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  • Leseprobe

    Habermas, JrgenSprachtheoretische Grundlegung der Soziologie. Philosophische Texte,

    Band 1

    Studienausgabe

    Suhrkamp Verlag978-3-518-58526-9

    Suhrkamp Verlag

  • SV

  • Jrgen HabermasPhilosophische Texte

    Studienausgabe in fnf Bnden

    Band 1

  • Jrgen HabermasSprachtheoretische

    Grundlegungder Soziologie

    Suhrkamp

  • Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

    in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

    ber http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    Erste Auflage 2009 Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2009

    Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der bersetzung,des ffentlichen Vortrags sowie der bertragung

    durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

    (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

    oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,vervielfltigt oder verbreitet werden.

    Satz und Druck:Memminger MedienCentrum AG

    Printed in GermanyISBN 978-3-518-58526-9

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  • Inhalt

    Vorwort zur Studienausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

    Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

    I. Zur sprachtheoretischen Grundlegung der Soziologie

    1. Vorlesungen zu einer sprachtheoretischenGrundlegung der Soziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

    II. Kommunikatives Handeln und Lebenswelt

    2. Erluterungen zum Begriff des kommunikativenHandelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

    3. Handlungen, Sprechakte, sprachlich vermittelteInteraktionen und Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . . . 197

    4. Individuierung durch Vergesellschaftung. Zu GeorgeHerbert Meads Theorie der Subjektivitt . . . . . . . . 243

    III. Rationalitt und Rekonstruktion

    5. Aspekte der Handlungsrationalitt . . . . . . . . . . . . 3036. Rekonstruktive vs. verstehende

    Sozialwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338

    IV. Von der Philosophie zur Gesellschaftstheorie

    7. Konzeptionen der Moderne. Ein Rckblick auf zweiTraditionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366

    Textnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401Gesamtinhaltsverzeichnis der Studienausgabe . . . . . . 405

  • Vorwort zur Studienausgabe

    Die thematisch geordnete Auswahl von Aufstzen soll Stu-denten den Zugang zum Kern meiner philosophischen Auffas-sungen erleichtern. Statt Gesammelter Abhandlungen legeich eine systematische Auswahl von Texten vor, die jeweils andie Stelle ungeschriebener Monographien treten mssen. Ichhabe zu wichtigen Themen, auf die sich meine im engeren Sinnephilosophischen Interessen richten, keine Bcher verfat we-der zu den sprachtheoretischen Grundlagen der Soziologienoch zur formalpragmatischen Konzeption von Sprache undRationalitt, noch zu Diskursethik oder politischer Philoso-phie oder zum Status des nachmetaphysischen Denkens. Die-ser merkwrdige Umstand wird mir selbst erst aus der Retro-spektive bewut.Meine Themenwahl und meine Arbeitsweise haben mich zuvielfltigen Kontakten mit Einzelwissenschaften angeregt. DerBezug zu normativen Fragen der Selbstverstndigung hat diephilosophische Perspektive auch bei der Verarbeitung sozi-alwissenschaftlicher, linguistischer, entwicklungspsychologi-scher und rechtstheoretischer Fachdiskussionen gewi prsentgehalten. Aber die Lsungsbedrftigkeit hartnckiger philoso-phischer Probleme hat sich oft erst im Zusammenhang anderer,materialreicher Studien aufgedrngt. Das hat anschlieendExplikationsversuche ntig gemacht, die nicht nur wie in ei-nem Puzzle in den umfassenderen Kontext einer Gesellschafts-theorie passen sollen, sondern als Beitrge zu philosophischenFachdiskussionen auf eigenen Fen stehen mssen. Philoso-phische Argumente knnen im weitverzweigten Netz derwissenschaftlichen Diskurse nur an Ort und Stelle verteidigtwerden.Die Auswahl der Texte macht sowohl diesen Anspruch als auchdie pluralistische Anlage einer Gesellschaftstheorie deutlich,die sich an vielen Fronten gleichzeitig der Kritik stellen mu.

