Hellenistische Leuchtfeuer in Tibulls Priapus-Elegie · Hellenistische Leuchtfeuer in Tibulls...

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Hellenistische Leuchtfeuer in Tibulls Priapus-Elegie Transtextuelle Bezüge * zur hellenistischen Dichtung und ihre Funktion in Tibulls Elegie 1,4 Helen E. Neutzler Ruhr-Universität Bochum 1. So deutlich unterscheidet sich die Priapus-Elegie von den anderen Elegien Tibulls, und so verwirrend scheint ihr Aufbau zu sein, dass der Leser dieser Elegie auf den ersten Blick ziemlich hilflos oder gar „ill-prepared“ 1 entgegen zu treten scheint. Dieser sieht sich nämlich nicht nur mit einem ganz neuen Thema, dem παιδικς Œρως (paidikos eros ), der Knabenliebe, konfrontiert, auch die Sprechsituation unterscheidet sich deutlich von allen der vorangegangenen Elegien. Bei der Elegie handelt es sich um einen durch das elegische Ich wiedergegebenen Dialog zwischen ihm selbst und dem Gott Priapus über die Knaben- liebe. Auf die Frage des elegischen Ichs nach Ratschlägen zu diesem Thema (Vv.1–8) 2 , folgt ein ausgefeilter Lehrvortrag des Priapus mit vielen verschiedenen Hinweisen (Vv.9– 72), in dem er zunächst vor der Knabenliebe warnt, zur Geduld, zu falschen Schwüren, zum schnellen Handeln, zum Gehorsam dem Jüngling gegenüber und zur Schätzung der Dichtkunst auffordert. Auch die finale Wendung der Elegie (Vv.73–84), in der das ele- gische Ich zunächst vorgibt, die Lehren für einen gewissen Titius erfragt zu haben und schließlich enthüllt, dass es selbst unglücklich und vollkommen hilflos in einen Knaben namens Marathus verliebt ist, ist wenig vorbereitet. Eine weitere Besonderheit der Elegie ist das außerordentlich umfangreiche Vorkommen von transtextuellen Bezügen zur hellenistischen Dichtung. Ganz im Gegensatz zu Properz, der die hellenistischen Dichter Kallimachos und Philetas gleich mehrmals als seine Vorbil- der anführt, 3 und auch zu Ovid, 4 nennt Tibull an keiner Stelle seines Werkes irgendeinen Namen eines griechischen oder auch römischen Dichters. Tibull gibt also keine direkten Hinweise auf seine Vorbilder oder Einflüsse. Deshalb könnte es aufschlussreich sein, sol- che transtextuellen Beziehungen näher zu untersuchen, um auf diese Weise Informationen * Der Begriff der Transtextualität wurde 1993 von G. Genette in seiner Monographie „Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe“ eingeführt und bezeichnet jede direkte oder indirekte Relation eines Textes zu einem oder auch mehreren anderen Texten. Nach Genettes Transtextualitätsbegriff werden verschiedene Arten von Transtextualität unterschieden. Weitere Erläuterungen hierzu finden sich im zweiten Teil dieses Aufsatzes, vgl. S. 4f. 1 Bright (1978) 233. 2 Die in Klammern angegebenen Versangaben in dieser Arbeit beziehen sich stets auf Tib. 1,4. 3 Vgl. Prop. 2,1,39–41; 2,34,27–32; 3,9,43–44; bes. 3,1,1–6; 4,1,61–64. 4 Vgl. Ov. am. 2,4,19–20; trist. 2, 367–368. eisodos – Zeitschrift für Antike Literatur und Theorie 2015 (2) Sommer

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Hellenistische Leuchtfeuer inTibulls Priapus-ElegieTranstextuelle Bezuumlgelowast zur hellenistischen Dichtungund ihre Funktion in Tibulls Elegie 14

