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Leseprobe Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung der Texte und Bilder, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und straf bar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen. © Diogenes Verlag AG www.diogenes.ch Diogenes

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Lukas Hartmann

So einelange Nase

Roman

Diogenes

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Die Originalausgabe erschien 1994 im Verlag Nagel & Kimche AG, Zürich /Frauenfeld

Glossar am Schluss des BandesUmschlagfoto (Ausschnitt):

Copyright © MM Productions/Corbis/Specter

Für Jonas

Alle Rechte vorbehalten Copyright © 2010

Diogenes Verlag AG Zürichwww.diogenes.ch

40 /10 /52 /1isbn 978 3 257 01148 7

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Eigentlich heiße ich Peter, aber alle sagen Pit zu mir. Fragt nicht warum. Die Emse be hauptet,

ich hätte, als ich klein war, mit dem Finger auf michgezeigt und mich selber so ge nannt. Ich glaube aber,dass Lena mir den Na men angehängt hat. Lena wirdin allen Kapiteln vorkommen, dafür kann ich nichts,sie ist näm lich meine Schwester und zwei Jahre älterals ich. Unsere Eltern haben wir mal auf Geheim -namen getau∫. Der Vater, der uns immer über dieBrille anschielt, heißt Briller, und die Mutter heißtEmse, weil sie so emsig tut. Der Briller ist ein Büro-mensch, die Emse ist eine Familienfrau, und amDonnerstagnachmittag verkau∫ sie Tee im Dritte-weltladen, weil sie ⁄ndet, man müsse für die Ge-rechtigkeit kämpfen. Wir wohnen ganz oben imBlock. Vom Balkon aus kann man direkt auf denSandkasten hinunterspucken, ich tu’s aber nie, Eh-renwort. Manchmal schnü∑eln Lena und die Emsein meinen Sachen, deshalb verstecke ich meine Tor-hüter-Handschuhe un ter den Pullovern im Schrank.Und bevor die ganze Geschichte an⁄ng, versteckte

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ich auch meine Stoppuhr dort. Die Stoppuhr hatmei nem Großvater gehört, und ich habe sie von ihmgeerbt. Jetzt habe ich sie nicht mehr, und ich erzählespäter warum. Die Stoppuhr war ziemlich altmo-disch, sie hatte ein großes Zi∑er blatt und zwei klei-nere innendrin und fünf Zei ger im Ganzen. Mankonnte die Zeit nur auf ei ne Zehntelsekunde genauablesen, aber das war mir egal.

Die Idee, im Herbst auf diese griechische Insel zu¬iegen, hatte natürlich der Briller. Es war ei neExtra-Aktion vom Reisebüro, Kinder unter zwölfgratis. »He, Leute«, sagte er, »wir verlän gern denSommer, ist doch toll!« Lena und ich wären lieberim Juli hinge¬ogen, wie die andern Kinder auch,aber im Sommer will der Briller nie, da hat’s ihm zuviele Leute am Strand. Auch die Emse war gegen dieInsel, im Herbst will sie lieber in die Berge wegendem klaren Licht. Doch wenn sie dagegen ist, ist derBriller erst recht dafür. Er warf die Flugscheine aufden Bo den und schrie: »Flieg doch, wohin du willst,meinetwegen aufs Dach!« Die Emse sagte: »Niehast du Verständnis für mich.« Der Briller schrie:»Und wer sorgt hier für die Kohle, wer?« Ich hörteihnen vom Bett aus zu. Die Emse weinte ein biss -chen, aber zuletzt gab sie nach, vielleicht weil sieschneller heiser wird als er. Bei Lena und mir ist’sanders, sie beißt und knei∫, wenn wir uns streiten,

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einmal hat sie mir sogar ein Büschel Haare ausge-rissen, da hat die Emse sie zur Strafe ins Zimmer ge-sperrt, und das ⁄n de ich gerecht.

Am Samstag ging’s dann los. Wir durften ein halbes Kilogramm Spielsachen mitnehmen, mehrnicht, und das wurde auf der Küchenwaa ge abgewo-gen, denn der Briller will, dass wir uns einschränkenlernen; nur er selber schränkt sich beim Schokola-denessen nicht ein. Ich habe lauter kleine Dinge eingepackt, den aufblasba ren Wasserball, ein Kar-tenspiel, Farbsti∫e, mein Taschenmesser. Mit denSchwimm¬ügeln hatten wir schon fast Überge-wicht. Der Briller sagte, sie dienen in erster Liniedem Vergnügen, und des halb zählte er sie zu denSpielsachen. Er hätte mir auch die Stoppuhr verbo-ten, aber ich häng te sie mir heimlich um den Halsund versteckte sie unter dem T-Shirt. Der Brillermerkte es erst im Flugzeug, und da war’s zu spät,mich zurück zuschicken.

