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Vandenhoeck & Ruprecht Hans Conzelmann Grundrisse zum Neuen Testament Band 5 Geschichte des Urchristentums

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Vandenhoeck & Ruprecht

Hans Conzelmann

Grundrisse zum Neuen Testament Band 5

Geschichte des Urchristentums

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Grundrisse zum Neuen Testament

5

ISBN Print: 9783525513545 — ISBN E-Book: 9783647513546© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen

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Grundrisse zum Neuen Testament Das Neue Testament Deutsch • Ergänzungsreihe

Herausgegeben von Gerhard Friedrich

Band 5

Geschichte des Urchristentums

Göttingen • Vandenhoeck & Ruprecht • 1976

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Geschichte des Urchristentums

von

Hans Conzelmann

Dritte Auflage

Göttingen . Vandenhoeck & Ruprecht . 1976

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ISBN 3 - 525 - 51354 - 2

© Vandenhocck & Ruprecht, Göttingen 1969. — Printed in Germany. Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akusto­mechanischem Wege zu vervielfältigen. Gesamtherstellung: Hubert & Co.,

Göttingen.

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Vorbemerkung Leben und Lehre Jesu sind die Voraussetzung der Kirchengeschichte. Ihre

Darstellung gehört nicht in diese, sondern vor sie (siehe dazu Grundrisse Band 3). Die Geschichte der Kirche beginnt nach dem Tod Jesu. Sie ist durch die Erscheinungen des Auferstandenen gestiftet, wie immer der Historiker sich diese erkläre. Diese Tatsache stellt eines der schwierigsten und die Theologie bis heute bewegenden Probleme: Der urchristliche Glaube richtet sich in erster Linie auf die Person des auferstandenen Jesus, nicht bzw. erst in zweiter Linie auf sein geschichtliches Leben und seine Lehre. Der Glaubensinhalt kann in den einen Satz zusammengefaßt werden, daß Chri­stus gestorben und auferstanden sei (s. S.30). Dadurch entsteht die Frage: Ist also der geschichtliche Mensch Jesus als der Stifter des Christentums vergessen? Ist er verdeckt durch das mythische Bild eines Himmelswesens? Dieses Problem bricht in der Tat früh auf. Es wird schon zwischen Paulus und den Korinthern verhandelt (s. S. 87 f.). Auch für Paulus spielen die einzelnen Ereignisse des Lebens Jesu (z. B. seine Wunder) keine Rolle; und aus den Lehren Jesu führt er nur wenige Sätze an. Aber gegenüber den Tendenzen zur Mythisierung betont er die Wirklichkeit des Menschseins und des Todes Jesu; das Kreuz als die Heilstat ist der geschichtliche Haft­punkt des Glaubens.

In anderer Weise wird die Bindung des Glaubens an die geschichtliche Person Jesu da bewahrt, wo man die Erinnerung an sein irdisches Auf­treten, seine Taten und Worte bewahrt, zunächst in mündlicher Weiter­gabe, bald auch schriftlich (siehe dazu Grundrisse Band 2). Auch da, wo man das tat, ist die Auferstehung Jesu der zentrale Glaubensinhalt. Von ihr fällt nun das Licht auf sein irdisches Auftreten, vor allem auf die Passionsgeschichte. In dieser erscheint die Einheit von Bekenntnis zum Er­höhten und Bindung an den geschichtlichen Jesus am klarsten; siehe noch S.58.

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EINLEITUNG

Geschichte und Geschichtsbild

Der Leser einer „Geschichte des Urchristentums“ muß sich darauf gefaßt machen, mehr eine Darstellung von geschichtlichen Problemen vorgelegt zu bekommen, die studiert werden will, als eine flüssige Geschichtserzählung, die er sich genießend aneignen kann. Der Grund dafür liegt in der Sache selbst.

1. Es ist natürlich verlockend, den Ursprung der stärksten Weltreligion in einen weiten, weltgeschichtlichen Rahmen einzuzeichnen, also in die Blütezeit des römischen Reichs, die Epoche des römischen Weltfriedens, in das Bild einer politisch und doch auch weithin geistig geschlossenen Welt. Und es ist verführerisch, von diesem strahlenden Gebilde ein Licht auf die junge Kirche fallenzulassen, die zunächst unscheinbar am Rande wächst, sich aber schließlich als die dauerhaftere Größe erweist. Sie überlebt das Imperium und die antike Weltkultur. Ja, was als Erbe jener Epoche heute noch wirksam ist, das ist zum großen Teil durch die Kirche an die Gegen­wart vermittelt, durch das „Mittelalter“ hindurch: politische Ideen und Formen, Grundlagen des Rechts und der Philosophie, Formen der Dichtung und der bildenden Kunst, kurz: das Fundament der Kultur und Humanität.

Eine solche welt- und kulturgeschichtliche Betrachtung hat ihr Recht: Die Kenntnis der Umwelt der jungen Kirche ist für das Verständnis ihrer Geschichte unentbehrlich, nicht nur wegen ihrer äußeren Lage, ihrer Zu­sammenstöße und geistigen Auseinandersetzungen mit dem Staat, sondern auch, weil jede Bewegung in den Lebens- und Denkformen ihrer Welt lebt, mag sie sich zu diesen auch kritisch einstellen. Aber eine ausgeführte Dar­stellung der damaligen Welt braucht einen breiteren Raum. Sie wird daher in einem selbständigen Band (Neutestamentliche Zeitgeschichte) vorgelegt.

2. Geschichtsabschnitte sind nicht abgeschlossen. Sie sind auf ihre Zu­kunft hin offen. Ihre Nachwirkung ist auch für sie selbst aufschlußreich. So ist von einem Politiker oder Denker die Wirkung, die von ihm - auch nach seinem Tod - ausgeht, nicht zu trennen. Ohne deren Kenntnis ist auch er selbst nicht zu verstehen. Dasselbe gilt von Gruppen. Für die Kirche besteht aber noch ein anderer, unmittelbarer Bezug zwischen der Zeit der Stiftung und der nachfolgenden Geschichte. Er ist mit dem Zusammenhang von Glauben und Kirche selbst gesetzt: Die Kirche bekennt ihre Einheit, nicht nur durch die verschiedenen Konfessionen hindurch, sondern auch durch die Epochen ihrer Geschichte, von ihrer Stiftung an bis heute; und sie glaubt an diese Einheit in die Zukunft hinein - weil ihr Herr einer ist.

