im Jahre 2001 führten unter anderem Mitte der 90er Jahre umfassende Umstrukturierungen. Haupt-anliegen und Ziel des Verbandes ist – wie be-reits bei der Gründung 1866 proklamiert – den Kunstschaffenden beratend zur Seite zu stehen und sich für gute Rahmenbedingung im Zu-sammenhang mit dem künstlerischen Schaf-fen einzusetzen sowie die Organisation von Ausstellungsmöglichkeiten.

Zurzeit gehören 18 Regionalgruppen visarte schweiz an, darunter visarte aargau mit aktuell etwas mehr als hundert Aktivmitgliedern, von denen sich einige in Arbeitsgruppen engagieren und mit ihren Anliegen und Forderungen auch an die Öffentlichkeit gelangen. Im Jahre 2005 formierte sich die «Ausstellungsgruppe» unter anderem mit dem Ziel, eine Ausstellungsplatt-form von Kunstschaffenden für Kunstschaffen-de zu sein sowie zeitgenössische Kunst zu zei-gen und zu vermitteln. Der Ausstellungsraum in der Galerie Goldenes Kalb am Ziegelrain in Aarau, der schon zuvor unabhängig von visar-te aargau bereits als Kunstraum genutzt wurde, wird nun seit fünf Jahren von einem Kurato-rinnenteam bestehend aus Mitgliedern der Re-gionalgruppe betreut und geleitet. Dieses stellt ein vielfältiges und anspruchsvolles Ausstel-lungsprogramm zusammen und präsentiert in jährlich sieben bis neun Einzel- oder themati-schen Gruppenausstellungen unterschiedliche künstlerische Positionen. In jüngster Zeit wurde die Dokustelle für Aargauer KünstlerInnen ein-gerichtet und ein Schaufenster für Medienkunst geschaffen. Ebenso wurde das Projekt «A wie Atelier» mitinitiiert, das Schulklassen Einblicke in die Ateliers Aargauer Kunstschaffenden ge-währt und Begegnungen mit diesen ermöglicht. Eine weitere, ebenfalls sehr aktive Gruppe, ist die im letzten Jahr gegründete «Arbeitsgruppe Kulturpolitik», die sich im Wesentlichen auf

kulturpolitische Fragestellungen konzentriert, Festgefahrenes kritisch hinterfragt und dazu Podiumsgespräche und Diskussionsrunden ver- anstaltet. Sie kooperiert mit den kantonalen Kulturförderstellen und Kulturveranstaltern, entwickelt Konzepte und sucht nach Lösungen, wie sich die Kunstszene im Kanton Aargau stär-ker verankern, vernetzen und einbinden lässt, um beispielsweise einer Abwanderung von KünstlerInnen in die benachbarten Grossstädte entgegen zu wirken.

Gegenwärtig ist Aufbruchstimmung bei visarte aargau spürbar – dank einiger motivier-ter Mitglieder, die durch ihr aktives Tun dem Verband zu einem aufgefrischten Image ver-helfen. Damit einher geht die Hoffnung, junge KünstlerInnen als Mitglieder des Berufsverban-des zu gewinnen. In manchen Köpfen geistert die Vision eines «Zentrums für Kulturpolitik» herum, das Kulturschaffenden Infrastruktur zur Realisierung ihrer Projekte zur Verfügung stellen würde, Anlaufstelle und Treffpunkt für regen Austausch sowie Ausstellungsort sein könnte: Ein ehrgeiziges Projekt, das über visarte aargau hinaus mit Sicherheit Bewegung in den Kulturkanton bringen würde.

Cornelia Ackermann, Kunsthistorikerin, Mitglied visarte Kuratorinnenteam

Kunst schaffen im Aargau einst und jetztBildungszuwachs und Wirtschaftsaufschwung verleiht den bildenden Künsten im späten 19. Jahrhundert Flügel. Die Künstler formieren sich in der GSMBA, die Bürger in Kunstvereinen. Auch im Aargau; Max Burgmeier, Ernest Bolens, Otto Wyler sind die Köpfe. Heute sind sie fast vergessen, aber noch in den 1970er-Jahren wer-den ihre Werke regelmässig gezeigt. Ihr Auf-bruch ist bedeutsam, ihr Verharren in engem Kreis letztlich aber lähmend. Moderne Tenden-zen haben keinen Raum. Der «Krieg» um die ab-strakte Kunst wird im Aargau erst in den späten 1960er-Jahren ausgetragen und zwar mit hefti-gen Bandagen. Als Beispiel sei der Streit um die ungegenständlichen Glasfenster-Entwürfe von

Roland Guignard für die Aarauer Stadtkirche in den Jahren 1968/ 70 erwähnt.