Helen E NeutzlerRuhr-Universitaumlt Bochum

1 So deutlich unterscheidet sich die Priapus-Elegie von den anderen Elegien Tibullsund so verwirrend scheint ihr Aufbau zu sein dass der Leser dieser Elegie auf den erstenBlick ziemlich hilflos oder gar bdquoill-preparedldquo1 entgegen zu treten scheint Dieser sieht sichnaumlmlich nicht nur mit einem ganz neuen Thema dem παιδικὸς ἔρως (paidikos eros) derKnabenliebe konfrontiert auch die Sprechsituation unterscheidet sich deutlich von allender vorangegangenen Elegien Bei der Elegie handelt es sich um einen durch das elegischeIch wiedergegebenen Dialog zwischen ihm selbst und dem Gott Priapus uumlber die Knaben-liebe Auf die Frage des elegischen Ichs nach Ratschlaumlgen zu diesem Thema (Vv 1ndash8)2folgt ein ausgefeilter Lehrvortrag des Priapus mit vielen verschiedenen Hinweisen (Vv 9ndash72) in dem er zunaumlchst vor der Knabenliebe warnt zur Geduld zu falschen Schwuumlrenzum schnellen Handeln zum Gehorsam dem Juumlngling gegenuumlber und zur Schaumltzung derDichtkunst auffordert Auch die finale Wendung der Elegie (Vv 73ndash84) in der das ele-gische Ich zunaumlchst vorgibt die Lehren fuumlr einen gewissen Titius erfragt zu haben undschlieszliglich enthuumlllt dass es selbst ungluumlcklich und vollkommen hilflos in einen Knabennamens Marathus verliebt ist ist wenig vorbereitet

Eine weitere Besonderheit der Elegie ist das auszligerordentlich umfangreiche Vorkommenvon transtextuellen Bezuumlgen zur hellenistischen Dichtung Ganz im Gegensatz zu Properzder die hellenistischen Dichter Kallimachos und Philetas gleich mehrmals als seine Vorbil-der anfuumlhrt3 und auch zu Ovid4 nennt Tibull an keiner Stelle seines Werkes irgendeinenNamen eines griechischen oder auch roumlmischen Dichters Tibull gibt also keine direktenHinweise auf seine Vorbilder oder Einfluumlsse Deshalb koumlnnte es aufschlussreich sein sol-che transtextuellen Beziehungen naumlher zu untersuchen um auf diese Weise Informationen

lowast Der Begriff der Transtextualitaumlt wurde 1993 von G Genette in seiner Monographie bdquoPalimpseste DieLiteratur auf zweiter Stufeldquo eingefuumlhrt und bezeichnet jede direkte oder indirekte Relation eines Textes zueinem oder auch mehreren anderen Texten Nach Genettes Transtextualitaumltsbegriff werden verschiedeneArten von Transtextualitaumlt unterschieden Weitere Erlaumluterungen hierzu finden sich im zweiten Teil diesesAufsatzes vgl S 4f

1 Bright (1978) 2332 Die in Klammern angegebenen Versangaben in dieser Arbeit beziehen sich stets auf Tib 143 Vgl Prop 2139ndash41 23427ndash32 3943ndash44 bes 311ndash6 4161ndash644 Vgl Ov am 2419ndash20 trist 2 367ndash368

eisodos ndash Zeitschrift fuumlr Antike Literatur und Theorie 2015 (2) Sommer

HELLENISTISCHE LEUCHTFEUER IN TIBULLS PRIAPUS-ELEGIE

uumlber Tibulls Vorbilder zu gewinnen und somit auch seine Elegien besser verstehen zukoumlnnen

Die Frage nach den hellenistischen Einfluumlssen auf Tibulls Werk findet in der Forschungschon lange Beachtung bereits an der Wende vom 19 zum 20 Jahrhundert wurde aufsie aufmerksam gemacht5 Auch Smith beruumlcksichtigte diese Einfluumlsse in seinem Tibull-Kommentar6 Papyrus-Funde mit Fragmenten der Aitien und Iamben des alexandrinischenDichters Kallimachos ab dem Ende des 19 Jahrhunderts7 fuumlhrten zu einer deutlichen Bele-bung der Fragestellung besonders der Frage nach Kallimachosrsquo Einfluss auf Tibull 1946machte Dawson in seinem Aufsatz zum dritten Iambus von Kallimachos auf deutlicheParallelen zu Tibulls Elegie 14 aufmerksam auch zwischen dem neunten Iambus undder Elegie sah er thematische Verwandtschaften8 Als dann Kallimachosrsquo Werk durch diezweibaumlndige Ausgabe von Pfeiffer9 in der Mitte des 20 Jahrhunderts so gut zugaumlnglichwar wie noch nie wurden immer neue Bezuumlge zu Kallimachos entdeckt Luck ergaumlnztenoch weitere Stellen und wies darauf hin dass sowohl das Hauptthema und die dialogi-sche Struktur als auch die Fiktion der sprechenden Statue und diverse Unterthemen vonhellenistischer Dichtung ndash insbesondere von Kallimachos ndash beeinflusst seien Tibull sei bdquoinhis dependence on the classical and Alexandrian tradition in Greek poetry [ ] hardlymore lsquooriginalrsquo than either Propertius or Ovidldquo10