Im Flugzeug trank ich drei Becher Orangensa∫.Es war ein Charter¬ug, und da servieren sie nur Ge-tränke. Lena und ich wechselten jede Viertel stundeab mit dem Fensterplatz, und wenn ich am Fenstersaß, schaute ich hinunter auf die Zuckerwattewol-ken, über die wir ¬ogen. Früher habe ich geglaubt,der Großvater sei ein Engel geworden und sitze aufeiner solchen Wolke; aber das ist eine der Lügen, mit

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denen sie uns trösten. Von oben war alles leer undweiß, und das war der endgültige Beweis. Der Bril-ler trank Randensa∫; wenn wir verreisen, nimmt erimmer Randensa∫ in Fläschchen mit, weil es nichtsGesünderes gibt und man sich in den Fe rien vor Ansteckung schützen muss. Vom Ran densa∫ be-kommt er rote Lippen, und wenn er sie abzuwischenvergisst, sieht er aus wie Dracu la. Plötzlich sah ichweit unten das Meer, genau wie auf Plakaten, blauund riesig, und Lena rief: »Das Meer!« Wie wennich zu dumm wäre, es selber zu sehen.

Nach 1 h 45 min 34,2 sec landeten wir auf Kretaund fuhren im Taxi zum Hafen. Ich kann mit mei-ner Stoppuhr gleichzeitig zwei verschiedene Hand-lungen messen. Zum Beispiel haben sich die Elternauf dem Schi∑ während 13 min 26,0 sec gestritten,und Lena war es während 56 min 17,6 sec schlechtvom Schaukeln. Die meisten Zeiten habe ich in mei-nem Notizhe∫ aufgeschrieben; deshalb weiß ichheute noch so genau Bescheid.

Wir fuhren auf der Insel mit dem vw-Bus zumFeriendorf und bekamen den fünften Bunga low,von links gezählt. Der Bungalow lag direkt an derBucht. Bis zum Restaurant, wo wir früh stücktenund zu Abend aßen, waren es zweihundertzwölfSchritte, und ich bin die Strecke ein mal in 31,6 secgerannt; da rannte ich so schnell ich konnte, und

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dem Briller gelang es nicht, mich einzuholen, so-sehr er sich auch anstreng te.

Lena und ich mussten miteinander ein Zimmerteilen, und zwar das kleinste. Wir sind an eigeneZimmer gewöhnt, und das Teilen war nicht leichtfür uns. Lena sagte, dass ich dauernd mei ne drecki-gen Schuhe auf ihre Seite stellen oder Sand auf ihrBett streuen würde, was gelogen ist. Sie hingegenwollte nachts immer noch le sen, ihre Glühbirnehatte keinen Schirm und blendete mich, und ichkonnte deswegen nicht einschlafen. Noch schlim-mer war, dass sie mitten in der Nacht aufstand, umpinkeln zu gehen, und dabei jedes Mal an mein Bettstieß und mich weckte. Die ersten zwei Tage schrienwir uns dauernd an, und dann spannten wir einenFa den quer durchs Zimmer, links vom Faden warmeine Häl∫e, rechts davon war ihre, und wer ihnversehentlich zerriss, musste ihn neu span nen; werdie andere Häl∫e betrat, musste erst um Erlaubnisfragen. Vor die Glühbirne stellten wir einen Stuhl,und über die Lehne hängten wir ein Frotteetuch,hinter dem das Licht nur noch schimmerte. Von daan ging’s besser.

