Harrison, Steven - Nichts Tun (Ein Leitfaden Zur Inneren Freiheit)

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    Wer sucht, der findet, heit es. Im spirituellen Leben

    gilt jedoch hufig: Wer sucht, der sucht und sucht

    ohne Ende. Woran liegt das? Nicht unbedingt an den

    Lehren und Methoden. Meist geht die spirituelle Suche

    in die falsche Richtung. Aus eigener Erfahrung weist

    Steven Harrison einen grundlegend anderen Weg: Stattnach auen fhrt er nach innen, hin zu Selbstbestim-

    mung und Stille. Die unvergngliche Botschaft aller

    Spiritualitt in der Sprache unserer Zeit, Mystik ohne

    Brimborium oder Imponiergehabe, schnrkellos, radi-

    kal, befreiend.

    Eines Tages suchte ich einen der fhigsten Yogis imHimalaja auf. Diesem Mann war es offensichtlich ver-

    gnnt gewesen, einen tiefen Einblick ins Leben zu ge-

    winnen. Ich sagte zu ihm, ich sei gekommen, um alles

    zu lernen, was er ber die Kraft der inneren Welten

    habe in Erfahrung bringen knnen. Seine Antwort war

    schlicht und treffend: Damit entfernte er sich. Das

    Erforschen dieser Angst steht am Anfang und am Ende

    meiner spirituellen Suche.

    Steven Harrison war ber zwanzig Jahre lang unter-wegs in aller Welt auf der Suche nach Wahrheit undErleuchtung. Er lebt als freischaffender Schriftsteller inBoulder, Colorado, USA.

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    Steven Harrison

    Nichts tun

    Ein Leitfaden zur inneren Freiheit

    Aus dem Englischen von

    Martin Frischknecht

    Deutscher Taschenbuch Verlag

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    Still sitzen

    nichts tun

    der Frhling kommt

    das Gras wchst

    ZEN-SPRUCH

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    Einfhrung

    Dieses Buch ist nicht aus der Absicht heraus entstan-den, eine bestimmte Philosophie zum Ausdruck brin-gen zu wollen oder um eine bestimmte Auffassung berdas Leben zu verbreiten. Im Gegenteil. Dieses Buch isteine Untersuchung der erfahrbaren Wirklichkeit unse-

    res Daseins.Es geht hier auch nicht darum, eine Methode oder

    einen Weg zu beschreiben, die aus der Verwirrung zurKlarheit fhrten.

    Es gibt keinen Weg, es gibt kein System und keineLehre, die uns Gewissheit darber verschaffen wrden,

    wie wir unser Leben zu fhren haben. Systeme, Philo-sophien und Glauben sind statische Gebilde. Das Le-ben ist dynamisch.

    Mit Konzepten und Vorstellungen sind wir bereitsbis oben hin zugeschttet. Man hat uns beigebracht,wie wir denken sollen, wie wir uns verhalten sollen, ja,

    wie wir sein sollen.Dieses Buch ist nicht geschrieben worden, um in

    einem Regal aufbewahrt zu werden, um wieder gelesenund zitiert zu werden. Ist es einmal gelesen worden,

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    grndlich zwar und verbunden mit tiefem Nachden-ken, so hat es seinen Zweck erfllt.

    Wir brauchen keine neue Ideologie. Vielmehr brau-chen wir eine aufrichtige Entschlossenheit, die Struk-tur unseres Geistes, so wie sie ist, unverstellt zu betrach-ten. Um diese Einsicht zu gewinnen, sind wir auf keineVermittler angewiesen. Sie liegt von Anfang an klar voruns. Wir mssen blo willens sein, die Wirklichkeit un-

    seres Lebens aus erster Hand zu betrachten.Wir selber knnen unmittelbar wahrnehmen, wieunsere Wirklichkeit aus Gedankenformen entsteht, dieaus dem Nichts hervortreten und vorberziehen. In die-sem Prozess des Entstehens und Vergehens lsst sichkeinerlei Bestndigkeit feststellen. Dennoch erwchst

    uns daraus die Vorstellung, da gebe es ein Ich unddieses Ich sei der Urheber der Gedanken.

    Diese zentrale, stndig wiederkehrende Vorstellungist uns so selbstverstndlich wie unbewusst. Doch die-se Vorstellung bildet den Kern der Wirklichkeit, in derwir leben. Sie steht im Zentrum des weit gespannten

    Netzes unserer Psychologie und sie ist der Kern des ge-sellschaftlichen Zusammenhalts, unserer Annahmenber das Universum und ber Gott.

    Eine Untersuchung dieser grundlegenden Annah-me ber uns selbst ist der wesentliche Anfang eines je-den Verstehens. Wenn das Ich eine Gedankenform

    ist und wenn es sich so verhlt wie alle brigen Gedan-ken auch, nmlich dass es aufkommt und vergeht, wersind wir dann? Wer beobachtet, wenn das Ich ver-geht?

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    Dieses Buch will den Leser auf eine Reise durch dieStruktur des menschlichen Geistes mitnehmen. Vielleicht

    fhrt es auch an jenen ruhigen Ort, wo die Gedankenherkommen. Was getan werden soll, bleibt zu einemguten Teil dem Leser selber berlassen.

    Um die Glaubwrdigkeit meiner Aussagen zu un-termauern, habe ich keine akademischen Titel ins Feldzu fhren. Vielleicht hat mir das die Freiheit beschert,

    zu schreiben, was ich geschrieben habe. In jungen Jah-ren haben mich Schmerz und Zwietracht in der Weltund in mir selber umgetrieben. Ich wuchs heran als Teileiner Gesellschaft, die bergeschnappt zu sein schien.Wie manch ein Angehriger meiner Generation konnteich mich nicht damit abfinden, dass politische Fhrer

    erschossen wurden und sinnlose Kriege stattfanden.Genauso wenig kam ich mit den Konflikten in meinerFamilie, in meinen Beziehungen und in mir selbst zu-recht. Die Sicherheiten einer Eliteuniversitt hinter mirlassend, machte ich mich auf die Suche nach einer um-fassenden und endgltigen Rundum-Antwort auf mei-

    nen Schmerz.Im Verlaufe dieser Suche habe ich so ziemlich jeden

    Mystiker, jeden Seher und jeden Magier, der sich irgend-wo auf der Welt hat finden lassen, aufgesucht. Ich un-terzog mich strenger Askese und verbrachte viel Zeit inAbgeschiedenheit und Meditation. Die Philosophien

    und Religionen der Welt habe ich studiert: Ich tanztemit Sufis, bte Zazen mit Buddhisten und rezitierteMantren mit Hindus. Whrend ausgedehnten Aufent-halten in Indien und im Himalaja widmete ich mich

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    der Suche, der Kontemplation, dem Sein. Die letzten25 Jahre meines Lebens habe ich damit verbracht, Sch-

    ler zu sein und spter auch Lehrer von all dem, was ichentdeckt hatte.

    Doch das alles war umsonst.Kein System, keine Philosophie und keine Religion

    ist den Verhltnissen des Menschen je gerecht gewor-den. Obwohl ich in immer weitere Tiefen meines Geis-

    tes und meines Bewusstseins vordrang, gab es keineErfahrung, die mich aus meinem Dilemma htte befrei-en knnen. Egal, wie weit ich reiste, egal, wie intensivich praktizierte und gleichviel, was fr einen Meisterich fand: Im Mittelpunkt meiner Erfahrung stand stetswieder ich selbst. Die Erfahrungen mochten noch so

    tief sein, stets waren sie von einem Ich gemacht wor-den. Und das eigentliche Problem, das war dieser Samm-ler von Erfahrungen.

    Eines Tages suchte ich einen der fhigsten Yogis imHimalaja auf. Diesem Mann war es offensichtlich ver-gnnt gewesen, einen tiefen Einblick ins Leben zu ge-

    winnen. Ich sagte zu ihm, ich sei gekommen, um alleszu lernen, was er ber die Kraft der inneren Weltenhabe in Erfahrung bringen knnen. Seine Antwort warschlicht und treffend: Warum strebst du nach Macht?Wovor frchtest du dich? Damit entfernte er sich.

    Das Erforschen dieser Angst steht am Anfang und

    am Ende meiner spirituellen Suche.Irgendwann mitten in dieser Suche gelang mir die

    tief greifende Entdeckung, dass nicht Schmerz und Zwie-tracht das Problem sind, sondern der Sucher selbst. Das

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    Problem war mein Streben nach einer Antwort und nacheiner Lsung, die mich htte befreien sollen von der

    Last des Empfindens. Wenn der Sucher aber sein Stre-ben aufgibt, gibt es keine Lsung mehr. Und wo es kei-ne Lsung gibt, verndert sich die Natur des Problemsauf grundlegende Weise.

    Da ist keine Position, keine Ideologie, keine Philo-sophie und keine Religion, die eine Antwort bieten wr-

    de auf die Frage, vor die uns das Leben selbst stellt.Systeme sind dazu in die Welt gesetzt worden, um unsdie Gewissheit, die Festigkeit und den Trost einer Ant-wort zu verleihen. Die Frage, vor die uns das Lebenstellt, liegt in der Bewegung des Lebens selbst. Es istseiner Natur gem dynamisch, ungewiss - und eben

    lebendig.Wer dafr offen ist, dem erschlieen sich die Tatsa-

    chen der Existenz zu jeder Zeit. In der Stille knnenwir sie berhren, frei von den Verzerrungen eines Glau-bens. Angesichts der Weite, der Magie und der unbe-kannten Qualitt des Lebens mag es uns in einem Au-

    genblick wahrer Demut vergnnt sein, das Eigentlichezu entdecken, das all unsere Konzepte hinwegsplt.

    Von dieser Offenheit handelt das vorliegende Buch.Die Aussagen wollen von der Leserin und dem Leser inder unmittelbaren Verbindung mit dem eigenen Lebenberprft werden. Diese Verbindung ergibt sich nicht

    aus der Lektre der folgenden Worte. Sie erwchst ausder Stille nach dem Verklingen der Worte, wenn Ge-danken und Ich ins Nichts entschwinden.

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    Eine Geschichtevon der absoluten Wahrheit

    Ein Knig nahm einst Ansto am wankelmtigen We-sen der Wahrheit. Als absoluter Herrscher, der er war,beschloss er, die relative Wahrheit sei aus der Welt zuschaffen. Per knigliches Dekret verfgte seine Majes-tt die absolute Wahrheit.

    Des Knigs Gesetz war einfach: Wenn jemand sei-ne Stadt betrat und er sprach nicht die absolute Wahr-heit, so sollte er sogleich als Lgner gehenkt werden.

    Der Knig whnte sich zufrieden. Er glaubte, da-mit dem letztgltigen Ausdruck von Wahrheit in derWelt zum Durchbruch verholfen zu haben.

    In der Nhe des Knigreichs lebte ein verrckterWeiser. Als der Weise vom Dekret des Knigs erfuhr,lachte er sich die Hucke voll.

    Anderntags lie er sich vor den Knig fhren undsagte dem Herrscher aufs Gesicht zu: Ich belge dich,und kraft deines Dekrets wirst du mich noch heute hen-

    ken lassen.Der Knig war baff. Henken konnte er den Ver-

    rckten nicht, sonst htte dieser ja die Wahrheit ge-sprochen.

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    Lie er den Weisen aber nicht henken, so hatte die-ser ungestraft gelogen.

    Der Knig tat weder das eine noch das andere. Statt-dessen gab er sein Reich auf und schloss sich dem ver-rckten Weisen an. Er wollte bei dem Weisen mehr berdas Wesen der absoluten Wahrheit in Erfahrung brin-gen.

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    Etwas stimmt nicht:Leere und Wirklichkeit

    Wenn wir seelischen Schmerz erfahren, wird offenkun-dig, dass etwas mit uns nicht stimmt. Der Schmerz istein Sendbote des Lebens; er bringt eine groe Vernde-rung in die Welt, die uns vertraut ist.

    Solange uns die Botschaft des Schmerzes nicht er-

    reicht, sind wir zufrieden schlummernde Geschpfe inGewohnheit, Bequemlichkeit und heiliger Einfalt. Wirverbringen das Leben in Beschrnkung und Rckzug.

    Sowie wir den Schmerz anerkennen, schlgt dieStunde der Freiheit. Der Schmerz schreckt uns auf. Wirerwachen und es tut weh. Folgen wir der Spur dieses

    Konflikts, so knnen wir dorthin gelangen, wo unsereSchwierigkeiten ihr Ende finden. Das ist dort, wo wirmit uns selbst an ein Ende kommen.

