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Universität Bayreuth Lehrstuhl für Alte Geschichte Wintersemester 2008/ 2009 Hauptseminar: Rom und Karthago Seminarleiter: PD. Dr. Klaus Geus Seminarteilnehmer: Hannes Liebrandt Datum: 13.01.1009 Thema: Die Schlacht von Cannae aus militärhistorischer Sicht I. Quellen Livius, Titus: Ab urbe condita, i.B. Buch XXII; übers. und erl. von Eucharius Ferdinand Christian Oertel, München 1826; weitere Übers. von Hans Jürgen Hillen, München 1986. Plutarchus: Vitae parallelae, i.B. Fabius Maximus; aus dem Griech. übertr., eingel. und erl. von Konrat Ziegler, Gesamtausgabe in sechs Bänden, München 1979 (1980). Polybius: Historiae, i.B. Buch III; eingel. und übers. von Hans Drexler, Gesamtausgabe in zwei Bänden, Zürich 1978 (1963). Q.1: Entschluss zur Feldschlacht: “[…] Da er der Ansicht war, es liege in seinem Interesse, den Gegner unter allen Umständen zur Schlacht zu zwingen, besetzte er die Burg einer Stadt mit Namen Cannae. Denn nach dieser wurde für die Römer das Getreide und der übrige Proviant aus der Gegend von Canusium gebracht, aus ihr wurde er immer je nach Bedarf dem Heere zugeführt. Die Stadt selbst war früher schon zerstört worden, als sich jetzt aber der Feind der Burg mit ihren Vorräten bemächtigte, befiel die römischen Truppen kein geringer Schrecken. Denn nicht nur der Zufuhr wegen gerieten sie durch die Eroberung jenes Platzes in Schwierigkeiten, sondern auch wegen seiner beherrschenden Lage gegenüber der Umgebung. Sie schickten daher einmal über das andere nach Rom und fragten, was sie tun sollten, denn wenn sie sich den Feinden näherten, würden sie eine Schlacht nicht vermeiden können, da das Land verheert werde und eine tiefe Unruhe und Unsicherheit alle Bundesgenossen ergriffen habe. Hierauf beschloß der Senat, zu kämpfen und den Feinden eine Schlacht zu liefern.[…]“ (Pol. III, 108) Q.2: Rede des Lucius vor der Feldschlacht: „[…] Denn erstens sind wir beide hier zugegen, um selbst die Gefahren mit euch zu teilen, nicht allein, sondern wir haben auch die Konsuln des Vorjahres zu bleiben vermocht, an diesem Kampf teilzunehmen. Ihr aber habt nicht nur die Bewaffnung, die Schlachtordnung, die Stärke des Feindes kennengelernt, sondern steht bereits das zweite Jahr fast Tag für Tag mit ihm im Kampf. Da also alle einzelnen Bedingungen, verglichen mit den früheren Schlachten, sich ins Gegenteil verkehrt haben, dürfen wir erwarten, daß auch der Ausgang des jetzigen Kampfes ein entgegengesetzter sein wird. Denn es wäre seltsam, oder vielmehr, es ist geradezu unmöglich, daß wir in den kleineren Gefechten, wenn wir in gleicher Stärke mit dem Gegner zusammentreffen, zumeist den Sieg davontragen, wenn wir aber alle zusammen mehr als doppelt so stark ihm entgegentreten, unterliegen sollten. […] Deshalb, Leute, auch ohne daß ich es euch ausmale, stellt euch selbst die Bedeutung einerseits der Niederlage, andererseits des Sieges und seiner Folgen vor Augen; dann werdet ihr in den Kampf gehen mit dem Bewußtsein, daß für das Vaterland jetzt nicht diese Legionen allein,

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Universität Bayreuth Lehrstuhl für Alte Geschichte Wintersemester 2008/ 2009 Hauptseminar: Rom und Karthago Seminarleiter: PD. Dr. Klaus Geus Seminarteilnehmer: Hannes Liebrandt Datum: 13.01.1009 Thema:

Die Schlacht von Cannae aus militärhistorischer Sicht

I. Quellen • Livius, Titus: Ab urbe condita, i.B. Buch XXII; übers. und erl. von Eucharius

Ferdinand Christian Oertel, München 1826; weitere Übers. von Hans Jürgen Hillen, München 1986.