Wir hatten geho∑t, wir würden auf der Inselgleichaltrige Kinder tre∑en, wie voriges Jahr in Ri-mini, und mit ihnen von früh bis spät herumziehen.Aber es gab außer uns nur drei Famili en, und die

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hatten Kleinkinder, die noch Win deln trugen. DerRest waren Liebespaare oder Einzelgänger, lauterSchweizer und Deutsche. Es gab jeden Abend Fisch,sogar Tinten⁄sch, und Fisch – egal ob gebraten odergekocht – hasse ich wegen der Gräten; ich zupfe siezwar heraus, aber nie erwische ich alle. Einmal wirdeine in meinem Hals steckenbleiben, und ich werdedaran ersticken. Doch der Briller zwang uns, von je-der Sorte, auch von den ganz klei nen, die man mitKopf und Schwanz isst, minde stens drei Bissen her-unterzuschlucken.

Die Eltern schleppten nach dem Frühstück ihreLiegestühle und einen Sonnenschirm samt Sockelan den Strand, die Emse cremte dem Briller den Rü-cken ein, dann legten sie sich ¬ach, und damit war’sauch schon gelaufen. Das heißt, die Emse war nochein bisschen aktiver als der Bril ler, sie stricktezwischendurch an Weihnachts pullovern für ihre Pa-tenkinder oder las ein Buch. Der Briller las nur dieZeitung, und die sank, sobald er zu dösen begann,auf seine Brust oder sein Gesicht.

»Aus dem Alter, in dem man mit Mami und Papispielt, seid ihr zum Glück raus«, sagte der Bril ler.

Und die Emse sagte: »Lasst euren Vater in Ru he,er muss sich erholen nach dem Stress. Geht,planscht ein bisschen, vergnügt euch!«

»Aber keinen Schritt weiter als bis zum Ende der

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Bucht!«, sagte der Briller. «Und im Wasser ja nichtüber die Nichtschwimmer-Markierung hin aus! Undimmer nur mit den Schwimm¬ügeln!« Das meistevon dem, was sie im Feriendorf für Kinder aufge-stellt hatten, war kaputt. Die drei Surfbretter, diewir beim Schuppen fanden, gin gen unter wie Steine,wenn man sie ins Wasser schob. Das Tischtennis-netz war zerrissen, der Tisch voller Löcher. DerFußballkasten wackelte so stark, dass man die Gri∑enicht mehr drehen konnte, ohne ihn umzuwerfen.Und so weiter. Es war nicht mal möglich, eine ein-zige Sandburg fertigzubauen. Dauernd stolpertenoder kro chen die Kleinkinder über die schönenTürme und Mauern, die wir festgeklop∫ hatten.Und wenn ich mal wütend wurde, hatte ich gleichih re Eltern am Hals.

Gut, wir konnten Wasserjagd und Wasserballspielen, so lange wir wollten; aber das Meer und dieLu∫ waren nicht mehr so warm wie im Som mer,und schon nach einer Viertelstunde began nen wirzu frieren. Wir spielten Zehn-Leben- am-Strand,um uns aufzuwärmen, aber der Was serball war soleicht, dass der Wind ihn dauernd zu Leuten ab-trieb, die im Sand lagen und schimpften, wenn erüber ihre roten Bäuche rollte. Wenn Lena lesenwollte, saß sie oben im trockenen Sand, und ich saßan der Wassergren ze, wo die Wellen hinschwappen,

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und stoppte die Zeit zwischen den großen Wellen.Manchmal stellte ich mir vor, ich sei ein Pirat, mitdem Messer zwischen den Zähnen, da verging dieZeit ein wenig schneller.

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Am dritten Tag auf der Insel zeigte mir Lena eine Muschel, die sie im seichten Wasser gefunden

hatte, ein richtiges Prachtstück, halb so groß wieihre Hand, braunrot, mit Rillen. Wir glaubten, dasses davon noch mehr geben wür de. Doch als wir denStrand absuchten, sahen wir hauptsächlich Plastik-säcke, die der Wind aufblies, eine Menge Tang, undhier und dort steckten im nassen Sand Muschel-winzlinge. Es lohnte sich gar nicht, sie zu sammeln.

»Dann war das mit der großen Muschel ein Zu -fall«, sagte Lena.

»Glaub ich nicht«, sagte ich. »Wir müssen eben anandern Stellen suchen als bloß in der Bucht.«

»Das hat der Briller verboten«, sagte Lena. »Trotzdem«, sagte ich. »Wir gehen einfach ein

bisschen weiter. Um die Spitze herum und demStrand entlang, alles geradeaus.«

»Und wenn sie uns sehen?«»Die schlafen doch.«»Bist du sicher?«In einem großen Bogen schlichen wir uns an die

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Eltern heran. Sie lagen auf ihren Liege stühlen. DerBriller schnarchte leicht. Der Son nenschirm be-schattete nur noch seinen Kopf und die Brust; dieSonne schien ihm auf die Beine, und die waren feu-errot. Die Emse hatte die Lehne hochgeklappt undsaß da, als ob sie stricke; aber ihre Hände bewegtensich nicht, die Augen waren geschlossen, und derMund stand ein bisschen o∑en.