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3 Geschichte und Geschichtsbild

Auf der anderen Seite ist es dem Glauben verwehrt, den Rückblick in die Geschichte zum Mittel der Selbstverklärung zu machen. Ein verklärendes Bild würde die wirklichen geschichtlichen Maße verzerren und ist überdies dem Glauben nicht gemäß. Denn für diesen sind Erfolge der Kirche nicht Verdienst der Christen, sondern Gabe des Herrn. Eine geschichtliche Dar­stellung darf ja auch nicht nur fragen, wie sich die Christen selbst in der Welt sahen, welche Rolle sie der Kirche hier, der Welt dort beimaßen. Sie muß auch versuchen, die Kirche von außen zu sehen, mit den Augen eines römischen Beamten, der von Amts wegen mit dem Christentum zu tun bekam; mit den Augen eines Philosophen, der die christliche Lehre kennen­lernt. Im ersten Jahrhundert ist die junge Religion noch kein respektabler Faktor, weder für den Staat noch für die Geistesgeschichte. Lukas läßt zwar Paulus im Verhör vor dem König Agrippa II. und dem römischen Statt­halter Festus erklären (Apg. 26,26): „Das ist nicht im Winkel geschehen.“ Das ist die christliche Überzeugung und zugleich das Programm der christ­lichen Mission, die sich als Weltmission versteht. Aber die „Welt“ hat es zu dieser Zeit noch nicht zur Kenntnis genommen.

3. Eine „gefällige“ Darstellung müßte vor allem dem Ablauf der äußeren Ereignisse nachgehen und die dramatischen Höhepunkte herausheben: Ent­stehung der Kirche, die führenden Männer, ihre Aktionen, die Krisen. Aber das bliebe an der Oberfläche. Es ist zu fragen: Warum ist die Kirche von Anfang an auf Ausbreitung angelegt? Das gehört nicht notwendig zum Wesen einer Überzeugungsgemeinschaft. Eine solche kann sich auch als Gruppe der Stillen im Lande absondern und mit sich selbst begnügen. Und wie breitet sich die Kirche aus? Nicht so, wie gelegentlich eine Idee, eine Mode, ein Stil auftritt und um sich greift. Ideen können „in der Luft liegen“. Sie setzen sich durch, wenn eine Gruppe oder eine Zeit sich selbst in ihnen erkennt. Der christliche Glaube lag nicht „in der Luft“. Die Christen glaubten zwar, daß Gott seinen Sohn sandte, „als die Zeit erfüllt war“ (Gal.4,4). Aber damit meinten sie weder, daß die Welt aus sich heraus für den Empfang des Erlösers reif, noch, daß damals die Weldage für den Erfolg des Christentums besonders günstig war, sondern, daß Gott die Zeiten und die Erfüllung bestimmt. Die neue Lehre greift nicht sozusagen ansteckend um sich. Sie wird von Zeugen des Glaubens durch die Welt getragen, weil der Herr der Kirche als der Weltherr anerkannt sein will. Dabei weiß die Kirche, daß der Erfolg nicht das Ergebnis menschlicher Tüchtigkeit ist; es ist der Herr selbst, der Gläubige „hinzufügt“ (Apg. 2,47).

4. Mit der Ausbreitung verändert sich die Form der Kirche, ihre Denk­und Sprechweise. Eine große Gemeinschaft braucht andere Organisations­formen als eine Gruppe von zwölf Mann. Führt also das Wachstum dazu, daß sich die Kirche an die „Welt“ anpaßt, daß sie damit auch innerlich ver­weltlicht, nicht mehr das ist, was sie am Anfang war oder mindestens sein wollte? Nach welchem Maßstab ist zu beurteilen, was echt christliche Mög­lichkeit der Begegnung mit der „Welt“ ist, wo der Verlust der Glaubens­substanz anfängt? Diese Frage nach dem Maßstab für Glauben und Han-1*

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deln muß das Verstehen der Kirchengeschichte leiten. Dadurch wird das verstehende Eindringen schwieriger, aber auch tiefer, und es wird unmittel­bar aktuell. Denn diese Frage ist heute die Lebensfrage der Kirche nicht anders als jederzeit.

Aus dem Ganzen des Glaubens- und Kirchenverständnisses ist auch das Wesen der Verfolgung zu begreifen. Wieder muß man durch den äußeren Verlauf hindurchzudringen suchen: Warum stößt die Kirche nicht lediglich auf Zustimmung oder Ablehnung? Warum wird sie verfolgt? Welches ist der kritische Punkt? Ist die Verfolgung ein Zufall, oder ergibt sie sich aus dem Inhalt der christlichen Botschaft, die sich ja als ein Ärgernis für die Welt versteht? Und wie begegnet die Kirche ihrerseits der Verfolgung? Hier wird das Maß des Glaubens sichtbar: Es gilt, der feindlichen Welt ihren Herrn zu zeigen - den Herrn, der gerade keine Weltmacht aufbietet. Darum gilt für die Gläubigen, die zu segnen, die ihnen fluchen.