• Plutarchus: Vitae parallelae, i.B. Fabius Maximus; aus dem Griech. übertr., eingel. und erl. von Konrat Ziegler, Gesamtausgabe in sechs Bänden, München 1979 (1980).

• Polybius: Historiae, i.B. Buch III; eingel. und übers. von Hans Drexler, Gesamtausgabe in zwei Bänden, Zürich 1978 (1963).

Q.1: Entschluss zur Feldschlacht:

“[…] Da er der Ansicht war, es liege in seinem Interesse, den Gegner unter allen Umständen zur Schlacht zu zwingen, besetzte er die Burg einer Stadt mit Namen Cannae. Denn nach dieser wurde für die Römer das Getreide und der übrige Proviant aus der Gegend von Canusium gebracht, aus ihr wurde er immer je nach Bedarf dem Heere zugeführt. Die Stadt selbst war früher schon zerstört worden, als sich jetzt aber der Feind der Burg mit ihren Vorräten bemächtigte, befiel die römischen Truppen kein geringer Schrecken. Denn nicht nur der Zufuhr wegen gerieten sie durch die Eroberung jenes Platzes in Schwierigkeiten, sondern auch wegen seiner beherrschenden Lage gegenüber der Umgebung. Sie schickten daher einmal über das andere nach Rom und fragten, was sie tun sollten, denn wenn sie sich den Feinden näherten, würden sie eine Schlacht nicht vermeiden können, da das Land verheert werde und eine tiefe Unruhe und Unsicherheit alle Bundesgenossen ergriffen habe. Hierauf beschloß der Senat, zu kämpfen und den Feinden eine Schlacht zu liefern.[…]“ (Pol. III, 108)

Q.2: Rede des Lucius vor der Feldschlacht:

„[…] Denn erstens sind wir beide hier zugegen, um selbst die Gefahren mit euch zu teilen, nicht allein, sondern wir haben auch die Konsuln des Vorjahres zu bleiben vermocht, an diesem Kampf teilzunehmen. Ihr aber habt nicht nur die Bewaffnung, die Schlachtordnung, die Stärke des Feindes kennengelernt, sondern steht bereits das zweite Jahr fast Tag für Tag mit ihm im Kampf. Da also alle einzelnen Bedingungen, verglichen mit den früheren Schlachten, sich ins Gegenteil verkehrt haben, dürfen wir erwarten, daß auch der Ausgang des jetzigen Kampfes ein entgegengesetzter sein wird. Denn es wäre seltsam, oder vielmehr, es ist geradezu unmöglich, daß wir in den kleineren Gefechten, wenn wir in gleicher Stärke mit dem Gegner zusammentreffen, zumeist den Sieg davontragen, wenn wir aber alle zusammen mehr als doppelt so stark ihm entgegentreten, unterliegen sollten. […] Deshalb, Leute, auch ohne daß ich es euch ausmale, stellt euch selbst die Bedeutung einerseits der Niederlage, andererseits des Sieges und seiner Folgen vor Augen; dann werdet ihr in den Kampf gehen mit dem Bewußtsein, daß für das Vaterland jetzt nicht diese Legionen allein,

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sondern alles auf dem Spiel steht. Denn sollte die Entscheidung anders ausfallen, so hat es nichts mehr, was es nach der jetzt im Felde stehenden Streitmacht noch aufbieten könnte, um der Feinde Herr zu werden. Denn alle seine Anstrengungen und seine Kräfte hat es in euch vereinigt, alle Hoffnungen auf Rettung hat es auf euch gesetzt.[…]“ (Pol. III, 109)

