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Hans Christian Andersen

Andersens Märchen

Mit 124 Illustrationen

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Hans Christian Andersen

Andersens Märchen

Mit 124 Illustrationen

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019Übersetzung: Julius Reuscher

Illustrationen: John William Waterhouse, Vilhelm Pedersen3. Auflage, ISBN 978-3-943466-74-4

www.null-papier.de/andersen

null-papier.de/katalog

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I

Inhaltsverzeichnis

Hans Christian Andersen – Leben und Werk 4 .................... Däumelinchen 9 ........................................................................... Der standhafte Zinnsoldat 25 ................................................... Das alte Haus 32 .......................................................................... Das Feuerzeug 45 ........................................................................ Das hässliche junge Entlein 55 ................................................. Der Garten des Paradieses 70 .................................................. Der kleine Klaus und der große Klaus 90 .............................. Der Reisekamerad 107 ................................................................ Der Sandmann 134 ....................................................................... Einleitung 135 ..................................................................................... Montag 137 ........................................................................................... Dienstag 139 ........................................................................................ Mittwoch 142 ....................................................................................... Donnerstag 145 ................................................................................... Freitag 147 ............................................................................................ Sonnabend 150 ................................................................................... Sonntag 152 .........................................................................................

Der Schweinehirt 155 .................................................................. Der Tannenbaum 163 .................................................................. Des Kaisers neue Kleider 175 .................................................... Die alte Straßenlaterne 182 ....................................................... Die Geschichte von einer Mutter 192 ..................................... Die kleine Seejungfrau 200 ....................................................... Die roten Schuhe 230 ................................................................. Die Schneekönigin 239 ............................................................... Erste Geschichte welche von dem Spiegel und den

Scherben handelt 240 .................................................................. Zweite Geschichte – Ein kleiner Knabe und ein kleines

Mädchen 243 ..................................................................................

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II

Dritte Geschichte – Der Blumengarten bei der Frau,welche zaubern konnte 251 .........................................................

Vierte Geschichte – Prinz und Prinzessin 260 .......................... Fünfte Geschichte – Das kleine Räubermädchen 268 ............. Sechste Geschichte – Die Lappin und die Finnin 274 .............. Siebente Geschichte – Von dem Schlosse der

Schneekönigin und was sich später darin zutrug 279 .......... Die glückliche Familie 285 ......................................................... Die Hirtin und der Schornsteinfeger 291 .............................. Die Störche 298 ............................................................................ Die Nachtigall 306 ....................................................................... Der Engel 320 ............................................................................... Der fliegende Koffer 324 ............................................................ Der kleine Tuk 332 ...................................................................... Die Blumen der kleinen Ida 339 ............................................... Der Flachs 350 .............................................................................. Die Nachbarsfamilien 357 .......................................................... Die wilden Schwäne 371 ............................................................. Elfenhügel 393 .............................................................................. Die Fliedermütterchen 403 ....................................................... Der Wassertropfen 414 ............................................................... Der Halskragen 417 ...................................................................... Der böse Fürst 422 ...................................................................... Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern 425 ............ Die Prinzessin auf der Erbse 430 ............................................ Das Liebespaar 433 ..................................................................... Der unartige Knabe 437 ............................................................. Die Stopfnadel 441 ....................................................................... Das Gänseblümchen 446 ........................................................... Die Glocke 452 ............................................................................. Der Buchweizen 460 ...................................................................

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III

Der Rosenelf 464 .......................................................................... Holger Danske 472 ....................................................................... Die Springer 479 .......................................................................... Der Schatten 483 ......................................................................... Tölpelhans 500 ............................................................................. Fünf in einer Schote 505 ............................................................ Der Schneemann 509 ................................................................. Die Teekanne 516 ......................................................................... Die Galoschen des Glückes 518 ................................................ I. Ein Anfang 519 ................................................................................. II. Wie es dem Gerichtsrat erging 522 .......................................... III. Des Wächters Abenteuer 531 ................................................... IV. Ein Hauptmoment 538 ............................................................... V. Die Verwandlung des Schreibers 544 ...................................... VI. Das Beste, was die Galoschen brachten 553 ........................

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Danke

Danke, dass Sie sich für ein E-Book aus meinem Verlagentschieden haben.

Sollten Sie Hilfe benötigen oder eine Frage haben, sch-reiben Sie mir.

IhrJürgen Schulze

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Hans Christian Andersen – Lebenund Werk

Hans Christian Andersen ist fast jedem noch heute be-kannt als einer der größten Märchenerzähler des 19. Jahr-hunderts.