5. Ein weiteres Hindernis für eine geradlinige, zusammenhängende Er­zählung liegt in der Überlieferung der Quellen (s. dazu das nächste Kapitel): Aus früher Zeit ist nur eine einzige Schrift überliefert, die die Geschichte der Urkirche zum Gegenstand hat, die „Apostelgeschichte“ (der Titel stammt wohl nicht vom Verfasser). Dieses Fehlen von früher Geschichtsschreibung ist kein Zufall. Es hängt mit dem urchristlichen Glaubensverständnis zu­sammen: Die Urkirche missioniert, und sie ist überzeugt, daß sie bis zur Grenze der Welt durchdringen wird. Aber sie erwartet nicht, daß sich die Welt bekehren werde. Im Gegenteil! Die Welt wird den Glauben verweigern. Die Gläubigen bleiben eine kleine Herde, die dem baldigen Ende der Welt entgegenblickt. Sieht man die Welt so, dann schreibt man nicht Geschichte für künftige Geschlechter. Daß es der Verfasser der Apostelgeschichte dann dennoch tut, ist schon das Ergebnis einer Entwicklung des christlichen Ge­schichtsbildes: Er und seine Generation - gegen das Ende des ersten Jahr­hunderts - rechnen bereits mit einer längeren Dauer der Welt. Wie es dazu kam, was das für den Glauben und die Gestaltung der Kirche bedeutete, das ist später im einzelnen zu schildern. Hier ist zunächst festzustellen, daß die Nachrichten, die wir besitzen, trotz der Apostelgeschichte sehr lücken­haft sind. Zudem urteilt die moderne Forschung über die Zuverlässigkeit ihres Geschichtsbildes zum Teil skeptisch. Große Strecken, ja die größte Strecke und der größte Teil des Raumes des Urchristentums bleiben für uns verborgen. Und bei den erhaltenen Nachrichten muß ständig metho­disch gefragt werden, wie zuverlässig sie sind. Das betrifft Ereignisse, Per­sonen und den Ausbreitungsraum.

6. Schon aus Mangel an Material kann die urchristliche Geschichte nicht als Geschichte hervorragender Persönlichkeiten geschrieben werden. Auch das ist kein Zufall. Es gab solche Persönlichkeiten, aber sie werden nicht zum Gegenstand der Heldenverehrung. Der Glaube bleibt an der Glaubens­botschaft orientiert. Die Lebensläufe ihrer Träger werden nicht überliefert. Nur einen zeitlich und geographisch begrenzten Raum und die Arbeit eines Mannes kann man als geschlossene Erscheinung erfassen: die Mission des

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5 Geschichte und Geschichtsbild

Paulus. Man mag auch hier die Frage stellen, ob das Zufall sei. Man wird mit ihr freilich vorsichtig umgehen. Denn es ist billig, über Notwendigkeit und Zufall in der Weltgeschichte zu befinden. Man kann sich auf der anderen Seite scheuen, angesichts eines Paulus zu erklären, sein Werk habe nur zufällig seine geschichtlichen Spuren eingegraben. Und wiederum: Hätte es nicht ebensogut aus der Erinnerung verschwinden können wie das Leben des Petrus und der Kreis der Zwölf, von dem wenig mehr als die Namen blieb?

Im Falle des Paulus sprechen nun allerdings die Tatsachen selbst ihre Sprache. Daß seine Briefe gesammelt wurden, daß damit die Erinnerung an sein Werk blieb, das ist eine Wirkung, die in seiner Theologie angelegt ist. Denn er baut seine Lehre und seine Gemeinden nicht auf sein persönliches religiöses Erlebnis, sondern auf das Glaubensbekenntnis. Dadurch wird die Gemeinde als geschichtliche Gemeinschaft und die Kirche als Einheit durch die ganze Welt begriffen. Paulus löst durch seine Lehre von der Recht­fertigung allein durch den Glauben und von der Freiheit vom Gesetz das Problem der Einheit von Juden und Heiden in der einen Kirche, und er löst es nicht nur praktisch (gerade da gab es Kämpfe), sondern grundsätz­lich-theologisch. Damit ist sein Werk auf Grund der Sachlichkeit seiner Theologie auf Bestehen angelegt. Seine Arbeit wird von seinen Schülern weitergeführt, die seine Erkenntnisse vor allem auf das Verstehen und die Gestaltung der Kirche anwenden.

7. Ein letztes Hindernis bildet endlich das durchschnittliche Bild, das man sich bis heute vom Urchristentum macht. Wegen dieses Bildes kann sich die Geschichtsschreibung nicht begnügen, das Wissen über diesen Gegen­stand zu sammeln. Sie muß auch herrschende Vorstellungen über ihn kritisch durchleuchten. Das Problem zeichnet sich schon in den Grundbegriffen ab, mit denen man den Tatbestand zu erfassen sucht: Den ersten Abschnitt der Kirchengeschichte pflegt man als „das apostolische Zeitalter“ zu bezeichnen. In dieser Definition liegen zwei Bedeutungsschichten übereinander, eine historische und eine „theologische“ oder besser bekenntnismäßige. Die historische These lautet: Es gab eine Zeit, in der die Kirche durch die Apostel oder wenigstens durch Apostel bestimmt war. Die theologische heißt: Diese Zeit ist nicht lediglich ein erster Abschnitt der Kirchen­geschichte; sie ist vielmehr für alle folgende Zeit verpflichtend. Die Apostel sind auch für die Nachwelt die grundlegende Autorität, sowohl für die Aus­bildung der Lehre als auch für die Gestaltung der Kirche.

Darin sind sich Evangelische und Katholiken weithin einig. Sie gehen aber bei der Frage auseinander, in welcher Weise die Autorität der Apostel in die Gegenwart hereinwirkt. Für die Evangelischen geschieht das wesent­lich durch die Schrift, also in der unmittelbaren Begegnung der heutigen Kirche mit der apostolischen Lehre. Die Katholiken stimmen dem zu. Aber außerdem kennen sie eine Fortsetzung des Apostelamtes selbst bis in die Gegenwart: Die Bischöfe sind die Nachfolger der Apostel und vertreten

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deren Autorität heute. Mit der Fortdauer des apostolischen Amtes ist auch eine ständige Weiterentwicklung der Lehre, im ständigen Zusammenhang mit den apostolischen Ursprüngen, gegeben.

