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HaslbeckMedikamente und chronische Krankheit

Verlag Hans HuberProgrammbereich Gesundheit

Wissenschaftlicher Beirat:Felix Gutzwiller, ZürichManfred Haubrock, OsnabrückKlaus Hurrelmann, BerlinPetra Kolip, BremenDoris Schaeffer, Bielefeld

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Geister«Weil ich für meine Mutter verant-wortlich bin» – Der Übergang von der Tochter zur pfl egenden Tochter2004. ISBN 978-3-456-84008-6

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MetzingKinder und Jugendliche als pfl egende Angehörige2007. ISBN 978-3-456-84549-4

NideröstMänner, Körper und Gesundheit. Somatische Kultur und soziale Milieus bei Männern2007. ISBN 978-3-456-84451-0

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SimonPersonalabbau im Pfl egedienst der Krankenhäuser. Hintergründe – Ursachen – Auswirkungen2008. ISBN 978-3-456-84581-4

VogdDie Organisation Krankenhaus im Wandel. Eine dokumentarische Evalua-tion aus Sicht der ärztlichen Akteure2006. ISBN 978-3-456-84356-8

WingenfeldDie Entlassung aus dem Krankenhaus2005. ISBN 978-3-456-84216-5

Jörg Haslbeck

Medikamente und chronische KrankheitSelbstmanagementerfordernisse im Krankheitsverlauf aus Sicht der Erkrankten

Verlag Hans Huber

Lektorat: Dr. Klaus ReinhardtHerstellung: Daniel BergerUmschlaggestaltung: Claude Borer, BaselDruck und buchbinderische Verarbeitung: AZ Druck und Datentechnik GmbH, KemptenPrinted in Germany

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1. Aufl age 2010© 2010 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, BernISBN 978-3-456-84749-8

Anschrift des Autors:Dr. Jörg Haslbeck Universität Bielefeld School of Public Health – WHO Collaborating Center AG6 Versorgungsforschung und Institut für Pfl egewissenschaft Postfach 100 131D-33501 Bielefeld

Inhalt

1 Einleitung 7

2 Medikamente aus Sicht chronisch Erkrankter – Diskussions- und Forschungslinien 152.1Verlaufschronologie des Diskurses ............................................................. 162.2 Forschungslinien zur Perspektive der Erkrankten....................................... 19

3 Umgang mit Medikamenten im Krankheitsverlauf – theoretische Annäherung 473.1Konzeptionelle Perspektiven: Patient, Partner, Person? ............................. 473.2Das Trajektkonzept – Verlaufs-, Handlungs- und Alltagsorientierung....... 603.3Anknüpfungspunkte und heuristische Orientierung.................................... 71

4 Methodisches Vorgehen 754.1 Induktiver Ansatz mit Grounded Theory-Orientierung............................... 754.2Datenerhebung und -auswertung................................................................. 794.3Datenbasis ................................................................................................... 87

5 Erfordernisse und Schwierigkeiten mit Medikamenten im Verlauf chronischer Krankheit 915.1Manifestation der Krankheit und Beginn der Medikamenteneinnahme ..... 915.2Restabilisierung – Normalisierungswunsch, ›Adhärenzstress‹ und

Episodalitätserwartung .............................................................................. 1005.3 Im ›Auf und Ab‹ der Krankheit: Routinisierungs- und

Informationsbemühungen.......................................................................... 1085.4Komplexitätssteigerungen – Anpassung des Selbstmanagements ............ 151