Sein bewegtes Leben begann am 2. April 1805 im däni-schen Odense auf der Insel Fünen. Er war der Sohn einesverarmten Schuhmachers und einer Trinkerin und hattedadurch alles andere als gute Voraussetzungen für seinkünftiges Leben. Während seiner Kindheit konnte HansChristian Andersen nur unregelmäßig zum Schulunter-richt erscheinen, da das Geld stets knapp war und derJunge dem Vater bei der Arbeit helfen musste. 1816 starbder Vater und der 14-jährige Andersen entschloss sichdaraufhin, in die dänische Hauptstadt Kopenhagen zu ge-hen, um dort sein Glück zu versuchen. Die mutige Ent-scheidung – war er doch dort ganz auf sich allein gestellt– sollte sich als Glücksfall herausstellen. Denn nachdemsich der Junge zunächst einige Zeit als Schauspieler undSänger versucht hatte durchzuschlagen, nahm ihn derKonferenzrat Jonas Collin unter seine Fittiche. Er war da-mals Direktor des Königlichen Theaters in Kopenhagen.Von da an verbrachte Andersen den Rest seiner Jugendim Haus des reichen Mannes, der mehrere Kinder hatte.Zum Sohn des Hauses fühlte sich der junge Mann mehrals nur freundschaftlich hingezogen, doch auch zur jüngs-ten Tochter verband ihn eine innige freundschaftliche Be-ziehung. Über Collin wurde er König Friedrich VI. be-kannt, der ihm zunächst die Beendigung der schulischen

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Laufbahn und später das Studium an der Universität inKopenhagen ermöglichte. Während dieser Zeit war HansChristian Andersen bereits durch kleine Gedichte und Er-zählungen aufgefallen. Der junge Mann verliebte sichbald in eine Frau, die jedoch einem anderen versprochenwar. Aus Liebeskummer unternahm er zahlreiche Reisendurch ganz Europa, landete dabei in Deutschland, Frank-reich, England, Spanien und Italien. Er gelangte sogar bisins Osmanische Reich. In Dresden war er mehr als drei-ßig Mal.

Seine Reisen inspirierten zahlreiche seiner Märchen,die oftmals ebenfalls exotische Motive haben. Auch derEinfluss Italiens spiegelt sich darin wider.

Die Bildungsschicht reagierte begeistert auf Ander-sens erste Romane und weitere literarische Werke, so-dass er schnell auch international Anerkennung fand. Mitseinen Romanen gilt er als Begründer der Literatur desRealismus in Dänemark. Im privaten Bereich blieb HansChristian Andersen zeit seines Lebens allein. Allerdingspflegte er intensive Freundschaften zu mehreren Damen.Zu diesen, mit denen er lange Briefwechsel führte, ge-hörte auch die Sängerin Jenny Lind, die als »die schwedi-sche Nachtigall« bekannt wurde. Auch mit der Tochterdes Entdeckers des Elektromagnetismus, Hans ChristianOersted, verband ihn eine innige Freundschaft. Jedochfühlte er sich ebenfalls zu Edvard Collin hingezogen, dener schon in seiner Jugend sehr gern gehabt hatte. Selbstals dieser heiratete, behielten sie einen dauerhaften, re-gelmäßigen Briefkontakt bei. Die Spekulation über Ander-sens Homosexualität begann deshalb bereits zu seinenLebzeiten, hatte jedoch keinen Einfluss auf den hohenStatus des Literaten.

Im Alter von 70 Jahren starb Hans Christian Andersenhochverehrt in Kopenhagen am 4. August 1875. Er hattein seinem Leben zahllose Märchen, Romane und andere

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literarische Werke verfasst und mit diesen stets Erfolg ge-habt. Viele internationale Preise wurden ihn zuteil. Sowurde er nach seinem Tod mit einem Staatsbegräbnis ge-ehrt und auf dem Kopenhagener Assistenzfriedhof beige-setzt.

Den meisten sind heute die Märchen des Hans Chris-tian Andersen bekannt. Er schrieb davon mehr als 300Stück, welche in acht Bänden veröffentlicht wurden. An-dersen bediente sich hierbei hauptsächlich der Form desKunstmärchens.

Der Begriff Kunstmärchen bedeutet, dass die Mär-chen aus der Hand des Dichters selbst stammen unddiese nicht, wie im Falle der Brüder Grimm, aus Erzählun-gen anderer zusammengestellt wurden. Allerdings hattenauch Andersens Märchen teils alte Motive aus aller Her-ren Länder, die er auf seinen zahlreichen Reisen besuchthatte. Als Quellen dienten beispielsweise alte griechischeund osmanische Legenden, aber auch dänische und deut-sche Volksmärchen. Diese jedoch setzte er völlig neu zu-sammen und verlegte sie teilweise in andere Zeiten undHandlungsräume. Einige der Märchen erfand Andersenselbst ohne jeglichen geschichtlichen Hintergrund. Zudiesen gehören »Das kleine Mädchen mit den Schwefel-hölzern«, »Das hässliche Entlein« sowie sein wohl be-kanntestes Märchen »Die Schneekönigin«, welches bisheute auch unzählige filmische und musikalische Inter-pretationen erfuhr.

Bekannt wurden auch jene Märchen Hans ChristianAndersens, in denen er Gegenstände zum Leben er-weckte. Das wohl bekannteste dieser Märchen ist »Derstandhafte Zinnsoldat«. Weitere Märchen dieser Machartsind »Die Stopfnadel« oder »Der Tannenbaum«, in demer einen Weihnachtsbaum vermenschlicht und zum Le-ben erweckt.

Am Ende seines Lebens rückten immer wieder auch

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neue technische Erfindungen in den Fokus seiner Mär-chen, wie etwa in »Die große Seeschlange«.