Q.3: Hannibals Ansprache vor der Schlacht:

„Als sie beisammen waren, hieß er sie alle herumschauen auf das Land ringsum und fragte sie, was sie sich wohl in der gegenwärtigen Lage von den Göttern hätten Größeres hätten erbitten können, wenn ihnen die Wahl freigestellt worden wäre, als daß sie, bei ihrer großen kavalleristischen Überlegenheit, in einem solchen Gelände die Entscheidungsschlacht schlagen könnten.[…] So wisset denn hierfür zuerst den Göttern Dank, denn sie wollen uns zum Sieg verhelfen, da sie den Gegner in ein solches Gelände geführt haben.[…] Durch die bisherigen Kämpfe habt ihr das Land und alles, was es zu bieten hat, in euren Besitz gebracht, so wie ich es euch verheißen habe: alles, was ich euch gesagt habe, hat sich als wahr erwiesen. Der jetzige Kampf aber geht um die Städte und den Wohlstand den sie bergen. Wenn ihr in ihm Sieger bleibt, werdet ihr sofort Herren über ganz Italien sein und, der jetzigen Mühen enthoben, im Besitz des ganzen Reichtums der Römer, durch diese Schlacht Herrscher und Gebieter über die ganze Welt werden.“ (Pol. III, 111)

Q.4: Die Schlachtordnung der Römer:

„Sobald Gaius am folgenden Tag den Oberbefehl übernommen hatte, ließ er gleich bei Sonnenaufgang das Heer aus beiden Lagern zugleich ausrücken, führte die Truppen aus dem größeren Lager über den Fluß und stellte sie hier sogleich in Schlachtordnung auf, ließ dann die aus dem anderen Lager im Anschluß an diese in der gleichen Linie aufmarschieren, und zwar mit Front nach Süden. Die römischen Reiter postierte er auf dem rechten Fkügel am Fluß, an diese reihte er das Fußvolk in einer einzigen geraden Linie, wobei er die Manipeln dichter stellte als sonst und in jeder einzelnen die Tiefe um ein Vielfaches größer machte als die Frontbreite. Der Reiterei der Bundesgenossen wies er ihren Platz auf dem linken Flügel an. Vor dem ganzen Heer in einigem Abstand stellte er die Leichtbewaffneten auf. Mit den Bundesgenossen zusammen waren es gegen achtzigtausend Mann zu Fuß und etwas mehr als sechstausend Reiter. (Pol. III, 113)

Q.5: Karthagische Schlachtordnung nach Titus Livus

“Hannibal luce prima Baliaribus levique alia armatura praemissa transgressus flumen, ut quosque traduxerat, ita in acie locabat, Gallos Hispanosque equites prope ripam laevo in cornu adversus Romanum equitatum; dextrum cornu Numidis equitibus datum media acie peditibus firmata ita, ut Afrorum utraque cornua essent, interpnerentur his medii Galli atque Hispani. […] Ante alios habitus gentium harum cum magnitudine corporum, tum specie terribilis erat: Galli super umbilicum errant nudi: Hispani linteis praetextis purpura tunicis candour miro fulgentibus constiterant. Numerus omnium peditum, qui tum stetere in acie, milium fuit quadraginta, decem equitum. Duces cornibus praeerant sinistro Hasdrubal, dextro Maharbal; mediam aciem Hannibal ipse cum fratre Magone tenuit. Sol, seu de industria ita locates seu quod forte ita stretere, peropportune utrique parti obliquus erat Romanis in meridiem, Poenis in septentrionem versis; ventus – Volturnum regionis incolae vocant – adversus Romanis coortus multo pulvere in ipsa ora volvendo prospectum ademit.” (Livius, XXII, 46)