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  • Die Auswahl berhrt weder die Monographien noch die frhe-ren Publikationen bis Ende der 1960er Jahre.1 Sie bercksich-tigt ebensowenig die soziologischen Arbeiten2 wie die philoso-phischen Portrts und die Abhandlungen, die sich auf einzelnephilosophische Anstze und Werke beziehen.3 Unbercksich-tigt bleiben natrlich auch meine politischen Interventionenund Zeitdiagnosen.Die kurzen Einleitungen zu den einzelnen Bnden enthaltenErluterungen und Kommentare zum Entstehungskontextaus dem Rckblick eines Autors, der am systematischen Ge-halt seiner Arbeiten interessiert ist. Eine andere Sache ist derDank, den ich meinen akademischen Lehrern, intellektuellenWeggefhrten und Mitarbeitern fr das schulde, was ich vonihnen gelernt habe. Darauf komme ich in einem anderen Zu-sammenhang zurck.Das Vorhaben einer Studienausgabe verdankt sich einer gro-zgigen Initiative des Suhrkamp Verlages. Der freundschaftli-che Rat von Lutz Wingert hat mir geholfen, Hemmungen ge-genber diesem Vorhaben zu berwinden. Ihm und seinenMitarbeitern Raphael Meyer und Angela Zoller bin ich auch frdie kompetente Erstellung der Sachregister zu Dank verpflich-tet. In der Zusammenarbeit mit Eva Gilmer habe ich erfahren,da meine Texte auch in der Vergangenheit eine gute Lektorinntig gehabt htten.

    Starnberg, September 2008 Jrgen Habermas

    1 Strukturwandel der ffentlichkeit (1962), Theorie und Praxis (1963/1971),Erkenntnis und Interesse (1968), Theorie des kommunikativen Handelns(1982), Der philosophische Diskurs der Moderne (1986), Faktizitt und Gel-tung (1992), Die Zukunft der menschlichen Natur (2002).

    2 Technik und Wissenschaft als Ideologie (1968), Legitimationsprobleme imSptkapitalismus (1973), Zur Rekonstruktion des Historischen Materialis-mus (1976), Zur Logik der Sozialwissenschaften (1967/1981), Die postnatio-nale Konstellation (1998).

    3 Philosophisch-politische Profile (1973/1981), Texte und Kontexte (1991),Vom sinnlichen Eindruck zum symbolischen Ausdruck (1997). Vielfach ber-wiegt auch in diesen Fllen das Interesse an systematischer Auseinanderset-zung die historisch-hermeneutische Absicht der Darstellung.

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  • Einleitung

    Die Christian Gauss Lectures, die ich 1971 an der PrincetonUniversity gehalten habe, bilden einen Einschnitt in der Ent-wicklung meiner philosophischen berlegungen. Gewi, dieBeschftigung mit Themen der Sprachphilosophie geht aufmeine Studienzeit zurck, unter anderem auf ein Seminar beiErich Rothacker und Leo Weisgerber ber die Tradition der anWilhelm von Humboldt anknpfenden inhaltlichen Sprach-wissenschaft. Vor allem die Diskussionen mit meinem Freundund Mentor Karl-Otto Apel1 hatten mich auf die Begegnungmit Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen und Gada-mers Wahrheit und Methode2 vorbereitet sowie spter zur Lek-tre der Sprach- und Zeichentheorie von Charles Sander Peirceangeregt. So hatte sich ein linguistic turn schon mit dem Litera-turbericht zur Logik der Sozialwissenschaften (1967)3 sowiewenig spter mit der kommunikationstheoretischen Deutungdes Strukturmodells der Psychoanalyse in Erkenntnis und In-teresse (1968) angebahnt.4 Aber meine soziologischen Unter-suchungen5 und sozialphilosophischen berlegungen6 habensich bis in die spten 1960er Jahre im Rahmen der FrankfurterTradition bewegt.Bis dahin hatte ich den Theoriehintergrund der lteren Kriti-

    1 Vgl. die bedeutende Habilitationsschrift von K.-O. Apel, Die Idee der Spra-che in der Tradition des Humanismus von Dante bis Vico, Bonn 1963.

    2 Zur Kritik allerdings schon J. Habermas, Der Universalittsanspruch derHermeneutik (1970), in: ders., Zur Logik der Sozialwissenschaften, Frank-furt/M. 1982, 331-366.

    3 Wieder abgedruckt in: Habermas (1982), 89-330, insbesondere 203-305.4 J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt/M. 1968, 262-331; dazu

    rckblickend J. Habermas, Nach dreiig Jahren: Bemerkungen zu Er-kenntnis und Interesse, in: S. Mller-Doohm (Hg.), Das Interesse der Ver-nunft, Frankfurt/M. 2000, 12-20, hier 17 f.