Die Märchen erschienen in den Jahren 1835-1848 so-wie 1858-1866 und wurden bis heute in mehr als 80 Spra-chen übersetzt.

Auch wenn Hans Christian Andersen die Märchen zu-nächst für Kinder schrieb, sind sie heute vor allem bei er-wachsenen Lesern beliebt. Der hintergründige Humorund die oft ernste Handlung mit subtilen Untertönen fin-den mehr bei Älteren Anklang.

Neben den Märchen schrieb Hans Christian Andersenmit »Jugendleben und Träume eines italienischen Dich-ters« (Original: »Improvisatoren«) 1835 auch seinen ers-ten Roman. Dieser erzählt die Lebensgeschichte des Dich-ters Antonio, der durch die verschiedensten Regionen Ita-liens reist. In diesem Roman konnte Andersen eine Viel-zahl seiner eigenen Italienerlebnisse wiedergeben – undhatte damit großen Erfolg: Er erhielt für das Werk einsehr stattliches Dichtergehalt.

Der Roman »Nur ein Geiger« von 1837 erzählt dage-gen von einem Menschen, dem es nicht vergönnt ist, mitseiner Genialität als Geiger zu Erfolg zu gelangen. Erscheitert letztendlich an der gesellschaftlichen Wirklich-keit.

Im Jahre 1848 schrieb er den Roman »Die zwei Baro-nessen«, in dem es um die Überwindung der gesellschaft-lichen Schranken geht. Auch dieses Thema hatte Ander-sen zeitlebens bewegt. Mit dem Roman wollte er zeigen,dass der Geistesadel dem Adel von Geburt an überlegenund deshalb eine gesellschaftliche Abgrenzung nichtmöglich ist.

»Das Märchen meines Lebens« lautet der Titel vonHans Christian Andersens 1845/46 erschienener Autobio-grafie, die in Dänemark erst zehn Jahre später erschien.Im Buch beschreibt Andersen sich selbst als Menschen

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mit all seinen Eigenheiten und vor allem der Sehnsucht,das Wunderbare im Alltag sehen zu können.

Neben den Märchen und Romanen brachte HansChristian Andersen auch zahlreiche Gedichte sowie Kurz-prosa hervor, welche bis heute beliebt sind.

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Däumelinchen

Es war einmal eine Frau, die sich sehr nach einem klei-nen Kinde sehnte, aber sie wusste nicht, woher sie esnehmen sollte. Da ging sie zu einer alten Hexe und sagtezu ihr: »Ich möchte herzlich gern ein kleines Kind haben,willst Du mir nicht sagen, woher ich das bekommenkann?«

»Ja, damit wollen wir schon fertig werden!« sagte dieHexe. »Da hast Du ein Gerstenkorn; das ist gar nicht vonder Art, wie sie auf dem Felde des Landmanns wachsen,oder wie sie die Hühner zu fressen bekommen; lege dasin einen Blumentopf, so wirst Du etwas zu sehen bekom-men!«

»Ich danke Dir!« sagte die Frau und gab der Hexe fünfGroschen, ging dann nach Hause, pflanzte das Gersten-korn, und sogleich wuchs da eine herrliche, große

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Blume; sie sah aus wie eine Tulpe, aber die Blätter schlos-sen sich fest zusammen, gerade als ob sie noch in derKnospe wären.

»Das ist eine niedliche Blume!« sagte die Frau undküsste sie auf die roten und gelben Blätter, aber geradewie sie darauf küsste, öffnete sich die Blume mit einemKnall. Es war eine wirkliche Tulpe, wie man nun sehenkonnte, aber mitten in der Blume saß auf dem grünen Sa-mengriffel ein ganz kleines Mädchen, fein und niedlich,sie war nicht über einen Daumen breit und lang, deswe-gen wurde sie Däumelinchen genannt.

Eine niedliche, lackierte Walnussschale bekam sie zurWiege, blaue Veilchenblätter waren ihre Matratze undein Rosenblatt ihr Deckbett. Da schlief sie bei Nacht,aber am Tage spielte sie auf dem Tisch, wo die Frau ei-nen Teller hingestellt, um den sie einen ganzen Kranzvon Blumen gelegt hatte, deren Stengel im Wasser stan-den; hier schwamm ein großes Tulpenblatt, und auf die-sem konnte Däumelinchen sitzen, und von der einenSeite des Tellers nach der anderen fahren; sie hatte zweiweiße Pferdehaare zum Rudern. Das sah ganz allerliebstaus. Sie konnte auch singen, und so fein und niedlich,wie man es nie gehört hatte.

Einmal nachts, als sie in ihrem schönen Bette lag, kameine Kröte durch das Fenster hereingehüpft, wo eineScheibe entzwei war. Die Kröte war hässlich, groß undnass, sie hüpfte gerade auf den Tisch herunter, wo Däu-melinchen lag und unter dem roten Rosenblatt schlief.

»Das wäre eine schöne Frau für meinen Sohn!« sagtedie Kröte, und da nahm sie die Walnussschale, worin Däu-melinchen schlief, und hüpfte mit ihr durch die zerbro-chene Scheibe fort, in den Garten hinunter.