    Zunchst versuchen wir wohl, den Schmerz zu be-tuben; wir weichen ihm aus oder verleugnen ihn. Dochegal, was wir unternehmen, es wird uns nicht gelingen,

    ihn loszuwerden oder ihm zu entfliehen. Selbst wennwir ein Leben lang erfolgreich vor ihm weggelaufen sind,werden wir ihm in der Stunde des Todes wieder begeg-nen.

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    Wenn wir begreifen, dass wir uns nicht entziehenknnen, versuchen wir es mit einer Verlagerung und

    Umwandlung des Schmerzes. Wir experimentieren mitDrogen, wir unterziehen uns einer Psychotherapie, ver-suchen es mit Meditation, Yoga, Religion. Auf die Wei-se wollen wir zu Wesen werden, die Schmerz nicht ken-nen. Doch die Ursache von Schmerz liegt im Werdenselbst. Schmerz ist diese stndige Bewegung auf etwasanderes zu, das Haschen nach etwas, das auerhalb vonuns liegt, das Streben nach einer Lsung, die letztlichdoch nie funktioniert.

    So streben wir nach einer zunehmenden Vergeisti-gung. Wir werden zu liebenden, gtigen Wesen. Dasheit, wir werden zu einem Dmon, der in den Gewn-

    dern eines Heiligen lebt. Dem Anschein nach sind wirglckliche und erleuchtete Menschen, zumindest sindwir in zufrieden stellendem Mae unterwegs auf demPfad der Verwirklichung. Doch in uns drin tut es weh.

    Nun, da wir uns erhoben und gelutert haben -von Freiheit noch immer keine Spur -, werden wir zy-

    nisch, ablehnend und lustlos. Immer noch sind wir da-ran, etwas zu werden, und immer noch leiden wir.Unser ganzes Leben verbringen wir in Bezug auf

    den Schmerz, und doch haben wir diesen Schmerz nievollstndig gefhlt, geschweige denn ihn je umarmt.Wrden wir ihn willkommen heien und umarmen, um-

    armten wir uns selbst. Wir umarmten nichts.Diese grundlegende Leere ist es, die uns zum Lebenerweckt. In Tat und Wahrheit tut es nicht weh. Es ist leer.

    Dieser weite Raum ist das Tor zur Wirklichkeit.

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    Wenn wir von Leere sprechen, verwenden wirein Wort, das nicht das wiedergibt, worum es geht. Viel-

    leicht gibt es in unserer Sprache keine Wrter, die unsin diesem Punkt weiter helfen, denn es handelt sich nichtum die Beschreibung einer Abwesenheit. Gemeint istvielmehr ein erflltes Universum, allerdings ohne dasses darin einen Beobachter gbe.

    Und doch ereignet sich in diesem Universum ein

    Sehen. Und es stellt sich Wirklichkeit ein, das heit, eswerden Gedanken empfangen. Das geschieht, ohne dasses einen Denker gbe. Das ist Leere.

    Physiker, und nicht etwa Metaphysiker, sind bis datomit der elegantesten Beschreibung dieser Leerheit her-vorgetreten. In der Quantenphysik werden Wahr-

    scheinlichkeitswellen beschrieben, denen eine fass- odermessbare Dinglichkeit nicht zukommt. Bis nicht einBewusstsein hinzutritt und durch seine Beobachtungoder Bezugnahme Wirklichkeit erschafft, gibt es in derWelt der Quantenphysik keine greifbaren Objekte.

    Leere verneint nicht die Existenz von Gedanken

    oder von Erkenntnis. Die Welt verschwindet nicht inder Leere. Die Welt entsteht aus der Leere, und indemdie Leere anerkannt wird, wird die Welt transformiert.

    Wir knnen sagen, die Welt sei eine Illusion. Tat-schlich aber ist diese Illusion der Beobachter. Die wirk-liche Illusion liegt darin, dass der Beobachter sich fest

    und bestndig whnt. Die Illusion liegt darin, dass derBeobachter glaubt, er nehme eine objektiv feststellbareWelt auerhalb seiner eigenen Bedingtheit wahr. Dassdas eine Illusion ist und keine Tatsache, erweist sich

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    sehr rasch, sobald wir uns auf die Suche nach dem Be-obachter machen. Wo steckt er? Wie ist er beschaffen?

    Ist er bestndig und fest?Aus der Leere erwchst ein Betrachten ohne Be-trachtenden. Der Begriff Leere steht nicht fr dasAufheben von Verantwortung gegenber der Welt. ImGegenteil. Eine direkte, umfassende Verbindung mit derWelt bringt eine umfassende Verantwortung fr die Welt

    mit sich. Und das ist nur mglich, wo sich die Vorstel-lung eines Beobachters auflst. Unser Glck, unserWohlstand und unsere Unversehrtheit lassen sich vomZustand der Welt nicht trennen, sind wir doch selbstuntrennbar mit der Welt verbunden.

    Leere meint auch nicht, alle Herausforderungen,

    die das Leben an uns stellt, seien damit aufgehoben.Nach wie vor mssen wir uns um unsere Gesundheitkmmern, weiterhin mssen wir einer Arbeit nachge-hen und die Beziehung zu Familienmitgliedern undFreunden pflegen. Diesen Anforderungen erwchst hiereine neue Qualitt. Sie sind Ausdrucksformen eines ein-

    enden Prinzips. Durch die Leere werden wir zum ers-ten Mal mit der Flle des Lebens vertraut.

    Die Idee des Betrachters beruht auf der Vorstellung,dass es da so etwas wie einen Denker gebe, der seinemWesen nach fest und bestndig ist. Die Erkenntnis, dasses weder einen Denker noch einen Betrachter gibt, rumt

    den Weg frei zur Verwirklichung von Einsicht.Einsicht sprengt unsere Konzepte und Rahmenvor-

    stellungen und gleichzeitig macht sie uns vertraut mitder Wirklichkeit, die hinter der Welt der Ideen liegt.

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    Einsicht verndert grundlegend die Natur dessen, waswir bis dahin als Leere betrachtet haben.

    Den Begriff der Leere verwenden wir in Bezug aufeinen Zustand, den wir als erfllt, fassbar und an einenOrt gebunden wahrnehmen. Diese Art von Vorstellungist beschreibend, doch sie ist nicht das, was sie be-schreibt.

    Leere hat nicht weniger Bedeutung als das, was

    wir fr fest und fassbar halten. Leere enthlt die Wirk-lichkeit. Und Wirklichkeit ist eine Bewegung von Ener-gie. Energie wiederum ist weder leer, noch ist sie fassbar.Sie ist bewegte Mglichkeit. Die Einsicht, nicht der Se-hende verwandelt diese bewegte Mglichkeit in Wirk-lichkeit.

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    Der Mythos der Psychologie

    Je tiefer wir die eigene Leerheit berhren, desto strkersuchen wir nach einer Erklrung. Uns treibt der Wunschum, einen zu Tage tretenden Konflikt beizulegen. Die-ser Konflikt entsteht zwischen der Auffassung eines fest-gefgten Selbst und der offensichtlichen Leere, die wir

    entdeckt haben. Leere wird in diesem Zusammenhangwahrgenommen als psychologischer Schmerz.

    Damit betreten wir gefhrliches Terrain. Wir sindverwirrt. Auf der Suche nach Hilfe sehnen wir uns nacheinem Fhrer. Ein Fhrer bietet sich an in der Gestalteines Psychologen oder Psychiaters.

    Sind wir uns bewusst, dass wir drauf und dran sind,eine religise Entscheidung zu treffen? Die direkte Ver-bindung zu dem, wer wir sind, geben wir auf und tau-schen sie ein gegen ein Erklrungsmodell, das sich her-leitet aus wechselseitigen bereinknften, aus Mythenund gesellschaftlichem Druck. Ist uns bewusst, dass die

    Sichtweise des Therapeuten uns verndern wird? Wirwerden zu dem werden, woran der Therapeut glaubt.

    Wir werden untersucht, wir werden behandelt undwomglich werden wir geheilt. Vielleicht werden uns

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    Medikamente verabreicht, vielleicht Erklrungsmodelle,vielleicht werden uns therapeutische Manahmen ver-

    schrieben. Es kommt zu Kreativittstrainings und zuHausaufgaben; wir bekommen ein Kissen zum Hinein-schreien, Delfine, um mit ihnen zu schwimmen. Wasgeschieht dabei wirklich?

    Das Selbst, das vermeintliche Zentrum, wird durchdie Therapie verstrkt, die Leere wird verleugnet. Wir

    werden zu funktionierenden Produktivkrften geformt,wir werden wieder fhig zu Arbeit und Fortpflanzung,wir sind bereit fr Alter und Tod. Leer sind wir nochimmer, und das nehmen wir wahr in den Pausen, zwi-schen der Einnahme von Medikamenten oder zwischenzwei Therapiesitzungen. Die Leere zeigt sich uns als

    unauslotbarer Schmerz.Dieser Schmerz enthlt eine Botschaft, diese heit:Erwache! Psychologen und Psychiater, welche dieseBotschaft verstanden haben, verstehen auch, dass ihreAufgabe eine grundlegend andere sein muss. Sie wer-den zu Hebammen des Bewusstseins. Doch das werden

    sie erst, wenn sie bereit sind, dem eigenen Konflikt insAuge zu blicken.

    Wenn es im Leben darum geht, diesen Konflikt zulsen und die letztgltige Wahrheit des Lebens zu ent-decken, werden wir nicht darum herumkommen, dieLeere zu umarmen.

    Wie verhalten wir uns dann gegenber seelischemLeiden, gegenber Sorgen und ngsten, Zorn undunerlsten Erinnerungen an schmerzliche und schdi-gende Erfahrungen? Was tun wir, wenn wir damit ei-

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    nen Therapeuten oder Psychologen aufsuchen, um die-sen unangenehmen Gefhlen und Gedanken etwas ent-

    gegenzusetzen?Wenn wir zum Therapeuten gehen, damit wir wie-der funktionieren knnen, damit wir im Leben zurecht-kommen, damit es uns besser geht, damit wir uns ge-schickter verhalten und uns besser fhlen, dann sindwir in einer therapeutischen Praxis wohl am richtigen

    Ort.Unbestreitbar ist das die ntzliche Seite der Psy-chologie, von Therapeuten und Psychiatern. Hier wirduns ein Verband auf die Wunde gelegt. Damit verse-hen, kommen wir wieder besser zurecht. Nach einerBehandlung haben wir oft das Gefhl, in der Therapie

    groe Einsichten und ein neues Verstndnis unsererselbst gewonnen zu haben.

    Wenn therapeutischer Fortschritt auf diese Weisenicht mglich ist, wenn wir stndig in einer Krise stek-ken, werden uns vielleicht Medikamente verschrieben.Unser Befinden wird sich so lange verndern, wie wir

    unter dem Einfluss der Droge stehen. Bezeichnender-weise luft diese Vernderung auf einen angenehmerenoder besser funktionierenden Zustand hinaus. Gelegent-lich bleiben Medikamente aber auch wirkungslos oderihre Wirkung ist problematisch.

    Der bloe Kontakt zu einem anderen Menschen

    whrend einer Stunde, und das dreimal die Woche, zei-tigt manchmal die Wirkung, dass wir uns erhoben underleichtert fhlen. Um was fr eine Form von Therapiees sich dabei handelt, braucht keine Rolle zu spielen.

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    Was fehlt beim therapeutischen Verstndnis des Geis-tes? Nichts, wenn es das ist, was wir wollen: eine Ver-

    schiebung der Probleme ohne grundlegende Lsung. Ander Therapie ist nichts falsch. Wir sollten blo nichtvergessen, dass die Therapie nie zu Ende sein wird unddass ihr Zweck darin liegt, uns vom Druck des Kon-flikts zu erleichtern, so dass wir wieder normal funk-tionieren. Ist es das, was wir leben wollen, die Norma-

    litt, welche uns hier verschrieben wird?

    Ein Mann erscheint mit einem Huhn unter dem Armbeim Psychiater. Er sagt zum Arzt: Herr Doktor, dashier ist mein Bruder. Er glaubt, er sei ein Huhn.

    Behandelt der Arzt nun des Mannes Bruder? Was

    fr eine Art von Behandlung ist in so einem Fall ange-bracht? Mit wie vielen Behandlungsstunden ist zu rech-nen, bis der Bruder seinen Zustand der Verwirrungberwunden haben wird?