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„Hannibal schickte bei Tagesanbruch die Balearen und seine anderen Leichtbewaffneten voraus und ging dann über den Fluß. So, wie er die einzelnen Truppenteile hinübergeführt hatte, stellte er sie zum Kampfe auf: Die gallischen und spanischen Reiter in Ufernähe auf dem linken Flügel der römischen Reiterei gegenüber; den rechten Flügel erhielten die numidischen Reiter. Die Mitte war durch Fußtruppen so gesichert, daß auf beiden Ecken Afrer standen und zwischen ihnen Gallier und Spanier Aufstellung fanden. […] Vor allen anderen erschien das Benehmen dieser Völker mit ihrer Körpergröße und ihrem sonstigen Aussehen schreckenerregend. Die Gallier waren bis an den Nabel nackt. Die Spanier standen in leinenen Leibröcken da, die vorn mit Purpur gesäumt waren und in reinstem Weiß schimmerten. Die Zahl des gesamten Fußvolkes betrug 40000, die der Reiterei 10000. Hasdrubal führte das Kommando auf dem linken Flügel, Maharbal auf dem rechten. Das Zentrum befehligte Hannibal selbst mit seinem Bruder Mago. Die Sonne schien von der Seite her, für beide Teile günstig, weil sie mit Absicht oder zufällig so aufgestellt waren: Die Römer standen nach Süden, die Punier nach Norden. Der Wind jedoch – die Bewohner der Gegend nennen ihn Volturnus – erhob sich gegen die Römer, wehte ihnen viel Staub ins Gesicht und nahm ihnen dadurch die Sicht.“

Q.6: Schlachtvorbereitung des Hannibal nach Plutarch:

„In der Schlacht traf Hannibal zwei kluge Maßregeln. Zum ersten sorgte er dafür, daß er den Wind in den Rücken bekam. Denn gleich einem heißen Wirbelsturm brauste er daher, wehte beißenden Staub aus der weiten, sandigen Ebene auf und und fegte ihn über die karthagischen Linien hinweg den Römern ins Gesicht, daß sie sich abwenden mußten und in Unordnung gerieten. Zum zweiten überlistete er die Römer durch seine Schlachtordnung. Auf den beiden Flügeln stellte er die stärksten und tapfersten Leute hin, das Zentrum füllte er mit den unbrauchbarsten Elementen auf und ließ es zudem wie einen Keil weit aus der übrigen Linie hervorragen.“ (Plutarch, Fabius Maximus, 16)

Der Schlachtenverlauf nach Polybios und Titus Livius: Die von beiden Teilen vorgeschickten Leichtbewaffneten dürften wie stets die Aufgabe erhalten haben, den Ausbruch des Kampfes so lange zu verzögern, bis die schwere Infanterie in Kampfformation aufgestellt war:1 Q.7: „Als das Gefecht durch die im Vordertreffen Stehenden eröffnet wurde, stand der Kampf

der Leichtbewaffneten anfangs ziemlich gleich. Sobald aber die iberischen und keltischen Reiter auf dem linken Flügel sich den Römern näherten, lieferten sie einen ernsten, nach Barbarenart geführten Kampf. […] Dabei gewannen die Karthager die Oberhand, töteten die meisten im Handgemenge – denn die Römer setzten sich tapfer und verbissen zur Wehr – und trieben die übrigen, ohne Pardon mordend und niedermetzelnd, den Fluß entlang vor sich her. In diesem Augenblick stieß auch das Fußvolk, das die Leichtbewaffneten im Kampf ablöste, aufeinander.“ (Pol. III, 115)

Titus Livius bestätigt den anfänglichen Schlachtenverlauf, wie ihn Polybios geschildert hat: Q.8: „Clamore sublato procursum ab auxiliis et pugna levibus primum armis commissa;

deinde equitum Gallorum Hispanorumque laevum cornu cum dextro Romano concurrit,

1 Cornelius, Friedrich: Cannae, Das militärischen und das literarische Problem, in Klio Beihefte, Beiträge zur alten Geschichte, C.F. Lehmann-Haupt, E.Kornemann, F. Miltner, L. Wickert [Hg.], Beiheft 26, Aalen 1964.