Da floss ein großer, breiter Fluss; aber gerade amUfer war es sumpfig und morastig; hier wohnte die Krötemit ihrem Sohne. Hu, der war hässlich und garstig und

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glich ganz seiner Mutter. »Koax, koax, brekkerekekex!«Das war alles, was er sagen konnte, als er das niedlichekleine Mädchen in der Walnussschale erblickte.

»Sprich nicht so laut, denn sonst erwacht sie!« sagtedie alte Kröte. »Sie könnte uns noch entlaufen, denn sieist so leicht wie ein Schwanenflaum! Wir wollen sie aufeins der breiten Seerosenblätter in den Fluss hinausset-zen, das ist für sie, die so leicht und klein ist, gerade wieeine Insel; da kann sie nicht davonlaufen, während wirdie Staatsstube unten unter dem Morast, wo Ihr wohnenund hausen sollt, in Stand setzen.«

Draußen in dem Flusse wuchsen viele Seerosen mitden breiten, grünen Blättern, welche aussahen, alsschwämmen sie oben auf dem Wasser; das Blatt, welchesam weitesten hinauslag, war auch das allergrößte; daschwamm die alte Kröte hinaus und setzte die Walnuss-schale mit Däumelinchen darauf.

Das kleine Wesen erwachte früh morgens, und da siesah, wo sie war, fing sie recht bitterlich an zu weinen;denn es war Wasser zu allen Seiten des großen, grünenBlattes, und sie konnte gar nicht an das Land kommen.

Die alte Kröte saß unten im Morast und putzte ihreStube mit Schilf und gelben Fischblattblumen aus – essollte da recht hübsch für die neue Schwiegertochterwerden – und schwamm dann mit dem hässlichen Sohnezu dem Blatte hinaus, wo Däumelinchen stand. Sie woll-ten ihr hübsches Bett holen, das sollte in das Brautge-mach gestellt werden, bevor sie es selbst betrat. Die alteKröte verneigte sich tief im Wasser vor ihr und sagte:»Hier siehst Du meinen Sohn; er wird Dein Mann sein,und Ihr werdet recht prächtig unten im Morast woh-nen!«

»Koax, koax, brekkerekekex!« war alles, was der Sohnsagen konnte.

Dann nahmen sie das niedliche, kleine Bett und

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schwammen damit fort; aber Däumelinchen saß ganz al-lein und weinte auf dem grünen Blatte, denn sie mochtenicht bei der garstigen Kröte wohnen oder ihren hässli-chen Sohn zum Manne haben. Die kleinen Fische, welcheunten im Wasser schwammen, hatten die Kröte wohl ge-sehen und gehört, was sie gesagt hatte; deshalb streck-ten sie die Köpfe hervor, sie wollten doch das kleine Mäd-chen sehen. Sobald sie es erblickten, fanden sie dasselbeso niedlich, dass es ihnen leid tat, dass es zur hässlichenKröte hinunter sollte. Nein, das durfte nie geschehen! Sieversammelten sich unten im Wasser rings um den grü-nen Stengel, welcher das Blatt hielt, nagten mit den Zäh-nen den Stiel ab, und da schwamm das Blatt den Flusshinab mit Däumelinchen davon, weit weg, wo die Krötesie nicht erreichen konnte.

Däumelinchen segelte vor vielen Städten vorbei, unddie kleinen Vögel saßen in den Büschen, sahen sie undsangen: »Welch liebliches, kleines Mädchen!« Das Blattschwamm mit ihr immer weiter und weiter fort; so reisteDäumelinchen außer Landes.

Ein niedlicher, weißer Schmetterling umflatterte siestets und ließ sich zuletzt auf das Blatt nieder, denn Däu-melinchen gefiel ihm. Diese war sehr erfreut; denn nunkonnte die Kröte sie nicht erreichen, und es war so sc-hön, wo sie fuhr; die Sonne schien auf das Wasser, diesesglänzte wie das herrlichste Gold. Sie nahm ihren Gürtel,band das eine Ende um den Schmetterling, das andereEnde des Bandes befestigte sie am Blatte; das glitt nunviel schneller davon und sie mit, denn sie stand ja aufdemselben.

Da kam ein großer Maikäfer angeflogen, der erblicktesie und schlug augenblicklich seine Klauen um ihrenschlanken Leib und flog mit ihr auf einen Baum; dasgrüne Blatt schwamm den Fluss hinab und der Schmet-terling mit, denn er war an das Blatt gebunden und

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konnte nicht von demselben loskommen.Wie war das arme Däumelinchen erschrocken, als der