    Ist es nicht offensichtlich, dass im vorliegenden Fallkeine Art von Behandlung erfolgreich sein wird, weil

    die Ausgangslage verkehrt ist? Wenn der Geist sich sel-ber zuwendet, um seine Konflikte zu lsen, kann dasgelingen? Oder stimmt da nicht vielmehr etwas mit derPrmisse nicht?

    Das Problem des Bruders, der glaubt, ein Huhn zusein, wird von vielen anders angegangen. Sie haben er-

    kannt, dass sie nicht einen Bruder vor sich haben, son-dern ein Huhn. Um das Problem zu lsen, wenden siesich an andere Autoritten, an eine exotischere Figurals an einen Psychiater. Wenn der nicht helfen kann, so

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    kann es vielleicht ein Veterinr. Schlielich geht es dochum ein Huhn.

    Katholiken suchen nach Antworten im Hinduismus,Juden im Buddhismus, Atheisten im Existenzialismus,Kommunisten im Kapitalismus. Amerikaner reisen nachIndien, Inder nach Amerika. Wenn dies keine Lsungbringt, so vielleicht jenes. Wenn der Psychiater meinemBruder nicht helfen kann, so knnte es einem Veterinrgelingen.

    Doch die Grundannahme ist nach wie vor falsch.Egal, wohin wir aufbrechen und an wen wir uns wen-den, das Problem wird weiterbestehen. An wen soll derMann sich wenden, um Hilfe zu finden fr seinen Bru-der, der glaubt, ein Huhn zu sein? Wen suchen wir auf,

    um unsere eigenen Konflikte zu lsen?Ist es nicht klar, dass wir zunchst die Vorausset-zungen unserer Konflikte verstehen mssen, bevor wirhoffen knnen, einen Lsungsansatz zu erkennen? InTat und Wahrheit gibt es schlielich gar keinen Bruder.Also gibt es auch keinen hinreichenden Grund, nach

    einer Lsung fr dessen Problem der Verwechslung miteinem Huhn zu suchen. Und doch besteht da ein Kon-flikt.

    Der Geist ist ein sich selbst erschaffendes Gespinstvon Neurosen, die als Konflikte auftreten, nicht un-hnlich der Verwechslung des Bruders mit dem Huhn.

    Die Verwirrung des Bruders gibt es nicht, weil es denBruder nicht gibt. Unseren Konflikt gibt es nicht, weiles uns nicht gibt.

    Ohne ein Zentrum, gibt es da einen Konflikt?

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    Das medizinische Modell von Geist und Psyche hatsich in den letzten fnfzig Jahren verndert. Heute geht

    man davon aus, dass sich das Denken durch Einflssevon auen leicht steuern lsst, insbesondere durch Dro-gen und chirurgische Eingriffe.

    Gleichzeitig wird in der Wissenschaft anerkannt,dass wir ber die biochemischen Ablufe im Gehirnnoch nicht genug wissen, um eine einheitliche Theorie

    ber die Funktionsweise unseres Geistes zu formulie-ren. Doch die Wissenschaft geht von der Annahme aus,es handle sich hierbei lediglich um eine Frage der Zeitund um den entsprechenden Fortschritt wissenschaftli-cher Erkenntnis.

    Untrennbar verbunden mit diesem Modell von Geist

    und Psyche, hat sich in der psychiatrischen Praxis dieAnsicht durchgesetzt, das Schwergewicht der Arbeitdrehe sich darum, die Chemie des Denkens auf ange-messene Weise zu beeinflussen. Es ist unbestreitbar, dasses im Denken einen Mechanismus zwischen Ursacheund Wirkung gibt. Ein Psychotiker wird durch

    Thorazine fgsam, ein Depressiver wird durch Prozaczufrieden gestellt.

    Was in diesem Modell des Geistes und der Psychia-trie fehlt - und wir sprechen hier von einer enormenLcke -, ist der Blick auf den Geist in seinem Zusam-menhang.

    Weil das Denken als ein isolierter mechanischerVorgang verstanden wird, der unabhngig von seinerUmgebung abluft, ist es der Psychiatrie nicht mglich,den greren Zusammenhang zu erfassen. Das rhrt

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    daher, dass dieser grere Zusammenhang der Wissen-schaft ganz allgemein nicht bekannt ist.

    So verblffend es auch scheint, fr Bewusstsein gibtes in der Wissenschaft kein Modell. Es gibt keine allge-meine Feldtheorie fr das Bewusstsein. Das ist so, ob-wohl das Bewusstsein der Kontext ist, in dem sich derGeist und smtliche seiner Erscheinungen - einschlie-lich Wissenschaft und Psychiatrie - entfalten.

    In der Welt der Therapie gibt es keine grundlegen-den Lsungen. So etwas hat es nie gegeben.Wenn wir psychologische Konflikte lsen wollen,

    mssen wir uns anderswohin wenden.Erstens mssen wir erkennen, wie unser Konzept

    von Zeit dazu beitrgt, seelische Strukturen aufrecht-

    zuerhalten und sie zu verewigen. Ohne unsere Auffas-sung von Zeit gbe es keine Vorstellung von besserwerden, es durcharbeiten, einen psychologischenProzess durchlaufen und was der Begriffe mehr sind,um psychologischen Fortschritt auszudrcken. Ohneunsere Auffassung von Zeit gibt es immer nur ein Er-

    eignis aufs Mal. Was geschieht, ereignet sich in derGegenwart und ist offensichtlich zu erkennen, falls wires erkennen wollen. Die Hilfe eines Vermittlers ist nichtvonnten.

    Ohne unsere Auffassung von Zeit ereignet sich al-les immer nur in der Gegenwart: der psychologische

    Konflikt, unsere Verbindung damit, die Lsung und diedamit verbundene Einsicht.Zweitens mssen wir uns mit dem psychologischen

    Gedchtnis befassen. Als Teil unseres Denkens hat es

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    den Verlauf von Ereignissen nicht so verzeichnet, wiesie eintraten, sondern so, wie sie fr uns eintraten. Die-

    ser Einbezug des Subjekts in die Geschichte, die andau-ernde Projektion dieser Verbindung von Subjekt undGeschichte in die Zukunft, bildet die Grundlage psy-chologischer Probleme.

    Zeit und Gedchtnis sind zwei Aspekte unseres Den-kens. Wenn wir ihr Wechselspiel vollends erfassen, tre-

    ten die psychologischen Probleme in einer zugnglichen,unmittelbaren Gegenwart hervor. Einen anderen Ortin der Zeit gibt es fr sie nicht.

    Nun, da ein Problem in der unmittelbaren Gegen-wart vor uns steht, was fangen wir damit an?

    Ganz und gar nichts.

    In Bezug auf ein Problem irgendetwas zu unterneh-men, heit, einem Problem Energie und Nahrung zu-fhren. Wenn wir ein Problem in den Griff bekommenwollen, um es zu manipulieren, die Sache zu verbessernoder sie zum Verschwinden zu bringen, so fhrt dasblo dazu, dass das Problem sich auf der Ebene unse-

    rer Wirklichkeit verfestigt.Wir haben das Problem verfestigt, indem wir unsauf seine Lsung fixiert haben. Und weil sich die ange-strebte Lsung nicht einstellen will, haben wir auch nochein zustzliches Problem geschaffen.

    Was geschieht, wenn wir nichts tun? Nichts. Das

    Problem hat niemanden, den es in Anspruch nehmenknnte. Es fehlt ihm die Energie. Es fehlt ihm ein Geg-ner. So vermag es nicht mehr lnger zu existieren. Es istnicht mehr Teil unserer Wirklichkeit.

  • 8/6/2019 Harrison, Steven - Nichts Tun (Ein Leitfaden Zur Inneren Freiheit)

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    Das ist die Lsung von psychologischen Problemen.Mglich ist sie nur in der Gegenwart. Wir brauchen

    dazu keine Hilfe. Was von uns verlangt wird, ist nichtmehr als unsere Stille.

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    Der Mythos der Erleuchtung

    Wir haben gesehen, wie eingeschrnkt, ja destruktiv daspsychologische Modell ist, und doch drngt es uns wei-terhin danach, verstehen zu wollen.

    Das Verlangen, die Beunruhigung aufzulsen, dievon der uns eigenen Leere ausgeht, mag noch bestrkt

    werden durch den Mythos der Erleuchtung.Man macht uns weis, diese Beunruhigung lasse sichauflsen. Die Lsung liege anderswo, sie sei ein Zu-stand, ein Ort und dieser Ort trage den Namen Er-leuchtung.

    Dieses mythische Konstrukt scheint uns ein fr al-

    lemal von der Leere zu befreien, denn wir werden aufeinen Schlag mit Konzepten versorgt. Nun haben wireinen Zweck, ein Ziel, ein Ringen, eine Reise und eineRichtung. Wir sind nicht mehr leer, aber wir strebennoch immer nach einem Heilmittel gegen die Leere.

    Wir sind voll, wir haben die Verbindung zur Leere

    verloren, und dennoch erinnern wir uns an sie und siegeistert durch unser Denken. Wir werden viel Zeit da-rauf verwenden, nach der Erleuchtung zu suchen. Dochsuchen ist sinnlos, denn sie ist weder da noch dort.

  • 8/6/2019 Harrison, Steven - Nichts Tun (Ein Leitfaden Zur Inneren Freiheit)

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    Lehrer und Autoritten,Faschismus und Liebe

    Nach einer langen, aufreibenden Reise erreicht ein Su-chender den Gipfel eines Berges, wo einsam ein Guruhaust.

    Meister, was ist der Sinn des Lebens?, fragt derSuchende.

    Mein Sohn, das Leben ist eine Schale voller Kir-schen, sagt der Guru.Sich so etwas anhren zu mssen nach all den

    Mhen, die er auf sich genommen hat, macht den Su-chenden wtend und das lsst er den Guru wissen.

    Der Guru berlegt eine Weile und antwortet:

    Glaubst du denn, es sei anders?

    Die Leere macht uns derart orientierungslos undverwirrt, dass wir nach einem Menschen Ausschau hal-ten, dem es damit anders geht.

    Wir erfahren, dass es Lehrer und Gurus gibt und

    dass diese Menschen mit besonderer Macht und auer-ordentlichem Wissen ausgestattet sind.Vielleicht trifft das zu, doch wozu soll es gut sein,

    nach solchen Menschen zu suchen?

  • 8/6/2019 Harrison, Steven - Nichts Tun (Ein Leitfaden Zur Inneren Freiheit)

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    Ist diese Hinwendung eine Reaktion auf das Cha-os, eine Suche nach Fhrung und Autoritt, eine Hin-

    wendung zu Ordnung und Faschismus angesichts derUnruhe? Wenn dem so ist, dann drfen wir erwarten,dass die Autoritt, der wir uns zuwenden, unser Prob-lem lsen wird. Wir mssen auch davon ausgehen, dassdie Autoritt, die wir so finden, spter zu einem Pro-blem werden wird.

    Ein solcher Lehrer ist die Figur unserer Projektion,er ist ein Ausdruck unserer Angst und Beklemmung undunserer Trgheit. Wir projizieren eine Vaterfigur, diekeine Zweifel kennt, die ein Ausbund ist an Autorittund Disziplin. Wir projizieren eine Mutterfigur, dienhrend ist, vergebend und voller Verstndnis. Den Leh-

    rer verehren und erhhen wir, doch uns selber schen-ken wir kein Vertrauen. Wir wollen nicht wahrhaben,wer der Lehrer wirklich ist. Doch wir wissen es bereits.

    Der Lehrer sind wir. Der Vater ist das Kind. DasKind ist der Vater. Indem er die gesammelten Projek-tionen auf sich zieht, bernimmt der Lehrer die Fh-

    rung. So erschaffen wir eine Autoritt, vor der wir unsverneigen. Wir sind es, welche diese Autoritt bestim-men. Wir wissen: Der Kaiser trgt keine Kleider. Dochsolange unsere Bedrfnisse zufrieden gestellt werden,verraten wir darber kein Wort.

    Das Guru-Spiel ist wie das Spiel mit der Erleuch-

    tung. Wir spielen es, weil wir unserer Leere nicht insGesicht sehen wollen.

    Wenn wir meinen, auf sie gebe es eine Antwort,haben wir die Leere falsch verstanden. Die Verwirrung

  • 8/6/2019 Harrison, Steven - Nichts Tun (Ein Leitfaden Zur Inneren Freiheit)

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    entsteht nicht auf Grund von schwierigen Fragen, wel-che uns berforderten, sondern auf Grund eines Fra-

    genden, der sich auflst. Verwirrung steht am Anfangvon wahrer Intelligenz. Die Rede ist von einer Intelli-genz ohne Mittelpunkt, ohne eine Vorherrschaft desDenkens.