    5 J.Habermas, Strukturwandelderffentlichkeit,Neuwied 1962;ders.,Tech-nik und Wissenschaft als Ideologie, Frankfurt/M. 1968.

    6 J. Habermas, Theorie und Praxis, Neuwied 1963.

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  • schen Theorie nicht als solchen thematisiert und in Frage ge-stellt, obgleich mir das implizit geschichtsphilosophischeDenken und Adornos verschwiegene Orthodoxie (im Hin-blick auf die stillschweigend akzeptierte Marxsche Mehrwert-theorie) von Anfang an problematisch gewesen waren. Seitmeiner Dissertation beschftigte mich die Frage, wie sich einradikal geschichtliches Denken mit der Begrndung einernormativ gehaltvollen Gegenwartsdiagnose vershnen lt. Jemehr ich mich mit der empirischen Literatur zu zeitgenssi-schen Gesellschaften vertraut machte, um so weniger schienensich die horizontale Ausdifferenzierung und die beschleunigteKomplexittssteigerung dieser Verhltnisse dem Holismusdes hegelmarxistischen Paradigmas zu fgen.7 Auch aus diesenGrnden verstrkte sich der Zweifel an der subjektphiloso-phischen Begrifflichkeit der idealistischen Tradition, die sichin Georg Lukacs paradigmenbildenden Studien zu Geschichteund Klassenbewutsein8 mit einem schweren geschichtsphilo-sophischen Ballast zur Geltung gebracht hatte.9

    Radikale Erkenntniskritik, so hatte es im Vorwort zu Er-kenntnis und Interesse geheien, sei nur als Gesellschaftstheo-rie mglich; in der Durchfhrung habe ich dort jedoch nachwie vor versucht, die Normativitt des Wissens und die analy-tische Kraft der Selbstreflexion mit Bezug auf ein lernendesSubjekt im Groformat zu erklren. Die Detranszendentali-sierung der Leistungen dieses Subjekts fhrte folgerichtig nurzu einer Naturgeschichte der Menschengattung. Apel nann-te unsere gemeinsame Konzeption der Erkenntnisinteressennicht ohne Grund eine Erkenntnisanthropologie. SchonHegel hatte Kants transzendentales Subjekt vom Sockel desnoumenalen Status in die geschichtliche Bewegung des objek-

    7 Vgl. zu dieser frhen Phase immer noch T. McCarthy, Kritik der Verstndi-gungsverhltnisse, Frankfurt/M. 1989.

    8 H. Brunkhorst, Paradigmenkern und Theoriendynamik der KritischenTheorie der Gesellschaft, Soziale Welt, 34, 1, 1983, 22-56.

    9 Vgl. meine Einleitung zur Neuausgabe von J. Habermas, Theorie und Praxis,Frankfurt/M. 1978.

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  • tiven Geistes herabgeholt; und Marx hatte das sittliche Lebendes objektiven Geistes in die materielle Reproduktion der Ge-sellschaft berfhrt. Aber weder der eine noch der andere hat-te sich von der Begrifflichkeit der Subjektphilosophie gelst:Der weltgeschichtliche Lernproze vollzieht sich an Gro-subjekten wie Vlkern oder sozialen Klassen. Auch die Ideeeiner Gattungsgeschichte, obwohl sie sich nicht mehr allein inFormen der gesellschaftlich organisierten Arbeit, sonderngleichzeitig als ein kommunikativ vermittelter Bildungspro-ze vollziehen sollte, blieb noch dem reflexionsphilosophi-schen Modell verhaftet.Der entscheidende Schritt in den Gauss-Lectures ist die Erset-zung des transzendentalen Bewutseins (als Quelle der Kon-stituierung gesellschaftlicher Beziehungen) durch Praktikeneiner umgangssprachlichen Kommunikation, die der Gesell-schaft den gleichen immanenten Wahrheitsbezug sichern.Ohne einen in die Grundbegriffe aufgenommenen Vernunft-bezug wrde von vornherein der nichtarbitrre Mastab frdie kritische Erfassung jener sozialen Pathologien fehlen, dienach wie vor Aufgabe einer (wie es nun heit) Kommunika-tionstheorie der Gesellschaft sein sollte. Natrlich bedarf esder Situierung der Vernunft im sozialen Raum und in der hi-storischen Zeit. Um aber zu vermeiden, da die Detranszen-dentalisierung des Geistes mit der Einfhrung hherstufigerKollektivsubjekte erkauft wird, geht es nun um eine sprach-theoretische Grundlegung der Soziologie, die die dezentrie-rende Kraft der Kommunikation zur Geltung bringt und auchdie kollektiven Identitten von Gesellschaften und Kulturenals hherstufige und verdichtete Intersubjektivitten begreiftund dem pluralistischen Grundzug des sozialen Lebens Rech-nung trgt. Ich werde auf die Gauss-Lectures etwas ausfhrli-cher eingehen, weil sie einen Wendepunkt in meiner Theorie-bildung markieren. Die Numerierung bezieht sich auf dieReihenfolge der ausgewhlten Texte.(1) Die fllige Umbesetzung im Repertoire der gesellschafts-theoretischen Grundbegriffe nehme ich im Anschlu an jene

