Handelsblatt - 24 06 2020

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Laschets Lockdown Das Tönnies-Debakel zwingt zu drastischen Schritten. S. 6, 14 G 02531 NR. 119 PREIS 3,30 € Dax 12 517,16 +2,07 % E-Stoxx 50 3 291,37 +1,53 % Dow Jones 26 128,06 +0,40 % S&P 500 3 144,96 +0,87 % Gold 1 767,74 $ +0,76 % Euro/Dollar 1,1338 $ +0,68 % Stand: 17:00 Uhr Kurz notiert · Boris Johnson lockert Coro- na-Regeln: Auf den 4. Juli wer- den sich viele Briten freuen – dann nämlich enden zahlreiche Einschränkungen, die Großbri- tanniens Premierminister Boris Johnson im Zuge der Corona- Pandemie verhängt hatte. Die Lockerungen gelten aber vor- erst nur im englischen Landes- teil. Schottland sowie Wales entscheiden erst noch selbst- ständig. Seite 7 · Die Erholung in der deut- schen Wirtschaft hat begon- nen: Zwar bleibt die Unsicher- heit über die weitere Pandemie- Entwicklung hoch. Doch den schlimmsten Teil der Corona- Rezession hat Deutschland überwunden, meinen zumindest die Wirtschaftsweisen in ihrer neuen Konjunkturprognose. Seite 8 · Rätselraten um Thieles Pläne bei der Lufthansa: Die Unruhe vor der alles entscheidenden Hauptversammlung von Luft- hansa am morgigen Donnerstag wächst. Auch ein Gespräch mit dem Finanz- und dem Wirt- schaftsminister in Berlin brachte am Montag offenbar keine Klar- heit, welche Ziele der Münche- ner Unternehmer und Lufthan- sa-Großaktionär Heinz Hermann Thiele verfolgt. Seite 16 · Apple trennt sich von Intel: Der amerikanische Konzern wird künftig bei seinen Mac- Computern auf Prozessoren des amerikanischen Chipher- stellers Intel verzich- ten. Der iPhone-Pro- duzent will sich da- mit vom Rest der PC-Branche abset- zen. Für Intel ist die Apple-Entscheidung ein herber Verlust. Seite 20 · Furcht vor Chinas Technolo- giemacht: Die prominente In- vestorin Nicole Junkermann sorgt sich wegen der wachsen- den technologischen Macht der Volksrepublik und der verpass- ten Chancen in Europa. Die Angst vor einer Corona-Pleite- welle von Start-ups hält sie aber für unbegründet. Seite 28 Der Leverkusener Konzern einigt sich in den USA außergerichtlich mit Tausenden von Glyphosat-Klägern. Nicht nur die Börse reagiert euphorisch. Bayer vor Milliardenvergleich Bayer-Chef Werner Baumann: Acht bis zehn Milliarden Euro für juristischen Frieden. AFP/Getty Images > Schwerpunkt Seiten 4 - 5 AFP S eit fast zwei Jahren belasten Tausende von Klagen wegen des Unkrautvernichters Gly- phosat Stimmung und Bilanzen der Bayer AG. Nun will der Leverkusener Konzern sich endlich von dem schweren Erbe durch den Zukauf des Glyphosat-Produzenten Monsanto freikau- fen. So etwas kostet bisweilen viel Geld. Noch in dieser Woche soll eine Einigung über einen milliardenschwe- ren Vergleich mit den Glyphosat-Klägern verkündet werden, erfuhr das Handelsblatt aus Kreisen der Ver- handlungspartner sowie des Unternehmens. Demnach liegt eine unterschriftsreife Einigung vor, über die noch der Bayer-Aufsichtsrat beraten und ab- stimmen muss. Das soll in den kommenden Tagen erfolgen, wie es in den Kreisen weiter heißt. Bayer wollte sich auf Anfrage nicht äußern. Die Höhe des Vergleichs soll zwischen acht und zehn Milliarden Dollar betragen. Zwei Milliarden Dollar davon gelten als „Rücklage“, mit der Bayer die Ansprüche künfti- ger Kläger begleichen kann. Mit dem Rest sollen die gesamten in den USA anhängigen Klagen von Nut- zern des umstrittenen Unkrautvernichters beigelegt werden. Über 50.000 Menschen hatten das glypho- sathaltige Mittel Roundup zuletzt für ihre Krebser- krankung verantwortlich gemacht. Die Vergleichssumme liegt im Rahmen der Erwar- tungen der meisten Analysten und deutlich unter der zunächst befürchteten Summe von 15 bis 20 Mil- liarden Euro. Am Dienstag reagierte der Aktienkurs mit einem deutlichen Sprung nach oben: Bayer-Titel stiegen um sechs Prozent auf 72,50 Euro. Mit der Ei- nigung könnte Bayer endlich ein leidiges und teures Kapitel abschließen, das mit der Übernahme von Monsanto vor zwei Jahren begonnen hatte. Mit dem 63 Milliarden Dollar schweren Kauf halsten sich die Deutschen auch die kompletten Rechtsrisiken des umstrittenen Saatgutkonzerns auf. Anders als mit einem Vergleich hätte der Konzern nach drei Niederlagen vor US-Gerichten die Klagewel- le kaum noch beenden können. Der Vorstand um CEO Werner Baumann bleibt aber unter Druck: Er muss das Geschäft auf Hochtouren halten, damit Bay- er die Milliarden für die Kläger und deren Anwälte schnell vergessen kann. Bert Fröndhoff, Katharina Kort Erste Verhaftung bei Wirecard Ex-Chef Braun stellte sich den Ermittlern – und darf auf Kaution wieder raus. Der langjährige Wirecard-Chef Markus Braun ist im Zuge des Bilanzskandals bei dem Zahlungsdienstleister vorübergehend festgenommen worden. Wie die Staatsan- waltschaft München erklärte, hat Braun sich selbst gestellt. Er habe „in einem ers- ten Gespräch seine Mitarbeit zugesagt“, er- klärte Oberstaatsanwältin Anne Leiding. Am Dienstag wurde der Haftbefehl gegen Auflagen außer Vollzug setzt. Konkret wirft die Staatsanwaltschaft Braun vor, die Bi- lanzsumme und das Umsatzvolumen „durch vorgetäuschte Einnahmen aus Ge- schäften“ aufgebläht zu haben, um das Un- ternehmen als „finanzkräftiger und für In- vestoren und Kunden attraktiver darzustel- len“. Braun war am Freitag von seinem Chefposten zurückgetreten. Am Montag hatte Wirecard erklärt, man gehe davon aus, dass eine zunächst als vermisst gemel- dete Summe von 1,9 Milliarden Euro – ein Viertel der Bilanzsumme – wahrscheinlich nie existiert hat. Teile des Asiengeschäfts könnten Luftbuchungen gewesen sein. Im Zuge des Skandals steigt der Druck auf die Finanzaufsicht. Bundesfinanzminis- ter Olaf Scholz (SPD) sagte, es stellten sich „kritische Fragen“ im Fall Wirecard, „insbe- sondere mit Blick auf die Rechnungslegung und die Bilanzkontrolle. Hier scheinen Wirtschaftsprüfer wie Aufsichtsbehörden nicht effektiv gewesen zu sein.“ feho, scc MITTWOCH, 24. JUNI 2020 DEUTSCHLANDS WIRTSCHAFTS- UND FINANZZEITUNG > Bericht, Kommentar Seiten 23, 26 Spione im Homeoffice Wie Unternehmen ihre Mitarbeiter mit Schnüffel-Software ausspähen. S. 18 Zug um Zug Grafik des Tages: Europas beste Bahnhöfe. S. 24 Handelsblatt GmbH Kundenservice Tel. 0800–2233110, [email protected] Monatsabonnement: Handelsblatt Print: 66,70 Euro Handelsblatt Print + Premium: 76,69 Euro www.handelsblatt.com/angebot Belgien, Luxemburg, Niederlande u. Österreich 3,70 € / 3,90 €, Frankreich 4,10 € / 4,50 €, Großbritannien 3,70 GBP / 3,90 GBP, Schweiz 5,80 CHF / 6,20 CHF, Polen 22,90 PLN / 23,90 PLN UPLOADED BY "What's News" vk.com/wsnws TELEGRAM: t.me/whatsnws

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Laschets Lockdown Das Tönnies-Debakel zwingt zu drastischen Schritten. S. 6, 14
G 02531 NR. 119 PREIS 3,30 €
Dax 12 517,16 +2,07 %
S&P 500 3 144,96 +0,87 %
Gold 1 767,74 $ +0,76 %
· Boris Johnson lockert Coro-
na-Regeln: Auf den 4. Juli wer- den sich viele Briten freuen – dann nämlich enden zahlreiche Einschränkungen, die Großbri- tanniens Premierminister Boris Johnson im Zuge der Corona- Pandemie verhängt hatte. Die Lockerungen gelten aber vor- erst nur im englischen Landes- teil. Schottland sowie Wales entscheiden erst noch selbst- ständig. Seite 7
· Die Erholung in der deut-
schen Wirtschaft hat begon-
nen: Zwar bleibt die Unsicher- heit über die weitere Pandemie- Entwicklung hoch. Doch den schlimmsten Teil der Corona- Rezession hat Deutschland überwunden, meinen zumindest die Wirtschaftsweisen in ihrer neuen Konjunkturprognose. Seite 8
· Rätselraten um Thieles Pläne
bei der Lufthansa: Die Unruhe vor der alles entscheidenden Hauptversammlung von Luft- hansa am morgigen Donnerstag wächst. Auch ein Gespräch mit dem Finanz- und dem Wirt- schaftsminister in Berlin brachte am Montag offenbar keine Klar- heit, welche Ziele der Münche- ner Unternehmer und Lufthan- sa-Großaktionär Heinz Hermann Thiele verfolgt. Seite 16
· Apple trennt sich von Intel:
Der amerikanische Konzern wird künftig bei seinen Mac- Computern auf Prozessoren des
amerikanischen Chipher- stellers Intel verzich-
ten. Der iPhone-Pro- duzent will sich da- mit vom Rest der PC-Branche abset-
zen. Für Intel ist die Apple-Entscheidung
ein herber Verlust. Seite 20
· Furcht vor Chinas Technolo-
giemacht: Die prominente In- vestorin Nicole Junkermann sorgt sich wegen der wachsen- den technologischen Macht der Volksrepublik und der verpass- ten Chancen in Europa. Die Angst vor einer Corona-Pleite- welle von Start-ups hält sie aber für unbegründet. Seite 28
Der Leverkusener Konzern einigt sich in den USA außergerichtlich mit Tausenden von Glyphosat-Klägern. Nicht nur die Börse reagiert euphorisch.
Bayer vor Milliardenvergleich
Bayer-Chef Werner Baumann: Acht bis zehn Milliarden Euro für juristischen Frieden.
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S eit fast zwei Jahren belasten Tausende von Klagen wegen des Unkrautvernichters Gly- phosat Stimmung und Bilanzen der Bayer AG. Nun will der Leverkusener Konzern sich endlich von dem schweren Erbe durch den
Zukauf des Glyphosat-Produzenten Monsanto freikau- fen. So etwas kostet bisweilen viel Geld. Noch in dieser Woche soll eine Einigung über einen milliardenschwe- ren Vergleich mit den Glyphosat-Klägern verkündet werden, erfuhr das Handelsblatt aus Kreisen der Ver- handlungspartner sowie des Unternehmens.
Demnach liegt eine unterschriftsreife Einigung vor, über die noch der Bayer-Aufsichtsrat beraten und ab- stimmen muss. Das soll in den kommenden Tagen erfolgen, wie es in den Kreisen weiter heißt. Bayer wollte sich auf Anfrage nicht äußern. Die Höhe des Vergleichs soll zwischen acht und zehn Milliarden Dollar betragen. Zwei Milliarden Dollar davon gelten als „Rücklage“, mit der Bayer die Ansprüche künfti- ger Kläger begleichen kann. Mit dem Rest sollen die gesamten in den USA anhängigen Klagen von Nut- zern des umstrittenen Unkrautvernichters beigelegt werden. Über 50.000 Menschen hatten das glypho- sathaltige Mittel Roundup zuletzt für ihre Krebser- krankung verantwortlich gemacht.
Die Vergleichssumme liegt im Rahmen der Erwar- tungen der meisten Analysten und deutlich unter der zunächst befürchteten Summe von 15 bis 20 Mil- liarden Euro. Am Dienstag reagierte der Aktienkurs mit einem deutlichen Sprung nach oben: Bayer-Titel stiegen um sechs Prozent auf 72,50 Euro. Mit der Ei- nigung könnte Bayer endlich ein leidiges und teures Kapitel abschließen, das mit der Übernahme von Monsanto vor zwei Jahren begonnen hatte. Mit dem 63 Milliarden Dollar schweren Kauf halsten sich die Deutschen auch die kompletten Rechtsrisiken des umstrittenen Saatgutkonzerns auf.