    Wenn wir diese Intelligenz im Namen eines Gurusopfern, wenn wir unsere spirituelle Verantwortung bei-

    seite stellen, um der Autoritt eines anderen Platz zumachen, treten wir ins Land der verlorenen Seelen ein.Hte sich, wer kann! Denn hier sind die Seelen verlo-ren und genauso verloren ist der Guru.

    Macht korrumpiert. Die erdrckende Beweislastunzhliger Sex- und Geldskandale spricht fr die Wahr-

    heit dieser Aussage. Unzhlige dieser weisen, charis-matischen Lehrer haben sich verstrickt in Lug und Trug,whrend ihre Schler fr alles eine vernnftige Erkl-rung bereithielten.

    Eine Bewegung hin zu wachsender Dummheit liegtin der Natur der Sache, denn bereits der erste Schritt ist

    ein Fehltritt: Es ist der Verzicht auf die eigene Verant-wortung.

    Keine Autoritt vermag auf unsere Frage eine Ant-wort zu geben, doch vielleicht haben wir das Glck,auf einen zu stoen, der unsere Antwort in Frage stellt.

    Das Talent, Fragen zu stellen, ist eine kostbare Gabe.

    Ein Mensch, der darber verfgt, erffnet uns einegrundlegend andere Form von Beziehung, vorausgesetzt,wir sind empfnglich und bescheiden genug, das We-sen einer solchen Begegnung zu anerkennen.

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  • 8/6/2019 Harrison, Steven - Nichts Tun (Ein Leitfaden Zur Inneren Freiheit)

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    Die dunkle Nacht der Seele

    Was geschieht, wenn es keinen Psychologen, keinenGuru und keinen Gott mehr gibt, der uns helfen knn-te? Was geschieht, wenn es fr unser Problem keineLsung gibt, wenn es keine Erleuchtung gibt und einEnde unserer Sorgen nicht in Sicht ist? Was geschieht,

    wenn da blo noch Leere ist und nichts, um sie zu fl-len? Unsere Welt, unser Leben, unsere Beziehungen bre-chen zusammen. Wir brechen zusammen.

    Der Zusammenbruch unserer Identitt und dieUnmglichkeit, diesem Zusammenbruch zu entgehen,sind ein Ende und ein Anfang zugleich. Durch diese

    dunkle Nacht der Seele fhrt kein Weg, sie ist wederAnlass noch Erleuchtung.

    Die dunkle Nacht der Seele befindet sich weder inder Zeit noch auerhalb von ihr. Hier geht es nicht mehrum uns und auch nicht darum, ein anderer zu werden.Die dunkle Nacht der Seele ist ohne Ursache und sie

    rhrt von nirgendwo her.Keiner kann uns in sie hineinbringen, noch durch

    sie hindurchfhren. Wir knnen sie nicht erschaffen,noch vermgen wir ihre Dauer zu verkrzen oder ihr

  • 8/6/2019 Harrison, Steven - Nichts Tun (Ein Leitfaden Zur Inneren Freiheit)

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    ein Ende zu bereiten. Sie dauert einen Augenblick - einLeben lang.

    Jetzt, wo wir uns zurckgenommen haben bis aufein Nichts, vermag sich dieses Nichts Gehr zu verschaf-fen. Der Ausdruck von Nichts ist Liebe. Liebe kenntkeinen Ursprung und kein Ziel. Sie war immer schonda.

  • 8/6/2019 Harrison, Steven - Nichts Tun (Ein Leitfaden Zur Inneren Freiheit)

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    Nichts tun

    Die Vorstellung zu meditieren mag uns aus vielerleiGrnden als verlockend erscheinen.

    Vielleicht wollen wir meditieren, weil wir von Neu-rosen berflutet werden, weil uns eine Flut von Gedan-ken bedrckt, weil wir unter dem Druck von Angst und

    Stress stehen.Vielleicht lebt in uns der Hauch einer sen Erin-

    nerung an einen Zustand der Ruhe, an eine Verfassung,zu der wir keinen Zugang mehr finden.

    Es mag uns ein Bedrfnis nach Kontrolle umtrei-ben. Meditation kann Teil eines allgemeinen Strebens

    nach Macht sein.Verzweiflung, Depression, tragische Ereignisse und

    der Tod mgen in uns ein Bedrfnis nach Meditationhervorbringen. So streben wir danach, Gott zu finden.

    Alle diese Beweggrnde zur Meditation fhrendazu, dass wir etwas suchen.

    Ein grundlegendes Gewinnstreben und eine Unzu-friedenheit mit dem, wo wir sind und was wir sind,sind die Faktoren, welche uns zur Meditation fhren.

    Unter diesen Vorzeichen darf es uns nicht berra-

  • 8/6/2019 Harrison, Steven - Nichts Tun (Ein Leitfaden Zur Inneren Freiheit)

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    wenn es uns dereinst gelnge darber hinauszukom-men, wir weiterhin als Beobachter vorhanden wren.

    ber den Geist hinaus meint, ber den Fragenden hi-nauszugelangen. Wer oder was verbliebe da noch, umzu beobachten?

    Womglich ist die Frage nach der Annherung anden Geist und die Frage, wie ber den Geist hinauszu-gelangen sei, ein und dieselbe Frage.

    Schlielich sind Geist und Denken das, was unse-ren Alltag ausmacht. Sie umfassen unsere Gedanken,unsere Gefhle, unsere Ideen, Beweggrnde, Absich-ten, ngste, Sinnesreize und Trume. Der denkendeGeist ist dieses scheinbar komplexe und verflochteneGedankenknuel, das wir Ich nennen. Wir finden

    dieses Ich eingebettet in einem physischen Krper,und unser Dasein dreht sich um Schutz und Unterhaltdieser Verbindung von Ich und Krper.

    Auf Grund gesellschaftlicher bereinknfte, die vonden Eltern an die Kinder weitergegeben werden, vomLehrer an die Schler, von der Regierung an die Brger

    und vom Pfarrer an die Gemeinde, gewinnen die Ge-danken an Tiefe und Weite und erhalten dadurch denAnschein, etwas Substanzhaftes zu sein.

    Das Vererbung der genetischen Substanz von einerGeneration zur nchsten ist auch ein Weiterreichen vonGedanken und Erinnerungen. Das sind die Informatio-

    nen, die uns als Einzelne und als Gesellschaft prgenund bestimmen.

    Wir fhren nicht das Leben von einzigartigen Men-schen, die fortwhrend Neues entdecken. Vielmehr be-

  • 8/6/2019 Harrison, Steven - Nichts Tun (Ein Leitfaden Zur Inneren Freiheit)

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    steht unser Leben aus dem Abklatsch von Ansichten,die an uns vererbt worden sind.

    Die tiefst sitzende Prgung ist die des Ich bin, diegrundlegende berzeugung, bei sich selber in der Mittezu sein. Es ist die Vorstellung, dass es da eine Instanzgebe, die Gedanken produziere und als feste Gre ir-gendwie in unserem Krper stecke. Es ist die Illusion,wir seien einem bestimmten Ort zuzuschreiben.

    In der Quantenphysik stimmen die Forscher darinberein, dass die Elemente der subatomaren Welt alsuntrennbare Quanten existieren. Quanten kennen kei-nen bestimmten Ort und sie sind nicht voneinanderabgeschnitten. Sind sie einmal zueinander in Kontaktgetreten, so bleiben sie in Verbindung. Diese Verbin-

    dung besteht unabhngig von rumlicher Distanz, dasich die verbindende Kraft nicht durch den Raum be-wegt. So betrachtet, sind Nhe und Distanz ein unddasselbe.

    Obschon sich das nicht unbesehen als Modell desBewusstseins bernehmen lsst, mag es doch als Fin-

    gerzeig dafr dienen, wie sehr unser oberflchlichesVerstndnis von Ort, Autonomie und Getrenntsein indie Irre fhrt.

    Und doch steckt die Auffassung, dass wir abgetrenntvon den anderen an einem bestimmten Ort leben, sotief in der kollektiven Seele des Menschen, dass wir sie

    als Grundlage unserer Wirklichkeit akzeptieren. Werden Versuch unternommen hat, seinen Geist zu sam-meln, ihn zu beruhigen oder ganz einfach blo ruhigdazusitzen, der wei aus eigener Erfahrung, dass es in

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    Nichts tun entwirft von dem, der tut, einen zuver-lssigen Umriss. Wenn wir uns dem Geist annhern

    wollen, so ist nichts tun der direkteste Weg. Wenn wirjenseits des Geistes gelangen wollen erst recht. Tun wiralso nichts.

    Was beim Nichtstun vielleicht am deutlichsten her-vortritt, ist die Tatsache, dass das Denken in einem

    Mae weitergeht, als ob wir unverdrossen am Tun w-ren. Es ist ein Witz. Da ist kein Schalter, mit dem sichdas Denken an- oder ausmachen liee. Mit groerGewissheit haben wir uns fr die Urheber all dieserGedanken gehalten, doch die Gedanken scheinen ihreeigene Quelle zu haben.

    Und wenn die Gedanken ihre eigene Quelle haben,wer ist dann der Denkende? Wichtiger noch: Wo stecktdieser Denkende, wo steckt dieses Ich?

    Das Faszinierende dabei ist, dass wir den Denken-den nicht finden knnen. Die Gedanken kommen undgehen. Mit ihnen kommen und gehen Gefhle, Bilder,

    Plne, Trume, ngste und auch noch Kommentare zuvorhergegangenen Gedanken. Doch es gelingt uns nicht,irgendwo in diesem Nichts einen Denker auszumachen.Alles blo Gedanken.

    Der Krper wird sich melden und weh tun, wennwir blo dasitzen und nichts tun. So fliet die Aufmerk-

    samkeit vom Denken weg hin zum Krper. Mit einemMal scheint dieser dichte Bereich der Urheber des Den-kens zu sein, nach dem wir gesucht haben. Der Krperist das Ich.

  • 8/6/2019 Harrison, Steven - Nichts Tun (Ein Leitfaden Zur Inneren Freiheit)

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    Betrachten wir das genauer. Ist der Krper auf ir-gendeine Weise bestndiger als die Gedanken, mit de-

    nen wir uns eben beschftigt haben? Dieses Jucken unddie Schmerzen des Krpers, das, was auftritt, selbstwenn wir nichts tun, scheint sich von alleine einzustel-len. Diese Empfindungen kommen und gehen, ganzhnlich wie die Gedanken.

    Erkunden wir also den Krper nach seiner Mitte,

    nach dem Ort, wo das Ich in ihm wohnt. Wo steckenwir, wenn wir die Welt um uns herum wahrnehmen?Wo sind wir gerade jetzt?

    Wird diese Frage gestellt, ereignet sich etwas Inte-ressantes. Achten wir darauf, wo genau in uns wir die-se Mitte orten. Und, wenn wir sie einmal gefunden ha-

    ben, wenn wir wissen, wo im Krper wir sind - vonwo aus betrachten wir nun diesen Ort in unserem Kr-per? Und von wo aus beobachten wir wiederum jenenPunkt der Beobachtung? Lsst sich auf diese Weiseirgendetwas Festes und Bestndiges feststellen? Wosteckt der Denker, der Beobachter oder Tter?

    Unsere gesamte Wirklichkeit beruht auf der Annah-me eines Ich, das sich in unserem Krper befindet.Es ist nun wohl an der Zeit, sich mit diesem Ich n-her zu beschftigen.

  • 8/6/2019 Harrison, Steven - Nichts Tun (Ein Leitfaden Zur Inneren Freiheit)

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    Konzentration,Meditation und Raum

    Was ist das Wesen von Meditation, wenn wir sie mitHilfe bestimmter Techniken betreiben?

    Durch die Anwendung von Meditationstechnikengelingt es, die Aktivitt des Geistes zu richten. Ein kon-zentrierter Geist bndelt die Aufmerksamkeit auf ein

    Bild, einen Klang oder einen Gedanken.Solche Bemhungen sind von bescheidenem Wert.

    Wenn es darum geht, hchste Wahrheit zu entdecken,kommt es auf eine Konzentration des Geistes nicht an.

    Indem wir den Geist wieder und wieder zum Ob-jekt der Konzentration zurckfhren, gelingt es, ihn zu

    beruhigen. Wir fhren den Geist zurck zum Atem,zurck zum Mantra oder zurck zu einem inneren Bild.Nun beschftigt sich unser Geist nur noch mit demAtem, nur noch mit dem Mantra, nur noch mit deminneren Bild.