Für die Zeit vor der modernen Geschichtsforschung waren das Bild von der apostolischen Zeit der Kirche und die Überzeugung von der Autorität der Apostel eine Einheit. Aber diese löste sich auf: Es kam an den Tag, daß man gar nicht eindeutig feststellen kann, was ein „Apostel“ war, nicht, wie viele es waren, nicht, ob sie eine geschlossene Gruppe bildeten oder ein offener Kreis von Missionaren waren. Es wurde zweifelhaft, ob auch nur eine einzige Schrift des Neuen Testaments von einem Apostel verfaßt ist -außer einigen Briefen des Paulus. Und dieser nennt sich zwar „Apostel“. Aber er war nicht überall als solcher anerkannt, zumal er keine persönlichen Beziehungen zu Jesus hatte.

Aus diesen Erkenntnissen wurden die Folgerungen nicht immer mit der erforderlichen Deutlichkeit gezogen. Man stellte zwar den geschichtlichen Befund im einzelnen fest. Aber man übernahm weithin, auch in der kritischen Forschung, nach wie vor die Vorstellung vom apostolischen Zeitalter als einer geschichtlichen Gegebenheit. Darin wirkt also noch das vorkritische Geschichtsbild samt der dogmatischen Theorie nach. Dem apostolischen läßt man dann noch ein „nachapostolisches“ Zeitalter folgen. Diese Einteilung erweckt den Eindruck, dies sei die Zeit der zweiten Gene­ration, die das Erbe der ersten sammelt und bewahrt.

Es muß aber nicht nur für die Einzelheiten, sondern für den Gesamt­bestand der frühen Kirche methodisch zwischen diesem Geschichtsbild und der historischen Wirklichkeit unterschieden werden. Die Untersuchung der Quellen wird zeigen: Die Anschauung, daß es einmal eine Zeit der Apostel gab, ist selbst eine Gtschichtstheorie. Sie geht freilich in eine frühe Zeit zurück, aber nicht in die allererste. Sie wurde in einer Zeit entworfen, die sich von der Gründung der Kirche schon durch eine gewisse Distanz ge­trennt sah. Es ist die Zeit gegen und um das Jahr 100 n.Chr. In den Schriften, die damals geschrieben wurden, stößt man auf die Spuren eines bestimmten Selbstbewußtseins: Diese Generation sieht sich selbst als das dritte Glied in der Kette der Tradition. Sie weiß sich mit der Zeit der Stif­tung der Kirche verbunden durch die Vermittlung der Schüler der ersten Generation, vor allem der des Paulus. Das Bild der Urkirche wird jetzt idealisiert: Ihr eigentliches Wesensmerkmal sieht man nunmehr im Dasein „der Apostel“.

Es ist deutlich: Die Idee der apostolischen Zeit entstand erst, als man mit der Frühzeit keinen unmittelbaren Kontakt mehr hatte und Zwischen­glieder ansetzen mußte. Aber die Idee setzte sich durch und herrscht bis heute. Daß sie aber nicht der Wirklichkeit entspricht, kann man zeigen, wenn man fragt, wo denn die Grenze zwischen der apostolischen und der nachapostolischen Zeit verlaufen soll. Die normale Auskunft ist: Die Grenze ist durch den Tod des Paulus und Petrus gesetzt (Knopf, Lietzmann). Bis dahin habe die lebendige Tradition über Jesus geherrscht, die ungebrochene

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7 Geschichte und Geschichtsbild

Erwartung, daß er bald erscheinen werde, das lebendige Walten des Geistes, von dem Paulus im l.Korintherbrief (Kap. 12-14) eine Ahnung vermittelt. Man mag noch ergänzemjn denselben Jahren stirbt auch der dritte füh­rende Mann der Urkirche, Jakobus, der Bruder Jesu. Einen sichtbaren Ein­schnitt bildet auch der Jüdische Krieg (66-70 n.Chr.), der mit der Zerstö­rung Jerusalems endet und die Geschichte der Urgemeinde abschließt.

Dieses Bild ist nicht ohne Anhalt in den Quellen. In den sechziger Jahren liegt in der Tat ein Einschnitt. Die Jahre von ca. 60 bis 100 n.Chr. stellen eine Lücke in unserem Wissen dar, obwohl in ihnen ein wesentlicher Teil der Schriften des Neuen Testaments und darüber hinaus weitere Schriften (1.Clemensbrief; s.u.S. 14f.) entstanden. Es ist aber zu fragen, ob auch für das Bewußtsein der damaligen Generation ein solcher Einschnitt vorliegt, ob eine unmittelbare, kirchenweite Auswirkung des Todes jener drei zu bemer­ken ist. Und wenn man schon die Vorstellung von den „zwölf Aposteln“ als historisch nimmt: Was ist mit den übrigen? mit denen, die spurlos aus der Geschichte verschwanden? mit Johannes, der angeblich noch jahrzehntelang lebte und die Epochen überbrückte?

Es ist festzustellen, daß erst nach und nach „das Apostolische“ als Norm­begriff ausgearbeitet wurde; und erst auf Grund dessen wurde jener Ein­schnitt entdeckt.

Die Einteilung in apostolische und nachapostolische Zeit hält sich (wenig­stens vermeintlich) an den Ablauf der Geschichte. Daneben gibt es eine andere, die sich an der Entstehung der altchristlichen Schriften orientiert: die Unterscheidung einer „neutestamentlichen“ und einer „nachneutestament­lichen“ Zeit. Auch hier schieben sich historische Feststellung und dogma­tisches Urteil ineinander. Denn das Neue Testament ist ja nicht nur (histo­risch) eine Sammlung ältester Urkunden des Christentums, sondern auch (dogmatisch) die Norm der Lehre („Kanon“), und diese Autorität stützt sich wieder auf die „Apostel“.