Anders als mit einem Vergleich hätte der Konzern nach drei Niederlagen vor US-Gerichten die Klagewel- le kaum noch beenden können. Der Vorstand um CEO Werner Baumann bleibt aber unter Druck: Er muss das Geschäft auf Hochtouren halten, damit Bay- er die Milliarden für die Kläger und deren Anwälte schnell vergessen kann. Bert Fröndhoff, Katharina Kort
Erste Verhaftung bei Wirecard Ex-Chef Braun stellte sich den Ermittlern – und darf auf Kaution wieder raus.
Der langjährige Wirecard-Chef Markus Braun ist im Zuge des Bilanzskandals bei dem Zahlungsdienstleister vorübergehend festgenommen worden. Wie die Staatsan- waltschaft München erklärte, hat Braun sich selbst gestellt. Er habe „in einem ers- ten Gespräch seine Mitarbeit zugesagt“, er- klärte Oberstaatsanwältin Anne Leiding.
Am Dienstag wurde der Haftbefehl gegen Auflagen außer Vollzug setzt. Konkret wirft die Staatsanwaltschaft Braun vor, die Bi-
lanzsumme und das Umsatzvolumen „durch vorgetäuschte Einnahmen aus Ge- schäften“ aufgebläht zu haben, um das Un- ternehmen als „finanzkräftiger und für In- vestoren und Kunden attraktiver darzustel- len“. Braun war am Freitag von seinem Chefposten zurückgetreten. Am Montag hatte Wirecard erklärt, man gehe davon aus, dass eine zunächst als vermisst gemel- dete Summe von 1,9 Milliarden Euro – ein Viertel der Bilanzsumme – wahrscheinlich
nie existiert hat. Teile des Asiengeschäfts könnten Luftbuchungen gewesen sein.
Im Zuge des Skandals steigt der Druck auf die Finanzaufsicht. Bundesfinanzminis- ter Olaf Scholz (SPD) sagte, es stellten sich „kritische Fragen“ im Fall Wirecard, „insbe- sondere mit Blick auf die Rechnungslegung und die Bilanzkontrolle. Hier scheinen Wirtschaftsprüfer wie Aufsichtsbehörden nicht effektiv gewesen zu sein.“ feho, scc
MITTWOCH, 24. JUNI 2020
DEUTSCHLANDS WIRTSCHAFTS- UND FINANZZEITUNG
Spione im Homeoffice Wie Unternehmen ihre Mitarbeiter mit Schnüffel-Software ausspähen. S. 18
Zug um Zug Grafik des Tages: Europas
beste Bahnhöfe. S. 24
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Meinung & Debatte Wirtschaft & Politik / S. 12 Leitartikel Fake in Germany: Erst VW, jetzt Wirecard: Die Betrugsskandale im Dax schaden der deutschen Wirtschaft. Kommentar Vorbild Gütersloh: Der loka- le Lockdown markiert den Weg in unse- re neue Normalität.
Unternehmen & Märkte / S. 22 Leitartikel Corona verändert die Ener- giewelt: Die Chance zur Rettung des Weltklimas muss jetzt genutzt werden.
Unternehmen & Märkte
Finanzen & Börsen
Namen & Nachrichten
Wirtschaft & Politik
Kiran Mazumdar-
Klartext in Corona-
Zeiten / Seite 44 Die mehrfache Milliardärin wettert gegen das Versagen des Gesundheitssystems in In- dien.
S. 45/ Robert Buchbauer Die Geschäfte beim öster- reichischen Kristallkonzern Swarovski laufen schlecht. Der CEO will nun noch 600 Arbeitsplätze beim Traditi- onskonzern streichen und die Kurzarbeit verlängern. S. 46/ Ulrich Spiesshofer
Beim Schweizer Technolo- giekonzern ABB musste der damalige Chef im vergange- nen Jahr nach einem Macht- kampf gehen. Nun heuert er bei der Investmentgesell- schaft Black stone an. S. 47/
Frank Kracht Der Bürger- meister von Sassnitz ist Ge-
sellschafter des Hafens von Mukran und damit in die geopolitische Konfrontation um die Pipeline Nord Stream 2 geraten. Er be- fürchtet Sanktionen der Vereinigten Staaten.
+ BusinessLounge / S. 47
gegebenen Versprechen, für
und führen zu stetig
Analyst
Aktienwert
Empfehlung
50,24 €
60,00 €
Kaufen
Aktien von Heidelberg Cement profitieren von einer Kaufempfehlung der französi- schen Großbank Société Générale. Zuvor hatte sie Papiere des Dax-30-Konzerns nur mit „halten“ bewertet. Das Kursziel wurde indes von 68 auf 60 Euro gesenkt. Die Ergebnisse des Zementher- stellers zeigten sich in Krisen- zeiten als widerstandsfähig, zudem seien die Aktien attraktiv bewertet, hieß es zur Begründung. Die Papiere leg- ten um etwa vier Prozent zu.
Analystencheck
tionaler Währungsfonds
legen Konjunkturdaten
vor: Nachdem am Dienstag der Sachverständigenrat in Deutschland Mut gemacht hat für eine schnelle Erholung der Wirtschaft, legen nun zwei weitere Stellen ihre Ein- schätzung zur konjunkturel- len Lage vor: Das Ifo-Institut veröffentlicht seinen Ge- schäftsklimaindex, für den das Institut Unternehmen nach ihren Erwartungen be- fragt. Der Index soll möglichst früh Änderungen bei der Konjunktur anzeigen. Derzeit ist jeder Hinweis auf den Ver- lauf der Konjunktur in den nächsten Monaten willkom- men, denn die Prognosen lie- gen weit auseinander. Mög- lich scheint eine längere Schwächephase der Wirt- schaft, aber auch ein schnel- les Erholen und Wettmachen der Verluste aus den ersten beiden Quartalen. Der Inter- nationale Währungsfonds IWF wiederum veröffentlicht seinen Weltwirtschaftsaus- blick. Dieser soll Auskunft da- rüber geben, ob die Konjunk- turprogramme weltweit dazu geeignet sind, die Wirtschaft wieder anzuschieben. Das hat für die exportorientierten deutschen Unternehmen di- rekte Auswirkungen.
2 In München lädt die
Sixt SE zu ihrer ersten
virtuellen Hauptver-
sammlung: Die Coronakrise hat Deutschlands größten Autovermieter schwer getrof- fen. Sixt braucht Hilfe vom Staat. Das Unternehmen hat sich deshalb im Mai eine bis zu 1,5 Milliarden Euro schwere Kreditlinie von der staatlichen Förderbank KfW und vier Ge-
schäftsbanken besorgt. 70 Prozent – also 1,04 Milliarden Euro – davon kommen von der KfW. Heute will Mehr- heitsaktionär Erich Sixt erklä- ren, wie es beim Autovermie- ter weitergeht.
3 Standortkonferenz des
Wirtschaftsministeri-
ums: Wo steht Deutschland in Bezug auf sei- ne industrierelevanten wirt- schaftlichen Rahmenbedin- gungen im internationalen Vergleich? Das ist die Leitfra- ge einer Analyse, die im Rah- men der Standortkonferenz 2020 des Bundeswirtschafts- ministeriums (BMWi) vorge- stellt wird. Auch wird das BMWi erste Maßnahmen aus der Industriestrategie 2030 vorstellen, die sich in der Um- setzung befinden oder be- reits umgesetzt wurden. Wirtschaftsminister Peter Alt- maier diskutiert dazu mit Ver- tretern von Wirtschaftsver- bänden, Gewerkschaften und Politik.
4 Die zweite Berliner
und Sicherheit:
Deutschlands Außenminister Heiko Maas, die stellvertre- tende Generalsekretärin der Vereinten Nationen, Amina J. Mohammed, und Frankreichs Außenminister Jean-Yves Le Drian eröffnen die virtuelle Konferenz zu Klima und Si- cherheit. Deutschland über- nimmt im Juli dieses Jahres erneut den Vorsitz im Sicher- heitsrat der Vereinten Natio- nen. Neben den Auswirkun- gen von Pandemien auf die internationale Sicherheit wird es auch um die Sicherheitsri- siken infolge des Klimawan- dels gehen.
Roche ................................................................................34
SAP ....................................................................................34
Swarovski .........................................................................45
Tönnies ..........................................................................6, 15
Volkswagen .......................................................................21
Wirecard ...........................................................................23
Handelsblatt-Debatte
Kreuzfahrtindustrie vor langem Weg aus der Krise
Das Kreuzfahrtgeschäft ist unter dem Eindruck der Pandemie nahezu vollständig zum Erliegen gekommen. Die Unternehmen versuchen jetzt, die Gäste wieder an Bord zu locken. Dies dürfte meiner Ansicht nach schwierig werden. Corona-Infektionen scheinen gerade in beliebten Kreuzfahrtregionen wie der Karibik und Mittelamerika noch nicht unter Kontrolle zu sein. Ferner macht sich die Angst vor einer zweiten Anste- ckungswelle breit. Im Zuge der allgemeinen Markterholung haben auch die Aktien der Kreuzfahrer wieder zugelegt. Deutsche-Bank-Analys- ten meinen allerdings, dass Investoren zu viele Vorschusslorbeeren ver- teilt haben. Nach Berechnungen der Experten werden die Firmen selbst im Jahr 2023 die Umsatz- und Gewinnniveaus von 2019 noch nicht wieder erreicht haben. Für ein Investment scheint es mir noch zu früh zu sein.
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Meinung & Debatte Wirtschaft & Politik / S. 12 Leitartikel Fake in Germany: Erst VW, jetzt Wirecard: Die Betrugsskandale im Dax schaden der deutschen Wirtschaft. Kommentar Vorbild Gütersloh: Der loka- le Lockdown markiert den Weg in unse- re neue Normalität.
Unternehmen & Märkte / S. 22 Leitartikel Corona verändert die Ener- giewelt: Die Chance zur Rettung des Weltklimas muss jetzt genutzt werden.
Unternehmen & Märkte
Finanzen & Börsen
Namen & Nachrichten
Wirtschaft & Politik
Kiran Mazumdar-
Klartext in Corona-
Zeiten / Seite 44 Die mehrfache Milliardärin wettert gegen das Versagen des Gesundheitssystems in In- dien.
S. 45/ Robert Buchbauer Die Geschäfte beim öster- reichischen Kristallkonzern Swarovski laufen schlecht. Der CEO will nun noch 600 Arbeitsplätze beim Traditi- onskonzern streichen und die Kurzarbeit verlängern. S. 46/ Ulrich Spiesshofer
Beim Schweizer Technolo- giekonzern ABB musste der damalige Chef im vergange- nen Jahr nach einem Macht- kampf gehen. Nun heuert er bei der Investmentgesell- schaft Black stone an. S. 47/
Frank Kracht Der Bürger- meister von Sassnitz ist Ge-
sellschafter des Hafens von Mukran und damit in die geopolitische Konfrontation um die Pipeline Nord Stream 2 geraten. Er be- fürchtet Sanktionen der Vereinigten Staaten.
+ BusinessLounge / S. 47
gegebenen Versprechen, für
und führen zu stetig
Analyst
Aktienwert
Empfehlung
50,24 €
60,00 €
Kaufen
Aktien von Heidelberg Cement profitieren von einer Kaufempfehlung der französi- schen Großbank Société Générale. Zuvor hatte sie Papiere des Dax-30-Konzerns nur mit „halten“ bewertet. Das Kursziel wurde indes von 68 auf 60 Euro gesenkt. Die Ergebnisse des Zementher- stellers zeigten sich in Krisen- zeiten als widerstandsfähig, zudem seien die Aktien attraktiv bewertet, hieß es zur Begründung. Die Papiere leg- ten um etwa vier Prozent zu.
Analystencheck
tionaler Währungsfonds
legen Konjunkturdaten
vor: Nachdem am Dienstag der Sachverständigenrat in Deutschland Mut gemacht hat für eine schnelle Erholung der Wirtschaft, legen nun zwei weitere Stellen ihre Ein- schätzung zur konjunkturel- len Lage vor: Das Ifo-Institut veröffentlicht seinen Ge- schäftsklimaindex, für den das Institut Unternehmen nach ihren Erwartungen be- fragt. Der Index soll möglichst früh Änderungen bei der Konjunktur anzeigen. Derzeit ist jeder Hinweis auf den Ver- lauf der Konjunktur in den nächsten Monaten willkom- men, denn die Prognosen lie- gen weit auseinander. Mög- lich scheint eine längere Schwächephase der Wirt- schaft, aber auch ein schnel- les Erholen und Wettmachen der Verluste aus den ersten beiden Quartalen. Der Inter- nationale Währungsfonds IWF wiederum veröffentlicht seinen Weltwirtschaftsaus- blick. Dieser soll Auskunft da- rüber geben, ob die Konjunk- turprogramme weltweit dazu geeignet sind, die Wirtschaft wieder anzuschieben. Das hat für die exportorientierten deutschen Unternehmen di- rekte Auswirkungen.