6 Chronische Krankheit und Medikamente – Resümee und Perspektiven 167

Literatur 197

Danksagung 215

Anhang 217

Meinem Großvater Hans

7

1 Einleitung

Medikamente sind in aller Munde. Sie sind als »materia medica« ein Eckpfeiler der Behandlung von Krankheiten, zentraler Bestandteil des therapeutischen Repertoires in der Medizin und für die Gesundheitsversorgung, vor allem aber für die Erkrank-ten von essenzieller Bedeutung (vgl. Britten 2008; van der Geest/Whyte 1989). Zugleich prägen sie die gesundheitspolitische und -wissenschaftliche Diskussion, in der gegenwärtig vor allem Aspekte einer wirtschaftlichen, qualitätsgesicherten Arz-neimittelversorgung Thema sind. Neuerlich stehen auch die Nutzer von Arzneimit-teln zunehmend im Mittelpunkt der Betrachtung und hier vor allem die Gruppe, die ihrer am meisten bedürfen: chronisch Erkrankte. Angesichts einer Vielzahl an Com-pliance-Problemen sollen sie in Optimierungsprozesse in der Arzneimittelversor-gung einbezogen und in ihrer Kompetenz zu einem (eigen-)verantwortlichen Um-gang mit Medikamenten unterstützt werden. Doch inwieweit überhaupt ausreichend Kenntnis zu den alltäglichen Herausforderungen im Umgang mit Medikamenten aus Sicht chronisch Erkrankter besteht, erscheint fraglich. Hier knüpft die vorliegende Studie an, in der eine bislang unzureichend berücksichtigte Perspektive eingenom-men wird – die Sicht der Erkrankten auf das Medikamentenmanagement im Verlauf chronischer Krankheit und somit auf die sich im Alltag stellenden Probleme und Herausforderungen im Umgang mit Arzneimitteln.

Dominanz und Dringlichkeit der Kostendebatte in der Arzneimittelversorgung

Medikamente sind Gegenstand gesundheitspolitischer und -wissenschaftlicher Diskus-sionen, da die Arzneimittelversorgung als kostenträchtig gilt und der Kostendruck im Gesundheitswesen grundsätzlich hoch ist. Dies gilt umso mehr, als ein Großteil der Ausgaben auf die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) entfällt, die als »Hauptab-nehmer« für pharmazeutische Produkte rund 70 Prozent der in Deutschland anfallen-den Kosten für Medikamente trägt (vgl. Glaeske/Janhsen 2007, S. 18), was 2008 einer Summe von rund 29 Milliarden Euro entsprach (BMG 2009). Daten aus der Arznei-mittelversorgung weisen zudem darauf hin, dass der GKV-Ausgabenanteil für Arz-neimittel eine beständig steigende Tendenz aufweist (ABDA 2008b; AOK-Bundesverband 2008a; BMG 2009; Schwabe/Paffrath 2007; SVR 2005).1

1 Zu Beginn der 1990er-Jahre lag der GKV-Ausgabenanteil für Arzneimittel in den westlichen Bun-

desländern bei rund 16 %, was durch das Gesundheitsstrukturgesetz (1993) vorübergehend beein-flusst wurde (13,4 % in 1995; vgl. SVR 2005, Ziffer 767). In den nachfolgenden Jahren nahm der Ausgabenanteil wieder stetig zu (15,6 % in 2004, 16,5 % in 2005 und 17,5 % in 2006; s. Schwa-be/Paffrath 2007, 2008) und lag 2008 bei 18,2 Prozent (BMG 2009).

Kapitel 1 8

Diese hinreichend bekannte Entwicklung – je nach Blickwinkel als Umsatzsteige-rung oder ›Kostenexplosion‹ diskutiert – wird mit unterschiedlichen Ursachen in Zusammenhang gebracht. So werden grundsätzliche Verteuerungstrends in der Ge-sundheitsversorgung etwa aufgrund der Mehrwertsteuer-Erhöhung thematisiert (s. Petersen/Maag 2008). Angeführt werden jedoch vor allem der suboptimale Ein-satz von Medikamenten und Preissteigerungen auf der Produktseite. Beispielsweise drängt eine global operierende Pharmabranche mit neuen, kostspieligen und massiv beworbenen Produkten auf den Gesundheitsmarkt, was aufseiten der Ärzte oft zur Verordnung unnötig teurer Arzneimittel und infolgedessen zu »Grenzverletzungen« der Wirtschaftlichkeit führt (Glaeske/Janhsen 2006; Schwabe/Paffrath 2007).2 Ein Indiz für diese Entwicklung ist die überwiegend rückläufige Anzahl an Verordnun-gen bei kontinuierlich ansteigenden Umsatzsteigerungen im GKV-Arzneimittel-markt (vgl. Glaeske/Janhsen 2004, 2007; Schwabe/Paffrath 2007, 2008; SVR 2005).

