Hans Magnus Enzensberger: Die große Wanderung. … · 2015-06-15 · Hans Magnus Enzensberger: Die...

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Hans Magnus Enzensberger: Die große Wanderung. Dreiunddreißig Markierungen, Frankfurt am Main 1994, Suhrkamp Verlag, 76 S., ISBN 3-518-38834-7 Wenige Schriftsteller haben das Talent Themen der Sozialwissenschaften in einer gleichermaßen ansprechenden wie anspruchsvollen Sprache zum Gegenstand ihres Denkens zu machen und damit zugleich ein Statement zu brisanten Fragen zu liefern, welches nicht im wissenschaftlichen Fachjargon und in Methodendiskussionen verloren geht, aber dennoch von großer wissenschaftlicher Relevanz ist. Ein solcher Autor ist Hans Magnus Enzensberger, der seit vielen Jahren sowohl zu Debatten der Medienforschung als auch zu Fragen der Integrationspolitik und Gewalt Stellung nimmt. In diesem schmalen Band, der leider nicht mehr aufgelegt wird und somit nur noch antiquarisch zu erhalten ist, bezieht Enzensberger in der für ihn gewohnt elaborierten und intellektuellen Art Position zum Thema 'Migration und Fremdenfeindlichkeit'. An vielen Stellen des Buches formuliert Enzensberger anschaulich wichtige und bedenkenswerte Kommentare; hier ein Beispiel: „Je höher die Qualifikation der Einwanderer, desto weniger Vorbehalte begegnen ihnen. Der indische Astrophysiker, der chinesische Stararchitekt, der schwarzafrikanische Nobelpreisträger – sie sind überall auf der Welt willkommen. Von den Reichen ist in diesem Zusammenhang ohnehin nie die Rede; niemand stellt ihre Freizügigkeit in Frage. Für Geschäftsleute aus Honkong ist der Erwerb eines britischen Passes kein Problem. Auch das Schweizer Bürgerrecht ist für Einwanderer aus beliebigen Herkunftsländern nur eine Preisfrage. Dem Sultan von Brunei hat noch niemand seine Hautfarbe übelgenommen. Wo die Konten stimmen, versiegt wie durch ein Wunder der Fremdenhass [...] Fremde sind umso fremder, je ärmer sie sind“ (S. 37). Das Buch ist für alle eine Empfehlung, die sich neben der wissenschaftlichen Literatur auch mit vorwissenschaftlichen, aber deshalb keineswegs unintellektuellen Bemerkungen zu der Fragestellung 'Migration und Fremdenfeindlichkeit' beschäftigen möchten. Martin Spetsmann-Kunkel LG Interkulturelle Erziehungswissenschaft FernUniversität Hagen

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Hans Magnus Enzensberger: Die große Wanderung. Dreiunddreißig Markierungen, Frankfurt am Main 1994, Suhrkamp Verlag, 76 S., ISBN 3-518-38834-7

Wenige Schriftsteller haben das Talent Themen der Sozialwissenschaften in einer gleichermaßen ansprechenden wie anspruchsvollen Sprache zum Gegenstand ihres Denkens zu machen und damit zugleich ein Statement zu brisanten Fragen zu liefern, welches nicht im wissenschaftlichen Fachjargon und in Methodendiskussionen verloren geht, aber dennoch von großer wissenschaftlicher Relevanz ist. Ein solcher Autor ist Hans Magnus Enzensberger, der seit vielen Jahren sowohl zu Debatten der Medienforschung als auch zu

Fragen der Integrationspolitik und Gewalt Stellung nimmt. In diesem schmalen Band, der leider nicht mehr aufgelegt wird und somit nur noch antiquarisch zu erhalten ist, bezieht Enzensberger in der für ihn gewohnt elaborierten und intellektuellen Art Position zum Thema 'Migration und Fremdenfeindlichkeit'. An vielen Stellen des Buches formuliert Enzensberger anschaulich wichtige und bedenkenswerte Kommentare; hier ein Beispiel:

„Je höher die Qualifikation der Einwanderer, desto weniger Vorbehalte begegnen ihnen. Der indische Astrophysiker, der chinesische Stararchitekt, der schwarzafrikanische Nobelpreisträger – sie sind überall auf der Welt willkommen. Von den Reichen ist in diesem Zusammenhang ohnehin nie die Rede; niemand stellt ihre Freizügigkeit in Frage. Für Geschäftsleute aus Honkong ist der Erwerb eines britischen Passes kein Problem. Auch das Schweizer Bürgerrecht ist für Einwanderer aus beliebigen Herkunftsländern nur eine Preisfrage. Dem Sultan von Brunei hat noch niemand seine Hautfarbe übelgenommen. Wo die Konten stimmen, versiegt wie durch ein Wunder der Fremdenhass [...] Fremde sind umso fremder, je ärmer sie sind“ (S. 37).

Das Buch ist für alle eine Empfehlung, die sich neben der wissenschaftlichen Literatur auch mit vorwissenschaftlichen, aber deshalb keineswegs unintellektuellen Bemerkungen zu der Fragestellung 'Migration und Fremdenfeindlichkeit' beschäftigen möchten.

Martin Spetsmann-Kunkel

LG Interkulturelle ErziehungswissenschaftFernUniversität Hagen