2 In München lädt die
Sixt SE zu ihrer ersten
virtuellen Hauptver-
sammlung: Die Coronakrise hat Deutschlands größten Autovermieter schwer getrof- fen. Sixt braucht Hilfe vom Staat. Das Unternehmen hat sich deshalb im Mai eine bis zu 1,5 Milliarden Euro schwere Kreditlinie von der staatlichen Förderbank KfW und vier Ge-
schäftsbanken besorgt. 70 Prozent – also 1,04 Milliarden Euro – davon kommen von der KfW. Heute will Mehr- heitsaktionär Erich Sixt erklä- ren, wie es beim Autovermie- ter weitergeht.
3 Standortkonferenz des
Wirtschaftsministeri-
ums: Wo steht Deutschland in Bezug auf sei- ne industrierelevanten wirt- schaftlichen Rahmenbedin- gungen im internationalen Vergleich? Das ist die Leitfra- ge einer Analyse, die im Rah- men der Standortkonferenz 2020 des Bundeswirtschafts- ministeriums (BMWi) vorge- stellt wird. Auch wird das BMWi erste Maßnahmen aus der Industriestrategie 2030 vorstellen, die sich in der Um- setzung befinden oder be- reits umgesetzt wurden. Wirtschaftsminister Peter Alt- maier diskutiert dazu mit Ver- tretern von Wirtschaftsver- bänden, Gewerkschaften und Politik.
4 Die zweite Berliner
und Sicherheit:
Deutschlands Außenminister Heiko Maas, die stellvertre- tende Generalsekretärin der Vereinten Nationen, Amina J. Mohammed, und Frankreichs Außenminister Jean-Yves Le Drian eröffnen die virtuelle Konferenz zu Klima und Si- cherheit. Deutschland über- nimmt im Juli dieses Jahres erneut den Vorsitz im Sicher- heitsrat der Vereinten Natio- nen. Neben den Auswirkun- gen von Pandemien auf die internationale Sicherheit wird es auch um die Sicherheitsri- siken infolge des Klimawan- dels gehen.
Roche ................................................................................34
SAP ....................................................................................34
Swarovski .........................................................................45
Tönnies ..........................................................................6, 15
Volkswagen .......................................................................21
Wirecard ...........................................................................23
Handelsblatt-Debatte
Kreuzfahrtindustrie vor langem Weg aus der Krise
Das Kreuzfahrtgeschäft ist unter dem Eindruck der Pandemie nahezu vollständig zum Erliegen gekommen. Die Unternehmen versuchen jetzt, die Gäste wieder an Bord zu locken. Dies dürfte meiner Ansicht nach schwierig werden. Corona-Infektionen scheinen gerade in beliebten Kreuzfahrtregionen wie der Karibik und Mittelamerika noch nicht unter Kontrolle zu sein. Ferner macht sich die Angst vor einer zweiten Anste- ckungswelle breit. Im Zuge der allgemeinen Markterholung haben auch die Aktien der Kreuzfahrer wieder zugelegt. Deutsche-Bank-Analys- ten meinen allerdings, dass Investoren zu viele Vorschusslorbeeren ver- teilt haben. Nach Berechnungen der Experten werden die Firmen selbst im Jahr 2023 die Umsatz- und Gewinnniveaus von 2019 noch nicht wieder erreicht haben. Für ein Investment scheint es mir noch zu früh zu sein.
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Bert Fröndhoff, Katharina Kort Düsseldorf, New York
A uf den ersten Blick ist die Reaktion merkwürdig: Voraussichtlich acht bis zehn Milliarden Dollar muss Bayer bezahlen, damit der Konzern die Gly- phosat-Klagewelle in den USA per au-
ßergerichtlichem Vergleich beilegen kann – und die Aktionäre als Eigentümer feiern diesen Geldabfluss mit Kurssprüngen bei der Aktie.
Doch den Konzern und seine Aktionäre verbin- det in diesem Fall eines: Sie wollen nach vorn schauen und die Last des Rechtsrisikos Glyphosat loswerden. Nachdem Bayer im August 2018 in ei- nem wegweisenden Urteil von einer kalifornischen Jury zu einer Zahlung von 289 Millionen Dollar Schadensersatz verurteilt wurde, hat der Konzern mehr als 30 Prozent an Wert verloren. Die Rechts- risiken durch die Übernahme von Monsanto lagen wie Blei auf dem Aktienkurs. Nun rechnen die Ak- tionäre kühl: Acht bis zehn Milliarden Dollar sind viel Geld, aber verkraftbar für die substanzstarke Bayer AG – und weit weniger als anfangs befürchtet.
Nach Verhandlungen über ein Dreivierteljahr mit den Klägeranwälten soll es nun so weit sein. Ein unterschriftsreifer Vertrag über eine außergericht- liche Einigung liegt vor. Sie soll noch in dieser Wo- che festgezurrt werden, wie das Handelsblatt aus Kreisen der Verhandlungspartner und des Unter- nehmens erfuhr. Der Aufsichtsrat soll in den nächs- ten Tagen über den Vergleich abstimmen.
Mit der Einigung könnte Bayer vorerst ein leidi- ges und teures Kapitel abschließen, das mit der Übernahme von Monsanto vor zwei Jahren begon- nen hat. Die Leverkusener hatten den umstrittenen Saatgutkonzern für 63 Milliarden Dollar gekauft und sich damit auch die kompletten Rechtsrisiken eingefangen. Vor allem der Unkrautvernichter Roundup hat Tausende Kläger auf den Plan geru- fen, die ihre Lymphom-Erkrankungen auf den Ge- brauch des beliebten Mittels zurückführen.
Mehr als 50.000 Klagen lagen zuletzt vor. Um sie beizulegen, will Bayer bis zu acht Milliarden Dollar bereitstellen. Weitere zwei Milliarden Dollar gelten als „Rücklage“, mit der Bayer die Ansprüche künf- tiger Kläger begleichen kann. Schließlich können Kunden auch in der Zukunft Krebs entwickeln und gegen Bayer klagen. Die Ansprüche dieser Men- schen würden dann aus der Rücklage bedient.
Mit der bevorstehenden außergerichtlichen Eini- gung kommen die seit Spätsommer 2019 laufenden Gespräche zu einem Ende. Sie hatten sich zuletzt wegen der Corona-Pandemie hingezogen. Hinzu kam, dass zunächst nicht alle großen Klägerkanz- leien in den USA der Einigung zustimmten. Das ist nun aber offenbar der Fall, denn es handelt sich den Kreisen zufolge um eine landesweite Einigung.
Vergleich statt Endlosprozesse Zum Zeitpunkt der Übernahme im Juni 2018 lagen erst vergleichsweise wenige Klagen von krebskran- ken Amerikanerinnen und Amerikanern gegen Monsanto vor. Bayer setzte in der dann beginnen- den Auseinandersetzung mit den Klägeranwälten zunächst auf eine harte Verteidigungsstrategie vor Gericht. Sie fußte darauf, dass Zulassungsbehörden in den USA, Europa und Asien Glyphosat als sicher eingestuft haben und keinen Beleg für eine Krebs- gefahr durch den Unkrautvernichter sehen.
Doch damit kam Bayer zur eigenen Überra- schung vor den Jurys in drei Prozessen zwischen August 2018 und Mai 2019 nicht durch. Dort wur- den Studien vorgelegt, die bei Jury und Richtern Zweifel an der Sicherheit des Produkts nährten.
Auch die Überprüfung der Geschworenenurteile durch die Gerichte in erster Instanz fiel nicht nach der Vorstellung von Bayer aus. Die Richter senkten zwar die horrend hohen Schadensersatzsummen – im dritten Prozess sollte Bayer nach dem Willen der Jury zwei Milliarden Dollar an die beiden Klä- ger zahlen. An dem grundsätzlichen Urteil, nach dem Glyphosat eine signifikante Ursache für die Krebserkrankungen trage, rüttelten sie aber nicht. Nach drei klar verlorenen Prozessen zeichnete sich
ab, dass Bayer mit seiner Argumentation in erster Instanz vor Gericht nicht erfolgreich ist.
Im Frühsommer 2019 wechselte Bayer die Strate- gie und ließ sich auf Gespräche mit den Klägeran- wälten über eine außergerichtliche Beilegung ein. Angelockt von den hohen Schadensersatzurteilen war die Zahl der Klagen zu dem Zeitpunkt bereits auf mehr als 18.000 gestiegen.
Der Schwenk von Bayer kam allerdings nicht frei- willig. Zum einen machten Investoren wie der US- Hedgefonds Elliott Druck. Zum anderen hatte ein Richter aus San Francisco im Mai 2019 den erfahre- nen Mediator Kenneth Feinberg eingesetzt, um zwischen den Zigtausenden Klägern und dem Mon- santo-Käufer Bayer zu vermitteln.
Feinberg hatte unter anderem schon die Vermitt- lungen für die Entschädigung der 9/11-Opfer gelei- tet und auch beim VW-Abgasskandal vermittelt. An einer Einigung war prinzipiell allen Seiten gelegen: Bayer wollte aus den Negativschlagzeilen kommen. Die Klägeranwälte wiederum waren nicht an einer
endlosen Prozessführung interessiert, weil die teu- er und aufwendig ist. Sie wissen – ebenso wie Bay- er –, dass bei Produkthaftungsklagen im US-Recht am Ende fast immer ein Vergleich steht.
Die Roundup-Verhandlungen waren kompliziert und langwierig, auch weil die beiden Seiten sich auf zahlreiche Kategorien für die unterschiedlichen Entschädigungen einigen mussten. So hängt die Höhe der nun gezahlten Entschädigungen von der Schwere der Krankheit ebenso ab wie davon, ob je- mand Roundup nur in seinem Vorgarten genutzt hat oder als Landschaftsgärtner eines städtischen Parks. Die Summe, die den verschiedenen Klägern zugesprochen wird, kann von einigen Tausend Dol- lar bis zu mehreren Millionen reichen.
Parallel zu den Vergleichsverhandlungen hat Bayer die bereits laufenden Klagen in die nächste Instanz weitergeführt. Erst Anfang Juni hatte der Berufungsprozess für den ersten Roundup-Prozess begonnen, in dem der schwer an Krebs erkrankte Platzwart Dewayne Johnson geklagt hatte.
Monsantos Erbe wird teuer
Die Investoren von Bayer feiern den bevorstehenden Vergleich im Glyphosat-Streit. Der deutsche Konzern will mit etlichen Milliarden ein eh schon teures Kapitel endlich abschließen.
Die Aufsichts - behörden
Richter im Berufungsprozess
Titelthema Bayers Milliardeneinigung
MITTWOCH, 24. JUNI 2020, NR. 119 4
In der ersten Instanz hatte eine Jury im August 2018 Bayer zu einem Schadensersatz plus Zusatz- strafen in Höhe von 289 Millionen Dollar verurteilt, was das Gericht später auf 79 Millionen Dollar re- duzierte. In dem Berufungsprozess geht es in ers- ter Linie um die Höhe des Schadensersatzes und nicht um die Schuldfrage an sich. Das liegt auch da- ran, dass Juryurteile zur Schuld im amerikanischen Justizsystem einen hohen Stellenwert haben. Bayer erhofft sich von den Berufungsrichtern hingegen ein Urteil im Sinne des Konzerns.
Doch die erste Anhörung in der Berufung An- fang Juni war kein Erfolg für die Leverkusener. Ihr Anwalt David Axelrad hatte argumentiert, dass Monsanto nicht vor Krebsfolgen hatte warnen müs- sen, weil die amerikanische Umweltbehörde EPA und andere Regulierungsbehörden weltweit Round up als sicher eingestuft hatten.
Einer der Richter hingegen verwies auf die von den Klägern vorgelegten Studien, die einen statis- tisch relevanten Zusammenhang zwischen Lymph- drüsenkrebs und Glyphosat nahelegten. „Die Auf- sichtsbehörden scheinen klar auf einer Seite zu ste- hen. Aber es gibt viele Belege für die andere“, sagte der Richter bei der Anhörung.
Ob die ersten Signale aus dem Berufungsprozess die parallelen Vergleichsgespräche beeinflussten, ist unklar. Schon zuvor hatte sich abgezeichnet, dass Bayer noch vor dem Sommer eine Lösung in der Causa Glyphosat sucht. Vorstandschef Werner Baumann hatte mehrfach betont, dass Bayer nur eine Einigung annimmt, die für den Konzern wirt- schaftlich vertretbar und hinreichend abschlie- ßend ist – die also eine neue Klagewelle verhindern kann. Auch wenn erst vergangene Woche verschie- dene Kanzleien insgesamt 13 neue Klagen im Na- men von kranken Kindern eingereicht haben, scheint eine solche Lösung nun gefunden.
Vor allem Privatnutzer klagen
Für Bayer ist das glyphosathaltige Pflanzenschutz- mittel Roundup ein wichtiger Umsatzbringer. Es wird zum überwiegenden Teil an Farmer verkauft, die es in Verbindung mit gentechnisch veränder- tem Saatgut einsetzen. Der kleinere Teil des Ge- schäfts entfällt auf die Unkrautbeseitigung in Gär- ten von Privatanwendern. Sie stellen aber den Großteil der Kläger. Monsanto hatte diese privaten Nutzer lange mit Spots umworben, in denen Hobbygärtner in Shorts und T-Shirt Roundup ohne jede Schutzmaske versprühten.