»Siehst du?«, ¬üsterte ich. »Keine Gefahr.«Wir gingen den Bungalows entlang. Am Ende der

Bucht, wo wir noch nie gewesen waren, klet tertenwir ein sandiges Bord hinauf. Von dort aus zog derStrand sich einen oder zwei Kilome ter gerade hin,dann kamen Felsen, die sich ins Meer schoben. Lenasagte, das sei eine Steilkü ste, ich sagte, das seienKlippen.

Landeinwärts sahen wir ein paar Häuser hinterkomisch zer zausten Bäumen. Lena sagte, das seienAkazien. Nein, sagte ich, Pinien. Bei den Oliven-bäumen weiter vorne waren wir uns einig; die hatteuns die Emse erklärt, und wir wussten, dass sie kleinund irgendwie silbrig sind. Vor den Häusern hingWäsche zum Trocknen, zwischen den Häu sern spa-zierten Ziegen und Hühner herum, ir gendwo bellteein Hund.

»Wer wohnt denn dort?«, fragte ich.»Die Leute von hier«, sagte Lena.

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»Komm«, sagte ich, und weil sie zögerte, zog ichsie an der Hand weiter.

Der Strand war menschenleer, nur draußen imMeer tuckerten zwei Fischerboote vorbei. Lenafand eine große Muschel, ich zweieinhalb. Sie warenfast zugedeckt vom Sand, und wir muss ten sie aus-graben und im Wasser spülen.

Dann fand Lena noch ein dünnes, gelbes Schne-cken haus mit lauter Pünktchen, und ich fand einedunkelbraune Trichter-Muschel mit einer glitz rigenInnenseite.

Plötzlich stand die Sonne so tief, dass wir er -schraken. Es war 5 Uhr 45 min, und wir kehrten umund liefen zur Bucht zurück. Die Muscheln ver-steckten wir an einem Platz, den ich euch nicht ver-rate; die Muscheln waren nämlich un ser Schatz, undSchätze muss man hüten.

»Wo seid ihr gewesen?«, fragte der Briller miss -trauisch.

»Im Bungalow«, sagte ich.»Wir waren durstig und haben Wasser getrun -

ken«, sagte Lena.»Na ja«, sagte der Briller, halbwegs beruhigt. Es

gefällt ihm nämlich, wenn wir freiwillig Wassertrinken statt Cola.

»Und dann haben wir drinnen im Schatten Scrab-ble gespielt«, sagte ich.

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»Schön«, sagte die Emse. »Ho∑entlich habt ihrden Schlüssel wieder in den Tonkrug gesteckt.«

»Haben wir«, sagte Lena.»Schaut euch den wunderbaren Sonnenunter -

gang an!«, sagte die Emse. Bei solchen Sätzen hat sieimmer Tränen in den Augen. Wir schauten derSonne zu, wie sie rot und riesig wurde und im Meerversank. Um 6 Uhr 37 min 56 sec war sie ver-schwunden, die Wolken wurden gelb wie Vanille-creme, und das Meer sah plötzlich ⁄nster aus. Wirzogen uns an und gingen essen, und Lena zanktesich mit der Emse, weil sie keinen Pullover mit lan-gen Ärmeln anziehen wollte.

Als wir im Bett lagen, redeten Lena und ich soleise miteinander, dass sie uns nebenan nicht hörenkonnten. Dafür verstanden wir das meiste von ih-nen. Der Briller sagte, die Emse trinke zu viel vondiesem griechischen Wein, der sei schwerer, als siedenke, und sie schade damit ih rer Gesundheit; dieEmse sagte, das gelte für den Briller und nicht fürsie, jedenfalls sei ihre Blase robuster als seine; unddann ⁄ngen sie von vorne an, der Briller ein weniglauter, die Emse ein wenig klagender, und so hattensie wieder Streit. Ich dachte, sie würden sich viel -leicht bald trennen wie die Eltern von Berni aus mei-ner Klasse. Eines Tages hatte er uns gesagt, er ziehejetzt mit der Mutter aufs Land, in ein kleines Ka∑,

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und dort bekomme er eine Stereo-Anlage, ganz fürsich allein. Er hatte verweinte Augen und tat so, alssei er sehr glücklich. Wir andern schauten ihn an,und einer sagte, wir würden ihn vielleicht besuchen.Ich bekam ei nen trockenen Mund, wenn ich anBerni dach te, und ich hätte gerne mit Lena darübergere det, aber ich tat es nicht.