Ein kleines «Wunder» mit weitreichenden Folgen ist 1968 die Annahme des ersten Aargau-er Kulturgesetzes, das ein schweizweit beachte-tes Bekenntnis zur Kulturförderung beinhaltet. Die Kultur im Kanton wird zum öffentlichen Thema und gibt auch Privaten Mut zu Eigenini-tiativen. Zwar werden schon in den 1960er-Jah-ren die ersten privaten Galerien eröffnet, doch in den 1970er-Jahren schiessen sie vom Freiamt über den Mutschellen bis ins Fricktal wie Pilze aus dem Boden. Sowohl die etablierten wie nach und nach auch die progressiveren Kunstschaf-fenden finden im Kanton Ausstellungsmöglich-keiten. Die aus heutiger Sicht wichtigsten, weil radikalsten Äusserungen – von Willi Schoders «vie-et-nam» über Beat Zoderers Nietzsche-häutungen bis zu Erika Leubas Frauenkörper – lösen allerdings nach wie vor Entrüstung aus. Dennoch: Die 70er- und 80er-Jahre sind zwei gute Jahrzehnte für die Kunst im Aargau, der in dieser Zeit oft in einem Atemzug mit der Region Luzern respektive der «Innerschweizer Innerlichkeit» genannt wird. Wichtige Künstler und mehr und mehr auch Künstlerinnen treten profiliert in Erscheinung. Aus der Erinnerung tauchen neben den «Ziegelrain»-Künstlern Na-men auf wie Ilse Weber, Willi Müller-Brittnau, Jan Hubertus, Guido Nussbaum, Josef Herzog, Albert Siegenthaler, Gillian White, Rosmarie Vogt, Heidi Widmer, Ruth Kruysse, Otto Grimm, Peter Küng, Marianne Kuhn, Simone Hopfer-wieser, Ruth Berger, Stefan Gritsch. Viele mehr wären zu nennen.

Das erneute Abdrängen des Aargaus und anderer vergleichbarer Regionen in ein «Pro-vinz»-Dasein ist ein schleichender Prozess. Dem Trend der Urbanisierung, sowohl was die The-men der Kunst wie ihre Vermittlung anbetrifft, kann die Kleinstadt-Struktur des Aargaus nichts entgegensetzen und auch der mediale Wandel hin zu Kunst mit Fotografie und Video wird in Kantonen ohne Kunstschulen vorerst nur mar-ginal aufgenommen. In der Not orientiert sich der Blick immer mehr auf jene Aargauer Kunst-schaffenden, die sich irgendwo in der Schweiz, in Paris, in Berlin, in New York einen Namen schaffen und dank Kuratoriums-Beiträgen auch als solche bekannt sind. Prominentestes Beispiel: Thomas Hirschhorn.

Der Krug geht bekanntlich zum Brunnen bis er bricht. Auf verschiedenen Ebenen, ge-nannt sei z.B. die Definition des «Aargauer Künstlers» im neuen Kulturgesetz, scheint sich jetzt aber erfolgreich Widerstand zu regen. Le-bendige und qualitätvolle «Zellen» zeitgenössi-scher Kunst wehren sich; zu Recht. Das «Salz» für eine ortsspezifische Kulturszene kann man nicht importieren. Die Kulturschaffenden, die vor Ort leben und arbeiten, wahrzunehmen, zu unterstützen und damit auch zu fördern, ist darum eine wichtige politische Aufgabe.