Selbst wenn man den vorgeschlagenen geschichtlichen Einschnitt in den sechziger Jahren anerkennt, käme man mit der Annahme eines „neutesta­mentlichen“ Zeitalters in unlösbare Schwierigkeiten. Nur wenige Schriften des Neuen Testaments stammen aus dieser Zeit. Und ein „Neues Testament“ gab es erst, als eine Gruppe von Schriften als „kanonisch“ herausgehoben wurde, um die Mitte des zweiten Jahrhunderts. Dabei ist der Maßstab nicht einfach der des Alters: Manche Schriften der „Apostolischen Väter“ sind älter als manche des Neuen Testaments (z.B. ist der 1.Clemensbrief älter als der 2.Petrusbrief).

Beide herkömmlichen Einteilungsschemata erweisen sich also für eine geschichtliche Darstellung als unbrauchbar. Zudem suggerieren sie mehr oder weniger unbewußt eine Wertung, die besonders durch den Pietismus verbreitet wurde: Die Urzeit gilt als die Zeit der reinen Kirche, rein in Lehre und Liebe. Nach der Zeit der Apostel geht es abwärts, in Irrlehre und Streit. Die Geschichtsschreibung muß aber u.a. deutlich machen, daß es die reine Kirche und die reine Lehre nie gab. Die Historie kann nur beschreiben, wie

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Kirche und Lehre damals aussahen. Und eine theologische „Wertung“ ist nur durch die Erkenntnis möglich, daß das Wort Gottes nur als geschicht­liches Menschenwort erfahrbar ist.

Aus den genannten Gründen ist in diesem Buch die offene Bezeichnung „Urchristentum“ gewählt. Es bleibt zu fragen, wo die Grenze desselben liegt. Für ihre Bestimmung gibt es eine Anzahl von objektiven Merkmalen. Aber man muß darüber hinaus nach einem solchen suchen, in dem sich die mo­derne historische Rekonstruktion und das damalige Selbstbewußtsein decken.

Nun zeigt sich, wie schon erwähnt, ein deutlicher Übergang da, wo die Kirche oder wenigstens ein bedeutender Teil der theologischen Denker ihr Verhältnis zur Tradition neu bestimmen, indem sie die Idee des apostolischen Zeitalters entwerfen und dadurch sich selbst von diesem abheben. Nach diesem Selbstbewußtsein kann man die Grenze etwa beim Jahr 100 n.Chr. ziehen. Natürlich sind die Übergänge fließend.

Auch der Begriff des „Urchristentums“ bedarf noch einer Klärung: Das Urchristentum ist keine Einheit. Es faßt in sich Übergänge, Gruppierungen mit Spannungen bis zum Widerspruch und Bruch. Schon in der Urgemeinde in Jerusalem tritt neben die älteste Gruppe (um Petrus und die Zwölf, in Apg. 6 die „Hebräer“ genannt) eine neue, die „Hellenisten“. Es folgt der für alle Zukunft bestimmende Übergang zur Heidenmission. Das Nebeneinander von Juden und Heiden in der Kirche wirft Probleme auf, die sich in heftigen Krisen äußern und eine grundsätzliche, theologische Lösung fordern.

Ein weiteres Sachproblem ist durch das Stichwort „Frühkatholizismus“ angezeigt, das neuerdings wieder lebhaft diskutiert wird: Wo fängt der Früh­katholizismus an? Finden sich schon im Neuen Testament Spuren von ihm? Im Mittelpunkt der Debatte stehen vor allem die beiden Bücher des „luka­nischen“ Geschichtswerks.

Die Frage ist an sich legitim. Aber sie muß streng geschichtlich bleiben. Sie muß sich von der da und dort zu bemerkenden Verflechtung mit dem pietistischen Geschichtsbild freihalten, als ob man hinter diesem Katholizis­mus eine reine Urgestalt des Christentums finden könne, vor allem bei Paulus. Gewiß sind die Unterschiede zwischen Paulus und Lukas vorhanden. Lukas ist ein typischer Vertreter der dritten Generation. Aber er muß zu­nächst, bevor er bewertet wird, da gesehen werden, wo er lebt und denkt.

Gewichtiger als das mehr unterschwellige Element einer Abwertung ist ein Mangel in der Methode. Wenn man mit einem solchen Stichwort arbeitet und damit nicht nur die Feststellung eines Tatbestandes meint, sondern auch Werturteile hereinspielen läßt, dann muß klare Auskunft gegeben werden, was „Frühkatholizismus“ ist und mit welchen Maßstäben man ihn mißt.

Für eine zutreffende Bestimmung ist von da auszugehen, wo die früh­katholische Kirche als geschichtliche Erscheinung voll ausgebildet ist. Deren wesentliche Züge erscheinen im zweiten Jahrhundert: Die Organisation der Kirche ist nicht mehr frei. In der Frühzeit konnte eine Gemeinde von

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„Ältesten“ geleitet sein oder nicht; sie brauchte keine definierten Ämter. Die Organisation war keine Sache, die das Heil betraf. Das ändert sich. Schon um das Jahr 100 verknüpft der Bischof Ignatius von Antiochia den Kirchen­begriff mit der dreistufigen Hierarchie von Bischof, Presbytern und Dia­konen. Das Heil ist nicht mehr ausschließlich an Wort, Geist und Glauben geknüpft, sondern auch an bestimmte Übermittler der Heilskräfte, an den Klerus. Durch ihn wird das Sakrament verwaltet. Der Geist wird an das Amt gebunden. Auch die Weitergabe der Tradition, die Bewahrung der reinen Lehre und ihre richtige Auslegung wird von ihm verwaltet. Dann muß aber auch die Übertragung des Amtes von Inhaber zu Inhaber gesetzlich und gedanklich reguliert werden. Der Gedanke der „Sukzession“ wird aus­gebildet: Der Nachfolger empfängt nicht nur die äußere Würde, sondern auch den Geist, der ihn befähigt, jene Pflichten auszuüben, und er empfängt die Tradition der apostolischen Lehre.