    Das ist nicht Stille, sondern Abstumpfung. Wir sind

    zwar konzentriert, doch wir haben unsere Empfindsam-keit verloren. Wir richten uns dazu ab, teilnahmslos zuwerden, wir hypnotisieren uns selbst und lullen uns inSchlaf, noch bevor wir erwacht sind.

  • 8/6/2019 Harrison, Steven - Nichts Tun (Ein Leitfaden Zur Inneren Freiheit)

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    Wonach streben wir mit der bung der Konzentra-tion? Wovon entfernen wir uns? Was ist die Ursache

    unserer alltglichen Zerstreuung, mit der wir leben undder wir etwas entgegensetzen wollen, indem wir uns soverzweifelt bemhen, uns zu konzentrieren?

    Der Kern der Persnlichkeit bleibt vom konzentrier-ten Geist unangetastet. Das Ich ist nun konzentriertund verdichtet. Wenn sich berhaupt etwas verndert

    hat, so ist das Ich zustzlich befestigt und gestrktworden.

    Das Problem unseres Lebens liegt nicht darin, obwir einen konzentrierten Geist haben oder nicht. Es gehtum die Lsung der Frage, wer oder was aktiv ist, wennwir denken.

    Durch die Anwendung von Meditationstechnikenist es auch mglich, einen Geist zu kultivieren, der be-freit ist von offenkundigem Denken, der glckselig ineinem vernderten Bewusstseinszustand ruht. Doch istein solcher Geist frei von Zerrissenheit und Auseinan-dersetzung? Verschafft uns eine Neustrukturierung des

    Geistes, die wir durch Repetition, Reizentzug oder an-dere geistttende Methoden erreichen, die wahre Frei-heit?

    Wie ist es um ein Wesen bestellt, das so verzweifeltnach Vernderung strebt? Wir versuchen, etwas ande-res zu sein, als wir sind. Worin liegt der erstrebte Zu-

    stand? Ist er neu oder entspricht dieser Zustand, denwir erlangen wollen, einer Beschreibung, die uns nahegelegt wurde und von der man uns glauben gemachthat, sie sei erstrebenswert?

  • 8/6/2019 Harrison, Steven - Nichts Tun (Ein Leitfaden Zur Inneren Freiheit)

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    Unsere grundlegende Unzufriedenheit projiziert ihreigenes Spiegelbild. So erschaffen wir uns eine Art von

    Alter Ego, ein Bild von uns selber, das wir erreichenwollen. Der in sich zerrissene, neurotische menschlicheGeist entwirft ein Bild seiner selbst voller Konzentrati-on und gebndelter Kraft.

    Zwanghaft sitzen wir, um uns zu konzentrieren.Stolz berichten wir anderen von dem, was wir in der

    inneren Arbeit geleistet haben. Das bisschen, das wirdurch einen konzentrierten Geist erlangen, verwendenwir, um andere damit zu beeindrucken. Damit verschaf-fen wir uns Beachtung und Sicherheit. Der Geist istkonzentriert, doch die tiefer liegende Neurose hat sichblo noch ausgeweitet.

    Je weiter man so die Umstrukturierung des Geistesbetreibt, desto weiter dehnen sich Neurosen und Wahn-vorstellungen aus. Selbst einen Gott vermgen wir zuerschaffen und uns selber knnen wir an ihn verlieren.Doch dieser Gott ist das Selbst, der Geist, das Ich,und Frieden gibt es damit nicht.

    Die Methoden, welche wir verwenden, um den Geistzu verndern oder ihn zu konzentrieren, sind ungeeig-net bei der Suche nach dem, was jenseits des Selbst liegt.Sie mgen von Nutzen sein beim Erforschen der Ge-danken, beim Umgang mit Fragen psychologischerNatur und wohl auch im Umgang mit Symptomen von

    krperlichen Leiden. Doch das Selbst ber sich hinaus-zufhren, das vermgen sie nicht.

    Wie steht es mit der Meditation, wenn sie keinerMethode folgt?

  • 8/6/2019 Harrison, Steven - Nichts Tun (Ein Leitfaden Zur Inneren Freiheit)

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    Gelingt es uns, die Aufmerksamkeit jedem beliebi-gen Augenblick zuzuwenden, gleichviel, was der Au-

    genblick fr uns bereithlt? Das ist das Kultivieren ei-ner Aufmerksamkeit, die fortwhrend in den gegenwr-tigen Augenblick fhrt, bis hin zu dem Punkt, von demaus sie zu bestndiger Achtsamkeit wird. Diese Acht-samkeit ohne Kommentar, Unterscheidung oder Beur-teilung wird in mancher spirituellen Praxis als Ziel al-

    ler bungen gelehrt. In Tat und Wahrheit handelt essich aber auch hierbei um einen bestimmten Bewusst-seinszustand, um eine Haltung und einen Standpunkt,die einen Beobachter erfordern, der bewusst ist. Unddieser Beobachter steht eigentlich mit nichts wirklichin Verbindung.

    Der Zustand offenkundiger Achtsamkeit ist eine Artvirtuelle Wirklichkeit. Diese Realitt wird in einemDenken erschaffen, das sich dem anzunhern versucht,was es sich als reines Bewusstsein vorstellt. Wenn wirviel Zeit darauf verwenden, in kahlen Rumen zu sit-zen und achtsam zu sein, tritt eine zombiehafte Qua-

    litt zu Tage. Diese Art von Achtsamkeit ist meist ab-hngig von einer Umgebung, die ruhig gestellt ist oderauf andere Weise unter Kontrolle gehalten wird. Sie lsstdas vermissen, was wir mit dem Begriff Intelligenzumschreiben knnten. Die Abwesenheit von Intelligenzverunmglicht, dass diese so genannte Achtsamkeit sich

    verndert und sie sich den fortwhrend neuen Umstn-den des Lebens anpasst. Solche Achtsamkeit stellt sichnur auf die stets gleiche Weise ein; sie ist abgehoben,distanziert und mit der Welt nicht verbunden.

  • 8/6/2019 Harrison, Steven - Nichts Tun (Ein Leitfaden Zur Inneren Freiheit)

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    Da eine solche Kultivierung von Achtsamkeit sichin einem bestimmten Kontext abspielt - es braucht dazu

    einen Lehrer oder eine spirituelle Richtung, einen me-ditativen oder religisen Rahmen -, wird die Achtsam-keit von diesem Kontext geprgt.

    Viele fhlen sich durch Verfahren der Kultivierungvon Achtsamkeit oder auch durch Verfahren ohneVerfahren angesprochen, weil sie vom Leben berfor-

    dert sind. Das heit, sie haben sich als unfhig erwie-sen, das Leben unter Kontrolle zu bringen, und nunwollen sie dazu auf Distanz gehen.

    Das Problem liegt beim Betrachter, bei dem, derachtsam ist, und nicht etwa bei den Objekten, die be-trachtet werden. Unser Leben ist auer Kontrolle. Was

    geschieht, wenn wir uns vor dieser Tatsache nicht ln-ger verschlieen?

    Es ist von grter Bedeutung, dass wir zum Chaosunseres Seins und unseres Denkens in Verbindung ste-hen. Erst wenn es nichts mehr gibt, das diesen Kontaktin irgendeiner Weise abfedert, wird die Welt fr uns zu

    einem Ganzen. Ist dieser Kontakt einmal hergestellt,ereignet sich blo noch eines.

    Der Schritt in die Ganzheit verndert uns, er istAusdruck eines Wandels.

    Achtsamkeit ist nicht das Ergebnis von irgendetwas.

    Achtsamkeit hat keine Ursache und wir knnen nichtstun, um sie herzustellen.

    Wir haben gesehen, wie beschrnkt in der Medita-tion der Nutzen von Techniken und Nichttechniken ist.

  • 8/6/2019 Harrison, Steven - Nichts Tun (Ein Leitfaden Zur Inneren Freiheit)

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    Wenn wir Meditation und Meditationstechniken bei-seite lassen, was bleibt dann?

    Gedanken kommen und gehen. Achtsamkeit ist da.Der Denkende handelt nicht. Ohne Absicht sitzend,mgen wir in den Bereich eintreten, der zwischen denGedanken liegt, und dort mgen wir unserer wahrenNatur innewerden.

    Das Denken mag versuchen, diesen Raum zu be-

    schreiben. Doch das kann nicht gelingen. In diesemRaum sind keine Gedanken und daher gibt es darinauch kein Ich. Willentlich vermgen wir uns diesemRaum nicht zu nhern. Es gibt keine Technik, keinePhilosophie, keine Anleitung oder Religion, die unsdabei helfen knnte, Stille zu erfahren. Und was wir an

    Hilfsmitteln erwerben, wird uns schlielich in den Wegkommen. Denn wer sucht, steht sich selber im Weg.

    Und dennoch steht uns auch nichts im Weg. Ob-schon das Ich von sich selber meint, etwas Subs-tanzteiles, Festes und Dauerhaftes zu sein, ist ein sol-ches Ich in Tat und Wahrheit nirgends zu finden. Es

    gibt nichts, das die Stille stren wrde, und es gibt nichts,das wir unternehmen knnten, um die Stille zu finden.Sie ist bereits da. Sie wartet darauf, dass wir aufhren,nach ihr zu suchen.

    So viel Energie wird gebunden durch suchen unddanach haschen. Geben wir das doch einfach auf.

  • 8/6/2019 Harrison, Steven - Nichts Tun (Ein Leitfaden Zur Inneren Freiheit)

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    Die Natur des Denkens

    Denken ist das, was sich vor dem Hintergrund der Stil-le auf dem Feld des Bewusstseins ereignet. Gedankenknnen die Form annehmen von dem, was wir Gefhlenennen. Oder sie zeigen sich in der Gestalt von Ideenund Vorstellungen, seien diese holografischer oder sei-

    en sie symbolischer Natur. Unser Denken hat die Kraft,Vergangenheit und Zukunft hervorzubringen.

    Ohne Objekt und Subjekt fehlt dem Denken dieForm. Auch ohne Zeit haben Gedanken keine Form.Eine direkte, unmittelbare Erfahrung zu machen, bleibtdem Denken verwehrt, ebenso wenig vermag es seiner

    selbst bewusst zu werden.Das Denken erzeugt und ist die Wirklichkeit. OhneDenken gibt es keine Wirklichkeit. Doch die gedachteWirklichkeit ist nicht eigentlich, sie ist weder greifbarnoch sonstwie substanziell.

    Was ungetrennt ist, erscheint in unserem Denken

    als getrennt. Das Denken teilt auf und unterscheidetdieses und jenes.Das Denken vermag Einheit nicht zu erfassen, denn

    stets gibt es etwas, das auerhalb seiner Auffassung liegt.

  • 8/6/2019 Harrison, Steven - Nichts Tun (Ein Leitfaden Zur Inneren Freiheit)

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    Die Einheit jedoch umfasst das Denken, denn die Ein-heit umfasst alles und jedes.

    Denken setzt jemand voraus, der denkt. Der Den-kende hat Gedanken. Gedanken mgen betrachtet wer-den, doch der Denkende lsst sich auerhalb des Den-kens nicht betrachten.

    Denken schnrt ein und zieht Grenzen. Bewusstseinist grenzenlos. Denken erfordert Bewusstsein. Doch das

    Bewusstsein ist auf das Denken nicht angewiesen.

  • 8/6/2019 Harrison, Steven - Nichts Tun (Ein Leitfaden Zur Inneren Freiheit)

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    Sprache und Wirklichkeit

    In all den Jahren ihres jungen Lebens hatte Sally nochnicht ein einziges Wort gesprochen. Ihre Mutter hattesmtliche Spezialisten konsultiert, doch keiner vermoch-te Sally zu helfen.

    Als sie eines Morgens beim Frhstck sa, schmiss

    Sally ihren Toast zu Boden und schrie: Der Toast istverbrannt. Sowas ess ich nicht!Sallys Mutter war berwltigt.Sally, du sprichst ja!, sagte sie. Warum hast du

    in all den Jahren nie etwas gesagt?Worauf Sally erklrte: Bis heute Morgen war ja

    auch alles in Ordnung.

    Wer unser Denken und unsere Wirklichkeit verste-hen will, muss das Wesen der menschlichen Spracheverstehen.

    Wenn wir uns vor Augen halten, was fr Wesen

    wir sind, beschreiben wir zugleich die Art, wie wir be-trachten. Um in der Welt zurechtzukommen, versehenwir die Dinge um uns mit Namen. Kinder eignen sichmir den ersten Lernschritten an, dass es einen Unter-

  • 8/6/2019 Harrison, Steven - Nichts Tun (Ein Leitfaden Zur Inneren Freiheit)

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  • 8/6/2019 Harrison, Steven - Nichts Tun (Ein Leitfaden Zur Inneren Freiheit)

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    schied besteht zwischen deinem groen Haus undmeinem kleinen Haus.