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  • individualistischen Anstze vor, die wie die Sozialphno-menologie Edmund Husserls und Alfred Schtz oder dieneukantianische Soziologie Georg Simmels und Max Adlers mit einer Vielzahl transzendentaler Subjekte rechnen unddaher notwendige subjektive Bedingungen einer mglichenVergesellschaftung postulieren mssen.Gewi, diese transzen-dentalen Anstze bleiben gesellschaftstheoretisch umfunk-tionierte Erkenntnistheorien, weil sie die Reproduktion derGesellschaft in Analogie zur Erzeugung einer intersubjektivgeteilten Welt mglicher Erfahrungen begreifen: Die Kon-stitution einer gemeinsamen sozialen Welt hngt von densynthetischen Bewutseinsleistungen der vergesellschaftetenIndividuen ab. Trotz dieser Schwchen boten sich diese Theori-en damals als Brcke fr die mir vorschwebende Konzeptioneiner nicht nur kommunikativ vernetzten, sondern aus nor-mativ voraussetzungsreichen Kommunikationsakten aufge-bauten Gesellschaft an.Ich brauchte nur die Wissensakte der erkennenden Subjektedurch die Sprechakte handelnder Subjekte zu ersetzen, um dasRationalittspotential umgangssprachlicher Kommunikationins Spiel zu bringen. Dieses stiftet ber die Bindungswirkungfaktisch anerkannter Geltungsansprche eine Beziehung zwi-schen der kommunikativen Vernunft auf der einen und denReproduktionsbedingungen der Gesellschaft auf der anderenSeite. Auf eine unbeholfene Weise versuchte ich mir damalsschon die Eigentmlichkeit von faktisch wirksamen Sinn-strukturen klar zu machen: Jede Gesellschaft, die wir alssinnhaft strukturierten Lebenszusammenhang auffassen, hateine ihr immanente Beziehung auf Wahrheit. Die Wirklichkeitvon Sinnstrukturen beruht nmlich auf einer eigentmlichenFaktizitt von Geltungsansprchen, die im allgemeinen naivhingenommen, d. h. als erfllt unterstellt werden. Geltungsan-sprche knnen freilich auch in Frage gestellt werden. Sie pr-tendieren, zu Recht zu bestehen, und diese Rechtmigkeitkann problematisiert und besttigt oder verworfen werden.Von Wahrheit kann dabei gewi nur in einem sehr weiten Sinn

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  • die Rede sein, eben im Sinne der Rechtmigkeit eines An-spruchs, der erfllt oder enttuscht werden kann.10