Geht man von diesen Merkmalen aus, dann ist es nicht sachgerecht, die Theologie des Lukas als frühkatholisch zu bezeichnen. Dagegen sind früh­katholische Spuren in dem etwa gleichzeitigen 1. Clemensbrief zu erkennen, deutlicher schon bei dem kaum späteren Ignatius. Von vorn und von rück­wärts her gesehen bestätigt es sich, daß hier ein Übergang liegt, an dem man die Darstellung des Urchristentums sinnvoll abschließen kann.

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I.KAPITEL

Die Quellen

1. Die Lage

Umfang und Zuverlässigkeit der Quellen sind für die einzelnen Personen, Orte, Zeiten, Ereignisse und Fragenkreise sehr verschieden. Beispiele:

a) Personen. Über einen Teil des Lebens des Paulus ist Material aus erster Hand vorhanden: Briefe von ihm selbst. Dabei ist zu prüfen, ob alle, die ihm zugeschrieben werden, wirklich von ihm stammen. Auf jeden Fall bleibt ein beachtlicher unangefochtener Bestand. Dazu kommen die Daten aus zweiter oder dritter Hand, welche die Apostelgeschichte bietet.

Dagegen gibt es für die Urgemeinde in Jerusalem nur wenige Daten aus erster Hand, und diese ausnahmslos in den Briefen des Paulus, also eines Außenstehenden, der aber immerhin wiederholt nach Jerusalem kam. Es handelt sich vor allem um seinen Bericht über das „Apostelkonzil“ in Gal.2. Alle übrigen Nachrichten stammen aus der Apostelgeschichte und müssen von Fall zu Fall nachgeprüft werden.

Außerdem läßt sich - mit größter Vorsicht - aus den Evangelien dies und das erheben: In ihnen spiegeln sich Auseinandersetzungen zwischen den Christen und den Juden in Palästina, Verfolgungen und disziplinare Maß­nahmen, andeutungsweise auch das Schicksal der Gemeinde beim Ausbruch des Jüdischen Kriegs (66 n. Chr.). Aus der Zeit, in der Jakobus in Jerusalem an der Spitze steht, berichten einige Fragmente des Schriftstellers Hegesipp (um 180), die von Euseb in seiner Kirchengeschichte erhalten sind. Sie be­dürfen scharfer historischer Kritik.

Insgesamt ist festzustellen, daß von allen hervorragenden Personen außer Paulus nur verwehte Spuren geblieben sind.

b) Orte und Landschaften. Über Palästina (Judäa, Samaria, die Küsten­ebene bis Phönizien) gibt es nur die lückenhaften Angaben der Apostel­geschichte. Die Existenz von Gemeinden in Galiläa kann aus Ortsangaben der Evangelien erschlossen werden. Es bleibt verborgen, wie das Christentum z.B. nach Damaskus kam (Apg.9,2), und vor allem, wann und wie nach Rom. Nur auf die Entstehung der Gemeinde in Antiochia fällt ein wenig mehr Licht. Quellen erster Hand und breite Schilderungen der Apostel­geschichte haben wir nur für die Gemeinden des Paulus. Doch bestehen auch hier Lücken und Unklarheiten: Alle erhaltenen Briefe stammen erst aus den letzten Jahren seiner Wirksamkeit, aus der Zeit nach dem Apostelkonzil (ca.48 n.Chr.). Es ist nicht mehr sicher festzustellen, wann die Gemeinden

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11 Die Quellen

gegründet wurden, an die sich der Galaterbrief wendet, und wo sie liegen. In späterer Zeit werden eine Anzahl Orte und Landschaften genannt, in denen sich das Christentum ausgebreitet hatte (l.Petr. 1,1; Offb.2 ,1-3,22; Ignatius; Polykarp). Aber Ereignisse sind nur angedeutet.

c) Zeiten. Auch hier hebt sich Paulus ab, einerseits von dem spärlichen Material über die Urgemeinde, andererseits von dem Dunkel, das über dem letzten Drittel des ersten Jahrhunderts liegt, obwohl aus dieser Zeit der größte Teil des erhaltenen Schrifttums stammt.

d) Ereignisse. Wenigstens im Umkreis des Apostelkonzils ist die Rolle einiger Personen und Gruppen erkennbar: Jerusalem wird von den drei „Säulen“ (Jakobus, Petrus, Johannes), radikalen Judenchristen, repräsen­tiert; Antiochia läßt sich durch Barnabas und Paulus vertreten.

e) Fragenkreise. Hier sind wir naturgemäß besser im Bild. Die Quellen erschließen reiche Einblicke in eine Fülle von Typen der Lehre, Kämpfe um die rechte Lehre, Probleme und Lösungen der Lebensgestaltung; sie spiegeln die Lage der Kirche im Verhältnis zur Welt.

2. Das Neue Testament Die wichtigsten Quellen sind die Schriften des Neuen Testaments. Für

alle mit ihnen verknüpften geschichtlichen Fragen (nach Verfasser, Zeit und Ort der Entstehung, geschichtlicher Ergiebigkeit) muß auf die „Einleitung in das Neue Testament“ (auch die Einleitungen zu den einzelnen Schriften) verwiesen werden. Es ist schon gesagt, daß die Briefe des Paulus als die einzigen Quellen aus erster Hand eine Sonderstellung einnehmen. Wenn man sie unter dem Gesichtspunkt der Ergiebigkeit für eine Geschichtsdar­stellung auswertet, so ist dies eine einseitige Betrachtung: Ihr Lehrgehalt wird in den Hintergrund gedrängt. Das ist unvermeidlich. Man wird aber immer auch die andere Seite der Medaille mit ansehen, also die theologischen Gedankengänge. Denn gerade durch diese wurden die Briefe des Paulus geschichtswirksam, was sich in den nachpaulinischen Schriften niederschlägt. Aber es ist nützlich, die beiden Möglichkeiten der Auslegung methodisch zu unterscheiden: Man kann eine Schrift um ihres Gehaltes willen lesen. Dann ist das Verstehen selbst der letzte Zweck: Der Leser erwartet von der Lektüre unmittelbare Förderung. Eine Schrift kann auch als historische Quelle ver­wendet werden. Dann ist die Auslegung Mittel zum Zweck; Zweck ist die Rekonstruktion der Geschichte. Man kann sich das Verhältnis beider Mög­lichkeiten am Galaterbrief verdeutlichen. Der sachliche Schwerpunkt liegt in der Darlegung der Rechtfertigungslehre in Kap. 3 und 4. Diese kann als unmittelbarer Beitrag zu den theologischen Grundlagenfragen durchdacht werden. Für den Historiker wird sie in erster Linie unter dem Gesichtspunkt interessant, welche Wirkungen in der Geschichte sie auslöste. Er wird sich im Galaterbrief vor allem dem Bericht über das Apostelkonzil in Kap. 2 zu­wenden.