    Irgendwo im Verlauf dieser Entwicklung lsen sichSprache und Konzept vom konkret fassbaren, am Ob-jekt orientierten Wort und wechseln auf eine abstrakteEbene. Jetzt wollen wir dein groes Haus, denn wirmgen unser kleines Haus nicht. Mit dem kleinenHaus haben wir ein Problem. Zufrieden werden

    wir erst mit dem groen Haus sein. Sprache liefert dieBeschreibung fr alle diese Objekte und Beziehungen.Wir vergessen, dass es sich hierbei blo um Sprache,Wrter und Gedanken handelt. Wo liegt denn hier ei-gentlich das Problem?

    Wir haben jene Ruhe verloren, die der ununter-

    schiedenen Welt des vorsprachlichen Zustandes nocheigen war.Mit dem Spracherwerb einher geht das Erlernen der

    Beziehung zwischen Ich und Objekt. Es gibt nichts,das benannt wird, ohne jemand, der ihm einen Namenverleiht. Es gibt aber auch keinen, der benennt, ohne

    dass etwas benannt wrde. So wchst die Sprache undvon der Wirklichkeit, welche sie hervorbringt, werdenwir verschlungen.

    Die Identifikation mit der Beziehung zwischen Ichund Objekt ist die Grundlage unserer Wirklichkeitund sie ist der Grund fr unseren Schmerz. Wir mgen

    uns verzehren nach der Ganzheit, die wir erfahren hat-ten, bevor wir uns auf die Sprache einlieen. Doch inder Welt, die wir uns mit Sprache erschaffen haben,vermgen wir die Ganzheit nicht zu finden. Wir kn-

  • 8/6/2019 Harrison, Steven - Nichts Tun (Ein Leitfaden Zur Inneren Freiheit)

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    nen uns der Einheit mit Hilfe der Sprache hchstensnoch annhern. Eher strzen wir uns auf immer neue

    Wrter, als dass wir uns daran machen wrden, die einstzugeschttete Ganzheit der vorsprachlichen Welt frei-zulegen.

    Wir formulieren ausgeklgelte neue Beschreibun-gen von Einheit, wir erschaffen symbolische Ausdrucks-formen fr Einheit und wir legen archetypische Sym-

    bole frei, welche auf Einheit hindeuten. Wir erschaffenPsychologie, Philosophie und Religion. Da wir uns beidieser Suche nach wie vor im Bereich der Sprache be-wegen und wir somit nicht ber die Ich-Objekt-Struk-tur hinauskommen, bleibt uns die vielbeschworeneGanzheit fern.

    Wir stehen vor einem unlsbaren Widerspruch: Wiesoll die Suche nach Erkenntnis je ber sich selbst hi-naus gelangen? Nun begreifen wir, dass es die Sucheselbst ist, die dem Erfassen der Ganzheit im Wege steht,liegt es doch in der Natur der Suche, dass sie die Weltzerteilt.

    Ziehen wir uns hingegen in eine vorsprachliche Weltzurck, so vermgen wir uns der Wirklichkeit der Ich-Objekt-Beziehung zu entziehen. Die Einheit, die wirso erfahren, ist jedoch blo eine scheinbare, denn wirfrchten uns vor der Welt der vielen Dinge und Namenund verschlieen uns vor ihr. Also erschaffen wir uns

    eine subjektive Welt, in der es keine Objekte mehr gibt.Wir handeln nicht mehr. Wir leben zurckgezogen undwerden autistisch. Ein Verleugnen der Welt der vielenDinge und Namen hilft nicht weiter, denn ohne diese

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    Form der Wirklichkeit kann es eine Integration nichtgeben.

    Wir knnen uns mit dieser Frage nur im Rahmender objektiven Wirklichkeit beschftigen. Indem wir unsder Wirklichkeit entziehen, beschneiden wir unsere Frei-heit durch Beziehungsarmut und Angst vor Berhrung.Wirklich leben knnen wir in dieser bedingten Welt nur,wenn in uns eine Intelligenz wirkt, welche die Tren-

    nungen berwindet. Diese Intelligenz muss das Wesenund die Begrenztheit der bedingten Ich-Objekt-Bezie-hung anerkennen und sie muss gleichzeitig mit jenertiefer liegenden Einheit vertraut sein, die deren Ursprungist.

    Die Verbindung der subjektiven mit der objektiven

    Welt umfasst die Ganzheit des Lebens, eines Lebens,mit dem wir verschmolzen sind. Ohne die Beschrnkt-heit eines Wahrnehmenden dehnt sich die Wahrneh-mung aus bis ins Grenzenlose. Einen Wahrnehmendengibt es nur in der bedingten Wirklichkeit, die Wahr-nehmung jedoch ereignet sich in der Einheit.

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    Religion, Symbole und Macht

    Klein Jimmy war am Zeichnen. Seine Mutter wurdedarauf aufmerksam und fragte ihn: Jimmy, was zeich-nest du?

    Ohne aufzublicken entgegnete der Junge: Ich ma-che ein Bild von Gott.

    Aber Jimmy, sagte seine Mutter, es wei dochkeiner, wie Gott aussieht.Warte blo, bis ich fertig bin.

    Was sich unserem Denken entzieht, die Stille, hatkeine Sprache und bleibt uns unbekannt. Was wir nicht

    verstehen, nicht erklren und also nicht kontrollierenknnen, haben wir Menschen nie besonders gemocht.Aus diesem Dilemma heraus sind die Religionen

    entstanden.Mit Religion wurde stets das Unbekannte in Be-

    griffe gefasst, die sich erlernen lassen. Fr Unerklrli-

    ches wurden Symbole beigebracht. Die religise Sym-bolik steckt so tief in unserem Denken, in unserer Kul-tur und in unserer Auffassung vom Wesen des Univer-sums, dass sie innerhalb der religisen Paradigmen nur

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    selten in Frage gestellt wird. Erst fr den, der sie vonauerhalb ihrer Paradigmen betrachtet, verliert die

    Bilderwelt der Religionen ihre zwingende Kraft und ihreunterschwellige Bedeutung.

    Fr Christen ist es unmglich, Gott in einem Ab-bild von Kali zu erkennen. Diese hinduistische Gttinhat von Blut triefende Klauen, um den Hals trgt sieeine Schdelkette und sie tanzt auf einem Leichnam.

    Hindus hingegen ist es nicht mglich, Gott im Abbildeines Mannes zu erkennen, der im Todeskampf blutendan einem Kreuz hngt. Wir vermgen Gott blo zu er-kennen, wenn uns dazu die entsprechende Sichtweisebeigebracht worden ist. Gott ist ein Symbol, das unsanerzogen wird.

    Friedrich Nietzsche stellte die offenkundige Frage:Wie? Ist der Mensch nur ein Fehlgriff Gottes? OderGott nur ein Fehlgriff des Menschen?

    Die wichtigste Funktion der Religionen liegt darin,den Menschen vom Druck der absoluten Todesge-wissheit, dass Familie und Freunde, ja wir selbst ster-

    ben mssen, zu befreien. Religion stellt in Aussicht, dasswir trotz des Todes in irgendeiner Weise fortbestehenwerden. Und - wir mssen blo daran glauben - dasLeben nach dem Tod wird groartig sein.

    Die Wiederholung religiser Rituale beruhigt unsber den Tod in einer Weise, wie kein Trost es vermag.

    Diese enorme berzeugungskraft erwchst daraus, dassdie religisen Rituale in einer ffentlichen Gemeinschaftvollzogen werden. Gruppenrituale strken unser Wohl-befinden, sie verleihen uns ein Gefhl von Verbunden-

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    heit und Sicherheit. Doch ist diese Wirkung etwas Re-elles und vermag sie uns zu transformieren oder steht

    sie nicht eher als Metapher fr eine tiefer liegende Wirk-lichkeit, die noch auf uns wartet? Geben wir uns zu-frieden mit einer mechanischen, gewohnheitsmigenWiederholung von Ritualen, wo eigentlich authentischemystische Erfahrung das ist, was wir tatschlich brau-chen?

    Machen Rituale und Religion schtig? Sind wir vonder Todesangst befreit, haben wir sie erkannt oder ha-ben wir sie blo verschleiert? Wir mssen weiter ge-hen, ber blind ausgefhrte Rituale hinaus, wenn wirdie Todesangst tatschlich ablegen wollen.

    Im Verlaufe der Zeiten ist den Religionen ein wei-

    terer Aufgabenbereich zugefallen: die Kontrolle einerGesellschaft und deren Verhalten. Weil die religiseSymbolik derart tief greift, kommt den Religionen indiesem Bereich eine enorme Macht zu.

    Wenn Gebote zum rechten Lebenswandel erlassenwerden, mag die Ausbildung eines religisen Gewissens

    in einer Gesellschaft den Ausdruck primitiven und de-struktiven Verhaltens zurckbinden. Doch hierin liegtnicht das Problem.

    Das Problem, das uns aus dem religisen Gewissenerwchst, ist die Aufteilung der Welt. Auf der einen Seitesind die Triebe, Wnsche und Aggressionen, und dem

    gegenber steht ein Verhalten, wie es auf Grund einerreligisen Lehre als erstrebenswert gilt. ber dasSchuldbewusstsein diktiert das religise Gewissen un-ser Verhalten. Der Kulturkritiker H. L. Mencken hat

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    vom Gewissen gesprochen als einer inneren Stimme,die uns davor warnt, es knnte uns einer zusehen.

    Wir haben uns selbst aufgespalten: Die gute Per-son ist unser religises Verhalten, das sich in der f-fentlichkeit zeigen lsst. Die schlechte Person musssich versteckt halten und nur verstohlen wagt sie es,sich zu zeigen.

    Eine uerlich sichtbare Frucht des religisen Ge-

    wissens und des entsprechenden Verhaltens erkennenwir im Streit der Religionen untereinander. Wenn reli-gises Verhalten schlielich im Ausdruck von morali-scher Rechtschaffenheit liegt, knnen andere Formenvon Religion bestenfalls nur Verirrungen sein. Schlimm-stenfalls erwachsen aus den Differenzen zwischen den

    Religionen die Grnde fr Bigotterie, Gewalt und Krieg.Die moralische Kraft religiser Bekenntnisse schlgtuns in ihren Bann, weil uns hier mit soviel paterna-listischer Gewissheit gesagt wird, wie wir uns zu ver-halten haben. Die Gewissheit darber, was zu tun ist,bringt auch die Gewissheit mit sich, was zu unterlassen

    ist. Einander gegenbergestellt, kann die absoluteGewissheit, die in zwei verschiedenen Religionenherrscht, nur zu Streit fhren. Einer von beiden mussim Unrecht sein und dieser eine ist stets der andere.

    Die amerikanischen Quker haben in ihrer unnach-

    ahmlich geradlinigen, schlichten Art hierfr einen gu-ten Satz gefunden: Die ganze Welt ist verrckt, auerich und du. Und manchmal denke ich, eigentlich bistauch du nicht ganz bei Trost.

  • 8/6/2019 Harrison, Steven - Nichts Tun (Ein Leitfaden Zur Inneren Freiheit)

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    Die Kontrolle ber eine Gesellschaft durch dieSteuerung ihres Verhaltens ist das Mittel, mit dem Re-

    ligionen ihre Macht ausben. Und, wie das mit Machteben so ist, gibt es eine Kaste, welche ber die Machtverfgt: die Priesterschaft.

    Die Priester sind die Ausleger der Gesetze, sie sinddie Vertreter Gottes auf Erden. Sie sprechen im Namender Stille und von da aus beginnt die Verwirrung. Denn

    die Stille braucht keinen, der in ihrem Namen spricht.Es liegt in der Natur von Religionen, dass durch siedie Welt stets gespalten wird. Dass im Namen von Re-ligionen Kriege ausgetragen wurden und werden, ist einabstoender Witz. Uns im Westen hat die Religion dasKonzept beschert von Snde und Hlle, im Osten sorg-

    ten Religionen fr das Hinnehmen von Armut und Un-gerechtigkeit. Als eine Grundlage von menschlicherKultur wirkt Religion durch die Kraft der Spaltung.

    Und doch ist Religion Ausdruck von etwas Bedeu-tendem, das uns allen eigen ist. Sie ist der exoterischeAusdruck einer Kraft, die in uns verborgen liegt. Doch

    was sie von dieser Kraft erahnen lsst, ist blo derenAnfang.