Für die weitere Vermarktung von Roundup ist es für Bayer wichtig, das das Produktlabel nicht mit einem Warnhinweis wegen möglicher Krebsgefahr versehen werden muss. Denn diese Krebsgefahr bestreitet Bayer weiterhin. Auch der außergericht- liche Vergleich ist nicht als ein Schuldeingeständnis in dieser Frage zu werten, denn jedes Eingeständ- nis wird darin explizit ausgeschlossen.
Beim Produktlabel von Glyphosat bekommt Bay- er in den USA Unterstützung vonseiten der Justiz. Am Montag urteilte ein Bundesgericht im kaliforni- schen Sacramento, dass der Konzern auf dem „Bei- packzettel“ des Unkrautvernichters nicht vor Krebsgefahren warnen muss. Der Bundesstaat Ka- lifornien hatte dies zuvor angeordnet. Dazu hatte die kalifornische Regierung aber offensichtlich kein Recht. Denn die Formulierung des Roundup-Pro- duktlabels ist in den USA eine Bundesangelegen- heit, die von der Umweltbehörde EPA wahrgenom- men wird. Die EPA aber sieht keine Anhaltspunkte für eine Krebsgefahr von Roundup.
Ob Glyphosat krebserregend ist oder nicht, ist nicht abschließend geklärt. Die Krebsforschungs- agentur der Weltgesundheitsorganisation, IARC, hatte 2015 den Wirkstoff als „wahrscheinlich krebs- erregend“ eingestuft, also in der gleichen Kategorie wie rotes Fleisch und Mate-Tee. Hingegen sehen al- le großen Zulassungsbehörden kein Risiko.
Chempark Leverkusen: Die Klage- welle belastete Bayer schwer.
B ay
D er milliardenschwere außergerichtliche Vergleich in Sachen Glyphosat wird die Anwälte der Kläger reich machen. Erfah-
rungsgemäß streichen sie um die 30 Prozent der ausgehandelten Summe als Honorar ein. Bei ei- ner Vergleichssumme von zehn Milliarden Dollar hieße das: Drei Milliarden gehen allein an die be- teiligten Kläger-Kanzleien. Dazu gehören die gro- ßen Namen der Branche wie die Miller Law Firm oder Baum Hedlund Aristei & Goldman, aber auch kleinere, junge Kanzleien wie Andrus Wag - staff. Insgesamt waren mehr als 20 Kanzleien an den Verfahren gegen Bayer beteiligt.
Die großen Kanzleien arbeiten in dem Glypho- sat-Fall zusammen und sind eine Art Sammelstel- le: Kleinere Kanzleien werben vor Ort in den USA neuer Kläger ein, die dann an die größeren wei- tergegeben und dort zu Tausenden Fällen gebün- delt werden. Das Einwerben erfolgt über TV- Spots und Werbetafeln, für die die Anwälte Mil- lionen ausgeben. Die Prozesskosten strecken sie vor, für den Kläger ist das Risiko gleich null.
Das alles läuft im rechtlichen Rahmen des US- Justizsystems. Doch manchmal übertreten An- wälte die Schwelle zum gesetzwidrigen Handeln, wenn sie das große Geschäft bei Produkthaf- tungsklagen wittern. In der Rechtssache Glypho- sat gab es einen der krassesten Fälle dieser Art.
Die Protagonisten dabei sind die Anwälte Ti- mothy Litzenburg, 38, und Daniel Kincheloe, 41. Sie wurden Ende voriger Woche von einem Ge- richt im US-Bundesstaat Virginia für schuldig er- klärt. Sie hätten eine rote Linie zwischen übli- chem aggressivem Auftreten als Anwalt und ille- galem Handeln überschritten, warf einer der Staatsanwälte ihnen vor.
Litzenburg war einer der Anwälte, die dem Kläger im ersten aufsehenerregenden Glyphosat- Prozess gegen Monsanto/Bayer 2018 zu hohem Schadensersatz verholfen hatte. Er feierte dies als großen Sieg. Später kam heraus, dass er ver- sucht hat, 200 Millionen Dollar von einem Che- miekonzern zu erpressen. Dabei handelt es sich nicht um Bayer/Monsanto, sondern um einen Zu- lieferer für Pflanzenschutzmittel. Litzenburg ha- be dem Unternehmen damit gedroht, es tief in die Welle der Glyphosat-Verfahren zu ziehen.
Litzenburg soll gesagt haben, er könne mit öf- fentlichen Statements gegen die Firma für ein „PR-Desaster“ und einen „Kurssturz von 40 Pro- zent“ sorgen. Der Anwalt bot dem Chemieunter- nehmen an, gegen eine Zahlung von 200 Millio- nen Dollar von all dem abzusehen und schlug ei- nen Beratervertrag vor. Das Chemieunter- nehmen hatte die Gespräche mit ihm aufgezeich- net und die Staatsanwaltschaft informiert. An dem Erpressungsversuch war Partner Kincheloe offenbar wissentlich beteiligt. Bert Fröndhoff
Anwalt Timothy Litzenburg: Verurteilt wegen versuchter Erpressung.
Ja m
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Aktienkurs in Euro
HANDELSBLATT Quelle: Bloomberg
13. Mai 2019 Kalifornische Jury verurteilt Bayer/Monsanto zu 2 Mrd. US$ Schadenersatz für Ehepaar; Gericht senkt Summe auf 87 Mio. US$
23. Oktober 2018 Gericht bestätigt Urteil, senkt Strafe aber auf 78 Mio. US$
10. Aug. 2018 Jury in Kalifornien ver- urteilt Bayer/Monsanto zur Zahlung von 289 Mio. US$ Schadensersatz an krebskranken Mann
7. Juni 2018 Bayer schließt 63 Mrd. US$ teure Übernahme von Monsanto ab
73,22 €
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28. März 2019 2. Glyphosat-Prozess: Bayer soll 80 Mio. US$ an den krebskranken Kläger zahlen; Summe wird später auf 25 Mio. US$ gesenkt
26. Juni 2019 Bayer-Aufsichtsrat be- schließt eigenen Ausschuss für Rechtssache Glyphosat und begrüßt Ernennung von Kenneth Feinberg zum Mediator für Verhandlungen mit Klägeranwälten
52.000 KLAGEN
Roundup an.
Quelle: Bayer
A FP
Bayers Milliardeneinigung
MITTWOCH, 24. JUNI 2020, NR. 119 5
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Bert Fröndhoff, Katharina Kort Düsseldorf, New York
A uf den ersten Blick ist die Reaktion merkwürdig: Voraussichtlich acht bis zehn Milliarden Dollar muss Bayer bezahlen, damit der Konzern die Gly- phosat-Klagewelle in den USA per au-
ßergerichtlichem Vergleich beilegen kann – und die Aktionäre als Eigentümer feiern diesen Geldabfluss mit Kurssprüngen bei der Aktie.
Doch den Konzern und seine Aktionäre verbin- det in diesem Fall eines: Sie wollen nach vorn schauen und die Last des Rechtsrisikos Glyphosat loswerden. Nachdem Bayer im August 2018 in ei- nem wegweisenden Urteil von einer kalifornischen Jury zu einer Zahlung von 289 Millionen Dollar Schadensersatz verurteilt wurde, hat der Konzern mehr als 30 Prozent an Wert verloren. Die Rechts- risiken durch die Übernahme von Monsanto lagen wie Blei auf dem Aktienkurs. Nun rechnen die Ak- tionäre kühl: Acht bis zehn Milliarden Dollar sind viel Geld, aber verkraftbar für die substanzstarke Bayer AG – und weit weniger als anfangs befürchtet.
Nach Verhandlungen über ein Dreivierteljahr mit den Klägeranwälten soll es nun so weit sein. Ein unterschriftsreifer Vertrag über eine außergericht- liche Einigung liegt vor. Sie soll noch in dieser Wo- che festgezurrt werden, wie das Handelsblatt aus Kreisen der Verhandlungspartner und des Unter- nehmens erfuhr. Der Aufsichtsrat soll in den nächs- ten Tagen über den Vergleich abstimmen.
Mit der Einigung könnte Bayer vorerst ein leidi- ges und teures Kapitel abschließen, das mit der Übernahme von Monsanto vor zwei Jahren begon- nen hat. Die Leverkusener hatten den umstrittenen Saatgutkonzern für 63 Milliarden Dollar gekauft und sich damit auch die kompletten Rechtsrisiken eingefangen. Vor allem der Unkrautvernichter Roundup hat Tausende Kläger auf den Plan geru- fen, die ihre Lymphom-Erkrankungen auf den Ge- brauch des beliebten Mittels zurückführen.
Mehr als 50.000 Klagen lagen zuletzt vor. Um sie beizulegen, will Bayer bis zu acht Milliarden Dollar bereitstellen. Weitere zwei Milliarden Dollar gelten als „Rücklage“, mit der Bayer die Ansprüche künf- tiger Kläger begleichen kann. Schließlich können Kunden auch in der Zukunft Krebs entwickeln und gegen Bayer klagen. Die Ansprüche dieser Men- schen würden dann aus der Rücklage bedient.
Mit der bevorstehenden außergerichtlichen Eini- gung kommen die seit Spätsommer 2019 laufenden Gespräche zu einem Ende. Sie hatten sich zuletzt wegen der Corona-Pandemie hingezogen. Hinzu kam, dass zunächst nicht alle großen Klägerkanz- leien in den USA der Einigung zustimmten. Das ist nun aber offenbar der Fall, denn es handelt sich den Kreisen zufolge um eine landesweite Einigung.
Vergleich statt Endlosprozesse Zum Zeitpunkt der Übernahme im Juni 2018 lagen erst vergleichsweise wenige Klagen von krebskran- ken Amerikanerinnen und Amerikanern gegen Monsanto vor. Bayer setzte in der dann beginnen- den Auseinandersetzung mit den Klägeranwälten zunächst auf eine harte Verteidigungsstrategie vor Gericht. Sie fußte darauf, dass Zulassungsbehörden in den USA, Europa und Asien Glyphosat als sicher eingestuft haben und keinen Beleg für eine Krebs- gefahr durch den Unkrautvernichter sehen.
Doch damit kam Bayer zur eigenen Überra- schung vor den Jurys in drei Prozessen zwischen August 2018 und Mai 2019 nicht durch. Dort wur- den Studien vorgelegt, die bei Jury und Richtern Zweifel an der Sicherheit des Produkts nährten.
Auch die Überprüfung der Geschworenenurteile durch die Gerichte in erster Instanz fiel nicht nach der Vorstellung von Bayer aus. Die Richter senkten zwar die horrend hohen Schadensersatzsummen – im dritten Prozess sollte Bayer nach dem Willen der Jury zwei Milliarden Dollar an die beiden Klä- ger zahlen. An dem grundsätzlichen Urteil, nach dem Glyphosat eine signifikante Ursache für die Krebserkrankungen trage, rüttelten sie aber nicht. Nach drei klar verlorenen Prozessen zeichnete sich
ab, dass Bayer mit seiner Argumentation in erster Instanz vor Gericht nicht erfolgreich ist.
Im Frühsommer 2019 wechselte Bayer die Strate- gie und ließ sich auf Gespräche mit den Klägeran- wälten über eine außergerichtliche Beilegung ein. Angelockt von den hohen Schadensersatzurteilen war die Zahl der Klagen zu dem Zeitpunkt bereits auf mehr als 18.000 gestiegen.
Der Schwenk von Bayer kam allerdings nicht frei- willig. Zum einen machten Investoren wie der US- Hedgefonds Elliott Druck. Zum anderen hatte ein Richter aus San Francisco im Mai 2019 den erfahre- nen Mediator Kenneth Feinberg eingesetzt, um zwischen den Zigtausenden Klägern und dem Mon- santo-Käufer Bayer zu vermitteln.
Feinberg hatte unter anderem schon die Vermitt- lungen für die Entschädigung der 9/11-Opfer gelei- tet und auch beim VW-Abgasskandal vermittelt. An einer Einigung war prinzipiell allen Seiten gelegen: Bayer wollte aus den Negativschlagzeilen kommen. Die Klägeranwälte wiederum waren nicht an einer
endlosen Prozessführung interessiert, weil die teu- er und aufwendig ist. Sie wissen – ebenso wie Bay- er –, dass bei Produkthaftungsklagen im US-Recht am Ende fast immer ein Vergleich steht.
Die Roundup-Verhandlungen waren kompliziert und langwierig, auch weil die beiden Seiten sich auf zahlreiche Kategorien für die unterschiedlichen Entschädigungen einigen mussten. So hängt die Höhe der nun gezahlten Entschädigungen von der Schwere der Krankheit ebenso ab wie davon, ob je- mand Roundup nur in seinem Vorgarten genutzt hat oder als Landschaftsgärtner eines städtischen Parks. Die Summe, die den verschiedenen Klägern zugesprochen wird, kann von einigen Tausend Dol- lar bis zu mehreren Millionen reichen.