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12 Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

Mit diesem Beispiel ist schon ein weiterer Punkt berührt: die kritische Beurteilung der Quellen. Über das Apostelkonzil ist in Apg. 15 eine zweite Darstellung vorhanden, und diese weicht in wesentlichen Punkten von der des Paulus ab. Wer hat in welchen Punkten recht?

Will man ein gesichertes Urteil gewinnen, so ist von der Tatsache auszu­gehen, daß Paulus Augenzeuge ist, während sich Lukas auf Nachrichten aus zweiter oder dritter Hand stützen muß (einen direkten Augenzeugenbericht besitzt er nicht). Vielleicht sind seine Nachrichten überhaupt spärlich, und er versucht, sie durch eigene Überlegungen zu einem geschlossenen Bild aus­zugestalten. Andererseits ist in Rechnung zu stellen, daß Paulus eben seine Sicht der Dinge vorträgt, daß seine Darstellung also einseitig, vielleicht auch absichtlich unvollständig ist. Er liegt mit den Galatern in offener Fehde und erwähnt möglicherweise nur das, was ihm als Argument für seine Polemik dienen kann.

Verfolgt man nun diesen Streit des Paulus mit einigen Gemeinden, dann gewinnen die Kapitel über die Rechtfertigungslehre auch - über ihren systematischen Lehrgehalt hinaus und neben diesem - Interesse als Quellen nicht nur für die Nachwirkung des Paulus, sondern auch für die Geschichte seiner eigenen Zeit. Sie erschließen die Tiefe eines Kampfes zwischen zwei verschiedenen Auffassungen von Glauben und Heilsweg, der die Kirche weithin durchtobt.

Eine wesentliche Schwierigkeit liegt darin, daß sich die Forschung teil­weise in einem Zirkel bewegen muß. Von keiner neu testamentlichen Schrift außer den Briefen des Paulus sind die Umstände der Abfassung (Verfasser, Zeit, Ort, Anlaß und überhaupt die näheren Umstände) bekannt. Die For­schung muß dies alles aus inneren Merkmalen erschließen. Diese aber lernt sie gerade aus den Schriften selbst kennen. Dann erarbeitet sie sich, nunmehr in umgekehrter Richtung, aus den Merkmalen ein Bild der betreffenden Epoche, z.B. ein Bild der Kirche in Kleinasien aus der Zeit gegen das Jahr 100 aus dem 1. Petrusbrief und der Offenbarung, ergänzt aus den Briefen des Ignatius.

Das bedeutet nun nicht, daß die Forschung in der Luft hängt und über­haupt nicht zu gesicherten Ergebnissen kommt. Es gibt objektive Anhalts­punkte, z.B. an gesicherten Geschichtsdaten, an erkennbaren literarischen Beziehungen. Man kennt im groben das Leben des Paulus nach seiner Be­kehrung bis kurz vor seinem Tod.

Danach läßt sich manches Spätere zuordnen. Spätere Briefe und die Apostelgeschichte blicken deutlich auf seinen Tod zurück. Die letztere ist nicht nur eine unschätzbare Quelle für die Ereignisse, die sie erzählt, sondern auch für das Denken der Zeit nach Paulus. Mit ihr ist das Lukas-Evangelium verknüpft. Beide Bücher sind vom selben Verfasser geschrieben. Das Lukas­Evangelium wiederum ist vom Markus-Evangelium abhängig. Damit kom­men wir zeitlich ein Stück zurück. Es ist umstritten, ob das Markus-Evan­gelium vor oder nach dem Jüdischen Krieg geschrieben ist. Das Urteil hängt daran, ob sich der Fall von Jerusalem in ihm spiegelt; darüber kann man

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13 Die Quellen

geteilter Meinung sein. Jedenfalls hat Lukas an dieser Stelle verdeutlicht (vgl.Mk. 13,14 mit Lk.21,20). Bei ihm ist klar, daß er auf den Fall Jerusa­lems zurückblickt. Damit ist ein Zeitpunkt gegeben, nach welchem das Buch verfaßt ist. Die Apostelgeschichte setzt das Evangelium voraus, ist also nach diesem verfaßt. Auch das Matthäus-Evangelium gehört in dieselbe Zeit: Es steht zu Markus in einem ähnlichen Abhängigkeitsverhältnis wie Lukas und spielt ebenfalls unverkennbar auf den Fall Jerusalems an (Mt.22,7).

Joh.21 blickt auf den Märtyrertod des Petrus zurück, der 1. Clemensbrief (ebenso Ignatius) auf den Tod des Petrus und Paulus. Es bestehen noch mehr literarische Zusammenhänge. Im Namen des Petrus wurden zwei Briefe -von verschiedenen Verfassern - geschrieben. Der zweite kennt den ersten (2.Petr.3,l), darüber hinaus den Judasbrief und eine Sammlung von Briefen des Paulus (2.Petr.3,15 f.). Folgt man solchen Spuren, so lassen sich Anhalts­punkte für zeitliche Einordnungen und sachliche Zusammenhänge gewinnen.