    Warum suchen wir uns zu trsten mit ueremWissen, ohne nach der erhabenen Verwirklichung imInneren zu streben? Ohne unmittelbare eigene Erfah-rung bleiben die Rituale der Religion der unbewusste

    Abklatsch eines kollektiven, im Verlauf der Geschichtezurechtgestutzten Wissens. Rituale transportieren die-ses Wissen in die Gegenwart. Durch die Rahmenbedin-gungen einer bestimmten Religion erfahren wir wieder

  • 8/6/2019 Harrison, Steven - Nichts Tun (Ein Leitfaden Zur Inneren Freiheit)

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    und wieder die Qualitten, mit denen sie sich im Ver-laufe der Geschichte verbunden hat. Diese Wiederho-

    lung versorgt uns mit Gefhlen von Zugehrigkeit undSicherheit.Die organisierten Formen der exoterischen Religio-

    nen haben uns nicht mehr zu bieten als Wiederholun-gen ihrer historisch erworbenen, ritualisierten Qualit-ten - auer wir gehen tiefer.

    Ein bedeutender Rabbi starb und hinterlie seinemSohn die Verpflichtung, sein geistiges Werk fortzufh-ren.

    Der Sohn war auf seine Art ein groartiger Mann,unabhngig vom Vater. Doch dem Beruf eines Rabbi

    ging er auf vllig andere Weise nach als sein Vater.Leute, die sich an die Art des Vaters gewhnt hat-

    ten, kamen zum Sohn. Sie beschwerten sich: Was dutust, ist nicht dasselbe wie dein Vater.

    Der Sohn entgegnete: Und ob ich das tue. MeinVater versuchte, nie einen anderen zu kopieren, und

    ich halte es ebenso.

    Am Anfang einer Religion steht nicht das Ritual,sondern einer, der die Rituale durchbricht und so zueinem unmittelbaren Kontakt mit dem Transzendentenvorstt. Solche Menschen sind selber keine Anhnger

    von Religionen. Sie sind Entdecker und leben, was siegefunden haben. Moses, Jesus, Buddha, Laotse undMohammed, sie alle haben sich an nichts anderes ge-halten als an den Ausdruck ihrer direkten Verbindung

  • 8/6/2019 Harrison, Steven - Nichts Tun (Ein Leitfaden Zur Inneren Freiheit)

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    zur Unmittelbarkeit des Lebens. Indem wir ihnen fol-gen, hoffen wir, zu unserer eigenen unmittelbaren Ver-

    bindung zum Leben zu finden. Tatschlich halten wiruns blo an die Rituale, welche an Stelle der mythi-schen Figuren geblieben sind, und wir bekrftigen einereligise Hierarchie, welche ber diese Rituale verfgt.

    Ein Mann besteigt einen Zug nach Delhi und setzt

    sich einem Swami gegenber. Whrend der Fahrt er-geht sich der Heilige in allerlei Anrufungen. Er greift ineinen Beutel und wirft eine Handvoll Staub in die Luft.Unfhig, seine Neugier lnger zu verhehlen, erkundigtsich der Reisende beim Swami nach dessen Treiben.

    Ich beschtze diesen Zug vor Tigern. Was ich hier

    ausstreue, ist meine Spezialmischung von Tigerstaub,erklrt der Swami.Aber, wendet der Reisende ein, im Umfeld von

    tausend Meilen gibt es hier doch gar keine Tiger.Darauf der Swami: Da knnen Sie mal sehen, wie

    stark mein Tigerstaub wirkt.

    Der interessanteste Aspekt einer Religion ist ihrRitualwesen. Eine jede Religion stellt in Aussicht, dieAnwendung einer vorgegebenen Methode, das Ausfh-ren bestimmter Rituale und das Einhalten von bestimm-ten Gebruchen werde einem einen Platz im Himmel

    sicherstellen, eine Begegnung mit Gott bescheren, dieErleuchtung verschaffen, oder welche Art von Heilsge-wissheit die jeweilige Religion gerade in ihrem Pro-gramm hat.

  • 8/6/2019 Harrison, Steven - Nichts Tun (Ein Leitfaden Zur Inneren Freiheit)

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    Der religis rituelle Geist ist ein fester Bestandteilder menschlichen Psyche. Religion ist keine Erfindungdes Denkens. Sie ist dessen urtmlicher Ausdruck.

    Das Denken findet sich einer Gre gegenber, ei-ner umfassenden Energie, die es weder kontrollierennoch verstehen kann, noch vermag es sie zu begreifen.Ist das einmal eingestanden, wird das Denken verstum-men.

    Oder aber der menschliche Geist sucht nach Mu-stern, durch die sich eine Beziehung herstellen lsstzwischen dem vom Denken gesteuerten Verhalten undder Welt, die es umgibt. Das ist der Geist hinter demRitual und zugleich die Grundlage fr Persnlichkeitund Verhalten. Der religise Geist glaubt, mit seinem

    Handeln die Umgebung beeinflussen zu knnen.Die Wahrheit enthllt sich dem schweigenden Geist.Das Handeln und die Welt, die es zu beeinflussen sucht,sind ein und derselbe Gedanke. Ohne die Illusion einesDenkenden steht der Gedanke schutzlos da. Mit Reli-gion und Ritual ist es dann vorbei.

    Die Welt lsst sich nicht aufteilen in Denkender undGedanke. Das Denken vermag mit rituellen Handlun-gen die Welt nicht zu beeinflussen. Wenn dieses Kon-strukt in sich zusammenbricht, bleibt nichts als die eineRealitt und diese wird sichtbar. Dem Denken ist eineunwillkrliche Bewegung eigen, es projiziert eine Per-

    son, die denkt, es projiziert Handlungen, eine Welt, diebeeinflusst werden soll und einen Gott, dem es zu ge-horchen gilt. Das ist die ganze Wirklichkeit. Wirklich-keit ist Denken.

  • 8/6/2019 Harrison, Steven - Nichts Tun (Ein Leitfaden Zur Inneren Freiheit)

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    Einem religis gestimmten Menschen fllt es schwer,den Kern von Religion unverstellt zu betrachten. Wieknnte auch im Bereich des Glaubens die Frage Wasist Religion? nchtern errtert werden, ohne entspre-chende Reaktionen hervorzurufen? Vermag sich Glau-be auf diese Frage einzulassen oder hat der Glubige esntig, seine Strukturen zu verteidigen und sich der Per-son des Fragenden zuzuwenden?

    Der Glaube, von dem wir hier sprechen, grndetnicht auf Wissen, vielmehr handelt es sich um blindenGlauben. Wenn wir daran glauben, dass die Sonne imOsten aufgeht, so haben wir kein Problem damit, wennunser Glaube in Frage gestellt wird, denn unser Glaubegrndet auf Wahrheit. Doch wenn wir glauben, dieSonne gehe im Westen auf, so bringt ein Infragestellendieser Aussage auch alles weitere, das darum herumerrichtet wurde, ins Wanken. Eine solche Herausforde-rung seines gesamten Glaubensgebudes hlt derMensch nicht aus und darum grenzt er sich davon ab,bestreitet und vermeidet sie. Reaktion kennt keineSelbstwahrnehmung. Sie ist sich selbst genug und be-darf keiner weiteren Daseinsberechtigung. Die Reakti-on bezeichnet sich selbst als Glaube und sagt: Ichglaube daran, dass die Sonne im Westen aufgeht.

    Ein einziges Mal hinschauen wrde gengen. Eswrde enthllen, dass die Sonne nicht im Westen auf-

    geht. Wie msste ein Argument beschaffen sein, um diezu erreichen, die glauben, die Sonne gehe im Westen auf?

    Vielleicht ist alles, was wir sagen knnen: Schauselber. Die Sonne geht auf.

  • 8/6/2019 Harrison, Steven - Nichts Tun (Ein Leitfaden Zur Inneren Freiheit)

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    Unzweifelhaft beweisen lsst sich Glaube nie. Wohllsst er sich reaktiv verteidigen oder durch Erziehungbestrken. Durch Zwang lsst sich ein Glaube ausbrei-ten. Doch ob er wahr ist oder falsch, das kann ein Glau-be von sich nie wissen. Denn nie wrde ein Glaube dasRisiko auf sich nehmen, herauszufinden, was er ist,nmlich falsch.

    Die ihnen eigene Unsicherheit ist der Grund, wa-

    rum Religionen so zerstrerisch sind und warum sie imVerlaufe der Geschichte stets bedeutende Herde vonStreit und Auseinandersetzung waren.

    Einsicht und Vertrauen sind das, was aus einemGlauben erwchst, der die Gre hat, sich selber inFrage zu stellen und seine Inhalte in Frage stellen zu

    lassen. Wo Glauben durch das Feuer nchterner Unter-suchung geht, werden Unreinheiten verbrannt. brigbleiben Einsicht und Vertrauen.

    Einsicht und Vertrauen verbergen sich nicht vorFragen oder Herausforderungen, andere brauchen dazunicht berzeugt zu werden. Wissendes Vertrauen lsst

    sich nicht beschrnken, es ist der Nhrboden, dem dierelative Welt des Glaubens entspringt.

    Einsicht und Vertrauen sind das, was brig bleibt,wenn alles, was wegfallen kann, weggefallen ist. Zuwas wir auf diese Weise finden, ist nicht ein Glaube andas Gttliche. Wir finden zum Gttlichen selbst.

    Gelangen wir dahin, indem wir unseren Glaubenin Frage stellen? Das einzige, was wir erreichen wer-den, wenn wir unseren Glauben in Frage stellen, ist einegroe Erschpfung. Hier geht es nicht darum, einen

  • 8/6/2019 Harrison, Steven - Nichts Tun (Ein Leitfaden Zur Inneren Freiheit)

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    neuen Glauben zu propagieren, der darauf grndet,andere Formen von Glauben in Frage zu stellen.

    Es gibt keinen automatischen Ablauf, keinen Wegvon Glaube zu Erkenntnis und Vertrauen in zehn leich-ten Schritten. Es ist auch nicht der intellektuelle Prozesseiner systematischen Untersuchung.

    Einsicht und Vertrauen knnen nicht verloren ge-hen. Also brauchen wir auch nicht nach ihnen zu su-

    chen.

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  • 8/6/2019 Harrison, Steven - Nichts Tun (Ein Leitfaden Zur Inneren Freiheit)

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    Die Krise des Wandels

    Eine Krise ist Widerstand vor Wandel und Vernderung.Steter Wandel ist das Wesen unseres Daseins. Denken,das sich in einem Ich verkrpert, ist statisch; demLeben vermag es sich immer nur anzunhern. DochWandel ist Bewegung; er ist dynamisch und somit eineBedrohung fr die Vorherrschaft des Denkens. DerWandel widerspricht dem Denken und dessen Mitte,dem Ich.

    Ist es uns mglich, Wandel und Vernderung will-kommen zu heien und zu verstehen, dass sie uns ausdem endlosen Kreisen des Denkens und aus unseren

    Verhaltensmustern befreien?Wandel ist der einzig mgliche Ausweg aus demSelbst. Wenn wir ihn nicht begren und annehmen,erfahren wir das Erwachen unseres wahren Wesens nichtals Vernderung, sondern als Krise. Ohne dieses An-nehmen hocken wir auf nichts als Widerstand und Re-aktionen.

    Die Dominanz des Denkens ist derart mchtig, dasssich um Reaktion und Widerstand herum so etwas wieein Ich-Zentrum bildet. Selbst wenn der Geist nicht

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    mehr lnger seine Funktionen erfllt und die Gesund-heit des Krpers zusammenbricht, wird er diese Mitterund um das Ich nicht loslassen.

    Auf dem Tiefpunkt des Zusammenbruchs werdenwir einen Handel versuchen: Wenn uns gestattet wirdzu berleben, wenn wir durchkommen, soll alles an-ders werden. Wir geloben, uns zu bessern. Wir nehmenuns vor, in Zukunft anstndiger und aufrichtiger zu sein.

    Dieser Pakt wird nicht mit dem Teufel geschlossen.Wir schlieen den Pakt mit uns selber. Wir haben unsdiese Krise eingebrockt und wir werden deren Endeaushandeln. Doch wenn es wieder aufwrts geht, wer-den wir weiterfahren wie zuvor. Wir werden uns nichtndern, weil wir uns nicht ndern knnen.

    Wir sind eine Kette unbeweglicher, stets wiederhol-ter Gewohnheiten - eine nicht enden wollende Repeti-tion des Gedankens Ich bin.