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minime equestris more pugnae; frontibus enim adversis concurrendum erat, quia nullo circa ad evagandum relicto spatio hinc amnis, hinc peditum acies claudebant. In derectum utrimque nitentes stantibus ac confertis postremo turba equis vir virum amplexus detrahebat equo. Pedestre magna iam ex parte certamen factum erat; acrius tamen quam diutius pugnatum est pulsique Romani equites terga vertunt.” (Livius, XXII, 47)

„Es ertönte der Kriegsruf, und die Hilfstruppen stürmten vor; die Schlacht eröffneten zunächst die Leichtbewaffneten. Darauf stieß der linke Flügel der gallischen und spanischen Reiter mit der rechten Flanke der Römer zusammen, keineswegs wie bei einem Reitergefecht. Denn sie mußten Front gegen Front aufeinanderprallen, weil es auf beiden Seiten keinen Raum zum Ausschwärmen gab. Hier schloß der Fluß, dort die Kampflinie der Fußtruppen das Gelände ab. Da beide Seiten geradeaus aufeinander losgingen, konnten sich die Pferde nicht bewegen und waren schließlich eingekeilt. Da umklammerte ein Reiter den anderen und suchte ihn vom Pferd zu ziehen. So hatte sich schon größtenteils ein kampf zu Fuß entwickelt; doch man kämpfte mehr erbittert als lange. Geschlagen wandten sich die römischen Reiter zur Flucht.“ Polybios referiert anschließend von dem römischen Durchbruch im Zentrum der keltischen und iberischen Formation: Q.9: „[…] Kurze Zeit nun hielten die Reihen der Iberer und Kelten stand und kämpften

mannhaft gegen die Römer, dann aber wichen sie, durch die feindlichen Massen bedrängt, und gingen zurück, so daß die halbmondförmige Verwölbung verschwand. Die römischen Manipeln, die ihnen hitzig folgten, durchbrachen leicht die Schlachtordnung des Gegners, da ja die Kelten in dünner Linie standen, während sie sich selbst von den Flügeln her zur Mitte, dem Ort des Kampfes, dicht zusammengeschoben hatten. Denn die Flügel und das Zentrum stießen nicht gleichzeitig aufeinander, sondern zuerst das Zentrum, weil die Kelten, in Halbmondform aufgestellt, den Flügeln weit vorausstanden, denn die Wölbung des Halbmonds war dem Feinde zugekehrt. Die Römer also folgten den Kelten, liefen nach der Mitte, der Stelle, wo die Feinde wichen, zusammen und gerieten so weit nach vorn, daß die schwerbewaffneten Lybier ihnen auf beiden Seiten in der Flanke zu stehen kamen. […] So kam es, daß die Römer wie Hannibal es beabsichtigt hatte, infolge ihres Vordringens gegen die Kelten von den Lybiern in der Mitte eingeschlossen wurden. Jene nun fochten nicht mehr in Schlachtordnung, sondern Mann für Mann und Manipel für Manipel sich gegen die Feinde wendend, die von den Flanken auf sie eingedrungen waren.“ (Pol. III,115)

In einem gewichtigen Punkt unterscheidet sich hier die Schlachtendarstellung des Titus Livius von der des Polybios. Während Polybios von dem Zusammenbruch der keltisch- iberischen Front im Zentrum der Schlachtordnung spricht, berichtet Titus Livius von dem Zurückweichen der gallisch- iberischen Front. Gerade dadurch, dass die Römer im Zentrum durchstoßen konnten, gerieten sie zwischen die Zange der lybischen Formation: Q.10: „Impulsis deinde ac trepide referentibus pedem institere ac tenore uno per praeceps

pavore fugientium agmen in mediam prmum acien inlati, postremo nullo resistente ad subsidia Afrorum pervenerunt, qui utrimque reductis alis constiterant, media, qua Galli Hispanique steterant, aliquantum prominente acie. Qui cuneus ut pulsus aequavit frontem primum, dein cedendo etiam sinum in medio dedit, Afri circa iam cornua fecerant inruentibusque incaute in medium Romanis circumdedere alas; mox cornua extendendo clausere et ab tergo hostes. Hinc Romani defuncti nequiquam proelio uno omissis Gallis Hispanisque, quorum terga ceciderant, adversus Afros integram pugnam ineunt, non tantum