Annelise Zwez, Kunstkritikerin

Forum Schweiz Aargau International*Liest man in den alten Akten des Aargauischen Kunstvereins, so entdeckt man, dass die Mit-glieder die Unterstützung «einzelner talentvol-ler Künstler unseres Kantons» schon früh zu den zentralen Aufgaben ihres Vereins zählten. Mehr noch: Spätestens seit der Gründung der Aargaui schen Sektion der Gesellschaft Schwei-zer Maler, Bildhauer und Architekten (GSMBA, heute visarte) im Jahr 1905 sind Kunstverein und Künstler aufs engste verbunden. Mit Max Wol-finger, Carl Feer, Adolf Weibel, Guido Fischer und Heiny Widmer lag auch die Aargauische Kunstsammlung lange Zeit in den Händen von Künstlern. Die Aargauische Regierung verfügte 1927 sogar, dass fünf Sechstel des verfügbaren Kredites «für den Ankauf oder die Erstellung von Werken lebender Aargauer Künstler» ver-wendet werden soll (Vorschlagsrecht hatte die GSMBA) und ein Sechstel «zum Ankauf von Werken von Aargauischer und Schweizer Künst-ler» für die Gemäldesammlung zur Verfügung steht. Künstlerförderung wurde in diesem Kan-ton also immer schon gross geschrieben. 1968 wurde sie im Gesetz verankert und mit dem Aar-gauer Kuratorium auch institutionalisiert.

Aus Sicht des Aargauer Kunsthauses bot die Auflösung der allzu engen Verbindung zwi-schen den Kunstschaffenden und der Institu-tion in den 1970er Jahren die Chance, ein um-fassenderes Sammlungskonzept zu formulieren

und ein «musée idéal» zu entwerfen (vgl. Aus-stellung Haben und Nicht Haben, 1974), dessen Umsetzung in den letzten Jahren konsequent verfolgt wurde. Das neue, erweiterte Aargauer Kunsthaus bietet seit 2003 die Möglichkeit, vor allem Schweizer Kunst in ihren verschiedenen Facetten zu präsentieren und parallel dazu ein interessantes und ambitioniertes Ausstellungs-programm zu organisieren. – Selbstverständlich ist die Aargauer Kunst ein integraler Bestandteil davon.

Für die exponentiell gestiegene Zahl der Aargauer Künstlerinnen und Künstler gibt es seit über 100 Jahren nicht nur die Plattform der Jahresausstellung, vielmehr ist der Ortsbezug stets ein starker Leitgedanke beim Ausbau der Sammlung und im Ausstellungsprogramm: So wie aber bereits bei Gründung des Aargaui-schen Kunstvereins vor 150 Jahren der Blick weit über die Region reichte und man eine Samm-lung mit Werken der besten (und bekanntesten) Schweizer Künstler anstrebte, erscheint es auch aus heutiger Sicht förderlich, den Dialog und den Austausch zu pflegen, die lokale Kunstsze-ne also immer von neuem mit anderen Kreisen, Strömungen und Themen zu kombinieren und zu konfrontieren. Wenn der Rückblick zeigt, wie eine allzu protektionistische Haltung in eine Sackgasse führt, kennen wir aus jüngster Zeit auch genügend Beispiele internationaler Museen mit Sammlungen von grenzenloser Unverbindlichkeit. So hat das Aargauer Kunst-haus das Verhältnis von innen und aussen stets reflektiert und gerade dadurch sein spezifisches Profil erhalten.

2010 feiern wir Jubiläum: Wir feiern 150 Jahre Aargauischer Kunstverein und 50 Jah- re Aargauer Kunsthaus. Im Zentrum des Jubi-läums steht aber die Kunst und mit ihr die Künstlerinnen und Künstler. Die visarte aargau trägt dieses Fest mit und feiert mit der vorlie-genden Publikation auch sich selbst. Dass sich die Künstlerinnen und Künstler damit in Erin-nerung rufen, um mit uns in die Zukunft zu bli-cken, passt bestens ins inhaltliche Programm unseres Jubiläums.

Stephan Kunz, Kurator/stv. Direktor Aargauer Kunsthaus

* Titel einer Ausstellungsreihe im Aargauer Kunsthaus 1970 bis 1975

Impressum

Herausgeberin: visarte aargau, visarte Ausstellungsraum Goldenes Kalb, AarauProjektleitung: Sadhyo Niederberger, Sara RohnerMitarbeit: Cornelia Ackermann, Arlette Ochsner, Sandra WaltiGestaltung: Sandra Walti, belle vue, AarauBildbearbeitung, Internet, Diashow: Arlette Ochsner, LenzburgDruck: Kasimir Meyer AG, WohlenAuflage 2010: 1000 Ex.©visarte aargau

Wir bedanken uns bei der Kulturstiftung der Neuen Aargauer Bank, die den visarte Ausstellungsraum während drei Jahren grosszügig unterstützt hat und damit Wesentliches zu dessen Weiterbestehen und zur Realisierung dieser Publikation beigetragen hat.