    Auch der Strukturalismus bietet die Sprache als Modell freine subjektlos-dezentrierte Gesellschaftskonzeption an. Aberdas grammatische Regelsystem als solches stiftet keinen Wahr-heitsbezug; dieser kommt erst mit der Kommunikation berSachverhalte ins Spiel. Die syntaktische mu um die semanti-sche und pragmatische Dimension der Sprache erweitert wer-den. Wenn sich einer mit dem anderen ber etwas in der Weltverstndigen will, kann die Kommunikation auch an Unver-stndnis oder Miverstndnis, also an grammatischen Fehlernoder am Fehlen einer gemeinsam beherrschten Sprache schei-tern; aber das eigentliche, das illokutionre Ziel die Verstn-digung mit einem anderen ber das, was der eine dem anderensagt kann nur auf den Ebenen von Semantik und Pragmatikverfehlt werden. Aus der Sicht eines Soziologen, der die All-tagspraxis beobachtet, ist nicht das Verstndnis einer sprach-lichen uerung per se das Ziel der Kommunikation, son-dern die Verstndigung ber das Gesagte. Ein Sprecher verfehltdieses Ziel, wenn er den Adressaten nicht berzeugen kann,wenn ihm die Grnde fehlen, um Zweifel zu entkrften. Dieinferentielle Semantik (die ich erst spter kennenlernen sollte)sttzt sich genau auf diesen Umstand: Kommunikationsteil-nehmer bewegen sich, weil sie sich am Ziel der Verstndigungorientieren, immer schon in einem Raum der Grnde, von de-nen sie sich affizieren lassen.Mit Fragen der Semantik habe ich mich erst spter befat;zunchst habe ich mir, von der Hermeneutik ausgehend, denWeg zu einer formalen Pragmatik (auf die ja am Ende auch dieinferentielle Semantik hinausluft) gebahnt. Noch ganz aufKarl-Otto Apels Spuren, hatte ich mich in der Logik der Sozi-alwissenschaften mit der Problematik des Sinnverstehens beiGadamer und dem spten Wittgenstein befat. Diese metho-dologische Problematik erhlt, indem ich sie in die Hand-

    10 In diesem Band, 59 f.

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  • lungstheorie einbringe und auf die Knotenpunkte der kom-munikativen Vernetzung sozialer Interaktionen beziehe, einenanderen, und zwar theoriekonstruktiven Stellenwert. Die An-knpfung des Kommunikationsmodells der Gesellschaft an diephnomenologisch und neukantianisch ansetzenden Konstitu-tionstheorien der Gesellschaft macht deutlich, da ein sozial-wissenschaftlicher Beobachter, dem nur ein hermeneutischerZugang zu seinem sinnhaft strukturierten Objektbereich of-fensteht, auf derselben Ebene operiert wie die beobachtetenAktoren, die ber ihre sprachlich vermittelten Interaktionendie Gesellschaft und damit den Gegenstandsbereich sozial-wissenschaftlicher Theoriebildung sowohl hervorbringen alsauch reproduzieren.11

    Das Kommunikationsmodell der Gesellschaft erbt von dertranszendentalen Begriffsstrategie die Einebnung des in denNaturwissenschaften aufrechterhaltenen Geflles zwischenTheorie und Gegenstand. Der sozialwissenschaftliche Inter-pret nimmt einen hnlichen Status ein wie die von ihm be-obachteten Subjekte. Nur in der Rolle eines virtuellen Teil-nehmers kann er seine Beobachtungen vornehmen und diegesammelten Daten verstehen. Dadurch gewinnen aber dieEinsichten der Hermeneutik, die uns ber das Geschft derInterpretation aufklrt, fr die Beschreibung der Interpreta-tionspraxis der handelnden Subjekte selber eine unmittelbareRelevanz. Die Kommunikationsleistungen, die im Feld derbeobachteten sozialen Interaktionen die Brde der Hand-lungskoordinierung tragen, vollziehen sich nach demselbenMuster wie die Deutungen des sozialwissenschaftlichen Inter-preten.Die Gauss-Lectures sind das Ergebnis einer grundbegriffli-chen Arbeit, die mich vom Weberschen Begriff des normenge-leiteten Handelns ber den Meadschen Begriff der symbolischvermittelten Interaktion zum Begriff des kommunikativenHandelns gefhrt hat. Dieser Ausdruck war solange ein Pro-

    11 Ausfhrlicher in: J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns,Frankfurt/M. 1981, Bd.1, 167 ff.

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  • blemtitel geblieben, wie die klare Unterscheidung zwischenden Ebenen der sozialen Handlungen und der im Vollzug die-ser Handlungen ausgefhrten Sprechakte fehlte und die hand-lungskoordinierende Bindungswirkung der Sprechakte unge-klrt blieb. Das nderte sich erst mit den formalpragmatischenberlegungen, die ich in der vierten Vorlesung skizziere. Alsmethodischer Leitfaden fr eine Theorie kommunikativerKompetenz diente mir damals Noam Chomskys Grammatik-theorie, die beansprucht, die Sprachfhigkeit kompetenterSprecher anhand der Regeln zur Generierung wohlgeform-ter Stze zu rekonstruieren. Nachdem ich Chomsky 1965 aufmeiner ersten Amerika-Reise als Kritiker des SkinnerschenSprachbehaviorismus entdeckt hatte, war ich von diesemVersuch, das Gebrauchswissen kompetenter Sprecher zu re-konstruieren, beeindruckt. Allerdings interessierte mich we-niger die linguistische Kompetenz als solche. In der Substanzstand schon damals etwas anderes im Zentrum12 die Doppel-struktur der Sprechakte und die eigentmliche Selbstbezg-lichkeit der umgangssprachlichen Kommunikation, auf die ichdurch John Searles Theorie der Sprechakte13 aufmerksam ge-worden war: Eine Situation mglicher Verstndigung for-dert, da mindestens zwei Sprecher/Hrer gleichzeitig eineKommunikation auf beiden Ebenen herstellen, auf der Ebeneder Intersubjektivitt, auf der die Subjekte miteinander spre-chen, und auf der Ebene der Gegenstnde (oder Sachverhalte),ber die sie sich verstndigen.14