Ein Jahr spaumlter auf der jaumlhrlichen Konferenz der Fondation Hardt bewerteten dieTeilnehmer die hellenistischen Elemente in Tibull voumlllig anders und waren fast uumlberein-stimmend der Meinung dass bdquola tendance consciente de sa poeacutesie pour la forme commepour le fond nrsquoest pas helleacutenistique mais romainerdquo11 (die bewusste Tendenz seiner Poesiesowohl was die Form als auch was den Inhalt angeht nicht hellenistisch sondern roumlmischist) Auch nach der Einschaumltzung von Solmsen ist die Elegie eher durch Motive der Tra-goumldie und anderer augusteischen genera beeinflusst als durch hellenistische Dichtung12

1973 erstellte Bulloch eine detaillierte Liste mit allen bisher erkannten Bezuumlgen zwischenhellenistischen Dichtern und Tibull von denen sich sieben auf die Elegie 14 beziehen undalle bis auf ein Bezug aus Kallimachosrsquo Dichtungen stammen13 Cairns zeigte 1979 in sei-ner Monographie Tibullus A Hellenistic Poet at Rome14 die Beziehung zwischen TibullsElegien und hellenistischer Dichtung in thematischer sprachlicher kompositorischer undgattungsgemaumlszliger Hinsicht auf Auch Murgatroyd und Maltby weisen in ihren jeweiligen

5 Vgl zB Wilhelm (1896) Jacoby (1910)6 Vgl Smith (1911) 264ndash265 270 281 2897 Vgl Lehnus (2011) 26ndash278 Vgl Dawson (1946)9 Vgl Pfeiffer (19491953)

10 Luck (1959) 83ndash8411 Beitrag des Philologen Waszink in der Diskussion zum Vortrag von Grimal (1963) 29412 Vgl Solmsen (1962) 320ndash32513 Vgl Bulloch (1973)14 Vgl Cairns (1979)

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HELEN E NEUTZLER

Kommentaren zur Elegie 14 auf den groszligen Einfluss hellenistischer Dichtung hin15

Bei der Betrachtung dieser Forschungsgeschichte fallen folgende Dinge auf Die Be-einflussung der vierten Elegie durch hellenistische Dichtung scheint fast unumstritten zusein lediglich die Tiefe und die Bedeutung die diesen Einfluumlssen beigemessen werdenund ihre Bewertung unterscheiden sich Die groumlszligten Gemeinsamkeiten werden mit Kalli-machos gesehen was aber wohl vor allem an dem im Vergleich zu anderen hellenistischenDichtern recht guten Uumlberlieferungszustand seiner Werke liegt Luck und Bulloch bie-ten detaillierte Auflistungen der woumlrtlichen und thematischen Bezuumlge in der Elegie 14Cairns beruumlcksichtigt auch andere Arten von Relationen zwischen zwei Texten und lie-fert so ebenfalls wertvolle Ansaumltze fuumlr diese Arbeit Wahrlich erstaunlich ist jedoch dassbisher niemand der konkreten Funktion der transtextuellen Beziehungen in der Elegie 14nachgegangen zu sein scheint Immer wird lediglich auf ihr bloszliges Vorhandensein verwie-sen Dabei ist gerade die Frage nach ihrer Funktion entscheidend fuumlr ihr Verstaumlndnis unddas der gesamten Elegie

Aus dem Gang der bisherigen Forschung ergeben sich folglich zwei Ziele fuumlr die vor-liegende Arbeit Zunaumlchst wird in ihr auf der Basis von Genettes Transtextualitaumltsmodellden verschiedenen Arten von transtextuellen Bezuumlgen zwischen hellenistischer Poesie undder Elegie 14 nachgegangen werden In einem zweiten Schritt soll dann jeweils die Fragenach der Funktion dieser Bezuumlge fuumlr das Verstaumlndnis der Elegie beantwortet werden Da-bei wird die These vertreten dass diese sowohl vom Leser erkannt werden und ihm so alspoetologische Hinweise zur Orientierung dienen sollen als auch besonders die inhaltlicheAussage der Elegie naumlmlich das Versagen von jeglichen Lehrmethoden Prinzipien oderPlanungen im Angesicht der Liebe auf eine humorvolle und in der roumlmischen Liebeselegievoumlllig neuartige Art hervorheben