    Wandel ist Bewegung. Wir sind unbewegt. Wir kn-nen uns nicht verndern. Gegen Vernderung knnenwir uns nur struben. Wir struben uns vor Angst.

    Wir versuchen, unser Leben, unsere Beziehungen,unsere Arbeit und unsere Familien so zu gestalten, dassalles vorhersehbar und kontrollierbar wird. Und fort-whrend entdecken wir, dass das unmglich ist. Dage-gen kmpfen wir an, mehr und mehr. Die Feststellung,dass es unmglich ist, das Leben zu kontrollieren, wird

    zur wachsenden Dauerkrise.Dennoch mhen wir uns ab, den Wandel unterKontrolle zu bekommen. Was bewegt ist und frei, wasspontan entsteht und vergeht und unbestndig ist, wol-

  • 8/6/2019 Harrison, Steven - Nichts Tun (Ein Leitfaden Zur Inneren Freiheit)

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    len wir als etwas Festes in der Hand halten und kon-trollieren. So ist das Leben aber nicht.

    Dieses Streben in unserer Mitte wird angetriebenvon Angst, und wovon wir uns am meisten frchten,ist die Auflsung ebendieser Angst. In Tat und Wahr-heit gibt es nichts zu befrchten, denn da gibt es nichts,was aufhren knnte zu sein. Die Krise ist vorbei. Sieist ausgestanden, denn da ist nichts, dem man sich ent-

    gegenstellen knnte. Wandel ist das freie Flieen vonEnergie ohne Hindernis. Er ist der Klang des Lebensselbst.

    Der Wandel pulst in uns, er erfllt unsere Gewohn-heiten, unseren Widerstand und unser Verleugnen.Wandel ist die Wahrheit des Lebens.

    Diese Wahrheit knnen wir unmittelbar erfahren,dazu sind wir weder auf Hilfe noch Vermittlung ange-wiesen. Da gibt es nichts, aber auch gar nichts, das gleichbliebe und dem Gesetz des Wandels nicht unterworfenwre.

    Ein Gedanke tritt auf und vergeht. Jedes Gebilde,

    das sich auf Grund unseres Denkens ergibt - unsereKrper, unsere Familien, unsere Arbeit und unsere Ge-sellschaft -, verndert sich, sobald es existiert. DiesenWandel vermgen wir nicht aufzuhalten.

    Lsst sich denn irgendetwas finden, das dem Wan-del nicht unterworfen wre?

    Blo das Denken meint, es sei davon ausgenom-men. Dem Denken ist es nicht mglich, das Dahin-schwinden der Wirklichkeit zu erfassen, denn das Den-ken ist Wirklichkeit. Ein Einblick in seine eigene wahre

  • 8/6/2019 Harrison, Steven - Nichts Tun (Ein Leitfaden Zur Inneren Freiheit)

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    Natur ist dem Denken nicht mglich und bleibt ihmverwehrt.

    Die Identifikation mit diesem blinden Fleck desGeistes, mit unserer fixen Vorstellung, das Leben ms-se kontrolliert werden, bedeutet, dass wir die Verbin-dung zum Wandel verloren haben. Das heit, wir ha-ben keine Verbindung mehr zu unserer eigenen Natur.

    Wandel ist Freiheit. Er ist das Ende von Anhaftung

    und er ist das Ende von Angst. Da gibt es nichts, wasuns im Weg stnde. Nie hat es so etwas berhaupt jegegeben.

  • 8/6/2019 Harrison, Steven - Nichts Tun (Ein Leitfaden Zur Inneren Freiheit)

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    Reaktion, Projektionund Wahnsinn

    Die Struktur des Denkens ist zu einem derart komple-xen Gebilde angewachsen, dass ihr selbst die leistungs-fhigsten Computer nicht beikommen. Weil unser Denk-apparat so vielschichtig und rasant funktioniert, scheinter etwas Festes, Bestndiges und Greifbares zu sein. Das

    Denken ist zu einer Sache geworden, die sich auf sichselbst bezieht und die gleichberechtigt neben zu verar-beitende Wahrnehmungen, Ideen und Gefhle tritt.

    Die Vorstellung, da sei etwas Festes, wird vom Den-ken in die wahrgenommene Welt projiziert und schlie-lich werden unsere eigenen Gedankensplitter zur Welt

    selbst.Die Gedanken, die wir fortwhrend projizieren,

    bilden die Welt, in der wir uns befinden. Entsprechendverhlt sich die Welt gem den Vorgaben unseres-Geistes, denn die Welt ist unser Geist.

    Der Geist besteht nicht blo aus den Gedanken,

    deren wir uns bewusst sind und mit denen wir uns iden-tifizieren. Der Geist ist auch das Unbewusste und dasKollektive, das Historische und Genetische - die Ge-samtheit dessen, was die Menschheit bestimmt.

  • 8/6/2019 Harrison, Steven - Nichts Tun (Ein Leitfaden Zur Inneren Freiheit)

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    Wenn wir einen Mann oder eine Frau erblicken, sotun wir es mit den Augen eines Affen, eines Jgers und

    Sammlers, eines ungebildeten Leibeigenen, eines Arbei-ters in den neu erstandenen Fabriken der industriellenRevolution und mit den Augen eines politisch korrektdenkenden Brgers des zwanzigsten Jahrhunderts. Je-des dieser Augenpaare sind unsere Augen. Wir blickendurch die Brillen von Geschichte, Erinnerung und Pr-gung.

    Unsere Erziehung, unsere Kultur und unsere Spra-che sind aus dem Denken und der berlieferung einerMenschheitsgeschichte hervorgegangen, die sich berJahrtausende erstreckt. Unser biologisches Erbe undunsere genetische Ausstattung beruhen auf den Erfah-

    rungen unzhliger Jahrtausende vor uns.Diese Anhufung von Wissen, Information undberlieferung wird in einem zunehmend hektischenDenkprozess verarbeitet. Auerhalb unseres kollekti-ven Netzes von Gedanken gibt es keine solchen Begrif-fe wie Christen, Juden oder Muslime, es gibt weder

    Mann noch Frau, noch gibt es eine weie, schwarze,gelbe oder braune Rasse.

    Die Gesamtheit dessen, was wir denken, ist dieGesamtheit dessen, was wir als die Welt wahrnehmen.Auerhalb des Denkens nehmen wir keine Welt wahr,denn unser Geist ist ruhelos, und es gibt nicht einen

    einzigen Augenblick, in dem wir uns auerhalb des Den-kens befnden.

    Die Bewegung des Denkens ist die Bewegung derWirklichkeit.

  • 8/6/2019 Harrison, Steven - Nichts Tun (Ein Leitfaden Zur Inneren Freiheit)

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    Bei der Projektion des Denkens entsteht die umfas-sende Vorstellung, dass es einerseits jemand gibt, der

    denkt, andererseits eine Welt auerhalb dieses Denken-den und schlielich eine Beziehung zwischen diesenbeiden Gren. Tatschlich gibt es eine solche Bezie-hung zwischen Denkendem und der Welt einzig in un-serer Vorstellung. Unsere Vorstellung trennt ein unge-teiltes Universum auf in einzelne Teilbereiche. Auer-

    halb des Denkens gibt es eine solche Aufteilung jedochnicht.

    Weil Denkwirklichkeit und projizierte Welt in ih-rer Gesamtheit derart komplex geworden sind, sind wirzur Ansicht gekommen, es handle sich um die Wirk-lichkeit selbst. Daran glauben wir so sehr, dass, wenn

    es zu einer Herausforderung kommt und die Denk-wirklichkeit ins Wanken gert, wir automatisch in eineAbwehrreaktion flchten.

    Diese Reaktion dient dem Schutz der Denk-wirklichkeit und damit verbunden dem Schutz desIch, jede Herausforderung wird abgewehrt. Dies ge-

    schieht ganz einfach, indem wir ein an sich unteilbarganzes Universum sogleich wieder aufteilen und dieWerte, welche in Frage gestellt werden, nach auenprojizieren.

    Wird uns das vor Augen gehalten, klagen wir an.Werden wir angegriffen, gehen wir zum Gegenangriff

    ber. Werden wir in Frage gestellt, so verteidigen wiruns.

    Indem wir andere anklagen, wendet sich das Au-genmerk vom Ich weg auf andere. Nie wrde es uns

  • 8/6/2019 Harrison, Steven - Nichts Tun (Ein Leitfaden Zur Inneren Freiheit)

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    in den Sinn kommen, die Verantwortung zu berneh-men. Unsere Welt, die Welt des Ichs, ist gezwunge-

    nermaen eine Welt der Trennungen. Und so gelingt esuns, stets etwas auerhalb von uns zu finden, das ver-antwortlich sein soll.

    bernehmen wir hingegen die Verantwortung frunser Leben als Ganzes, so gibt es nichts mehr, dem wirdie Schuld zuschieben knnen. Mit einem Mal finden

    wir uns in einem rundum neuen Universum wieder.Darin ist kein Ort mehr, wo wir uns verstecken knn-ten.

    Was uns an anderen am meisten strt, ist das, wo-mit wir in uns selber noch nicht abgeschlossen haben.Von einer psychologischen Warte aus besehen, lsst sich

    das unschwer feststellen. Auch im Alltag lsst sich dasstndig beobachten.

    Dieser andere, der uns strt, und dieses Selbst, dassich stren lsst, sind nicht zwei verschiedene Gren,sondern ein und dasselbe. Die Strung und der an-dere sind beides Projektionen des eigenen Denkens.

    Statt dass dieses Denken in sich zur Ruhe kme und anein Ende gelangte, teilt sich das Denken fortwhrendweiter auf. Das aufgeteilte, projizierte Selbst ist die er-schaffene Welt, in der ein Ich existiert. Dieses Ichwird gestrt. Es wird gestrt durch andere.

    Vielleicht lsst sich dieses Dilemma beilegen durch

    eine neue Art von Gedankenfragment, die wir hier ein-mal Lsung nennen wollen. Wir schaffen uns alsoein Problem, eine Strung, einen Konflikt und darberbreiten wir eine neue Vorstellung aus: die Lsung. Doch

  • 8/6/2019 Harrison, Steven - Nichts Tun (Ein Leitfaden Zur Inneren Freiheit)

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    eine Lsung fr unser Selbst ist das nicht; wir leidennun blo an einer noch komplexeren Form von

    Schmerz.So verluft der hochgradig komplexe Tanz derGedankenwirklichkeit, er bewegt sich von Augenblickzu Augenblick vor dem Hintergrund von Leere, Ganz-heit und Stille. Dieser Tanz wird durch unsere Trg-heit, unser Getriebensein und durch unsere Gewohn-

    heiten aufrechterhalten. Dieses manische Zerteilen undBilden von Reaktionen kann zu einem Zustand zuneh-mender Krperlosigkeit fhren. Unsere Antriebskraftund das, womit wir uns identifizieren, werden zu reingeistigen Gren, abgetrennt von jeder Krperlichkeitund losgelst von jeder Wahrnehmung unserer gegen-seitigen Verbundenheit.

    Es ist der reine Wahnsinn. Das Denken hat unsentleibt. Innerhalb der eigenen Projektionen bestreitetes ein Leben aus sich selbst. Dieser Wahnsinn gilt in derheutigen Welt als Normalitt.

    Wenn diese Art von Wahnsinn normal ist, was ist

    dann Normalitt?Wenn wir merken, wie sehr die Welt aufgespaltenwird durch die Identifikation mit dem Denken unddurch die Projektion von Gedanken, was geschieht dannmit uns? Werden wir befreit und fhlen wir uns aufge-hoben in dieser Einsicht oder ereignet sich etwas ande-

    res?Das Verstehen der wahren Natur des Denkens er-

    eignet sich als pltzliche Einsicht, die geschieht ohneein bestimmtes Umfeld oder Ursache. Die Einsicht mag

  • 8/6/2019 Harrison, Steven - Nichts Tun (Ein Leitfaden Zur Inneren Freiheit)

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    im Zusammenhang mit einer Krise oder mit existenzi-ellen Erschtterungen auftreten, nach einem unerwar-

    teten Tod oder Verlust. Diese Einsicht rttelt derart amgewohnten Blickwinkel, dass wir darber vllig aus demGleichgewicht geraten. Womglich verlieren wir denSinn fr Festigkeit, vielleicht ben wir unser Gefhlvon Zentriertheit ein und finden den Standpunkt desBeobachters nicht wieder.

    Wer sind wir dann? Wie funktionieren wir? Wieverhalten wir uns? Wenn uns das aus der Bahn wirft,wo stecken wir sonst? Gibt es uns berhaupt?