Parallel zu den Vergleichsverhandlungen hat Bayer die bereits laufenden Klagen in die nächste Instanz weitergeführt. Erst Anfang Juni hatte der Berufungsprozess für den ersten Roundup-Prozess begonnen, in dem der schwer an Krebs erkrankte Platzwart Dewayne Johnson geklagt hatte.
Monsantos Erbe wird teuer
Die Investoren von Bayer feiern den bevorstehenden Vergleich im Glyphosat-Streit. Der deutsche Konzern will mit etlichen Milliarden ein eh schon teures Kapitel endlich abschließen.
Die Aufsichts - behörden
Richter im Berufungsprozess
Titelthema Bayers Milliardeneinigung
MITTWOCH, 24. JUNI 2020, NR. 119 4
In der ersten Instanz hatte eine Jury im August 2018 Bayer zu einem Schadensersatz plus Zusatz- strafen in Höhe von 289 Millionen Dollar verurteilt, was das Gericht später auf 79 Millionen Dollar re- duzierte. In dem Berufungsprozess geht es in ers- ter Linie um die Höhe des Schadensersatzes und nicht um die Schuldfrage an sich. Das liegt auch da- ran, dass Juryurteile zur Schuld im amerikanischen Justizsystem einen hohen Stellenwert haben. Bayer erhofft sich von den Berufungsrichtern hingegen ein Urteil im Sinne des Konzerns.
Doch die erste Anhörung in der Berufung An- fang Juni war kein Erfolg für die Leverkusener. Ihr Anwalt David Axelrad hatte argumentiert, dass Monsanto nicht vor Krebsfolgen hatte warnen müs- sen, weil die amerikanische Umweltbehörde EPA und andere Regulierungsbehörden weltweit Round up als sicher eingestuft hatten.
Einer der Richter hingegen verwies auf die von den Klägern vorgelegten Studien, die einen statis- tisch relevanten Zusammenhang zwischen Lymph- drüsenkrebs und Glyphosat nahelegten. „Die Auf- sichtsbehörden scheinen klar auf einer Seite zu ste- hen. Aber es gibt viele Belege für die andere“, sagte der Richter bei der Anhörung.
Ob die ersten Signale aus dem Berufungsprozess die parallelen Vergleichsgespräche beeinflussten, ist unklar. Schon zuvor hatte sich abgezeichnet, dass Bayer noch vor dem Sommer eine Lösung in der Causa Glyphosat sucht. Vorstandschef Werner Baumann hatte mehrfach betont, dass Bayer nur eine Einigung annimmt, die für den Konzern wirt- schaftlich vertretbar und hinreichend abschlie- ßend ist – die also eine neue Klagewelle verhindern kann. Auch wenn erst vergangene Woche verschie- dene Kanzleien insgesamt 13 neue Klagen im Na- men von kranken Kindern eingereicht haben, scheint eine solche Lösung nun gefunden.
Vor allem Privatnutzer klagen
Für Bayer ist das glyphosathaltige Pflanzenschutz- mittel Roundup ein wichtiger Umsatzbringer. Es wird zum überwiegenden Teil an Farmer verkauft, die es in Verbindung mit gentechnisch veränder- tem Saatgut einsetzen. Der kleinere Teil des Ge- schäfts entfällt auf die Unkrautbeseitigung in Gär- ten von Privatanwendern. Sie stellen aber den Großteil der Kläger. Monsanto hatte diese privaten Nutzer lange mit Spots umworben, in denen Hobbygärtner in Shorts und T-Shirt Roundup ohne jede Schutzmaske versprühten.
Für die weitere Vermarktung von Roundup ist es für Bayer wichtig, das das Produktlabel nicht mit einem Warnhinweis wegen möglicher Krebsgefahr versehen werden muss. Denn diese Krebsgefahr bestreitet Bayer weiterhin. Auch der außergericht- liche Vergleich ist nicht als ein Schuldeingeständnis in dieser Frage zu werten, denn jedes Eingeständ- nis wird darin explizit ausgeschlossen.
Beim Produktlabel von Glyphosat bekommt Bay- er in den USA Unterstützung vonseiten der Justiz. Am Montag urteilte ein Bundesgericht im kaliforni- schen Sacramento, dass der Konzern auf dem „Bei- packzettel“ des Unkrautvernichters nicht vor Krebsgefahren warnen muss. Der Bundesstaat Ka- lifornien hatte dies zuvor angeordnet. Dazu hatte die kalifornische Regierung aber offensichtlich kein Recht. Denn die Formulierung des Roundup-Pro- duktlabels ist in den USA eine Bundesangelegen- heit, die von der Umweltbehörde EPA wahrgenom- men wird. Die EPA aber sieht keine Anhaltspunkte für eine Krebsgefahr von Roundup.
Ob Glyphosat krebserregend ist oder nicht, ist nicht abschließend geklärt. Die Krebsforschungs- agentur der Weltgesundheitsorganisation, IARC, hatte 2015 den Wirkstoff als „wahrscheinlich krebs- erregend“ eingestuft, also in der gleichen Kategorie wie rotes Fleisch und Mate-Tee. Hingegen sehen al- le großen Zulassungsbehörden kein Risiko.
Chempark Leverkusen: Die Klage- welle belastete Bayer schwer.
B ay
D er milliardenschwere außergerichtliche Vergleich in Sachen Glyphosat wird die Anwälte der Kläger reich machen. Erfah-
rungsgemäß streichen sie um die 30 Prozent der ausgehandelten Summe als Honorar ein. Bei ei- ner Vergleichssumme von zehn Milliarden Dollar hieße das: Drei Milliarden gehen allein an die be- teiligten Kläger-Kanzleien. Dazu gehören die gro- ßen Namen der Branche wie die Miller Law Firm oder Baum Hedlund Aristei & Goldman, aber auch kleinere, junge Kanzleien wie Andrus Wag - staff. Insgesamt waren mehr als 20 Kanzleien an den Verfahren gegen Bayer beteiligt.
Die großen Kanzleien arbeiten in dem Glypho- sat-Fall zusammen und sind eine Art Sammelstel- le: Kleinere Kanzleien werben vor Ort in den USA neuer Kläger ein, die dann an die größeren wei- tergegeben und dort zu Tausenden Fällen gebün- delt werden. Das Einwerben erfolgt über TV- Spots und Werbetafeln, für die die Anwälte Mil- lionen ausgeben. Die Prozesskosten strecken sie vor, für den Kläger ist das Risiko gleich null.
Das alles läuft im rechtlichen Rahmen des US- Justizsystems. Doch manchmal übertreten An- wälte die Schwelle zum gesetzwidrigen Handeln, wenn sie das große Geschäft bei Produkthaf- tungsklagen wittern. In der Rechtssache Glypho- sat gab es einen der krassesten Fälle dieser Art.
Die Protagonisten dabei sind die Anwälte Ti- mothy Litzenburg, 38, und Daniel Kincheloe, 41. Sie wurden Ende voriger Woche von einem Ge- richt im US-Bundesstaat Virginia für schuldig er- klärt. Sie hätten eine rote Linie zwischen übli- chem aggressivem Auftreten als Anwalt und ille- galem Handeln überschritten, warf einer der Staatsanwälte ihnen vor.
Litzenburg war einer der Anwälte, die dem Kläger im ersten aufsehenerregenden Glyphosat- Prozess gegen Monsanto/Bayer 2018 zu hohem Schadensersatz verholfen hatte. Er feierte dies als großen Sieg. Später kam heraus, dass er ver- sucht hat, 200 Millionen Dollar von einem Che- miekonzern zu erpressen. Dabei handelt es sich nicht um Bayer/Monsanto, sondern um einen Zu- lieferer für Pflanzenschutzmittel. Litzenburg ha- be dem Unternehmen damit gedroht, es tief in die Welle der Glyphosat-Verfahren zu ziehen.
Litzenburg soll gesagt haben, er könne mit öf- fentlichen Statements gegen die Firma für ein „PR-Desaster“ und einen „Kurssturz von 40 Pro- zent“ sorgen. Der Anwalt bot dem Chemieunter- nehmen an, gegen eine Zahlung von 200 Millio- nen Dollar von all dem abzusehen und schlug ei- nen Beratervertrag vor. Das Chemieunter- nehmen hatte die Gespräche mit ihm aufgezeich- net und die Staatsanwaltschaft informiert. An dem Erpressungsversuch war Partner Kincheloe offenbar wissentlich beteiligt. Bert Fröndhoff
Anwalt Timothy Litzenburg: Verurteilt wegen versuchter Erpressung.
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ie B
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Aktienkurs in Euro
HANDELSBLATT Quelle: Bloomberg
13. Mai 2019 Kalifornische Jury verurteilt Bayer/Monsanto zu 2 Mrd. US$ Schadenersatz für Ehepaar; Gericht senkt Summe auf 87 Mio. US$
23. Oktober 2018 Gericht bestätigt Urteil, senkt Strafe aber auf 78 Mio. US$
10. Aug. 2018 Jury in Kalifornien ver- urteilt Bayer/Monsanto zur Zahlung von 289 Mio. US$ Schadensersatz an krebskranken Mann
7. Juni 2018 Bayer schließt 63 Mrd. US$ teure Übernahme von Monsanto ab
73,22 €
100
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80
70
60
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40
28. März 2019 2. Glyphosat-Prozess: Bayer soll 80 Mio. US$ an den krebskranken Kläger zahlen; Summe wird später auf 25 Mio. US$ gesenkt
26. Juni 2019 Bayer-Aufsichtsrat be- schließt eigenen Ausschuss für Rechtssache Glyphosat und begrüßt Ernennung von Kenneth Feinberg zum Mediator für Verhandlungen mit Klägeranwälten
52.000 KLAGEN
Roundup an.
Quelle: Bayer
A FP
Bayers Milliardeneinigung
Barbara Gillmann, Gregor Waschinski Berlin
A ls Armin Laschet sich vor zwei Ta- gen in Gütersloh nach dem Corona- Ausbruch in der Fleischfabrik Tön- nies ein Lagebild verschaffte, hielt er einen regionalen Lockdown noch
nicht für geboten. Am Dienstag änderte Nordrhein- Westfalens Ministerpräsident seinen Kurs und kün- digte weitreichende Alltagsbeschränkungen in dem Landkreis an. Der CDU-Politiker sprach von einer Vorsichtsmaßnahme. Denn seine Einschätzung zum Infektionsgeschehen in Gütersloh hat sich nicht grundlegend verändert: Bislang sei der Aus- bruch klar im Umfeld von Tönnies zu verorten, das Virus nicht erkennbar auf die breite Bevölkerung in der Gegend übergesprungen.
Der Druck auf Laschet hatte in den vergangenen Tagen zugenommen, die Angst vor einer zweiten Welle in ganz Deutschland ist groß. Der Ministerprä- sident musste sich fragen lassen, warum er nicht härter durchgreift – obwohl Gütersloh den von Bund und Ländern vereinbarten Grenzwert für ei- ne Krisenintervention von 50 Corona-Neuinfektio- nen je 100.000 Einwohner binnen einer Woche ak- tuell deutlich überschreitet. Nun gelten für die rund 647.000 Menschen in den Kreisen Gütersloh und Warendorf wieder viele der strengen Regeln, an die sich vor einigen Wochen noch die Menschen im ganzen Land halten mussten – zunächst bis zum 30. Juni. Nach diesem „Ruhezustand“ von sieben Tagen werde die Faktenlage klarer sein, sagte Laschet. Ob das Virus sich ausgehend vom Hotspot Tönnies nicht doch schon stärker verbreitet hat, „das kann zur Minute niemand sagen“. Damit ist auch noch unklar, was Gütersloh für den weiteren Pandemie- verlauf in der ganzen Bundesrepublik bedeutet.
Der Chef des Robert Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, sprach den lokalen Behörden großes Ver- trauen aus. Über Maßnahmen zur Viruseindäm-
mung müsse vor Ort entschieden werden, sagte er am Morgen bei seiner ersten Pressekonferenz seit Wochen in Berlin, noch bevor Laschet den Lock- down verkündet hatte.
Der Corona-Hotspot in Gütersloh hat mit dazu geführt, dass auch die Ansteckungsrate in Deutsch- land insgesamt stark gestiegen ist. Der sogenannte R-Wert sei zuletzt auf über zwei gestiegen, sagte Wieler. Das bedeutet, dass ein Infizierter im Schnitt mehr als zwei weitere Menschen ansteckt. Zuvor hatte der R-Faktor wochenlang unter eins gelegen, die Epidemie ebbte also ab. Da aber insgesamt die Zahl der Neuinfektionen weiter relativ gering sei, dürfe dies nicht überbewertet werden. Aus 137 Kreisen sei in den vergangenen Wochen überhaupt kein neuer Fall gemeldet worden. Deutschlandweit waren es am Montag 500.