2 Um die vielfaumlltigen Bezuumlge zwischen verschiedenen Texten moumlglichst systematischund vollstaumlndig erfassen zu koumlnnen ist es notwendig sich der verschiedenen Arten auf dieein Text einen anderen beeinflussen kann bewusst zu werden Zu diesem Zweck stellt Ge-nette in seiner Monographie Palimpseste Die Literatur auf zweiter Stufe den Begriff derTranstextualitaumlt auf16 Unter Transtextualitaumlt versteht er hierbei alles was einen Textin eine offensichtliche oder versteckte Relation zu anderen Texten setzt17 Diese Rela-tionen koumlnnen ganz unterschiedlicher Natur sein Genette unterscheidet insgesamt fuumlnfTypen transtextueller Beziehungen18 Von diesen scheinen mir besonders die Begriffe derIntertextualitaumlt und der Hypertextualitaumlt fuumlr diese Arbeit geeignet und weiterfuumlhrend zusein Unter Intertextualitaumlt versteht Genette die bdquoeffektive Praumlsenz eines Textes in einemanderen Textldquo19 Er begrenzt die vielfaumlltigen Bedeutungsebenen die der Begriff der In-

15 Vgl Murgatroyd (1980) 128ndash159 Maltby (2002) 215ndash23916 Genette (1993) 9ndash1617 Vgl ebd 918 Vgl ebd 1019 Ebd

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HELLENISTISCHE LEUCHTFEUER IN TIBULLS PRIAPUS-ELEGIE

tertextualitaumlt im Laufe der Zeit erhalten hat somit auf konkrete gekennzeichnete undungekennzeichnete Uumlbernahmen aus oder direkte Anspielungen auf einen anderen Textohne deren Erkennung der neue Text oft nicht verstanden werden kann20 Die Hypertex-tualitaumlt bezeichnet hingegen die Beziehung zwischen einem fruumlheren Hypotext und einemvon diesem abgeleiteten spaumlteren Hypertext Der Hypotext wird hierbei entweder durchTransformation veraumlndert oder nachgeahmt21 Dabei muss die zu Grunde liegende Vorla-ge nicht explizit erwaumlhnt werden oft weist nur die Tatsache dass der juumlngere Text ohneden alten in seiner aktuellen Form gar nicht existieren koumlnnte auf eine hypertextuelleVerbindung hin22

Nicht immer lassen sich diese beiden Begriffe eindeutig und klar voneinander abgren-zen Genauso wie es nur selten vorkommt dass selbst eine fast woumlrtlich uumlbereinstimmendePassage in genau dem gleichen Kontext mit genau dem gleichen Sinn und der gleichenIntention uumlbernommen wird lassen sich oft bei der Transformation oder Nachahmung ei-nes Textes auch intertextuelle Beziehungen erkennen Daher werden Bezuumlge die sehr engund eindeutig auf bestimmte Textstellen Bezug nehmen im Folgenden als intertextuellbezeichnet und diejenigen die ganze Ideenkomplexe und typische Merkmale eines Autorsoder einer ganzen Gattung transformieren oder nachahmen als hypertextuell

Trotz dieser Problematik ermoumlglicht es die von Genette getroffene Unterscheidungvon verschiedenen Arten der Transtextualitaumlt sich der verschiedenen Formen der Bezie-hungen zwischen mehreren Texten bewusst zu werden und beschraumlnkt die Untersuchungnicht nur auf die woumlrtliche Ebene Gleichzeitig bietet diese Systematik eine Trennungder verschiedenen Ebenen auf denen Texte aufeinander einwirken koumlnnen So laumlsst sichein systematischeres und vollstaumlndigeres Bild der Beziehungen zwischen hellenistischerDichtung und Tibulls Elegie aufzeigen Daher werden im Folgenden zunaumlchst die inter-textuellen Bezuumlge der Elegie zur hellenistischen Dichtung herausgearbeitet und jeweils aufihre konkrete Funktion untersucht gefolgt von den hypertextuellen Bezuumlgen

3 Da die Intertextualitaumlt die direkteste aller transtextuellen Beziehungen ist undBezug auf eine konkrete Textstelle nimmt handelt es sich bei ihr hauptsaumlchlich um the-matische oder gar woumlrtliche Uumlbereinstimmungen und Aumlhnlichkeiten Im Folgenden soll esjedoch nicht das Ziel sein alle intertextuellen Beziehungen zwischen der vierten ElegieTibulls und hellenistischer Poesie herauszuarbeiten was schon allein aufgrund der nurbruchstuumlckhaften Uumlberlieferung der hellenistischen Dichtung nicht moumlglich waumlre sondernvielmehr einzelne wichtige intertextuell beeinflusste Themenkomplexe herauszustellen undihre Bedeutung zu ergruumlnden