Als der Briller und die Emse schwiegen, sagte ich:»Morgen gehen wir bis zu den Klippen. Du bistdoch dabei, oder?«

»Mal sehen«, sagte Lena, »es kommt darauf an.« »Sei nicht feige«, sagte ich.»Ich bin bloß vorsichtig«, sagte sie. »Du kannst

froh sein, dass ich’s bin, du hättest dir sonst schonsiebenmal den Kopf eingerannt.«

»Schla∫ jetzt endlich«, sagte nebenan der Brillerund klopfte zornig an die Wand.

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Am nächsten Tag waren wir bis zur Siestazeit besonders brav. Der Briller sah irgendwie

ge ¬eckt aus; zum Frühstück trank er ein ganzesFläsch chen Randensa∫, und danach konnte mandenken, der Sa∫ sei überall an ihm her un ter ge ron -nen. Er sagte, er habe kaum geschlafen vor Schmer-zen; trotzdem vergaß er, seine Spezi al-Brandsalbemit an den Strand zu nehmen. Ich holte sie freiwil-lig aus dem Bungalow, und Lena half der Emse, dieverbrannten Stellen mit Salbe zu bestreichen.

»Dass du mit dem Sonnenbaden immer so über -treiben musst«, sagte die Emse.

»Ich habe eben eine emp⁄ndliche Haut«, sagteder Briller.

»Genau«, sagte die Emse. »Und warum gibst dunicht besser acht auf dich, wenn du das weißt?«

Zum Glück schliefen sie früher ein als ges-tern. Wir stahlen uns gleich weg, als der Brillerschnarchte. Zuerst holten wir im Bungalow un sereStrandsandalen. Das war Lenas Idee; sie sagte, un-sere Sohlen seien für einen richtigen Fußmarsch

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nicht abgehärtet genug. Wir zogen auch T-Shirts anund über die Badehosen unse re Shorts. Das warmeine Idee; es konnte ja sein, dass sich der Himmelplötzlich bewölkte. Dann kehrte ich noch mal um,füllte eine Plastik ¬asche mit Wasser und band siemir für alle Fälle um den Bauch. Ohne Nahrungkann der Mensch nämlich sechzig Tage überleben,ohne Wasser nur drei. Das Taschenmesser und dieStoppuhr hatte ich sowieso immer bei mir. Am lan-gen Strand fanden wir alle paar Meter eine Muschel,einmal sogar ein vertrocknetes See pferdchen undganz in der Nähe eine tote Möwe, die schrecklichstank; aber eigentlich wollten wir so schnell wiemöglich zu den Klip pen. Ich stellte mir vor, dassdort bei Stürmen schon manches Schi∑ untergegan-gen war, und ich ho∑te, dass wir zwischen den Fel-sen ein Wrack ⁄nden würden, im Wrack eine Truheund in der Truhe einen Schatz. Aber das sagte ichLena nicht.

Wir gingen immer schneller auf dem nassen Sand,den die Flut zurücklässt und wo man nicht einsinkt.Links war das Meer, blaugrün, mit Wel lenkronen,rechts war das Land mit den weißen Häusern hinterden Bäumen. Immer wieder spülten Wellen, die sicham Ufer brachen, um unsere Füße. Dann hörten wirplötzlich Gebell. Vom Land her rannte ein Hundauf uns zu, und dem Hund folgte ein Junge.

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»Bleib stehen«, sagte ich zu Lena. Sie hat Angstvor Hunden; und wenn man vor Hunden da von -läu∫, werden sie umso bissiger. Der Hund um-kreiste uns und zeigte seine Zähne, und wir drehtenuns mit ihm, damit er nicht von hinten zuschnappenkonnte. Er war schmutzig gelb und mager; an derSeite war er zerkratzt und hatte fast kein Fell mehr.

»Ruf deinen Köter zurück!«, schrie Lena demJungen zu.