3. Quellen außerhalb des Neuen Testaments

Die wichtigsten sind die Schriften der „Apostolischen Väter“. Unter dieser Bezeichnung (sie stammt nicht aus der Alten Kirche, sondern wurde erst im 17. Jahrhundert geprägt) faßt man eine Gruppe von Schriften zusammen, die sich zeitlich mit den späteren Schriften des Neuen Testaments berühren, ja, überschneiden. So ist der 1. Clemensbrief wohl gleichzeitig mit dem 1. Petrusbrief verfaßt, also früher als der 2. Petrusbrief.

Diese Quellen lassen nur in begrenztem Umfang Ereignisse erkennen. Vor allem eröffnen sie Einblicke in die Formen des kirchlichen Lebens und in theologische Gedankenbewegungen. Für die Erfassung des Übergangs von der urchristlichen zur frühkatholischen Epoche sind sie grundlegend.

Zu den „Apostolischen Vätern“ rechnet man folgende Schriften: a) Die „Lehre der zwölf Apostel an die Völker“ (Didache). Sie ist aus zwei

Teilen zusammengesetzt. Der erste ist ein Katechismus über den rechten Lebenswandel (Kap. 1-6). Er ist so aufgebaut, daß die beiden „Wege“ des Lebens und des Todes einander gegenübergestellt werden. Dieser Katechis­mus ist eine christliche Überarbeitung eines jüdischen Katechismus. Das kann nachgewiesen werden: Derselbe jüdische Katechismus ist noch in einer zweiten Schrift dieser Gruppe, dem Barnabasbrief, eingearbeitet. Ein Ver­gleich zeigt den rein jüdischen Charakter der Grundschrift: Im Barnabasbrief fehlen die christlichen Stellen der Didache. Diese sind also nachträgliche Zusätze.

Daß eine jüdische Morallehre von Christen aufgenommen ist, ist nicht verwunderlich. Jesus steht ganz in der Tradition der jüdischen Ethik, die er radikalisiert. Und das Urchristentum übernimmt die Formen und Inhalte der jüdischen Anweisungen.

Der zweite Teil der Didache (Kap.7-15; Beilage 11 a) ist eine Kirchen­ordnung mit Anordnungen für den Gottesdienst (Taufe, Fasten, Abendmahl, Gebete). In diesem Abschnitt steht auch das Vaterunser (Kap. 8). Es folgen 2 Conzelmann, Geschichte

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14 Hans Conzelmann, Geschichte des Urchristentums

kirchenrechtliche Vorschriften über wandernde Apostel und Propheten und über Gemeindebeamte, nämlich Bischöfe und Diakone. Den Schluß des Buches bildet eine kleine Apokalypse (Kap. 16). Wichtig ist noch eine Samm­lung von Worten Jesu, die in den Katechismus eingeschoben ist (in Kap. 1 und 2) und sich mit der Bergpredigt berührt.

Die kirchlichen Verhältnisse, die sich in diesem Büchlein spiegeln, wirken, von der späteren Entwicklung her gesehen, noch sehr altertümlich: Freie, vom Geist getriebene Propheten durchwandern die Kirche. Die Organisation der Gemeinde, die Definition von Ämtern ist noch wenig entwickelt. Aber man erkennt schon die beginnende Ausbildung von Formen. Zudem ist es nötig geworden, sich gegen Schwindler zu sichern, die sich als Apostel und Propheten aufspielen, um ein Geschäft zu machen.

Wägt man die verschiedenen Merkmale des kirchlichen Lebens gegenein­ander ab, so wird man die Entstehung der Didache in den ersten Jahrzehnten des zweiten Jahrhunderts ansetzen, wahrscheinlich in Syrien. Ihre Wirkung auf spätere Kirchenordnungen ist stark.

b) Der sogenannte 1. Clemensbrief. Er ist ein breit angelegtes Schreiben der Gemeinde von Rom an die Gemeinde in Korinth, wahrscheinlich wäh­rend der Regierung Domitians oder kurz danach, also in den neunziger Jahren verfaßt. Der Anlaß ist: In Korinth rebellierten „Junge“ gegen die Ältesten (1,1; 3,3). Die Nachricht davon soll nicht nur nach Rom, sondern auch über die Kirche hinausgedrungen sein (47,6 f.). Nun reagiert die rö­mische Gemeinde. Sie erinnert an den l.Korintherbrief des Paulus, der gegen Spaltungen kämpft, mahnt zur Buße und Liebe und zur Unterordnung unter die Presbyter (57,1). Weit über den gegebenen Anlaß hinaus wird die Lehre, vor allem die moralische, entfaltet. Das Alte Testament wird breit zitiert und ausgelegt, zahlreiche Beispiele aus der Bibel, gelegentlich auch aus der heid­nischen Welt und aus der Natur werden angeführt. Besonders wertvoll sind einige Gebete, wohl aus der römischen Gemeindeliturgie (Beilage 11 b).

Die Lage der Kirche in Rom wird angedeutet: Bis vor kurzem wurde sie verfolgt (1,1). Das ist ein Anhaltspunkt für die Datierung. Um die Verfol­gung unter Nero kann es sich nicht handeln. Auf diese blickt der Brief schon aus einiger Distanz zurück. Er führt nämlich als stärkende Beispiele den Märtyrertod des Petrus und Paulus an, dann den Tod vieler Märtyrer (Kap. 5 und 6). Das können nur die Opfer der neronischen Verfolgung sein. Diese Stelle ist, nebenbei, ein Angelpunkt in der Diskussion über das Ende des Petrus und des Paulus.

Die neue Verfolgung dürfte in die Zeit Domitians gegen Ende seiner Regierung weisen (95/96 n.Chr.). Abgesandt ist der Brief von der „Kirche Gottes, die in Rom als Fremdling weilt“ (vgl. zu diesem Gedanken der Fremdlingschaft l.Petr. 1,1). Schon im zweiten Jahrhundert gilt als Ver­fasser ein Clemens. Als sich später das Geschichtsbild veränderte und man die Einführung des Bischofsamts auf die Apostel zurückführte, wurde er zum zweiten oder dritten Nachfolger des Petrus auf dem römischen Bischofs-

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