Maikäfer mit ihr auf den Baum flog! Aber hauptsächlichwar sie des schönen, weißen Schmetterlings wegen betr-übt, den sie an das Blatt festgebunden hatte; im Fall ersich nicht befreien konnte, musste er ja verhungern.Aber darum kümmerte sich der Maikäfer gar nicht. Ersetzte sich mit ihr auf das größte, grüne Blatt des Bau-mes, gab ihr das Süße der Blumen zu essen und sagte,dass sie niedlich sei, obgleich sie einem Maikäfer durch-aus nicht gleiche. Später kamen alle die anderen Maikä-fer, die im Baume wohnten, und besuchten sie; sie be-trachteten Däumelinchen, und die Maikäferfräuleinrümpften die Fühlhörner und sagten: »Sie hat doch nichtmehr als zwei Beine; das sieht erbärmlich aus.« – »Sie hatkeine Fühlhörner!« sagte eine andere. »Sie ist so schlankin der Mitte; pfui, sie sieht wie ein Mensch aus! Wie häss-lich sie ist!« sagten alle Maikäferinnen, und doch war Däu-melinchen so niedlich. Das erkannte auch der Maikäfer,der sie geraubt hatte, aber als alle anderen sagten, sie seihässlich, so glaubte er es zuletzt auch und wollte sie garnicht haben; sie konnte gehen, wohin sie wollte. Sie flo-gen mit ihr den Baum hinab und setzten sie auf ein Gän-seblümchen; da weinte sie, weil sie so hässlich sei, dassdie Maikäfer sie nicht haben wollten, und doch war siedas Lieblichste, das man sich denken konnte, so fein undklar wie das schönste Rosenblatt.

Den ganzen Sommer über lebte das arme Däumelin-chen ganz allein in dem großen Walde. Sie flocht sich einBett aus Grashalmen und hing es unter einem Kletten-blatte auf, so war sie vor dem Regen geschützt; siepflückte das Süße der Blumen zur Speise und trank vomTau, der jeden Morgen auf den Blättern lag. So vergingSommer und Herbst. Aber nun kam der Winter, der kalte,lange Winter. Alle Vögel, die so schön vor ihr gesungen

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hatten, flogen davon, Bäume und Blumen verdorrten; dasgroße Klettenblatt, unter dem sie gewohnt hatte,schrumpfte zusammen und es blieb nichts, als ein gelber,verwelkter Stengel zurück; Däumelinchen fror erschreck-lich, denn ihre Kleider waren entzwei und sie war selbstso fein und klein, sie musste erfrieren. Es fing an zuschneien, und jede Schneeflocke, die auf sie fiel, war, alswenn man auf uns eine ganze Schaufel voll wirft, dennwir sind groß, und sie war nur einen Zoll lang. Da hülltesie sich in ein verdorrtes Blatt ein, aber das wollte nichtwärmen; sie zitterte vor Kälte.

Dicht vor dem Walde, wohin sie nun gekommen war,lag ein großes Kornfeld, aber das Korn war schon langeabgeschnitten, nur die nackten, trockenen Stoppeln stan-den aus der gefrorenen Erde hervor. Sie waren geradewie ein ganzer Wald für sie zu durchwandern und sie zit-terte vor Kälte! Da gelangte sie vor die Türe der Feld-maus, die ein kleines Loch unter den Kornstoppeln hatte.Da wohnte die Feldmaus warm und gut, hatte die ganzeStube voll Korn, eine herrliche Küche und Speisekam-mer. Das arme Däumelinchen stellte sich in die Türe, ge-rade wie jedes andere arme Bettelmädchen, und bat umein kleines Stück von einem Gerstenkorn, denn sie hattein zwei Tagen nicht das Mindeste zu essen gehabt.

»Du kleines Wesen!« sagte die Feldmaus, denn imGrunde war es eine gute alte Feldmaus, »komm herein inmeine warme Stube und iss mit mir!«

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Da ihr nun Däumelinchen gefiel, sagte sie: »Du kannstden Winter über bei mir bleiben, aber Du musst meineStube sauber und rein halten und mir Geschichten erzäh-len, denn die liebe ich sehr.« Däumelinchen tat, was diegute alte Feldmaus verlangte, und hatte es außerordent-lich gut.

»Nun werden wir bald Besuch erhalten!« sagte dieFeldmaus. »Mein Nachbar pflegt mich wöchentlich ein-mal zu besuchen. Er steht sich noch besser als ich, hatgroße Säle und trägt einen schönen, schwarzen Samt-pelz! Wenn Du den zum Manne bekommen könntest, sowärest Du gut versorgt; aber er kann nicht sehen. Dumusst ihm die niedlichsten Geschichten erzählen, die Duweißt!«

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Aber darum kümmerte sich Däumelinchen nicht, siemochte den Nachbar gar nicht haben, denn er war einMaulwurf.

Er kam und stattete den Besuch in seinem schwarzenSamtpelz ab. Er sei reich und gelehrt, sagte die Feld-maus; seine Wohnung war auch zwanzigmal größer, alsdie der Feldmaus. Gelehrsamkeit besaß er, aber dieSonne und die schönen Blumen mochte er gar nicht lei-den, von diesen sprach er schlecht, denn er hatte sienoch nie gesehen.

Däumelinchen musste singen, und sie sang: »Maikäferfliege!« und: »Geht der Pfaffe auf das Feld.« Da wurde derMaulwurf in sie, der schönen Stimme wegen, verliebt,aber er sagte nichts, er war ein besonnener Mann.

Er hatte sich vor kurzem einen langen Gang durch dieErde von seinem bis zu ihrem Hause gegraben; in diesemerhielten die Feldmaus und Däumelinchen die Erlaubnis,zu spazieren, soviel sie wollten. Aber er bat sie, sich nichtvor dem toten Vogel zu fürchten, der in dem Gange liege;es war ein ganzer Vogel mit Federn und Schnabel, der si-cher erst kürzlich gestorben und nun begraben war, ge-rade da wo er seinen Gang gemacht hatte.