«visarte aargau produziert: 127 x Kunst auf A6» ist eine umfangreiche Post-kartensammlung und gleichzeitig eine Bestandesaufnahme des aktuellen professionellen Kunstschaffens im Kanton Aargau.Der Inhalt öffnet ein breites Spektrum: Kunstschaffende, die auf ein rei-ches und anerkanntes Werk zurückschauen können, sind genauso vertre-ten wie junge Künstlerinnen und Künstler, deren Weg noch vor ihnen liegt. Zeichnung, Druckgrafik, Malerei, Objekte, Fotografie, Performance, Colla-ge, Videostills, Installationen, Internet kunst – jede Postkarte steht für eine Künstlerin, einen Künstler und je ein Werk, das es zu entdecken gilt. Die Publikation soll das Kennenlernen des vielfältigen Kunstschaffens er-möglichen und als Sammlung in keinem Büchergestell fehlen. Wir hoffen, dass die Postkarten in die ganze Welt verschickt werden. Wir danken den teilnehmenden Künstlerinnen und Künstlern für ihre persönlichen Beiträge, den Institutionen und Städten, die das Projekt finanziell unterstützt haben und allen, die zum Gelingen dieser Publika-tion beigetragen haben.Sadhyo Niederberger und Sara Rohner, Kunstschaffende, Projektleitung «127 x Kunst auf A6», Kuratorinnen im visarte Ausstellungsraum im Goldenen Kalb

STADT AARAU

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Maia Aeschbach Urs Aeschbach Hans Anliker Esther Amrein Serena Amrein Rosângela De Andrade Boss Annemarie Auer Valérie Balmer Stephan Baltensperger Ruth Berger Susanne BrändliMarius Brühlmeier Marie-Rose Bröchin Beda Büchi Antoine Bugmann Virginia Buhofer Tanja Bykova Cornelia Cottiati Regula Dettwiler Rahel Diethelm Hannes Egli Marianne EngelWerner Erne Sonja Feldmeier Sebastian Fischer Hans-Rudolf Fitze Audrey Fosbrooke Gabi Fuhrimann Daniel Furter Florian Gasser Christoph Gossweiler Emanuel Graf Otto Grimm Mireille GrosTherese Grossenbacher Verena Gubser Nesa Gschwend Ursula Guttropf Kurt Häfeli Peter Hauri Thomas Hauri Valentin Hauri Ernst Häusermann Godi Hertig Silvia Hintermann-HuserAndreas Hofer Christa Hostettler Teresa Hubbard/Alexander Birchler Martin Hufschmid Fritz Huser Ile Flottante Andrina Jörg Judith Jörger Tom Karrer Lionel Keller Christine KnuchelKoorder Oliver Krähenbühl Susi Kramer Sonja Kretz Marianne Kuhn Christian Kuntner Kathrin Kunz Dominique Lämmli Bruno Landis Oliver Lang Verena Leistner Rolf LenzinStephan Lichtensteiger Silvia Lüscher Wiesmann Andreas Marti Max Matter Anita Mendler Michele Meynier Heidi Miserez Luca Montanarini Sadhyo Niederberger Jos Nünlist Ruth Maria ObristArlette Ochsner Michael Omlin Susanna Perin Anita Pfau Kurt Plaas Erwin Rehmann Rosi Reinle Michael Roggli Sara Rohner Hans Rudolf Roth Lara Russi Ursula RutishauserCorinne M. Sauder Ueli Sager Willi Schoder Dorothea Schürch Milena Seiler Sandra Senn Remigius Sep Michael Stampf Félix Stampfli Jürg Stäuble Mette Stausland Hansruedi SteinerKarin Suter Paul Takács Heidrun Tiemann Sabine Trüb Behrouz Varghaiyan Gabi Vogt Rosmarie Vogt-Rippmann Thomas Walde Claudia Waldner Ueli Wagner Anna Weber Liz WeberRoger Weber Gillian White Heidi Widmer Rolf Winnewisser Sylvia Wirthlin Bruno Wittmer Heinz Wolf Max Woodtli Jurek Zaba David Zehnder Zobrist/Wäckerlin Beat Zoderer