Ein zweiter und für diese Arbeit maßgeblicher Akzent der Diskussion von Arz-neimittelausgaben liegt auf Demografie- und Morbiditätsaspekten, hier besonders auf der Zunahme chronischer Krankheiten. Da chronische Erkrankungen zu den großen Herausforderungen der Gesundheitsversorgung zählen (WHO 2002, 2005a), wird ein großer Teil der Arzneimittelversorgung und der medizinischen Leistungen für die Behandlung chronisch Erkrankter verwendet (Schwartz/Walter 2003).3 Die hiermit verbundenen Verteilungsasymmetrien in den Arzneimittelausgaben werden faustformelartig dergestalt gefasst, dass 80 Prozent der Ausgaben auf 20 Prozent der Arzneimittelkonsumenten entfallen (Glaeske/Janhsen 2007). Von reformbedingten Schwankungen abgesehen (Glaeske 2004) wird somit ein Großteil der GKV-Arznei-mittelausgaben für eine relativ kleine Gruppe von Versicherten genutzt: in der Regel für chronisch Erkrankte sowie ältere, multimorbide Menschen (vgl. Glaeske/Janhsen 2004, 2006, 2007; Schwabe 2006; Schwabe/Paffrath 2006). Eine bedeutende Rolle wird bei den anfallenden Kosten für Arzneimitteltherapien und Verbrauchssteige-rungen den »Volkskrankheiten« wie etwa der Hypertonie zugeschrieben, auf die im Jahr 2006 rund 20 Prozent der gesamten verbrauchsbedingten Umsatzsteigerungen entfielen (vgl. Glaeske/Janhsen 2007; Häussler et al. 2007, S. 11). Zugleich wird auf 2 Durch die Auswahl kostengünstiger Alternativen – so schlussfolgern Analysen – hätten 2005 Einspa-

rungen in Höhe von 3-3,5 Mrd. Euro erzielt werden können, ohne dass die Versorgungsqualität oder die Anzahl der Arzneimittelverordnungen beeinträchtigt worden wäre (Glaeske/Janhsen 2006; Schwa-be/Paffrath 2007). Diese politisch unerwünschten Ineffizienzen werden auch mit dem Marketinginput der Pharmabranche in Verbindung gebracht, deren Etat für Pharmareferenten mittlerweile rund 2 Mrd. Euro umfasst (ebd.). Vermutet und kritisiert wird ein »Pharmabluff«, indem der Trend zu Nachahmer-präparaten (Analog- oder »Me-too«-Produkte) und der Mangel an innovativer Forschung durch ver-stärkte Marketingaktivitäten getarnt wird (s. Angell 2005; Glaeske/Janhsen 2005, 2006).

3 Analysen epidemiologischer Daten zufolge dominieren chronische Erkrankungen etwa aufgrund der demografischen Alterung der Bevölkerung das Krankheitspanorama in Deutschland (BMFSFJ 2002; SVR 2000/2001b). Die Liste chronischer Erkrankungen führen – ob in Nutzerbefragungen zur Gesund-heitsversorgung oder in Routinedaten wie etwa der Todesursachenstatistik – Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems und bösartige Neubildungen an (BMG 2005; RKI 2006b, 2007; StBA 2008). Auch die Liste der Arzneimittelindikationsgruppen ist geprägt durch chronische Erkrankungen, etwa Krank-heiten des Herz-Kreislauf- und Atmungssystems, endokrine Störungen (Diabetes mellitus, Schilddrüsen-funktionsstörungen), Erkrankungen des Muskel-Skelettsystems, sowie eine Zunahme medikamentös be-handelter HIV-Infektionen (vgl. Häussler et al. 2007; SVR 2005).

Einleitung 9

den wachsenden Umsatz von Spezialpräparaten etwa in der Onkologie, Transplanta-tionsmedizin oder zur Behandlung von HIV/Aids-bezogenen Erkrankungen verwie-sen, die in den letzten Jahren eine sprunghafte Verordnungs- und Umsatzentwick-lung erfahren haben (Schwabe/Paffrath 2008).4 Unter Kostengesichtspunkten ließen sich weitere Aspekte ergänzen, die zum Thema „Chronische Krankheit und Arznei-mittelversorgung“ von Relevanz sind, etwa unerwünschte Nebenwirkungen oder arzneimittelbezogene Probleme wie Folgeerkrankungen, Klinikeinweisungen, To-desfälle etc. (ex. Grandt et al. 2005; Schnurrer/Frölich 2003; Thürmann et al. 2007).