Der sagte ein paar laute Worte, und der Hund zogden Schwanz ein und schlich zu ihm zu rück.

Der Junge war einen halben Kopf größer als ichund sah ziemlich struppig aus. Er trug Jeans mit ab-geschnittenen Beinen und ein Hemd, das ihm vielzu groß war. Er blieb vor uns stehen und be fahl demHund, sich hinzulegen. Dann holte er aus seinemHemd eine Papiertüte, schüttete ein paar bläulicheKnollen in seine Hand und zeigte sie uns.

»Das sind Feigen«, sagte Lena.Der Junge drückte mit dem Zeige⁄nger auf eine

der Feigen, und wir sahen, wie weich sie waren. »Zwei Mark«, sagte er.»Er will uns die Feigen verkaufen«, sagte Lena. Ich schüttelte den Kopf.»Ein Mark«, sagte der Junge mit ernster Miene.

Der Hund, der ihm zu Füßen lag, knurrte.Ich stülpte meine Hosentaschen nach außen.

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Darin waren nur ein paar Muscheln, das Ta schen -mes ser und zerknüllte Papiertaschentücher. »Dukannst die Muscheln haben«, sagte ich. »Ei ne Mu-schel für eine Feige.«

Der Junge trat einen Schritt näher und deutete aufmeine Stoppuhr. »Tick tick«, sagte er.

»Die bekommst du nicht«, sagte ich.Der Hund bellte, und der Junge hielt ihn am

Halsband fest, damit er uns nicht angri∑. »Komm, wir gehen«, sagte Lena.Der Junge stand breitspurig da und versperrte uns

den Weg zurück zur Bucht. Wir gingen wei ter in dieandere Richtung, genau wie geplant. Als ich über dieSchulter zurückblickte, sah ich, dass der Junge undder Hund uns folgten. Der Abstand blieb immergleich, dreißig oder vierzig Meter; wenn wir schnel-ler oder langsamer gin gen, taten sie das Gleiche.

»Der tut uns nichts«, sagte ich zu Lena. »Der willbloß die Zeit totschlagen.«

Der Strand wurde schmaler und steiniger. Wirkamen zu den ersten Felsen. Sie waren gelbweiß wieder Hund und hatten überall Löcher vom Salzwas-ser. Die ersten waren noch niedrig, dann wuchsensie neben uns in die Höhe wie eine Wand. Die Wandmachte manchmal einen Buckel nach außen, unddann mussten wir ein paar Schritte durchs Wasserwaten. Zum Glück war gerade Ebbe, und der Wind

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blies nur leicht; sonst wären wir nicht weiterge-kommen. Der fremde Junge ließ sich nicht abschüt-teln, wir hörten ihn und den Hund hinter unsdurchs Wasser planschen.

»Sieh mal«, sagte Lena. Da, wo sie stehenblieb,führte ein schmaler Pfad im Zickzack den Fels hanghinauf. Von unten sah man, dass auf den Vorsprün-gen Gras und Kräuter wuchsen, hier und dort sogarein Busch.

»Das ist ein Ziegenpfad oder so was«, sagte Le na.»Menschen kommen da nicht hinauf.«

»Ach was«, sagte ich. »Ein bisschen Kletternscha det nichts.«

Der Junge war inzwischen umgekehrt.»Du spinnst«, sagte Lena. »Das ist viel zu gefähr -

lich.«Ich begann hinaufzusteigen, und ich hatte recht,

der Pfad war breiter, als er von unten aus sah. Manmusste sich überall festhalten und sich jeden Schrittüberlegen. Und wenn die Stopp uhr stark baumelte,musste ich darauf achten, dass sie nirgendwo an-stieß. Als ich oben war, leg te ich mich vorsichtig aufden Bauch und schau te hinunter. Es war etwa so, wiewenn man aus dem vierten Stock schaut. Untenstand Lena. Sie schaute zu mir herauf.

»Du scha∑st es auch«, rief ich. »Es ist gar nicht sosteil.«

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»Du meinst mal wieder, du bist der Größte«, sag -te sie und machte einen Schritt auf den Pfad zu.Lena begann, mit ganz kleinen Bewegungen zu mirheraufzuklettern. Es dauerte 4 min 28,8 sec, bis siebei mir war. Zwei- oder dreimal lösten sich Steineunter ihren Füßen. Einmal schwankte sie, als ob siegleich fallen würde, und es sah so ge fährlich aus,dass ich mir beinahe die Zunge abbiss. Von da anhielt ich die Augen geschlossen und blinzelte nuralle zwanzig Sekunden, um zu se hen, wie weit siewar, und zwischendurch schielte ich auf die Stopp-uhr wegen der Gesamtzeit.