In der vierten Elegie Tibulls lassen sich gleich mehrere hellenistische Themen und Bil-der finden Schon das Hauptthema der Elegie der παιδικὸς ἔρως (paidikos eros) verweist

20 Vgl ebd21 Vgl ebd 14ndash1622 Vgl ebd 15

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HELEN E NEUTZLER

deutlich auf die hellenistische Dichtung23 Im Hellenismus entstanden viele erotische Epi-gramme aber auch andere laumlngere erotische Dichtungen die das Thema der Knabenliebebehandeln Beispiele hierfuumlr sind Kallimachosrsquo Iamben 3 und 5 oder Theokrits Idyllen 29und 30

Mit dem paidikos eros fuumlhrt Tibull ein ganz neues Thema in die roumlmische Liebeselegieein Dadurch uumlberrascht er den Leser dem bisher nur die Elegien in denen die Liebezu Frauen behandelt wird bekannt sind und ruft ihm unweigerlich die hellenistischeDichtung in Erinnerung Die Wahl dieses Themas bietet aber wohl vor allem den ReizBekanntes in einer voumlllig neuen Form zu praumlsentieren24 Von der eher ernsthaften Delia-Thematik wird Abstand genommen um die bekannte Liebesproblematik in einem neuenThemenkomplex humorvoll und ironisch behandeln zu koumlnnen Das Scheitern der Liebeist aber auch hier unausweichlich und dient wohl auch als Andeutung dass der Traumeines gluumlcklichen Wiedersehens mit Delia der am Ende der dritten Elegie gehegt wird25

zumindest nicht dauerhaft wahr werden kann wie zu Beginn der fuumlnften Elegie dann auchsofort deutlich wird26

Auch im ersten Lehrsatz des Priapus

Sed te ne capiant primo si forte negarittaedia paulatim sub iuga colla dabit

Aber dich soll kein Uumlberdruss ergreifen wenn er [der Knabe] sich zunaumlchstheftig weigern sollte Nach und nach wird er seinen Hals unter das Joch geben

laumlsst sich eine enge intertextuelle Beziehung zu Kallimachos ausmachen27

Ληφθήσει περίφευγε Μενέκρατες᾿ εἶπα Πανήμου

εἰκάδι καὶ Λῴου τῇ τίνι τῇ δεκάτῃ

ἦλθεν ὁ βοῦς ὑπ᾿ ἄροτρον ἐκούσιος εὖ γ᾿ ἐμὸς ῾Ερμῆς

εὖ γ᾿ ἐμόςmiddot οὐ παρὰ τὰς εἴκοσι μεμφόμεθα

lsquoAuch du wirst ergriffen werden fliehe nur Menekratesrsquo sagte ich am zwan-zigsten Tag des Panemos und ndash an welchem Tag des Loos noch ndash am zehntenkam der Ochse freiwillig unter das Joch Recht so mein Gluumlck28 gut meinesallein uumlber die zwanzig Tage aumlrgere ich mich nicht29

23 Vgl Luck (1959) 93 Cairns (1979) 21ndash2324 Vgl Lee-Stecum (1998) 15425 Vgl Tib 1389ndash9326 Vgl Tib 151ndash227 Vv 15ndash16 Vgl Luck (1959) 94 Bulloch (1973) 79 Murgatroyd (1980) 137 Maltby (2002) 220ndash22128 Der Ausruf ἐμὸς ῾Ερμῆς nimmt Bezug zu der Redewendung κοινὸς ῾Ερμῆς (Vgl LSJ sV ῾Ερμῆς

II2) die das Teilen von Gluumlck bezeichnet und betont durch die Verwendung des Possessivpronomensἐμός dass der Sprecher das Gluumlck ganz fuumlr sich allein beansprucht Vgl Asper (2004) 465 Anm 13