Der Maulwurf nahm nun ein Stück faules Holz insMaul, denn das schimmert ja wie Feuer im Dunkeln, gingdann voran und leuchtete ihnen in dem langen, dunkelnGange. Als sie dahin kamen, wo der tote Vogel lag,stemmte der Maulwurf seine breite Nase gegen die De-cke und stieß die Erde auf, sodass ein großes Lochwurde, durch welches das Licht hinunter scheinenkonnte. Mitten auf dem Fußboden lag eine toteSchwalbe, die schönen Flügel fest an die Seite gedrückt,die Füße und den Kopf unter die Federn gezogen; derarme Vogel war sicher vor Kälte gestorben. Das tat Däu-melinchen leid, sie hielt viel von allen kleinen Vögeln, siehatten ja den ganzen Sommer so schön vor ihr gesungen

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und gezwitschert; aber der Maulwurf stieß ihn mit sei-nen kurzen Beinen und sagte: »Nun pfeift er nicht mehr!Es muss doch erbärmlich sein, als kleiner Vogel geborenzu werden! Gott sei Dank, dass keins von meinen Kin-dern das wird; ein solcher Vogel hat ja außer seinem Qui-vit nichts, und muss im Winter verhungern!«

»Ja, das mögt Ihr als vernünftiger Mann wohl sagen«,erwiderte die Feldmaus. »Was hat der Vogel für all’ seinQuivit, wenn der Winter kommt? Er muss hungern undfrieren; doch das soll wohl vornehm sein!«

Däumelinchen sagte gar nichts; aber als die beiden an-deren dem Vogel den Rücken wandten, neigte sie sichherab, schob die Federn beiseite, welche den Kopf be-deckten, und küsste ihn auf die geschlossenen Augen.

»Vielleicht war er es, der so hübsch vor mir im Som-mer sang«, dachte sie. »Wie viel Freude hat er mir nichtgemacht, der liebe, schöne Vogel!«

Der Maulwurf stopfte nun das Loch zu, durch wel-ches der Tag hereinschien, und begleitete dann die Da-men nach Hause. Aber nachts konnte Däumelinchen garnicht schlafen; da stand sie von ihrem Bette auf undflocht von Heu einen großen, schönen Teppich, den trugsie zu dem Vogel, breitete ihn über denselben und legteweiche Baumwolle, welche sie in der Stube der Feldmausgefunden hatte, an die Seiten des Vogels, damit er in derkalten Erde warm liegen möge.

»Lebe wohl, Du schöner, kleiner Vogel!« sagte sie.»Lebe wohl und habe Dank für Deinen herrlichen Gesangim Sommer, als alle Bäume grün waren und die Sonnewarm auf uns herabschien!« Dann legte sie ihr Haupt andes Vogels Brust, erschreckte aber zugleich, denn es wargerade, als ob drinnen etwas klopfte. Das war des VogelsHerz. Der Vogel war nicht tot, er lag nur betäubt da undwar nun erwärmt worden und bekam wieder Leben.

Im Herbst fliegen alle Schwalben nach den warmen

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Ländern fort; aber ist da eine, die sich verspätet, so friertsie so, dass sie wie tot niederfällt, liegen bleibt, wo siehinfällt, und der kalte Schnee sie bedeckt.

Däumelinchen zitterte heftig, so war sie erschrocken,denn der Vogel war ja groß, sehr groß gegen sie, die nureinen Zoll lang war; aber sie fasste doch Mut, legte dieBaumwolle dichter um die arme Schwalbe, und holte einKrausemünzblatt, welches sie selbst zum Deckblatt ge-habt hatte, und legte es über den Kopf des Vogels.

In der nächsten Nacht schlich sie sich wieder zu ihm,und da war er nun lebendig, aber ganz matt, er konntenur einen Augenblick seine Augen öffnen und Däumelin-chen ansehen, die mit einem Stück faulen Holzes in derHand, denn eine andere Laterne hatte sie nicht, vor ihmstand.

»Ich danke Dir, Du niedliches, kleines Kind!« sagte diekranke Schwalbe zu ihr. »Ich bin herrlich erwärmt wor-den; bald erhalte ich meine Kräfte zurück und kann dannwieder draußen in dem warmen Sonnenschein herumflie-

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gen!«»O«, sagte Däumelinchen, »es ist kalt draußen, es

schneit und friert! Bleib in Deinem warmen Bette, ichwerde Dich schon pflegen!«

Dann brachte sie der Schwalbe Wasser in einem Blu-menblatt, und diese trank und erzählte ihr, wie sie ihreneinen Flügel an einem Dornbusch gerissen und deshalbnicht so schnell habe fliegen können, als die anderenSchwalben, welche fortgeflogen seien, weit fort nach denwarmen Ländern. So sei sie zuletzt zur Erde gefallen.Mehr wusste sie nicht, und auch nicht, wie sie hierher ge-kommen war.