Diese Aspekte haben zu einem Handlungs- und Problemdruck in Zusammenhang mit dem hier untersuchten Thema geführt, der in der Gesundheits- und Arznei-mittelversorgung die Fragen der Kostenentwicklung, der Rationalisierungspotenziale und der weiterhin zu verbessernden Qualität als dringlich erscheinen lässt (SVR 2002, 2005). In jüngeren Reformvorhaben wurde daher mit marktwirtschaftlichen und wett-bewerbsfördernden Ansätzen versucht, die suboptimale Ressourcennutzung in der Arzneimittelversorgung zu verbessern, der Kostensteigerung zu begegnen und eine Konsolidierung der Arzneimittelausgaben herbeizuführen. So sind neben den Budge-tierungsbemühungen in den 1990er-Jahren mit dem GKV-Modernisierungsgesetz (GMG 2004), dem Arzneimittelversorgungs-Wirtschaftlichkeitsgesetz (AVWG 2006) und dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG 2007) Initiativen gestartet worden, um einen effektiven Ressourceneinsatz zu erzielen und Einsparungspotenziale freizusetzen (Deutscher Bundestag 2003, 2006, 2007). Neben steuernden Eingriffen in ärztliches Verordnungsverhalten (vgl. Häussler et al. 2007) erfolgten grundlegende Veränderungen der Arzneimittelpreisverordnung und der Festbeträge für Arzneimit-telgruppen, die Erlaubnis des Versandhandels von Arzneimitteln oder von Rabattver-trägen zwischen Krankenkassen und Arzneimittelherstellern (ex. Petersen/Maag 2008; Schleert 2005). Zugleich wurde Einfluss auf den Leistungsumfang und die Zuzah-lungsregelungen in der GKV genommen und die Eigenbeteiligung der Versicherten erhöht, etwa durch die eingeführte Praxisgebühr, die Zuzahlungen zu Arzneimitteln oder die Ausgliederung rezeptfreier Arzneimittel aus dem GKV-Leistungskatalog. Diese Beispiele veranschaulichen die Dominanz und Dringlichkeit der Kostendebatte in der Arzneimittelversorgung und deuten an, dass die initiierten Reformvorhaben in erster Linie an der Verordnungspraxis ansetzen und dass durch Wirtschaftlichkeitsan-reize Einsparpotenziale erschlossen werden sollen (vgl. Glaeske 2004).

Diskussionsgegenstand »Compliance«

Neben den systemischen und finanziellen Aspekten der Arzneimittelversorgung gilt mittlerweile – wie einleitend angedeutet – ein Hauptaugenmerk den eigentlichen »Hauptabnehmern« der Medikamente, nämlich der Gruppe chronisch Erkrankter und multimorbider älterer Menschen. Hier spielt vor allem ihr Umgang mit Arznei- 4 Dem Arzneimittelverordnungs-Report 2007 zufolge hat sich die Anzahl der Verordnungen von Spezial-

präparaten von 1997 (7,5 Mio.) bis 2006 (13 Mio.) nahezu verdoppelt und der Umsatz im gleichen Zeit-raum von 1,8 Mrd. Euro auf 5,2 Mrd. Euro fast verdreifacht (vgl. Schwabe/Paffrath 2008).