    Um das Argumentationsziel, den Lebensproze der Gesell-schaft als einen durch Sprechakte vermittelten Erzeugungs-proze zu erreichen, waren drei weitere Schritte ntig: Der mit Hilfe performativer Verben gebildete illokutionreBestandteil mute gewissermaen zum Sitz von diskursiv ein-

    12 Vgl. die Seminarvorlage Vorbereitende Bemerkungen zur kommunikati-venKompetenz,aufgenommenin: J. Habermas,N.Luhmann,TheoriederGesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt/M. 1971, 101-141.

    13 J. Searle, Speech Acts, Cambridge 1969; dt.: Frankfurt/M. 1971.14 Siehe in diesem Band, 117.

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  • lsbaren Geltungsansprchen umgewidmet werden. Dadurcherfahren die illokutionren Akte, die J. L. Austin zunchst amBeispiel institutionell gebundener Sprechhandlungen analy-siert hatte, ber die von Searle vorgenommene Generalisie-rung hinaus einen Funktionswandel. Anhand eines Systems von Geltungsansprchen (der Wahr-heit, Wahrhaftigkeit und Richtigkeit), mit dem ich zugleich dierationale Binnenstruktur der umgangssprachlichen Kommu-nikation, also den Begriff der kommunikativen Vernunftaufklren wollte, muten die jeweils vorfindbaren Sprech-handlungen nach entsprechenden Klassen (der Konstativa, Re-prsentativa und Regulativa) differenziert und im Hinblick aufihren mglichen Koppelungseffekt fr anschlufhige sozialeHandlungen untersucht werden. Die Theorie der Sprechakte,die bei Searle die Rolle einer Bedeutungstheorie spielt, solltenun einen Mechanismus der Handlungskoordinierung erkl-ren. Kommunikatives Handeln, also der Typus sozialen Han-delns, der durch eine symmetrisch verstndigungsorientierteVerwendung von Sprechhandlungen charakterisiert ist, mutevon der reflexiven Ebene des Diskurses unterschieden wer-den, auf der die Beteiligten problematisierte Geltungsanspr-che zum Thema machen. Als Modell dient mir die diskursiveEinlsung von Wahrheitsansprchen, die ich im Anschlu anStephen Toulmin untersucht15 und etwas voreilig, wie sichherausstellen sollte16 zu einer Konsenstheorie der Wahrheitausgebaut habe.17

    Wenn man die fnf in Princeton gehaltenen Vorlesungen alsGanzes in den Blick nimmt, sieht man, da diese Begriffs-klrungen bestenfalls das Besteck liefern, nicht die Mahlzeit.Aber mit einer im weiteren Sinne wahrheitstheoretisch ge-deuteten Kommunikation als dem wesentlichen Medium zurErzeugung sozialer Ordnung hielt ich nun einen Schlssel

    15 S. Toulmin, The Uses of Argument, Cambridge 1964.16 Siehe Einleitung zu Band 2 der Studienausgabe.17 J. Habermas, Wahrheitstheorien, Studienausgabe, Band 2, 207-268.