Den ganzen Winter blieb sie nun da unten, Däumelin-chen pflegte sie und hatte sie lieb, weder der Maulwurfnoch die Feldmaus erfuhr etwas davon, denn sie moch-ten die arme Schwalbe nicht leiden.

Sobald das Frühjahr kam und die Sonne die Erde er-wärmte, sagte die Schwalbe Däumelinchen Lebewohl, diedas Loch öffnete, welches der Maulwurf oben gemachthatte. Die Sonne schien herrlich zu ihnen herein und dieSchwalbe fragte, ob sie mitkommen wolle, sie könnte aufihrem Rücken sitzen, sie wollten weit in den grünenWald hineinfliegen. Aber Däumelinchen wusste, dass esdie alte Feldmaus betrüben würde, wenn sie sie verließe.

»Nein, ich kann nicht!« sagte Däumelinchen.»Lebe wohl, lebe wohl, Du gutes, niedliches Mäd-

chen!« sagte die Schwalbe und flog hinaus in den Sonnen-schein. Däumelinchen sah ihr nach und das Wasser tratihr in die Augen, denn sie war der armen Schwalbe vonHerzen gut.

»Quivit, quivit!« sang der Vogel und flog in den grü-nen Wald. Däumelinchen war recht betrübt. Sie erhieltgar keine Erlaubnis, in den warmen Sonnenschein hinaus-zugehen. Das Korn, welches auf dem Felde, über demHause der Feldmaus gesät war, wuchs auch hoch in die

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Luft empor; das war ein ganz dichter Wald für das arme,kleine Mädchen, das nur einen Zoll lang war.

»Nun sollst Du im Sommer Deine Aussteuer nähen!«sagte die Feldmaus zu ihr; denn der Nachbar, der langwei-lige Maulwurf in dem schwarzen Samtpelze, hatte um siegefreit. »Du musst sowohl Wollen-wie Leinenzeug ha-ben, denn es darf Dir an nichts fehlen, wenn Du des Maul-wurfs Frau wirst!«

Däumelinchen musste auf der Spindel spinnen, unddie Feldmaus mietete vier Spinnen, welche Tag undNacht für sie spannen und webten. Jeden Abend be-suchte sie der Maulwurf und sprach dann immer davon,dass, wenn der Sommer zu Ende gehe, die Sonne langenicht so warm scheinen werde, sie brenne ja jetzt dieErde fest wie einen Stein; ja, wenn der Sommer vorbeisei, dann wolle er mit Däumelinchen Hochzeit halten.Aber sie war gar nicht erfreut darüber, denn sie mochteden langweiligen Maulwurf nicht leiden. Jeden Morgen,wenn die Sonne aufging, und jeden Abend, wenn sie un-terging, stahl sie sich zur Tür hinaus, und wenn dann derWind die Kornähren trennte, sodass sie den blauen Him-mel erblicken konnte, dachte sie daran, wie hell und sc-hön es hier draußen sei, und wünschte sehnlichst, dieliebe Schwalbe wiederzusehen; aber die kam nicht wie-der; sie war gewiss weit weg in den schönen grünenWald gezogen.

Als es nun Herbst wurde, hatte Däumelinchen ihreganze Aussteuer fertig.

»In vier Wochen sollst Du Hochzeit halten!« sagte dieFeldmaus. Aber Däumelinchen weinte und sagte, siewolle den langweiligen Maulwurf nicht haben.

»Schnickschnack!« sagte die Feldmaus. »Werde nichtwiderspenstig, denn sonst werde ich Dich mit meinenweißen Zähnen beißen! Es ist ja ein schöner Mann, denDu bekommst! Die Königin selbst hat keinen solchen

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schwarzen Samtpelz! Er hat Küche und Keller voll. DankeDu Gott für ihn!«

Nun sollten sie Hochzeit haben. Der Maulwurf warschon gekommen, Däumelinchen zu holen; sie sollte beiihm wohnen, tief unter der Erde, nie an die warme Sonneherauskommen, denn die mochte er nicht leiden. Dasarme Kind war sehr betrübt; sie sollte nun der schönenSonne Lebewohl sagen, die sie doch bei der Feldmaushatte von der Tür aus sehen dürfen.

»Lebe wohl, Du helle Sonne!« sagte sie, streckte dieArme hoch empor und ging auch eine kleine Strecke wei-ter vor dem Hause der Feldmaus; denn nun war das Korngeerntet, und hier standen nur die trockenen Stoppeln.»Lebe wohl, lebe wohl!« sagte sie und schlang ihre Armeum eine kleine rote Blume, die da stand. »Grüße diekleine Schwalbe von mir, wenn Du sie zu sehen be-kommst!«

»Quivit, quivit!« ertönte es plötzlich über ihremKopfe, sie sah empor, es war die kleine Schwalbe, die ge-rade vorbei kam. Sobald sie Däumelinchen erblickte,wurde sie sehr erfreut; diese erzählte ihr, wie ungern sieden hässlichen Maulwurf zum Manne haben wolle, unddass sie dann tief unter der Erde wohnen solle, wo niedie Sonne scheine. Sie konnte sich nicht enthalten, dabeizu weinen.