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eo iniquam, quod inclusi adversus circumfusos, sed etiam quod fessi cum recentibus ac vegetis pugnabant.” (Livius, XXII, 47) “In einem Zuge brachen sie durch die in kopfloser Angst fliehende Gruppe mitten in die feindliche Front ein, und so gelangten sie zu den Reserven der Afrer, ohne auf Widerstand zu stoßen. Diese hatten ihre Flügel auf beiden Seiten zurückgezogen, während die Mitte der Kampffront, wo Spanier und Gallier gestanden hatten, bedeutend vorsprang. Als dieser Keil eingedrückt war und dadurch die Front zunächst begradigte, dann aber durch weiteres Zurückweichen sogar eine Ausbuchtung bildete, hatten die Afrer ringsum schon die Flügel formiert. Die Römer stürmten unvorsichtig in das Zentrum vor und die Afrer ließen ihre Flügel um sie herum schwenken. Durch Ausdehnung ihrer Flanken schlossen sie die Feinde auch im Rücken ein. Eine Schlacht hatten die Römer bereits vergeblich durchgestanden. Nun mußten sie die Gallier und Spanier, auf deren Rücken sie bereits eingehauen hatten, laufen lassen und einen neuen Kampf gegen die Afrer beginnen. Dieser war nicht nur ungleich, weil Eingeschlossene sich gegen ihre Umzingelung wehren, sondern auch, weil sie müde gegen frische und kräftige Truppen kämpfen mußten.“

Auch Plutarch erwähnt den römischen Durchbruch im Zentrum der punischen Formation. Im Gegensatz zu Polybios und Livius nennt Plutarch jedoch keine einzelnen Truppenverbände. Noch deutlicher als die beiden anderen Quellen honoriert Plutarch das persönliche Kriegsgeschick Hannibals: Q.11: „Die Kerntruppen hatten Befehl, zuzuwarten, bis die Römer die Mitte durchbrochen

und die weichenden Abteilungen so weit zurückgedrängt hätten, daß die punische Frontlinie im Zentrum sich nach hinten ausbuchten würde und die Angreifer zwischen die Flügel gerieten. In diesem Augenblick sollten sie rasch von beiden Seiten einschwenken und den Gegner in die Flanken fallen, sie gleichzeitig im Rücken umfassen und vollends einschließen. Es scheint, daß dieses Manöver vor allem das furchtbare Gemetzel verursacht hat. Denn als das Zentrum zu weichen begann und die nachsetzenden Römer hinter sich herzog, änderte Hannibals Schlachtlinie ihre Gestalt und bog sich wie eine Mondsichel zurück. Jetzt ließen die Offiziere auf den Flügeln nach links und rechts einschwenken, die Elitetruppen stürzten sich auf die ungedeckten Flanken der Römer und machten alles nieder, was sich nicht rechtzeitig der Umzingelung entziehen konnte.“

(Plutarch, Fabius Maximus, 16) Q.12: Die Entscheidung der Schlacht:

„Die Römer hielten so lange stand , als sie noch nach den verschiedenen Seiten hin eine Front gegen die bilden konnten, von denen sie eingeschlossen waren. Als aber ringsum die in den vorderen Gliedern Stehenden mehr und mehr fielen und sie auf einen engen Raum zusammengedrängt wurden, da fielen zuletzt alle, wo sie standen, unter ihnen auch Marcus und Gnaeus, die Konsuln des Vorjahres, die sich im Kampf als tapfere und Roms würdige Männer erwiesen hatten. Während diese im Handgemenge den Feinden erlagen, verfolgten die Numider die fliehenden Reiter, töteten die meisten von ihnen, andere warfen sie von den Pferden. Nur einige wenige entkamen nach Venusia. Unter ihnen war auch C. Terentius, der römische Konsul, ein Mann, der sein Amt zum Verderben des Vaterlandes geführt hatte und nun schimpflich geflohen war.“ (Pol. III,116)