Kapitel 1 10

mitteln eine Rolle und dabei besonders die Frage, ob sie die Anordnungen und Hin-weise der professionellen Akteure befolgen und Medikamente wie verordnet ein-nehmen. Angespielt ist auf die Compliance5 chronisch Erkrankter – ein in der ver-sorgungspraktischen und wissenschaftlichen Diskussion keineswegs neues, bereits ausführlich diskutiertes und zugleich kritisch hinterfragtes Phänomen (vgl. Marston 1970; Osterberg/Blaschke 2005; Sackett/Haynes 1976; Trostle 1988; WHO 2003; s. a. Abschn. 2.1, S. 16ff.). Bei einer überschlägigen Bewertung wird in Analysen davon ausgegangen, dass eine Verwendung von Arzneimitteln nur zu circa 50 Prozent so erfolgt, wie sie von professioneller Seite intendiert ist (ex. Carter et al. 2005; SVR 2005; WHO 2003). Die ›Therapietreue‹ von Erkrankten kann je nach Erkrankung, Therapieform oder -dauer variieren und sich vor allem bei langfristigen Medikamen-tentherapien verändern (ebd.; Dunbar-Jacob et al. 2000; Haynes 2001) – ein Aspekt, der noch eingehender zu betrachten sein wird. An dieser Stelle sei darauf hingewie-sen, dass die Auseinandersetzung mit dem Thema »Compliance« lange Jahre, um nicht zu sagen: Jahrzehnte entlang der Relevanzkriterien der Gesundheitsprofessio-nen geführt wurde (Pollock 2006; Stimson 1974; Vermeire et al. 2001). Im Vorder-grund standen dabei vor allem die aus Sicht der professionellen Akteure relevanten Fragen, warum eine »unregelmäßige Medikamenteneinnahme« erfolgt – etwa auf-grund der »Experimentierfreude der Patienten« (vgl. Düsing 2008, S. B8) – und somit nach den Einflussfaktoren auf deren ›Therapietreue‹, den (potenziellen) Folgen von Non-Compliance oder den Möglichkeiten einer gezielten Einflussnahme zur Verbesse-rung der Compliance (vgl. Haynes et al. 2005; Petermann 1998; WHO 2003).

Im Zuge der Kostenentwicklung in der Gesundheitsversorgung hat es nun den An-schein, als würde in der Arzneimitteldebatte das Thema der Compliance unter erwei-terten Vorzeichen diskutiert. So wird Noncompliance als Kriterium für Effektivitäts-mängel und fundamentales Versagen des Gesundheitswesens angesehen (WHO 2002) und damit den systemischen Dimensionen besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Der Fokus liegt zugleich auf der individuellen Ebene, da in einer verbesserten ›Therapie-treue‹ (chronisch) Erkrankter erhebliches Optimierungspotenzial in der Arzneimittel-versorgung vermutet wird (Bradley et al. 2004; Volmer/Kielhorn 1998).6 Entsprechend postuliert eines der letzten Gutachten des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR 2005), dass die Versorgungsqualität im

5 Eine Analyse des Forschungsstands sowie der konzeptionellen Auseinandersetzung zum ›Umgang

mit Medikamenten‹ – hier synonym als Medikamentenmanagement bezeichnet (vgl. S. 70; S. 168) – erfolgt in den Kapiteln 2 und 3. Vorab sei erwähnt, dass der Begriff der Compliance, also der »The-rapietreue« (Haynes 2001; Haynes et al. 1979), in der versorgungspraktischen, wissenschaftlichen und politischen Diskussion dominiert. Mittlerweile wird auch der Begriff der Adhärenz (»Therapie-motivation«) verwendet, da dem Compliance-Konzept ein paternalistischer ›Beigeschmack‹ und eine Beziehungsasymmetrie zwischen Arzt und Patient attestiert wird (Haynes et al. 2005). Adhärenz gilt angesichts sich verändernder Beziehungsstrukturen in der Gesundheitsversorgung als das zeitgemäße Konzept. Dennoch ist Schwarzer (2004) zufolge der Compliancebegriff üblich und »lässt sich nicht aus der Welt schaffen« (ebd., S. 141). Im Sinne der Lesbarkeit werden die Begriffe Compliance und Adhärenz daher in der vorliegenden Studie synonym verwendet.

6 Befunde aus der Compliance-Forschung führen zu Schätzungen, die in der »geringen« Compliance der Arzneimittelnutzer Folgekosten in Milliardenhöhe und Tonnen verschwendeter Medikamente vermuten (vgl. ex. BMGS 2004; Ernst/Grizzle 2001; Gänshirt/Harms 2008).