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  • zu Grundfragen der Gesellschaftstheorie in der Hand: DieOppositionsbegriffe der Verstndigungs- und der Erfolgsori-entierung erschlieen das ganze Feld der soziologischen Hand-lungsbegriffe (2). Die komplementre Beziehung von kommu-nikativem Handeln und Lebenswelt erlaubt den Schritt vonder Handlungs- zur Gesellschaftstheorie (3). Mit Hilfe kom-munikationstheoretischer berlegungen lassen sich sodanndrei weitere Probleme klren: Die klassische Frage nach demVerhltnis von Individuum und Gesellschaft wird im Sinne ei-ner Intersubjektivittstheorie beantwortet (4), das WeberscheKonzept der gesellschaftlichen Rationalisierung wird berden Aspekt der Zweckrationalitt hinaus erweitert (5) und derhermeneutische Ansatz der verstehenden Soziologie im Sinneeines rational rekonstruierenden Vorgehens vertieft (6). DieRationalittstheorie bildet schlielich eine Brcke vom philo-sophischen Diskurs der Moderne zur gesellschaftstheoretischenGegenwartsdiagnose (7).(2) Mit dem kommunikativen Handeln zeichnen die Gauss-Lectures eine hchst unwahrscheinliche Art von Interaktio-nen aus. Der Anschlu der Handlungen von Ego an die vonAlter ist jederzeit durch die Zurckweisung eines kritisier-baren Geltungsanspruchs gefhrdet. Aber die kommunika-tionstheoretische Weichenstellung fhrt von philosophischenHandlungstheorien, die sich vornehmlich um die Aufklrungder teleologischen Struktur von Zweckttigkeit und rationalerWahl bemhen, zur zentralen Fragestellung einer soziologi-schen Handlungstheorie, die die interaktive Erzeugung sozia-ler Ordnungen erklren mchte. Der zweite Text in diesemBand, der sich schon auf die inzwischen fertiggestellte Theoriedes kommunikativen Handelns sttzt, behandelt Verstndi-gung als einen solchen Mechanismus der Handlungskoordi-nierung.Die motivierende Kraft eines Sprechaktangebots resultiertnicht aus der Gltigkeit des Gesagten, sondern aus der koor-dinationswirksamen Glaubwrdigkeit der Garantie, die derSprecher implizit dafr bernimmt, seinen geltend gemach-

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  • ten Anspruch erforderlichenfalls einzulsen. Die Theorie derSprechhandlungen liefert sodann Gesichtspunkte, unter denensich die Einheit in der Vielfalt der soziologischen Handlungs-begriffe erschliet. Soziales Handeln reicht vom rationalenWahlverhalten ber strategisches und normengeleitetesHandeln bis zum dramaturgischen Handeln. Diese Hand-lungstypen lassen sich nach den Weltbezgen differenzie-ren, die Sprecher jeweils mit Einstellungen der ersten, zweitenund dritten Person aufnehmen. Weil die Komplexitt mo-derner Gesellschaften die Binnenperspektive handlungstheo-retischer Anstze bersteigt, mssen allerdings die MedienMacht und Markt die sprachliche Kommunikation, diezusammen mit Werten und Normen die Quelle der gesell-schaftlichen Solidaritt bildet, ergnzen. Auf der Handlungs-ebene ist das mediengesteuerte Handeln ein Reflex auf diehochgradige Verselbstndigung kapitalgesteuerter konomi-en und machtgesteuerter Brokratien.(3) In den Gauss-Lectures ist die Frage offen geblieben, wieaus dem formalpragmatisch eingefhrten Begriff des kommu-nikativen Handelns eine empirisch brauchbare Kommunikati-onstheorie der Gesellschaft entwickelt werden kann. Der drit-te Text widmet sich der philosophischen Aufgabe, auf demWege vom sozialen Handeln zur sozialen Ordnung die Kon-tinuitt der Grundbegriffe zu sichern. Das Konzept der Le-benswelt als des sprachlich strukturierten Hintergrundeskommunikativen Handelns ist von zentraler Bedeutung frdiesen Anschlu der Handlungs- an die Gesellschaftstheorie.Hilfreich war wiederum Searle, der eine linguistische Trans-formation der Husserlschen Lebensweltkonzeption vorge-nommen hatte.18 Ein vorgngiges, holistisch verfates, impli-zites Wissen wie, das im Modus von Gewiheiten fungiert,mu in einem gegebenen Kontext die wrtliche Bedeutung dersprachlich standardisierten uerungen stillschweigend er-gnzen. Vor allem erklrt dieser Hintergrund intersubjektiv