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Q.13: Die Bilanz der Schlacht von Cannae „Dies war der Ausgang der Schlacht bei Cannae zwischen den Römern und Karthagern, einer Schlacht, in der sich sowohl die Sieger wie die Besiegten als tapfere Männer bewährten. Den Beweis gaben die Tatsachen selbst. Von den sechstausend Reitern entkamen siebzig mit Gaius nach Venusia, etwa dreihundert Versprengte der bundesgenössischen Reiterei retteten sich in andere Städte. Vom Fußvolk wurden gegen zehntausend Mann (?) teils in der Schlacht, meißt außerhalb ihrer (?) gefangengenommen. Aus dem Kampf selbst retteten sich nur etwa dreitausend in die umliegenden Städte. Alle übrigen, gegen siebzigtausend Mann, fielen nach tapferem Kampf. Zum Sieg der Karthager hatte diesmal wie früher am meisten die Menge ihrer Reiterei beigetragen. […] Auf Hannibals Seite fielen gegen viertausend Kelten, gegen fünfzehnhundert Iberer und Lybier und etwa zweihundert Reiter. ( Pol. III, 117)

Im Bezug auf den Ausgang der Schlacht erscheinen uns die Aussagen von Titus Livius exakter und detailreicher. So glaubt Titus Livius einzelne Amtsträger nennen zu können, deren Opfer die Bedeutung der römischen Niederlage enorm aufwertet. Q.14: „Septem milia hominum in minora castra, decem in maiora, duo ferme in vicum ipsum

Cannas perfugerunt, qui extemplo a Carthalone atque equitibus nullo munimento tegente vicum circumventi sunt. Consul alter, seu forte seu consilio nulli fugientium insertus agmini, cum quinquaginta fere equitibus Venusiam perfugit. Quadraginta quinque milia quingenti pedites, duo milia septingenti equites, et tantadem prope civium sociorumque pars, caesi dicuntur; in his ambo consulum quaestores, L. Atilius et L. Furius Bibaculus, et undertriginta tribuni militum, consulares quidam praetoriique et aedicii – inter eos Cn. Servilium Geminum et M. Minucium numerant, qui magister equitum priore anno, consul aliquot annis ante fuerat – octoginta praeterea aut senators aut, qui eos magistratus gessissent, unde in senatum legi deberent, cum sua voluntate milites in legionibus facti essent. Capta eo proelio tria milia peditum et equites mille et quingenti dicuntur.”

(Livius, XXII, 49)

„7000 Menschen flohen in das kleinere Lager, 10 000 in das größere, etwa 2000 unmittelbar in das Dorf Cannae. Diese wurden sofort von Carthalo und seinen Reitern überwältigt, da keine Befestigungsanlage das Dorf schützte. Der zweite Konsul, der sich zufällig oder auch mit Absicht keinem Haufen Fliehender beigestellt hatte, entkam mit etwa 50 Reitern nach Venusia. Vom Fußvolk sollen 45 000 Mann, von den Reitern 2700 niedergemacht worden sein, wobei der Anteil der Bürger und der Bundesgenossen etwa gleich groß gewesen sei. Unter ihnen befanden sich auch beide Quästoren der Konsuln, Lucius Atilius und Lucius Furius Bibaculus, dazu 29 Militärtribunen, einige ehemalige Konsuln, Prätoren und Ädilen – unter ihrer Zahl werden Gnaeus Servilus Geminus und Marcus Minucius genannt, der im vergangenen Jahr Reiteroberst und einige Jahre früher Konsul gewesen war -: außerdem 80 Senatoren oder doch Leute, die schon Ämter bekleidet hatten, von denen aus sie in den Senat gewählt werden mußten. Sie waren freiwillig Legionssoldaten geworden. 3000 Soldaten und 1500 Reiter sollen in dieser Schlacht gefangen worden sein.“