Einleitung 11

Arzneimittelsektor optimiert werden kann, indem im Sinne einer ›bottom-up‹-Strategie chronisch Erkrankte in Therapieentscheidungen eingebunden werden und dergestalt ihre »Compliance verbessert« wird (vgl. ebd., Ziffer 962, S. 375). Betont wird eine verstärkte Beteiligung der Erkrankten an der Verantwortung im Umgang mit Arzneimitteln, um auf diesem Weg nicht nur ihre ›Therapietreue‹ und Lebensqualität – so die Annahme – zu verbessern, sondern auch die Ressourcennutzung in der kostenträchtigen Arznei-mittelversorgung positiv zu beeinflussen (Bond 2004; RPSGB 1997).

Leitmaxime »Selbstverantwortung« und Problemsicht chronisch Erkrankter

Die Suche nach Optimierungspotenzialen und Bemühungen um verstärkte Einbezie-hung (chronisch) Erkrankter geht – so deutet sich hier an – mit emanzipatorischen Tendenzen in der Gesundheits- und Arzneimittelversorgung einher. Denn akzentu-iert werden vor allem Aspekte wie etwa neue Partizipationsmöglichkeiten in der Gesundheitsversorgung, Selbstverantwortung, Autonomie oder Eigenkompetenz der Erkrankten (SVR 2000/2001a, 2003). Dies sind Gesichtspunkte, die im Zusammen-hang mit dem Wandel der Patientenrolle (ex. Dierks/Schwartz 2001; Schaeffer 2004) im wissenschaftlichen Diskurs über chronische Krankheit und den Umgang mit Arzneimitteln seit geraumer Zeit Thema sind – meist getragen von der Intention, eine Abkehr von der traditionellen Rolle des »Kranken« als passivem Empfänger von Leistungen (hierzu Parsons 1963) hin zu einer Perspektive zu erwirken, die ihn aktiv in das Versorgungsgeschehen einbindet und zum Ko-Produzenten von Ge-sundheit erhebt (ex. Donabedian 1992; s. a. von Reibnitz et al. 2001).

Dieser ›Paradigmenwechsel‹ findet nicht zuletzt seinen Ausdruck in umfangrei-chen Untersuchungsergebnissen zur Bewältigung chronischer Krankheit, die der Problemsicht chronisch Erkrankter gewidmet sind (ex. Charmaz 2000a; Cor-bin/Strauss 2004; Schaeffer 2004; Strauss et al. 1984; Thorne/Paterson 2000). Sie zeigen, dass sich die Erkrankten – anders als bei episodalen, also temporär begrenz-ten Akuterkrankungen – einer Vielzahl an Herausforderungen und Problemstellun-gen meist außerhalb der institutionalisierten Gesundheitsversorgung und somit vor-wiegend im Alltag gegenübersehen. Hieraus lässt sich konsequenterweise ableiten, dass sie selbst die Verantwortung für ihr krankheits- oder medikamentenbezogenes Handeln tragen und überwiegend selbst die mit chronischer Krankheit verbundene Bewältigungsarbeit leisten (müssen), konkret: das ›Management‹ des Krankheitsge-schehens zu übernehmen haben. Betonung erfährt demnach, dass es die Erkrankten selbst sind, die – wie etwa zum Umgang mit Medikamenten seit Langem unterstri-chen wird (ex. Stimson 1974; Strauss et al. 1984; Trostle 1988) – im Alltag die ›Hauptlast‹ und Verantwortung tragen, um mit einer dauerhaften Erkrankung leben zu können (ebd.; Grypdonck 2005; Schaeffer/Moers 2008). Postuliert wird, dass es einer Vielzahl an Kompetenzen zum selbstbestimmten Umgang mit chronischer Krankheit (vgl. Hurrelmann 2001; Kranich 2004) sowie dem damit unweigerlich verbundenen Medikamentenregime bedarf (Strauss et al. 1984). Für die Erkrankten

Kapitel 1 12

ist dies keine einfache Aufgabe, denn den genannten Analysen zufolge erweisen sich chronische Krankheitsverläufe als dynamisch, wechselhaft und komplex, was die Erkrankten i. d. R. vor immer neue Herausforderungen stellt.