Endlich war Lena oben; das letzte Stück zog ichsie herauf. Sie kauerte sich neben mich; trotz derAnstrengung war sie noch bleicher als vor hin.

»Siehst du jetzt?«, sagte sie. »Was du kannst, kannich auch.«

Wir waren oben auf einer Halbinsel, die wie einkrummes L ins Meer hinausging und sich wie derzum Land zurückbog. Auf der steilen Seite warenwir hinaufgeklettert, die andere war viel ¬acher undmit dünnem Gras und Kräutern be wachsen. Siesenkte sich zu einer neuen schma len Bucht, die bei-nahe aussah wie ein Fjord, wenn ihr wisst, was ein Fjord ist. Die Bucht war voller Inselchen, wiewenn ein Riese Felsblöcke ins Wasser geschleuderthätte.

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»Also, eins ist klar«, sagte Lena. »Zurück gehenwir hinten herum.«

Ich nickte, und wir machten uns auf den Weg.Lena hatte zittrige Knie und brauchte ein paarSchritte, bis sie wieder normal gehen konnte. DasGras war hoch und roch nach den italieni schenKräutern, die die Emse übers gebratene Fleischstreut. Ich ging voraus und stampfte he∫ig auf, umdie Schlangen zu vertreiben; aber nur Heuschreckenhüpften nach allen Seiten davon. Nach vierzig Me-tern lief ich fast in einen Stacheldrahtzaun. DerDraht war verrostet und in drei Reihen überein-andergespannt, die Pfo sten waren vermodert, undan einigen Stellen lagen sie am Boden. Ich ging dem Zaun entlang und fand nach ein paar Meterneine hölzerne Tafel im Gras. Wenn man genau hin-schaute, konnte man darauf ein einziges Wort inverblassten Buchstaben lesen: attention! Der Restwar griechisch, mit diesen Alphas und Betas. »Siehstdu«, sagte Lena, »hier ist’s gefährlich. Wir kehrenlieber um.«

»Das Zeug ist uralt«, sagte ich. »Vielleicht war dasmal militärisches Sperrgebiet oder so.« Der Bril-ler, der sich dauernd Sendungen über den ZweitenWeltkrieg ansieht, hatte uns nämlich er klärt, dassdamals um unsere Insel gekämp∫ worden sei. Ichstieg an einer günstigen Stelle über den Zaun und

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stocherte bei jedem Schritt mit der Fußspitze imGras herum.

»Alles okay«, sagte ich. »Komm nur. Es sieht aufbeiden Seiten genau gleich aus.«

»Ich bleibe hier«, sagte Lena und machte ihrTrotzgesicht.

»Dann kletterst du eben wieder die Klippe run -ter«, sagte ich.

Mit einem langen Schritt kam sie zu mir her über,und dann gingen wir weiter, immer ein bisschen ab-wärts und ich immer einen Schritt voraus, und dabeiachteten wir genau auf alles ringsum in der Lu∫ undam Boden. Schließlich erreichten wir das Ufer. DasMeer war hier vom Wind geschützt, die Wellen wa-ren niedriger als im Feriendorf und rauschten weni-ger stark.

»Hast du gehört?«, fragte Lena und packte mei -nen Arm.

Was denn? Ich horchte. Wirklich, da war etwas:ein langgezogener Ton, der lauter und wieder leiserwurde; es tönte fast wie ein klagender Ge sang.

»Es kommt von dort draußen«, sagte Lena unddeutete zu den Inselchen hinaus. Sie bildeten, eineshinter dem andern, eine gebogene Kette, und amSchluss erhob sich ein Inselchen aus dem Wasser,das deutlich größer war als die an dern und aussahwie ein Sofa mit zerknautsch ter Lehne.

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Die Töne wurden wieder lauter; es ging mir durchMark und Bein. »Denkst du, es ist ein Tier?«, fragteich und wagte fast nur noch zu ¬ü stern.