Wieler machte zugleich klar, dass der höhere Wert nicht auf eine allgemeine Verschlimmerung der Pandemie deute, sondern durch die lokalen Ausbrüche verursacht sei: Neben Gütersloh gab es zuletzt in Göttingen, Magdeburg und Berlin-Neu- kölln lokale Ausbrüche. Dennoch appellierte Wie- ler an die Bevölkerung, weiter enorm vorsichtig zu sein, denn „wenn wir dem Virus die Chance dazu geben, sich auszubreiten, wird es diese Chance auch nutzen“. Auch gehe er davon aus, dass „die Lockerungen nicht ohne Folgen bleiben werden“. Die Vorsichtsmaßnahmen – also vor allem Abstand, Hygiene und Masken – müssten daher noch viele Monate der Normalfall bleiben. Im Herbst werde dann vermutlich auch die Kälte das Virus zusätz- lich begünstigen.
In den Kreisen Gütersloh und Warendorf werden die Kontaktbeschränkungen nun verschärft: So dürfen sich in der Öffentlichkeit maximal zwei Menschen treffen, die nicht einem gemeinsamen Hausstand angehören. Ab Mittwoch sind Sport in
Laschet verfügt Lockdown light
Gütersloh und Warendorf wieder strenge Pandemie-Regeln. Die Angst
vor einer zweiten Welle flammt wieder auf, ist aber unbegründet,
sagt selbst RKI-Chef Lothar Wieler.
Covid-19 in Deutschland Aktuelle Fallzahlen
Zahl der nachgewiesenen Infektionsfälle
190.862
41.418
+502
+200
Differenz zum Vortag
geschlossenen Räumen und auch zahlreiche Kul- turveranstaltungen verboten. Grillen und Picknicks in Parks sind untersagt. Wieder geschlossen wer- den zudem Kinos und Kneipen.
Restaurants und Speisegaststätten dürfen dage- gen geöffnet bleiben, allerdings nur von Mitglie- dern eines Hausstandes gemeinsam aufgesucht werden. Außerdem bleiben Einzelhandelsgeschäfte offen – solange dort die Pflicht zum Tragen eines Mund-Nase-Schutzes eingehalten wird.
Es handelt sich also nicht um eine komplette Rückkehr zu den Beschränkungen vom März und April, sondern um einen „Lockdown light“. Erst- mals werden aber zwei ganze Landkreise stark he- runtergefahren, während für die Umgebung größe- re Normalität gilt. Laschet versprach, man werde die Beschränkungen des sozialen Lebens „so schnell wie möglich zurücknehmen, wenn wir Si- cherheit zum Infektionsgeschehen haben“.
1550 Infizierte – aber nur 24 außer- halb der Tönnies-Belegschaft
Der Corona-Ausbruch am Stammsitz des Fleisch- konzerns Tönnies in Rheda-Wiedenbrück war vor knapp einer Woche bekannt geworden. Bislang ha- ben sich mehr als 1550 Beschäftigte nachweislich mit dem Virus infiziert. Laschet sprach vom „bis- her größten einzelnen Infektionsgeschehen in Nordrhein-Westfalen und Deutschland“. Die Fälle konzentrieren sich auf einen bestimmten Bereich des Schlachtbetriebs: „auf die Zerteilung des Flei- sches“, sagte Laschet.
Dort sind viele Werkvertragsarbeiter aus Mittel- und Osteuropa tätig, die in rund 1300 Wohnungen in Gütersloh und im umliegenden Kreis unterge- bracht sind. Bei Mitarbeitern aus anderen Abteilun- gen sind die Fallzahlen demnach geringer. Außer- halb der Tönnies-Belegschaft gebe es im Kreis Gü- tersloh „lediglich 24 Infizierte“, so der Ministerpräsident. „Das würde rechtfertigen zu sa- gen: Das Ereignis ist lokal begrenzt.“
Laschets Entscheidung stieß jedoch auch im eig- nen Land nicht nur auf Zustimmung: Der Chef der SPD-Fraktion im Düsseldorfer Landtag, Thomas Kutschaty, kritisierte den „Schlingerkurs“ des Mi- nisterpräsidenten. „Armin Laschet vollzieht wieder eine Kehrtwende“, sagte er der „Rheinischen Post“. Noch am Sonntag habe er von einem Lock- down nichts wissen wollen. Jetzt müsse er sich wie- der selbst korrigieren. Der Lockdown sei zwar „die einzig richtige Entscheidung zum Schutz der Ge- sundheit der Menschen“, sagte Kutschaty, aber sie komme mal wieder zu spät.
Laschet wies Kritik an seinem Krisenmanage- ment zurück. Nach Bekanntwerden der Corona- Fälle bei Tönnies hätten die Behörden umgehend Schulen und Kitas geschlossen. Dies sei gewisser- maßen schon „die erste Stufe des Lockdown“ ge- wesen und folge dem Muster, mit dem Bund und Länder im März auf das Infektionsgeschehen rea- giert hätten.
Nach dem Ausbruch seien die Beschäftigten schneller als ursprünglich geplant auf das Virus ge- testet worden, sagte Laschet. Mehr als 7000 Men- schen befänden sich weiterhin in Quarantäne, die mit Unterstützung der Polizei auch durchgesetzt werde. Hundert mobile Teams sollen in den nächs- ten Tagen weitere Corona-Tests vornehmen, um ein klares Lagebild zu bekommen.
Laschet rief die betroffenen Bewohner auf, ihren Landkreis nicht zu verlassen. Die Einhaltung von Kontaktbeschränkungen „wird auch kontrolliert werden“. Ein Ausreiseverbot sei aber rechtlich nicht möglich.
Zugleich warnte der Ministerpräsident vor einem Pauschalverdacht: Man dürfe die Bewohner des ostwestfälischen Kreises „nicht stigmatisieren“. Auf der Ostsee-Insel Usedom wurden Urlauber aus Gü- tersloh bereits zu unerwünschten Personen erklärt und nach Hause geschickt.
> Kommentar Seite 13, Berichte Seite 14, 15
Großbritannien
Johnson lockert Corona-Regeln
A uf den 4. Juli werden sich nun viele Briten freuen: An diesem Tag enden zahlreiche Einschränkungen, die Großbritanniens
Premierminister Boris Johnson im Zuge der Coro- na-Pandemie verhängt hat. Das gilt aber vorerst nur im englischen Landesteil, Schottland und Wales entscheiden erst noch.
Restaurants, Pubs, Friseure und Hotels dürfen in England ab Ende kommender Woche wieder öffnen, auch Gottesdienste und Hochzeiten dür- fen dann stattfinden, wie der Regierungschef am Dienstag im Londoner Parlament ankündigte. Die Abstandsregeln für den direkten Kontakt werden gelockert: Statt zwei Meter sollen die Bri- ten künftig nur noch mindestens einen Meter Ab- stand halten. „Heute können wir sagen, dass un- ser langer nationaler Winterschlaf langsam zu Ende geht“, sagte Premier John- son. Man vertraue auf den gesun- den Menschenverstand, ab so- fort mache man keine Vor- schriften mehr, sondern spreche Empfehlungen aus. Es ist ein großer Schritt zu- rück in ein normales Le- ben, selbst wenn einige Einschränkungen weiter gelten. So bleiben Fitness- studios und Schwimmbäder noch zu, die Anzahl der Per- sonen, die sich treffen dürfen, ist begrenzt.
Für Gaststätten und andere Be- triebe werden Sicherheitsvorkehrun- gen wie Plexiglas-Abtrennungen gefordert. Und nach wie vor dürfen nicht alle Kinder zur Schule gehen. Kritiker, darunter Ärzte und Gewerkschaf- ten, halten die Lockerungen trotzdem für ver- früht. Vor allem die Reduzierung des Mindestab- stands wird skeptisch gesehen. Es gibt ohnehin kaum Experten, die das Vorgehen Großbritan- niens in der Coronakrise loben. Offiziellen Zah- len zufolge sind im Zuge der Pandemie 42.647 Menschen im Vereinigten Königreich gestorben, mit Blick auf die sogenannte Übersterblichkeit geht man aber von über 64.500 Todesfällen bis Anfang Juni aus. Das ist deutlich mehr als in allen anderen europäischen Ländern.
„Keine andere Regierung in den vergangenen 100 Jahren hat derart katastrophal auf eine ernst- hafte Herausforderung reagiert“, kritisierte so der ehemalige Regierungsberater David King im „Guardian“. Die Gefahr von Covid-19 sei herun- tergespielt worden. Auch Medizinexperte Ri- chard Horton, Chefredakteur der renommierten Fachzeitschrift „The Lancet“ führt die unge- wöhnlich hohe Todeszahl auf das Handeln der britischen Regierung zurück. Diese habe „lang-
sam, selbstgefällig und unvorbereitet“ reagiert, und der beratende Ausschuss namens Sage, zu dem zahlreiche Wissenschaftler und Medizinex- perten gehörten, sei zu einer „PR-Abteilung einer Regierung geworden, die versagt“ habe.
Im Gegensatz zu anderen Staatschefs hatte sich der britische Premier lange unbesorgt gezeigt: Noch Anfang März erklärte er öffentlich, im Krankenhaus die Hände von Corona-Patienten zu schütteln und gab „gründliches Händewaschen“ als einzige Handlungsempfehlung.
Erst am 23. März verkündete Johnson: „Ab heute Abend muss ich den britischen Bürgern ei- ne sehr einfache Vorschrift machen: Sie müssen zu Hause bleiben“. Schulen wurden geschlossen, Restaurants, Pubs und fast alle Geschäfte muss-
ten dichtmachen. „Stay at home, protect the NHS, save lives“ war das Motto,
das die britische Regierung der Bevölkerung einbläute: „Bleibt
zuhause, schützt (den natio- nalen Gesundheitsdienst) NHS, rettet Leben.“
Nur wenn es „unbedingt notwendig“ war, durfte man das Haus verlassen: Für den Arbeitsweg, wenn man partout nicht von zu
Hause aus arbeiten kann, für den Einkauf „notwendi-
ger“ Dinge, um gefährdete Verwandte zu versorgen oder
um einmal am Tag für eine Stunde Sport zu treiben. Mindestens sechs Fuß
– also fast zwei Meter – sollte dabei der Abstand betragen. Und die Mehrheit der Bevölkerung be- folgte und befürwortete die Einschränkungen, auch wenn Warnungen vor schweren Folgen für die Wirtschaft aufkamen. Die Angst war groß, dass das Gesundheitssystem nicht mit den Folgen der Pandemie klarkäme. Tatsächlich stieg die Zahl der Infizierten stark an – und mit ihr die Zahl der Todesfälle. Die Regierung beging Fehler: In den Krankenhäusern fehlte Schutzkleidung, und bei der Beschaffung fiel man auf Betrüger rein.
Auch die Kritik internationaler Institutionen änderte nichts, bei der Durchführung von Tests fiel Großbritannien zurück – nicht einmal Kran- kenhauspersonal wurde konsequent getestet. Al- te Menschen wurden aus dem Hospital ungetes- tet zurück in ihr Altenheim gebracht. Selbst Pre- mier Johnson erkrankte: Anfang April lag er in einem Londoner Krankenhaus zeitweise auf der Intensivstation. Dort vollzog er offenbar einen Sinneswandel. Sichtlich geschwächt appellierte der Premier nach seiner Rückkehr an die Briten, das Virus nicht zu unterschätzen.
Boris Johnson: Der britische Premier übt mit Grundschülern die Abstandsregeln.
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Wenn wir dem Virus die Chance geben, sich
auszubreiten, wird es diese Chance auch
nutzen.
Todesfälle
Pandemie gestorben.
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Wirtschaft & Politik
Barbara Gillmann, Gregor Waschinski Berlin
A ls Armin Laschet sich vor zwei Ta- gen in Gütersloh nach dem Corona- Ausbruch in der Fleischfabrik Tön- nies ein Lagebild verschaffte, hielt er einen regionalen Lockdown noch
nicht für geboten. Am Dienstag änderte Nordrhein- Westfalens Ministerpräsident seinen Kurs und kün- digte weitreichende Alltagsbeschränkungen in dem Landkreis an. Der CDU-Politiker sprach von einer Vorsichtsmaßnahme. Denn seine Einschätzung zum Infektionsgeschehen in Gütersloh hat sich nicht grundlegend verändert: Bislang sei der Aus- bruch klar im Umfeld von Tönnies zu verorten, das Virus nicht erkennbar auf die breite Bevölkerung in der Gegend übergesprungen.