Um chronische Erkrankungen im Alltag bewältigen, präziser: sie ›selbst mana-gen‹ zu können, müssen die Erkrankten sich kontinuierlich selbst beobachten, Hand-lungsentscheidungen prüfen und abwägen, Handlungsoptionen ausbalancieren und sorgfältig mit ihren Ressourcen umgehen (Schaeffer 2004). Zudem gilt es, sich selbst zur zentralen Regulationsinstanz und zum Maßstab im Versorgungsgeschehen zu erheben, also Zielentscheidungen festzulegen, umzusetzen und zu kontrollieren sowie selbst Fehlentwicklungen aufzuspüren und zu korrigieren (ebd.). All diese Herausforderungen werden im angloamerikanischen Raum unter dem Begriff des Selbstmanagements bei chronischer Krankheit gefasst, um analytisch die Anpas-sungs- und Bewältigungserfordernisse zu beschreiben, die chronische Erkrankungen auf subjektiver Ebene nach sich ziehen (vgl. Bodenheimer et al. 2002; Cor-bin/Strauss 2004; Strauss et al. 1984). Gemeint sind krankheits-, alltags-, biografie-, und versorgungsbezogene Aufgaben im Alltag mit einer dauerhaften Erkrankung, was den Umgang mit Arzneimitteln, genauer: das Management eines oft komplexen Medikamentenregimes miteinschließt. Damit rückt der Selbstmanagementansatz – das sei ausdrücklich betont – die erkrankte Person und ihre ›Sicht der Dinge‹ in den Mittelpunkt (ebd.; Lorig/Holman 2003; s. a. Haslbeck/Schaeffer 2007).

Chronisch Erkrankte bei der Bewältigung der genannten Herausforderungen zu unterstützen und ihnen zu der angemahnten eigenverantwortlichen Rolle zu verhel-fen, ist Anliegen unterschiedlich gelagerter emanzipatorischer Konzepte, die im Sinne des Empowerments (ex. Stark 1996) als Erweiterung traditioneller Ansätze der Patientenedukation (ex. Lorig 1996) verstanden werden können. International wird etwa das Konzept der Selbstmanagementförderung bei chronischer Krankheit diskutiert (ausführl. Bayliss et al. 2007; Bodenheimer et al. 2002; Lorig/Holman 2003; Redman 2004), das auch hierzulande vermehrt Aufmerksamkeit erfährt (s. Haslbeck/Schaeffer 2007).7 Selbstmanagementförderung zielt darauf ab, den Erkrankten diverse Kompetenzen zu vermitteln bzw. diese zu fördern: zum Lösen von Problemen und Treffen von Entscheidungen, zur Nutzung von Ressourcen, zum Aufbau und zur Pflege von Beziehungen (besonders zu den Gesundheitsprofessio-nen) sowie zum eigenständigen Planen und Durchführen von Handlungen (ausführl. ebd.; Tobin et al. 1986). Weitere ähnlich gelagerte und ebenfalls auf Eigenverant-wortung und Autonomie der Erkrankten ausgerichtete Ansätze werden in der Arz-neimittelversorgung diskutiert. So beinhaltet etwa das Konzept der Concordance8

7 Im Mittelpunkt der Selbstmanagementdebatte bei chronischer Krankheit steht das von Lorig und

Kollegen entwickelte Chronic Disease Self-Management Program (CDSMP, ex. Lorig et al. 2000; Lorig et al. 2001). Es scheint sich mittlerweile weltweit zu etablieren (vgl. Barlow et al. 2005; Cho-dosh et al. 2005; Dongbo et al. 2006; Eve et al. 2003; Newman et al. 2004), was von Kritikern aller-dings mit einer ›Evangelisierung‹ verglichen wird (Wilson et al. 2007, S. 427).

8 Das Konzept der Concordance hält zunehmend Einzug in die wissenschaftliche wie auch versor-gungspraktische Diskussion und wird oft – gleichwohl fälschlicherweise (hierzu Pollock 2006) – als Synonym für Compliance oder Adhärenz verwendet (ex. Haynes et al. 2005): Letztere zielen auf das Verhalten von Individuen, Concordance dagegen, ähnlich dem Ansatz des Shared decision-making