29 Call Epigr 45 Pf

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HELLENISTISCHE LEUCHTFEUER IN TIBULLS PRIAPUS-ELEGIE

Beide Male wird die Vorstellung des mit der Zeit nachgebenden Juumlnglings durch die Me-tapher des sich-unters-Joch-Beugens ausgedruumlckt und so die endlich totale Kontrolle uumlberden umworbenen Jungen hervorgehoben Das uumlbereinstimmende Bild des Jochs in diesemganz speziellen Kontext der Knabenliebe laumlsst deutlich auf einen intertextuellen Bezugschlieszligen

Im letzten Teil von Priapusrsquo Rede polemisiert dieser deutlich gegen Jungen die ihreLiebe vom Erhalt materieller Geschenke abhaumlngig machen die Dichtkunst dagegen nichtzu schaumltzen wissen30 Hier sind die drei Themen kaumlufliche Liebe Armut und Dichtung engmiteinander verwoben All diese Themen kommen auch schon in hellenistischer Dichtungvor und die Beziehung zu Kallimachos scheint hier besonders eng zu sein

Durch den Ausruf

Heu male nunc artes miseras haec saecula tractantiam tener assuevit munera velle puer

Ach nun behandeln diese Jahrhunderte die elenden Kuumlnste schlechtSchon der zarte Knabe hat sich daran gewoumlhnt Geschenke zu verlangen31

werden kaumlufliche Liebe und die zunehmende Orientierung an materiellen Werten beklagtDer dritte Iambus von Kallimachos zeigt ein ganz aumlhnliches Bild32 Auch wenn der ersteTeil des Iambus nur schlecht erhalten ist verraumlt die Diegesis

Καταμέμφεται τὸν καιρὸν ὡς πλούτου

μᾶλλον ἢ ἀρετῆς ὄντα τὸν δὲ

πρὸ αὐτοῦ ἀποδέχεται ὃς τῆς ἐναν-

τίας ἦν τούτων γνώμηςmiddot παρεπι-

κόπτει δὲ καὶ Εὐθύδημόν τινα ὡς

κεχρημένον τῇ ὥρᾳ πορισμῷ ὑ-

πὸ τῆς μητρὸς πλουσίῳ συσταθέντα

Er tadelt die aktuellen Zustaumlnde weil sie mehr Wert auf Reichtum alsauf Tugend legen die Zeit vor diesen die der gegenteiligen Auffassungwar billigt er Dabei schilt er auch einen Euthydemos weil er seinejugendliche Schoumlnheit zu Erwerbszwecken missbrauche nachdem er vonseiner Mutter mit einem Reichen zusammengebracht worden sei33

Beide Dichter verurteilen die Tatsache dass materiellen Guumltern ein houmlherer Wert bei-gemessen wird als der Tugend und der Dichtung Daruumlber hinaus steht diese Kritik in

30 Vv 57ndash7331 Vv 57ndash5832 Vgl Dawson (1946) 11ndash12 Murgatroyd (1980) 151 Maltby (2002) 23133 Dieg 634ndash40 zu Call Iamb 3 Pf Die Diegeseis werden im Folgenden aus Pfeiffer zitiert

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beiden Faumlllen im direkten Zusammenhang mit der KnabenliebeDiese Gemeinsamkeit wird sogar noch verstaumlrkt beruumlcksichtigt man dass der oben

zitierte Ausruf in den Versen 57ndash58 eindeutig aus der Perspektive eines armen Manneserfolgt der dem umworbenen Jungen keine solchen kostbaren Geschenke machen kann umdessen Gunst zu bekommen Dieser Standpunkt findet sich in Kallimachosrsquo Epigramm 32wieder in dem das elegische Ich einem Juumlngling namens Menippos gegenuumlber seine Armuteingesteht und ihn anfleht ihm diese nicht immer wieder vorzuhalten34 Beide Textstellenbeschreiben die Situation eines Mannes der aufgrund seiner Armut in der Knabenliebenicht erfolgreich ist

Des Weiteren faumlllt auf dass sowohl bei Kallimachos als auch bei Tibull der Kultder Kybele im Zusammenhang mit der Verdammung der kaumluflichen Liebe vorkommt35

In der Elegie 14 verflucht Priapus denjenigen der die Musen nicht zu schaumltzen weiszlig auffolgende Weise

At qui non audit Musas qui vendit amoremIdaeae currus ille sequatur OpisEt tercentenas erroribus expleat urbesEt secet ad Phrygios vilia membra modos

Aber wer die Musen nicht houmlrt wer Liebe verkauft jener soll den Wagen derphrygischen Ops36 folgen dreihundert Staumldte auf Irrfahrten durchwandern undsich zu phrygischen Rhythmen seine nutzlosen Glieder abschneiden37