Der Druck auf Laschet hatte in den vergangenen Tagen zugenommen, die Angst vor einer zweiten Welle in ganz Deutschland ist groß. Der Ministerprä- sident musste sich fragen lassen, warum er nicht härter durchgreift – obwohl Gütersloh den von Bund und Ländern vereinbarten Grenzwert für ei- ne Krisenintervention von 50 Corona-Neuinfektio- nen je 100.000 Einwohner binnen einer Woche ak- tuell deutlich überschreitet. Nun gelten für die rund 647.000 Menschen in den Kreisen Gütersloh und Warendorf wieder viele der strengen Regeln, an die sich vor einigen Wochen noch die Menschen im ganzen Land halten mussten – zunächst bis zum 30. Juni. Nach diesem „Ruhezustand“ von sieben Tagen werde die Faktenlage klarer sein, sagte Laschet. Ob das Virus sich ausgehend vom Hotspot Tönnies nicht doch schon stärker verbreitet hat, „das kann zur Minute niemand sagen“. Damit ist auch noch unklar, was Gütersloh für den weiteren Pandemie- verlauf in der ganzen Bundesrepublik bedeutet.
Der Chef des Robert Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, sprach den lokalen Behörden großes Ver- trauen aus. Über Maßnahmen zur Viruseindäm-
mung müsse vor Ort entschieden werden, sagte er am Morgen bei seiner ersten Pressekonferenz seit Wochen in Berlin, noch bevor Laschet den Lock- down verkündet hatte.
Der Corona-Hotspot in Gütersloh hat mit dazu geführt, dass auch die Ansteckungsrate in Deutsch- land insgesamt stark gestiegen ist. Der sogenannte R-Wert sei zuletzt auf über zwei gestiegen, sagte Wieler. Das bedeutet, dass ein Infizierter im Schnitt mehr als zwei weitere Menschen ansteckt. Zuvor hatte der R-Faktor wochenlang unter eins gelegen, die Epidemie ebbte also ab. Da aber insgesamt die Zahl der Neuinfektionen weiter relativ gering sei, dürfe dies nicht überbewertet werden. Aus 137 Kreisen sei in den vergangenen Wochen überhaupt kein neuer Fall gemeldet worden. Deutschlandweit waren es am Montag 500.
Wieler machte zugleich klar, dass der höhere Wert nicht auf eine allgemeine Verschlimmerung der Pandemie deute, sondern durch die lokalen Ausbrüche verursacht sei: Neben Gütersloh gab es zuletzt in Göttingen, Magdeburg und Berlin-Neu- kölln lokale Ausbrüche. Dennoch appellierte Wie- ler an die Bevölkerung, weiter enorm vorsichtig zu sein, denn „wenn wir dem Virus die Chance dazu geben, sich auszubreiten, wird es diese Chance auch nutzen“. Auch gehe er davon aus, dass „die Lockerungen nicht ohne Folgen bleiben werden“. Die Vorsichtsmaßnahmen – also vor allem Abstand, Hygiene und Masken – müssten daher noch viele Monate der Normalfall bleiben. Im Herbst werde dann vermutlich auch die Kälte das Virus zusätz- lich begünstigen.
In den Kreisen Gütersloh und Warendorf werden die Kontaktbeschränkungen nun verschärft: So dürfen sich in der Öffentlichkeit maximal zwei Menschen treffen, die nicht einem gemeinsamen Hausstand angehören. Ab Mittwoch sind Sport in
Laschet verfügt Lockdown light
Gütersloh und Warendorf wieder strenge Pandemie-Regeln. Die Angst
vor einer zweiten Welle flammt wieder auf, ist aber unbegründet,
sagt selbst RKI-Chef Lothar Wieler.
Covid-19 in Deutschland Aktuelle Fallzahlen
Zahl der nachgewiesenen Infektionsfälle
190.862
41.418
+502
+200
Differenz zum Vortag
geschlossenen Räumen und auch zahlreiche Kul- turveranstaltungen verboten. Grillen und Picknicks in Parks sind untersagt. Wieder geschlossen wer- den zudem Kinos und Kneipen.
Restaurants und Speisegaststätten dürfen dage- gen geöffnet bleiben, allerdings nur von Mitglie- dern eines Hausstandes gemeinsam aufgesucht werden. Außerdem bleiben Einzelhandelsgeschäfte offen – solange dort die Pflicht zum Tragen eines Mund-Nase-Schutzes eingehalten wird.
Es handelt sich also nicht um eine komplette Rückkehr zu den Beschränkungen vom März und April, sondern um einen „Lockdown light“. Erst- mals werden aber zwei ganze Landkreise stark he- runtergefahren, während für die Umgebung größe- re Normalität gilt. Laschet versprach, man werde die Beschränkungen des sozialen Lebens „so schnell wie möglich zurücknehmen, wenn wir Si- cherheit zum Infektionsgeschehen haben“.
1550 Infizierte – aber nur 24 außer- halb der Tönnies-Belegschaft
Der Corona-Ausbruch am Stammsitz des Fleisch- konzerns Tönnies in Rheda-Wiedenbrück war vor knapp einer Woche bekannt geworden. Bislang ha- ben sich mehr als 1550 Beschäftigte nachweislich mit dem Virus infiziert. Laschet sprach vom „bis- her größten einzelnen Infektionsgeschehen in Nordrhein-Westfalen und Deutschland“. Die Fälle konzentrieren sich auf einen bestimmten Bereich des Schlachtbetriebs: „auf die Zerteilung des Flei- sches“, sagte Laschet.
Dort sind viele Werkvertragsarbeiter aus Mittel- und Osteuropa tätig, die in rund 1300 Wohnungen in Gütersloh und im umliegenden Kreis unterge- bracht sind. Bei Mitarbeitern aus anderen Abteilun- gen sind die Fallzahlen demnach geringer. Außer- halb der Tönnies-Belegschaft gebe es im Kreis Gü- tersloh „lediglich 24 Infizierte“, so der Ministerpräsident. „Das würde rechtfertigen zu sa- gen: Das Ereignis ist lokal begrenzt.“
Laschets Entscheidung stieß jedoch auch im eig- nen Land nicht nur auf Zustimmung: Der Chef der SPD-Fraktion im Düsseldorfer Landtag, Thomas Kutschaty, kritisierte den „Schlingerkurs“ des Mi- nisterpräsidenten. „Armin Laschet vollzieht wieder eine Kehrtwende“, sagte er der „Rheinischen Post“. Noch am Sonntag habe er von einem Lock- down nichts wissen wollen. Jetzt müsse er sich wie- der selbst korrigieren. Der Lockdown sei zwar „die einzig richtige Entscheidung zum Schutz der Ge- sundheit der Menschen“, sagte Kutschaty, aber sie komme mal wieder zu spät.
Laschet wies Kritik an seinem Krisenmanage- ment zurück. Nach Bekanntwerden der Corona- Fälle bei Tönnies hätten die Behörden umgehend Schulen und Kitas geschlossen. Dies sei gewisser- maßen schon „die erste Stufe des Lockdown“ ge- wesen und folge dem Muster, mit dem Bund und Länder im März auf das Infektionsgeschehen rea- giert hätten.
Nach dem Ausbruch seien die Beschäftigten schneller als ursprünglich geplant auf das Virus ge- testet worden, sagte Laschet. Mehr als 7000 Men- schen befänden sich weiterhin in Quarantäne, die mit Unterstützung der Polizei auch durchgesetzt werde. Hundert mobile Teams sollen in den nächs- ten Tagen weitere Corona-Tests vornehmen, um ein klares Lagebild zu bekommen.
Laschet rief die betroffenen Bewohner auf, ihren Landkreis nicht zu verlassen. Die Einhaltung von Kontaktbeschränkungen „wird auch kontrolliert werden“. Ein Ausreiseverbot sei aber rechtlich nicht möglich.
Zugleich warnte der Ministerpräsident vor einem Pauschalverdacht: Man dürfe die Bewohner des ostwestfälischen Kreises „nicht stigmatisieren“. Auf der Ostsee-Insel Usedom wurden Urlauber aus Gü- tersloh bereits zu unerwünschten Personen erklärt und nach Hause geschickt.
> Kommentar Seite 13, Berichte Seite 14, 15
Großbritannien
Johnson lockert Corona-Regeln
A uf den 4. Juli werden sich nun viele Briten freuen: An diesem Tag enden zahlreiche Einschränkungen, die Großbritanniens
Premierminister Boris Johnson im Zuge der Coro- na-Pandemie verhängt hat. Das gilt aber vorerst nur im englischen Landesteil, Schottland und Wales entscheiden erst noch.
Restaurants, Pubs, Friseure und Hotels dürfen in England ab Ende kommender Woche wieder öffnen, auch Gottesdienste und Hochzeiten dür- fen dann stattfinden, wie der Regierungschef am Dienstag im Londoner Parlament ankündigte. Die Abstandsregeln für den direkten Kontakt werden gelockert: Statt zwei Meter sollen die Bri- ten künftig nur noch mindestens einen Meter Ab- stand halten. „Heute können wir sagen, dass un- ser langer nationaler Winterschlaf langsam zu Ende geht“, sagte Premier John- son. Man vertraue auf den gesun- den Menschenverstand, ab so- fort mache man keine Vor- schriften mehr, sondern spreche Empfehlungen aus. Es ist ein großer Schritt zu- rück in ein normales Le- ben, selbst wenn einige Einschränkungen weiter gelten. So bleiben Fitness- studios und Schwimmbäder noch zu, die Anzahl der Per- sonen, die sich treffen dürfen, ist begrenzt.
Für Gaststätten und andere Be- triebe werden Sicherheitsvorkehrun- gen wie Plexiglas-Abtrennungen gefordert. Und nach wie vor dürfen nicht alle Kinder zur Schule gehen. Kritiker, darunter Ärzte und Gewerkschaf- ten, halten die Lockerungen trotzdem für ver- früht. Vor allem die Reduzierung des Mindestab- stands wird skeptisch gesehen. Es gibt ohnehin kaum Experten, die das Vorgehen Großbritan- niens in der Coronakrise loben. Offiziellen Zah- len zufolge sind im Zuge der Pandemie 42.647 Menschen im Vereinigten Königreich gestorben, mit Blick auf die sogenannte Übersterblichkeit geht man aber von über 64.500 Todesfällen bis Anfang Juni aus. Das ist deutlich mehr als in allen anderen europäischen Ländern.
„Keine andere Regierung in den vergangenen 100 Jahren hat derart katastrophal auf eine ernst- hafte Herausforderung reagiert“, kritisierte so der ehemalige Regierungsberater David King im „Guardian“. Die Gefahr von Covid-19 sei herun- tergespielt worden. Auch Medizinexperte Ri- chard Horton, Chefredakteur der renommierten Fachzeitschrift „The Lancet“ führt die unge- wöhnlich hohe Todeszahl auf das Handeln der britischen Regierung zurück. Diese habe „lang-
sam, selbstgefällig und unvorbereitet“ reagiert, und der beratende Ausschuss namens Sage, zu dem zahlreiche Wissenschaftler und Medizinex- perten gehörten, sei zu einer „PR-Abteilung einer Regierung geworden, die versagt“ habe.
Im Gegensatz zu anderen Staatschefs hatte sich der britische Premier lange unbesorgt gezeigt: Noch Anfang März erklärte er öffentlich, im Krankenhaus die Hände von Corona-Patienten zu schütteln und gab „gründliches Händewaschen“ als einzige Handlungsempfehlung.
Erst am 23. März verkündete Johnson: „Ab heute Abend muss ich den britischen Bürgern ei- ne sehr einfache Vorschrift machen: Sie müssen zu Hause bleiben“. Schulen wurden geschlossen, Restaurants, Pubs und fast alle Geschäfte muss-
ten dichtmachen. „Stay at home, protect the NHS, save lives“ war das Motto,
das die britische Regierung der Bevölkerung einbläute: „Bleibt
zuhause, schützt (den natio- nalen Gesundheitsdienst) NHS, rettet Leben.“
Nur wenn es „unbedingt notwendig“ war, durfte man das Haus verlassen: Für den Arbeitsweg, wenn man partout nicht von zu
Hause aus arbeiten kann, für den Einkauf „notwendi-
ger“ Dinge, um gefährdete Verwandte zu versorgen oder
um einmal am Tag für eine Stunde Sport zu treiben. Mindestens sechs Fuß
– also fast zwei Meter – sollte dabei der Abstand betragen. Und die Mehrheit der Bevölkerung be- folgte und befürwortete die Einschränkungen, auch wenn Warnungen vor schweren Folgen für die Wirtschaft aufkamen. Die Angst war groß, dass das Gesundheitssystem nicht mit den Folgen der Pandemie klarkäme. Tatsächlich stieg die Zahl der Infizierten stark an – und mit ihr die Zahl der Todesfälle. Die Regierung beging Fehler: In den Krankenhäusern fehlte Schutzkleidung, und bei der Beschaffung fiel man auf Betrüger rein.
Auch die Kritik internationaler Institutionen änderte nichts, bei der Durchführung von Tests fiel Großbritannien zurück – nicht einmal Kran- kenhauspersonal wurde konsequent getestet. Al- te Menschen wurden aus dem Hospital ungetes- tet zurück in ihr Altenheim gebracht. Selbst Pre- mier Johnson erkrankte: Anfang April lag er in einem Londoner Krankenhaus zeitweise auf der Intensivstation. Dort vollzog er offenbar einen Sinneswandel. Sichtlich geschwächt appellierte der Premier nach seiner Rückkehr an die Briten, das Virus nicht zu unterschätzen.