»Nun kommt der kalte Winter«, sagte die kleineSchwalbe; »ich fliege weit fort nach den warmen Län-dern, willst Du mit mir kommen? Du kannst auf meinemRücken sitzen! Binde Dich nur mit Deinem Gürtel fest,dann fliegen wir von dem hässlichen Maulwurf und sei-ner dunkeln Stube fort, weit über die Berge, nach denwarmen Ländern, wo die Sonne schöner scheint als hier,wo es immer Sommer ist und herrliche Blumen gibt.Fliege nur mit mir, Du liebes, kleines Däumelinchen, diemein Leben gerettet hat, als ich wie tot in dem dunkeln

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Erdkeller lag!«»Ja, ich werde mit Dir kommen!« sagte Däumelinchen

und setzte sich auf des Vogels Rücken, mit den Füßenauf seine entfalteten Schwingen, band ihren Gürtel an ei-ner der stärksten Federn fest, und da flog die Schwalbehoch in die Luft hinauf, über Wald und über See, hochhinauf über die großen Berge, wo immer Schnee liegt;Däumelinchen fror in der kalten Luft, aber dann ver-kroch sie sich unter des Vogels warmen Federn und st-reckte nur den kleinen Kopf hervor, um all’ die Schönhei-ten unter sich zu bewundern.

Da kamen sie denn nach den warmen Ländern. Dortschien die Sonne weit klarer als hier, der Himmel warzweimal so hoch, und an Gräben und Hecken wuchsendie schönsten, grünen und blauen Weintrauben. In denWäldern hingen Zitronen und Apfelsinen, hier duftete esvon Myrten und Krausemünze, auf den Landstraßen lie-fen die niedlichsten Kinder und spielten mit großen, bun-ten Schmetterlingen. Aber die Schwalbe flog noch weiterfort, und es wurde schöner und schöner. Unter den herr-lichsten grünen Bäumen an dem blauen See stand einblendend weißes Marmorschloss aus noch alten Zeiten.Weinreben rankten sich um die hohen Säulen empor;ganz oben waren viele Schwalbennester, und in einemderselben wohnte die Schwalbe, welche Däumelinchentrug.

»Hier ist mein Haus!« sagte die Schwalbe. »Aber willstDu Dir nun selbst eine der prächtigsten Blumen, die daunten wachsen, aussuchen, dann will ich Dich hineinset-zen und Du sollst es so gut haben, wie Du es nur wün-schest!«

»Das ist herrlich!« sagte Däumelinchen und klatschtein die kleinen Hände.

Da lag eine große, weiße Marmorsäule, welche zu Bo-den gefallen und in drei Stücke gesprungen war, aber zwi-

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schen diesen wuchsen die schönsten, großen, weißenBlumen. Die Schwalbe flog mit Däumelinchen hinunterund setzte sie auf eins der breiten Blätter. Aber wie ersta-unte diese! Da saß ein kleiner Mann mitten in der Blume,so weiß und durchsichtig, als wäre er von Glas; die nied-lichste Goldkrone trug er auf dem Kopfe und die herr-lichsten, klaren Flügel an den Schultern, er selbst warnicht größer als Däumelinchen. Es war der Blume Engel.In jeder Blume wohnte so ein kleiner Mann oder eineFrau, aber dieser war der König über alle.

»Gott, wie ist er schön!« flüsterte Däumelinchen derSchwalbe zu. Der kleine Prinz erschrak sehr über dieSchwalbe, denn sie war gegen ihn, der so klein und feinwar, ein Riesenvogel; aber als er Däumelinchen erblickte,wurde er hocherfreut; sie war das schönste Mädchen,das er je gesehen hatte. Deswegen nahm er seine Gold-krone vom Haupte und setzte sie ihr auf, fragte, wie sieheiße und ob sie seine Frau werden wolle, dann solle sieKönigin über alle Blumen werden! Ja, das war wahrlichein anderer Mann als der Sohn der Kröte und der Maul-wurf mit dem schwarzen Samtpelze. Sie sagte deshalb jazu dem herrlichen Prinzen, und von jeder Blume kameine Dame oder ein Herr, so niedlich, dass es eine Lustwar; jeder brachte Däumelinchen ein Geschenk, aber dasbeste von allen waren ein Paar schöne Flügel von einergroßen, weißen Fliege; sie wurden Däumelinchen am Rü-cken befestigt, und nun konnte sie auch von Blume zuBlume fliegen. Da gab es viele Freude, und die Schwalbesaß oben in ihrem Neste und sang ihnen vor, so gut siekonnte; aber im Herzen war sie doch betrübt, denn siewar Däumelinchen gut und hätte sich nie von ihr tren-nen mögen.

»Du sollst nicht Däumelinchen heißen!« sagte der Blu-menengel zu ihr. »Das ist ein hässlicher Name und Dubist schön. Wir wollen Dich Maja nennen.«

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»Lebe wohl, lebe wohl!« sagte die kleine Schwalbeund flog wieder fort von den warmen Ländern, weit wegnach Deutschland zurück; dort hatte sie ein kleines Nestüber dem Fenster, wo der Mann wohnt, der Märchen er-zählen kann, vor ihm sang sie »Quivit, quivit!«

Daher wissen wir die ganze Geschichte.