Q.15: umgekehrte Voraussetzungen- Hannibal und Karthago nach der Schlacht:

„Die Freunde bestürmten Hannibal, nach seinem gewaltigen Erfolg das Glück nicht entschlüpfen zu lassen und zugleich mit den fliehenden Feinden in Rom einzudringen. Fünf Tage nach dem Sieg könne er auf dem Kapitol speisen. Welche Überlegungen den Punier von dem Unternehmen abhielten, ist schwer zu sagen; es scheint aber, sein Zögern, seine Bedenklichkeit sei eher das Werk eines Dämons oder Gottes gewesen, der ihm in den Weg

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trat. Deshalb soll ihm auch der Karthager Barkas zornig zugerufen haben: „Du verstehst zu siegen, Hannibal, den Sieg auszunützen verstehst du nicht!“ Und doch veränderte dieser Sieg von Grund auf seine Lage. Vor der Schlacht hatte Hannibal keine Stadt, keinen Handelsplatz, keinen Hafen Italiens in seiner Hand; mühselig, durch Raub und Plünderung, verschaffte er seinen Truppen, was sie zum Leben brauchten. Er führte den Krieg ohne feste Basis und zog mit seinem Heerlager wie mit einer großen Räuberbande kreuz und quer durch das Land – jetzt fiel ihm fast ganz Italien zu.“ (Plutarch, Fabius Maximus, 16)

II. Literatur:

• Bagnall, Nigel: The Punic Wars, London 1990 (deutsch: Rom und Karthago: Der Kampf ums Mittelmeer, Berlin 1995).

• Barceló, Pedro, Hannibal. Stratege und Staatsmann, Stuttgart 2004. • Daly, Gregory: Cannae: The Experience of Battle in the Second Punic

War. New York 2002. • Delbrück, Hans: Geschichte der Kriegskunst (I: Das Altertum), Berlin

19203 (bes. 321–51). • Cornelius, Friedrich, Cannae. Das militärische und das literarische Problem, In: Klio,

Beiheft 26 (N.F. Heft 13), Aalen 1963, ND 1932. • Judeich, Wilhelm: Cannae. In: Historische Zeitschrift 136 (1927). S. 1–

24. • Kromayer, Joahnnes; Veith, Georg (Hrsg.): Antike Schlachtfelder, 4

Bde. Berlin 1903–1931 (bes. Bd. 3, 1, 1912. S. 278 –388 u. 4, 1931. S. 610–25).

• Kussmaul, Peter: Der Halbmond von Cannae. In: Museum Helveticum 35 (1978). S. 249–57.

• von Schlieffen, A. Graf von: Die Schlacht bei Cannae, in: Ges. Schriften. Bd. 1. Berlin 1913. S. 27–30, 265-66 (wieder abgedruckt in: Christ, Karl (Hrsg.), Hannibal. Darmstadt 1974. S. 222–6 [WdF 371])

• Seibert, Jakob, Hannibal, Darmstadt 1993. • Speidel, Michael Alexander: Halbmond und Halbwahrheit: Cannae, 2.

August 216 v. Chr. In: Förster, Stig; Pöhlmann, Markus; Walter, Dierck (Hrsg.): Schlachten der Weltgeschichte. 3. Aufl. München 2003. S. 48–62.

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III. Kartenmaterial: Abb.1: Rom und Karthago zur Zeit der Punischen Kriege Entnommen aus: Leisering, Walter [Hg.]: Putzger, Historischer Weltatlas, Berlin 1999, S.19.

Abb.2: Schlachtverlauf der Schlacht bei Cannae Entnommen aus: Schlieffen, Alfred von: Gesammelte Schriften, Band 1, Berlin 1913.