Kallimachos kommentiert im dritten Iambus angesichts seiner Erfolgslosigkeit beimJuumlngling Euthydemos die durch dessen Fixierung auf Reichtum verschuldet ist

[ ] ν μοι τοῦτ᾿rsquoἂν ἦν ὀνήϊσ[το]ν

]υ[] [] Κ[υβή]βῃ τὴν κόμην ἀναρρίπτειν

Φρύγ[α] πρ[ὸς] αὐλὸν ἢ ποδῆρες ἕλκοντα

῎Αδω[ν]ιν αἰαῖ τῆς θεοῦ τὸν ἄνθρωπον

ἰηλεμίζεινmiddot νῦν δ᾿ ὁ μάργος ἐς Μούσας

ἔνευσαmiddot38

Es waumlre wohl dieses fuumlr mich am besten zum phrygischen Floumltenspiel das Haaremporzuwerfen oder das lange Gewand schleppend den Adonis ach weh denMann der Goumlttin zu beweinen jetzt habe ich Toumlrichter mich aber den Musenzugewandt

34 Vgl Call Epigr 32 Pf35 Vgl Dawson (1946) 12 Luck (1959) 96ndash97 Bulloch (1973) 79ndash80 Murgatroyd (1980) 15436 Ops die Frau Saturns ist das roumlmische Aumlquivalent zu Rhea der Frau Kronosrsquo welche die Griechen

wiederum mit Kybele der Goumlttin des Ida verbanden Vgl Murgatroyd (1980) 153ndash15437 Vv 67ndash7038 Call Iamb 3 fr 193 34ndash39 Pf

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HELLENISTISCHE LEUCHTFEUER IN TIBULLS PRIAPUS-ELEGIE

Da hier beide im gleichen Zusammenhang naumlmlich der der Armut geschuldeten Er-folgslosigkeit bei einem Knaben den Kult der Kybele hinzuziehen ist hier eine Beein-flussung Tibulls durch Kallimachos sehr wahrscheinlich Trotz dieser sehr nahen Parallelebesteht jedoch ein deutlicher Unterschied darin dass Kallimachos den Kult der Kybe-le an dem nur Eunuchen teilnahmen genauso wie den des Adonis der nur von Frauengepflegt wurde ironisch als letzten Ausweg aus seiner wenig Erfolg versprechenden Lagedarstellt da er ja durch das Beitreten zu einem dieser Kulte von seiner ungluumlcklichenLiebe befreit waumlre Tibull hingegen verwendet den Kybele-Kult als grausame und ab-schreckende Verfluchung des fuumlr die Musen Unempfaumlnglichen der nur durch materielleGeschenke zu gewinnen ist Er uumlbernimmt zwar die Kybele-Thematik fuumlgt sie aber aufeine voumlllig andere ihm eigene Weise in seine Elegie ein

Die besondere Wertschaumltzung der Dichtkunst durch das elegische Ich wird vor allem indiesem Distichon deutlich Quem referunt Musae vivet dum robora tellus dum caelumstellas dum vehet amnis aquas (Wen die Musen nennen der wird leben solange die ErdeEichen solange der Himmel Sterne solange der Fluss Wasser fuumlhrt)39) In Kallimachosrsquozwoumllftem Iambus hebt Apollon der Heras Tochter zum Geburtstag ein Lied schenkt denbesonderen Wert der Dichtung ganz aumlhnlich hervor ἡ δ᾿ ἐμὴ τῇ παιδὶ καλλίͺστη δόσιςἔστ᾿ ἐμὸν γένειον ἁγνεύῃ ͺ τριχός καὶ ἐρίφοις χαίρωσιν ἅρπͺαγ[ες λ]ύκ[ο]ι (Meine Gabeist aber fuumlr das Kind wunderschoumln so lange mein Kinn von Haar rein ist und sich dieraumluberischen Woumllfe an Zicklein erfreuen)40 waumlhrend die Geschenke der anderen Goumlttermit der Zeit vergehen wuumlrden Bulloch macht in diesem Zusammenhang auf die paralleleSatzkonstruktion mit dum bzw ἔστε aufmerksam41