    18 J. Searle, Expression and Meaning, Cambridge 1979, Kap.5; dt.: Frankfurt/M. 1982.

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  • geteilter Selbstverstndlichkeiten, warum die Lebenswelt dasDissensrisiko einer ber kritisierbare Geltungsansprche lau-fenden Kommunikation auffangen kann.Um aus einem formalpragmatisch eingefhrten Konzept derLebenswelt den Begriff der Gesellschaft als symbolisch struk-turierter Lebenswelt zu entwickeln, ist eine Reihe weitererSchritte ntig: Die Formalpragmatik entwirft das Bild einer Lebenswelt,die sich ber die kommunikativen Handlungen derer, die ihrangehren, solange reproduzieren kann, wie die Teilnehmeran der kommunikativen Alltagspraxis ihrerseits vom sprach-lich artikulierten lebensweltlichen Hintergrund zehren. Die-ser kreisfrmige Proze schliet sich freilich nicht narzitischgegen die Erfahrungen ab, die die kommunikativ Handelndenin ihrem Umgang miteinander und in der Konfrontation mitdem innerweltlichen Geschehen machen. Der lebensweltlicheVorschu der welterschlieenden Sprache ist nicht immungegen die rckwirkend revisionre Kraft der sprachlich er-mglichten innerweltlichen Lernprozesse. Die Struktur diesesProzesses mu zwar zunchst formalpragmatisch aus der Be-teiligtenperspektive aufgeklrt werden. Dann bietet sie aberfr einen sozialwissenschaftlichen Beobachter, der eine vor-gefundene soziokulturelle Lebensform als eine unter vielenLebenswelten empirisch untersucht, eine grundbegrifflicheOrientierung. Der bergang von der einen zur anderen Perspektive ge-lingt mit Hilfe einer Differenzierung, die den zunchst in-transparenten lebensweltlichen Hintergrund anhand vonSprechhandlungstypen und Geltungsansprchen in konsens-fhige Deutungsschemata (kulturelles Wissen), legitim geord-nete interpersonelle Beziehungen (Ressourcen gesellschaftli-cher Solidaritt) und Persnlichkeitsstrukturen (Ergebnisseder Sozialisation) aufgliedert und damit empirisch greifbarmacht.19

    19 Ausfhrlicher in: Habermas (1981), Bd. II, 212 ff.

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  • Nach dem Vorbild der Unterscheidung von Sozial- und Sy-stemintegration, die begrifflich ber eine handlungstheo-retische Schiene miteinander verknpft sind, lt sich dersozialwissenschaftliche Systembegriff an das Lebensweltkon-zept anschlieen.20 Die ber die Medien Macht und Marktgesteuerten sozialen Beziehungen knnen die Gestalt vonsprachlich vermittelten Interaktionen annehmen; aber die Ak-toren verfolgen dann ber die Verstndigungsprozesse regel-mig Handlungsziele, die sich ausschlielich nach je eigenenPrferenzen richten.21

    (4) Im weiteren lst der kommunikationstheoretische Ansatzein Problem, an dem Husserl unter Prmissen der Bewut-seinsphilosophie gescheitert war. In den Cartesianischen Me-ditationen ist es ihm nicht gelungen zu zeigen, wie eine inter-subjektiv geteilte Lebenswelt aus der egologischen Sicht dertranszendentalen Monaden erzeugt werden kann.22 Diese phi-losophische Frage, die dem Paradigmenstreit zwischen Men-talismus und Sprachphilosophie zugrunde liegt, entscheidetauch ber die gesellschaftstheoretische Frage, die der vierteText behandelt wie das Verhltnis von Individuum und Ge-sellschaft begriffen werden kann.In der an Hegel anschlieenden Tradition des amerikanischenPragmatismus hat George Herbert Mead den Begriff der In-tersubjektivitt aus den Entstehungsbedingungen symbolischvermittelter Interaktionen entwickelt. Demnach stiften Sym-bole, indem sie ber reziproke Verhaltenserwartungen diepragmatisch entscheidende Funktion der Handlungskoor-dinierung erfllen, zwischen den beteiligten Aktoren dieGemeinsamkeit eines Verstndnisses fr den semantischenGehalt dieser Symbole. Aus dem pragmatischen Erfolg inter-aktionssteuernder Symbole, die fr beide Seiten dieselbe Be-deutung annehmen, erklrt sich der semantische Kern ge-

    20 Vgl. dazu Habermas (1981), Bd. II, 384-419.21 Vgl. dazu Habermas (1981), Bd. I, Erste Zwischenbetrachtung.22 M. Theunissen, Der Andere, Berlin 1977, Erster Teil.

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