Boris Johnson: Der britische Premier übt mit Grundschülern die Abstandsregeln.
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Wenn wir dem Virus die Chance geben, sich
auszubreiten, wird es diese Chance auch
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Todesfälle
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Wirtschaft & Politik
MITTWOCH, 24. JUNI 2020, NR. 119 7
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Das weltgrößte Container- schiff „HMM Algeciras“ in Hamburg: Der schlimmste Teil der Corona-Rezession ist hierzulande wohl vorbei.
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Donata Riedel Berlin
A uch wenn die Unsicher- heit über die weitere Wirtschaftsentwicklung hoch bleibt: Der schlimmste Teil der Co-
rona-Rezession liegt hierzulande hin- ter uns. Das stellen an diesem Diens- tag auch die Wirtschaftsweisen in ih- rer neuen Konjunkturprognose fest.
Sie bestätigen damit die Sommer- prognosen von Forschungsinstituten. Auch die jüngsten Frühindikatoren weisen auf den einsetzenden Wieder- aufschwung hin. So zeigt der eben- falls am Dienstag veröffentlichte Ein- kaufsmanagerindex von IHS-Markit, dass sich „Deutschland im Juni weiter aus der Talsohle kämpft“ und sich auch in der Euro-Zone die Talfahrt „spürbar abgeschwächt“ hat. Der In- dex stieg stark und zeigte nur noch ein leichtes Minus gegenüber der Vorkrisenzeit im Februar an.
Der Absturz des Bruttoinlandspro- dukts (BIP) im zu Ende gehenden zweiten Quartal war allerdings heftig, so die Wirtschaftsweisen: Er dürfte zwölf Prozent betragen, ein in der Bundesrepublik nie da gewesener Einbruch. Durch den seit Mai einset- zenden Aufschwung wird demnach bis Ende des Jahres ein Minus von 6,5 Prozent für 2020 bleiben. 2021 werde die Wirtschaft dann um 4,9 Prozent zulegen. Die Prognose der Weisen liegt damit im Rahmen der Erwartun- gen der Bundesregierung, großer Forschungsinstitute, der Bundesbank und der OECD: Sie rechnen 2020 mit einer Rezession zwischen fünf und sieben Prozent, wobei die jüngsten Prognosen um sechseinhalb Prozent liegen. Für das nächste Jahr ist die Unsicherheit, abzulesen an der Streu- breite der Prognosen, noch groß: Die Aufschwungserwartungen liegen zwi- schen drei und 6,4 Prozent.
Trotz der hoffnungsvollen Aussich- ten erwartet der fünfköpfige Rat der
Wirtschaftsweisen um seinen Vorsit- zenden Lars Feld, dass das Bruttoin- landsprodukt frühestens 2022 wieder das Vor-Corona-Niveau erreichen wird. Am Arbeitsmarkt sei mit einer schnellen Erholung in diesem Jahr nicht mehr zu rechnen. Dazu dürften Arbeitsvolumen und Erwerbstätigkeit zu stark zurückgehen. Zwar habe die Kurzarbeit den Arbeitsmarkt ge- stützt, so die Weisen. Aber angesichts der Ifo-Schätzung, nach der im Mai jeder fünfte sozialversicherungs- pflichtige Arbeitnehmer in Kurzarbeit gewesen sein könnte, werde die Er- holung Zeit brauchen.
Für dieses und nächstes Jahr er- warten die Wirtschaftsweisen daher eine Arbeitslosenquote von 6,1 Pro- zent; das sind 1,2 Prozentpunkte mehr als vor Corona. Im Vergleich zur Bundesagentur für Arbeit sind die Weisen mit der Erwartung, dass eine halbe Million Arbeitsplätze ver- loren gehen, „noch optimistisch“, sagte Feld.
Der Konjunktur helfen jedenfalls die Überbrückungshilfen und das Konjunkturpaket der Bundesregie- rung. Ohne diese Maßnahmen läge das BIP 2020 und 2021 jeweils um ei- nen Prozentpunkt niedriger, so die Weisen. Wie stark dabei letztlich die Mehrwertsteuersenkung den Kon- sum ankurbeln wird, hänge davon ab, wie sehr die Händler die Preise senkten. Wichtig sei zudem, die Maßnahme zeitlich bis Ende Dezem- ber zu begrenzen: Nur dann würden Käufe von Autos, Kühlschränken und anderen langlebigen Gebrauchs- gütern vorgezogen.
Die Wirtschaftsweise Monika Schnitzer begründete den vorsichti- gen Optimismus auch mit dem Digi- talisierungsschub, der in der Krise in der Breite der Bevölkerung einge- setzt hat. „Es gibt mehr Akzeptanz, mehr Erfahrung und jetzt auch mehr Investitionen in diesem Be- reich“, sagte sie. Ihre Kollegin Vero- nika Grimm erwartet auch durch die
Klimabeschlüsse der Koalition und die Wasserstoffstrategie der Bundes- regierung weitere Wachstumsimpul- se. Feld wiederum verwies darauf, dass bereits durch das Ende des Lockdowns ganz automatisch wieder mehr Wirtschaftstätigkeit eingesetzt hat, etwa durch die Öffnung von Restaurants und Läden.
Die Weisen loben ausdrücklich die schnelle Reaktion der Bundesregie- rung und der Europäischen Zentral- bank (EZB): Weil sie schnell Liquidi- tät bereitgestellt hätten, könnten Un- ternehmen die Umsatzeinbrüche während der Shutdown-Zeit leichter überbrücken. „Ein Negativszenario, in dem sich die Wirtschaftsaktivität im Verlauf des Herbstes nicht erholt, erscheint daher wenig wahrschein- lich“, heißt es in dem Gutachten.
Zwar seien die Kosten der Hilfs- maßnahmen hoch, und einschließ- lich des Rückgangs der Steuerein- nahmen würden die Staatskassen stark belastet: Das gemeinsame Defi- zit in den Kassen von Bund, Län- dern, Gemeinden und Sozialkassen beziffern die Weisen in diesem Jahr auf sechs Prozent des BIP und 2021 auf 3,9 Prozent.
Schuldenstand wächst Die Schuldenstandsquote wird
demnach von 60 Prozent 2019 auf 75,2 Prozent des BIP steigen und 2021 wegen des anziehenden Wachs- tums leicht auf 73,3 Prozent zurück- gehen. Die Wirtschaftsweisen schät- zen sie damit niedriger ein als ande- re Ökonomen, die einen Anstieg bis zu 90 Prozent des BIP erwarten.
Der Sachverständigenrat weist al- lerdings darauf hin, dass ein Teil des Konjunkturpakets aus nicht verwen- deten Soforthilfen und der Flücht- lingsrücklage finanziert werden kön- ne. Zudem gebe es Maßnahmen, die Lasten innerhalb des Staatshaushalts nur anders verteilten, etwa die Kos- ten der Unterkunft für Hartz-IV- Empfänger, die nunmehr großenteils der Bund trage anstelle der Kommu- nen.
Feld warnte einmal mehr davor, zu schnell die Konsolidierung zu be- ginnen. „Man kann in einer solchen Krise nicht sagen, wir begrenzen die Schulden auf eine bestimmte Sum- me“, sagte er. Dies würde die Hand- lungsfähigkeit des Staates nur ein- schränken. Wichtig sei allerdings, dass die Ausgaben zielgenau erfolg- ten.
Die größte Gefahr für den Wieder- aufschwung allerdings ist nur be- dingt von der Bundesregierung zu beeinflussen: Sie geht von den noch tieferen Rezessionen im Euro-Raum aus. Frankreich, Italien und Spanien müssen jeweils mit einem Einbruch des BIP von mehr als elf Prozent in diesem Jahr rechnen, die USA mit ei- nem Minus von 6,1 Prozent. „Die Lie- ferketten der deutschen Industrie sind extrem verflochten, vor allem in Europa“, sagte die Wirtschaftsweise Veronika Grimm. Deshalb sei ein eu- ropäisch abgestimmtes Vorgehen ge- gen die Krise enorm wichtig.
Zudem wären alle Zahlen Makula- tur, sollte es zu einer bundesweiten zweiten Infektionswelle mit einem zweiten Lockdown kommen. Die Weisen sind aktuell trotz des Aus- bruchs in Gütersloh optimistisch, dass es gelingt, lokale Ausbrüche je- weils lokal zu begrenzen.
Wirtschaftsweise
Die Erholung hat begonnen Der Sachverständigenrat erwartet für 2020 einen Wachstumseinbruch um 6,5 Prozent. Eine zweite Coronawelle könnte den beginnenden Aufschwung gefährden.
Wirtschaftliche Eckdaten für Deutschland Konjunkturprognose des Sachverständigenrates vom Juni 2020
Bruttoinlandsprodukt (BIP) Wachstum in Prozent
BIP, kalenderbereinigt Wachstum in Prozent
BIP je Einwohner Wachstum in Prozent
Leistungsbilanzsaldo in Prozent
Erwerbstätige in Millionen
HANDELSBLATT Quellen: Sachverständigenrat, Bundesagentur für Arbeit, Destatis
2018 2019 2020
+1,5 %
+1,5 %
+1,2 %
7,4 %
44,85
32,96
2,34
5,2 %
+1,8 %
1,9 %
+0,6 %
+0,6 %
+0,3 %
7,1 %
45,24
33,52
2,28
5,0 %
+1,4 %
-1,5 %
-6,5 %
-6,9 %
-6,7 %
4,7 %
44,76
33,49
2,72
6,1 %
+0,6 %
-6,0 %
+4,9 %
+4,9 %
+4,7 %
5,2 %
44,59
33,72
2,70
6,1 %
+1,6 %
-3,9 %
Man kann in einer solchen Krise nicht sagen, wir begrenzen die Schulden auf eine bestimmte Summe. Lars Feld
Vorsitzender der Wirtschaftsweisen
Lehre aus VW-Skandal
Neue EU-Regeln erleichtern Sammelklagen Kunden von Banken oder Fluggesellschaften können bald leichter Schadensersatz einklagen. Die Industrie warnt vor Missbrauch.
Heike Anger, Till Hoppe, Dietmar Neuerer Berlin, Brüssel
G eprellte Kunden können in Europa künftig leichter ge- meinsam vor Gericht ziehen.
Europaparlament und Mitgliedstaa- ten haben sich in der Nacht zu Diens- tag auf eine neue Richtlinie geeinigt, die die Möglichkeit von kollektiven Klagen vorsieht. Nach der Umset- zung in nationales Recht sollen Ver- braucherverbände im Namen der Kunden in allen EU-Ländern Unter- nehmen auf Unterlassung und Scha- densersatz verklagen können.
Die EU-Kommission hatte die Ver- bandsklagerichtlinie besonders mit Blick auf den VW-Dieselskandal vor- geschlagen. Anders als in den USA mussten die betroffenen Fahrzeug- halter in den meisten EU-Ländern einzeln vor Gericht ziehen, um Scha- densersatz von dem Konzern zu er- streiten.
Die neuen Klagerechte sollen aber eine ganze Reihe von Verstößen um- fassen, etwa gegen die Rechte von Flug- und Bahnreisenden oder den Datenschutz, und auch für Finanz- dienstleistungen, Energie, Telekom- munikation, Umwelt und Gesundheit gelten.
Das Bundesjustizministerium (BMJV) begrüßte die politische Eini- gung in Brüssel grundsätzlich, die nun noch formell von Europaparla- ment und Rat bestätigt werden muss. „Das BMJV wird den nun vor- liegenden Kompromiss analysieren und prüfen, wie er am besten in das deutsche Recht umgesetzt werden kann“, sagte ein Sprecher auf Anfra- ge.
Der rechtspolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, Jan-Marco Luczak, sprach sich dage- gen aus, das geltende Recht nun zu ändern. Die Bundesregierung habe bereits 2018 mit der Musterfeststel- lungsklage ein Instrument geschaf- fen, das effektiven Verbraucher- schutz sicherstelle und für Unterneh- men einen sicheren Rechtsrahmen schaffe, sagte er.
„Starke Leistungsklage war lange überfällig“ In Deutschland können sich Verbrau- cher Sammelklagen anerkannter Ver- bände wie dem Verbraucherzentrale Bundesverband (VZBV) anschließen. Über die Musterfeststellungsklage können sie so vom Gericht feststellen lassen, dass ein Unternehmen seine Kunden geschädigt hat. Auf der Grundlage eines solchen Urteils müs- sen die Kunden dann aber einzeln erneut vor Gericht ziehen, um Scha- densersatz zu erstreiten.
Die EU-Richtlinie geht einen Schritt weiter: Die klageberechtigten Verbände sollen im Namen der Ver- braucher auch eine Entschädigung erstreiten können. Jeder Mitglied- staat muss demnach mindestens ei- ne qualifizierte Einrichtung benen- nen, die Sammelklagen im Namen von Verbrauchergruppen einreichen kann. VZBV-Chef