Lena schüttelte den Kopf. »Das ist ein Mensch.Hörst du das nicht? Und er ist in Not, er ru∫ umHilfe.«

Es wäre mir lieber gewesen, ich hätte nichts gehört.Es gibt ja Geschichten, in denen irgend welche Mons -ter, die in Grotten hausen, Menschen anlocken, umsie aufzufressen. Natürlich glaube ich nicht mehr ansolchen Quatsch. Wenigstens meistens nicht. Abermir war klar, dass es für Lena kein Zurück mehr gab.Sie hat bei den Pfad⁄nde rinnen einen Kurs in Ers-ter Hilfe gemacht, und seither sagt sie, es ist einemenschliche P¬icht, al len zu helfen, die in Not gera-ten sind. Sie hat schon eine Katze aus einem Regen-fass gerettet und letzten Sommer einer alten Frau aufdie Bei ne geholfen und ihr den Ellbogen verbunden.

»Wir müssen nachschauen gehen«, sagte Lena,und ihre Stimme zitterte ganz leicht. »Es ist un sereP¬icht.«

»Wir sollten vielleicht besser die Polizei alarmie -ren«, sagte ich. »Oder eine Rettungsmann scha∫.«

»Siehst du hier etwa ein Telefon?«, fragte Lena. Das Klagen hörte nicht auf; ich hatte tatsäch-

lich das Gefühl, es wolle uns zur Sofainsel hin über -locken.

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Ich schwieg; mein Herz schlug mir bis zum Hals.»Außerdem sind wir zu zweit«, sagte Lena. »Kommen wir denn überhaupt hinüber?«, fragte

ich.»Wir springen von Inselchen zu Inselchen. Die

stehen so nah beieinander, dass es geht.«Ich wartete, dass sie voranging, und sie wartete,

dass ich voranging, und dann wateten wir ne ben -einander durchs Wasser bis zum ersten Inselchen,einem ¬achen Felsblock, der leicht schief im Wasserstand. Wir zogen uns an einer Kante hoch undsprangen hinüber aufs zweite Inselchen, das ein paarZentimeter höher war als das erste. So ging es wei-ter, wie auf einer löchrigen Treppe. Wir musstenvon Mal zu Mal ein bisschen weiter springen, je-doch nie so weit, dass wir Angst hatten, es nicht zuscha∑en. Dann standen wir auf dem zweitletzten Inselchen und schauten hinüber zum letzten, zurSofa insel. Das ¬ache Stück, etwa halb so groß wieein Fußball feld, war von Büschen und Bäumenüberwach sen; es sah aus wie ein kleiner Urwald,dunkel grün und unberührt. Die zerknautschteLehne dahinter bestand aus schwarzen Felsen.

Ich schätzte den Abstand zur Insel ab; es warenmindestens drei Meter, doppelt so viel wie beimletz ten Sprung, und wir standen etwa so hoch obenwie auf dem Fünfmeter-Sprungbrett.

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»Spring du zuerst«, sagte Lena.»Nein, du«, sagte ich. »Du hast die längeren

Bei ne.«Und jetzt soll Lena weitererzählen. Sie hat sich

die komischen Sätze, die Zervan am Anfang sag te,besser gemerkt als ich.

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Mein Bruder Pit hat die ersten drei Kapitel ge-schrieben, und ich habe seine Rechtschreib-

und Grammatikfehler korrigiert. Manch mal über-treibt Pit, besonders wenn er zeigen will, wie mutiger ist. Er mag es nicht, dass ich zwei Jahre älter binals er und einen größern Wortschatz habe; deshalbschneidet er zwi schendurch auf wie die meisten Jun-gen in sei nem Alter. Aber abgesehen davon hat sichalles so zugetragen, wie es beschrieben ist. Am An -fang wollte ich »Briller« und »Emse« überall strei-chen und durch Papa und Mama ersetzen, was mansicher besser verstehen würde. Aber unter uns nennen wir unsere Eltern wirklich »Briller« und»Emse«, und weil dieses Buch ein Tatsachenberichtist, habe ich die Namen stehen lassen. Wir habenübrigens beschlossen, uns beim Schreiben abzu-wechseln: Ich schreibe jetzt weiter, bis ich nichtmehr mag, und dann ist wieder Pit an der Reihe.Wer was dagegen hat, soll’s uns sagen. Es wird abernichts mehr nüt zen; denn sobald das Buch jemandliest, ist es schon gedruckt!

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