Alle drei Themen die Armut die scharfe Kritik an kaumluflicher Liebe und die besondereWertschaumltzung der Dichtung finden sich folglich sowohl bei Tibull als auch bei Kallima-chos Tibull kombiniert sie neu baut sie stimmig und kontrastierend in seine Elegie einum die unabdingbare Notwendigkeit des Scheiterns seiner Liebe zu Marathus eindrucks-voll hervorzuheben Zugleich positioniert sich Tibull durch sie deutlich in der Naumlhe zuKallimachos besonders weil die Rede uumlber Dichtung immer auch poetologisch verstandenwerden kann So laumlsst er den Leser bereits vermuten dass seine Elegie auch noch anderekallimacheische oder hellenistische Elemente enthalten koumlnnte

Im abschlieszligenden Kommentar des elegischen Ichs42 laumlsst sich ebenfalls eine intertex-tuelle Beziehung erkennen Das elegische Ich sieht sich nachdem es enthuumlllt hat dassTitius die gewonnenen Informationen gar nicht anwenden kann als erfolgreicher und an-gesehener Lehrer Tempus erit cum me Veneris praecepta ferentem deducat iuvenumsedula turba senem (Die Zeit wird kommen wenn mich als alten Mann waumlhrend ich

39 Vv 65ndash6640 Call Iamb fr 163 67ndash70 Asper Hier wird der Kallimachos-Ausgabe von Asper gefolgt41 Vgl Bulloch (1973) 7942 Vv 73ndash84

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Liebeslehren verbreite eine eifrige Schar junger Maumlnner begleitet)43 Ein aumlhnliches Bildverwendet Kallimachos in den Aitien44

γηράσκει δ᾿ ὁ γέρων κεῖνος ἐλαφρότερον

κοῦροι τὸν φιλέουσιν ἑὸν δέ μιν οἷα γονῆα

χειρὸς ἐπ᾿ οἰκείην ἄχρις ἄγουσι θύρην

Jener Greis altert leichter den die jungen Maumlnner lieben und wie ihren eigenenVater an der Hand gaumlnzlich bis zur Tuumlr seines Hauses fuumlhren45

In beiden Ausschnitten wird die Wertschaumltzung eines alten Mannes durch juumlngere dieihm ein Ehrengeleit geben thematisiert und als wuumlnschens- und erstrebenswert darge-stellt Tibull benutzt diese Vorstellung aber als seinen eigenen Traum er subjektivisiertKallimachosrsquo Vorlage und macht eine allgemein vorgetragene Ansicht zu seiner eigenenWunschvorstellung Dieser Traum des elegischen Ichs hat die Funktion die darauf folgendeEnthuumlllung des eigenen Versagens in der Liebe noch deutlicher hervorzuheben

Tibull uumlbernimmt Ideen Motive Bilder und Vergleiche welche sich meist auf einekonkrete Textstelle zuruumlckfuumlhren lassen die aber oft dennoch in voumlllig neuer Gestalt indie Elegie eingefuumlgt worden sind und sich deshalb manchmal nicht klar von hypertextuel-len Bezuumlgen trennen lassen Besonders seine Aussagen uumlber die Dichtung und die damitverbundenen intertextuellen Bezuumlge zu Kallimachos lassen sich poetologisch deuten DerLeser hat nun erste Orientierungspunkte erhalten die ihm ein tieferes Verstaumlndnis derElegie ermoumlglichen und durch die er auch undeutlichere Beziehungen zur hellenistischenDichtung wahrnehmen kann

4 Neben diesen intertextuellen enthaumllt Tibulls Elegie auch hypertextuelle Beziehun-gen Hierbei nimmt die Elegie entweder durch Transformation also durch die Veraumln-derung einer Vorlage oder durch Nachahmung bestimmter stilistischer Eigenheiten aufeinen anderen Text Bezug Der naumlchste Unterabschnitt wird aufzeigen dass das Prinzipder Transformation am neunten Iambus von Kallimachos nachweisbar ist die restlichenbeschaumlftigen sich mit der Nachahmung bestimmter Merkmale hellenistischer Poesie undihrer Dichter

Die aumluszligere Form der Elegie scheint durch Transformation verschiedener Kallimachos-Fragmente gestaltet worden zu sein Der Dialog mit einer Statue ist gleich mehrmalsin seinen Werken zu finden Neben dem Aitien-Fragment 11446 und dem Epigramm 2447

43 Vv 79ndash8044 Vgl Luck (1959) 98 Bulloch (1973) 76 Maltby (2002) 23745 Call Aet 1fr 41 Pf46 Dialog zwischen Apollo und einer unbekannten Person47 Die Statue eines Helden spricht

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weist der neunte Iambus der uns abgesehen von zwei Versen auch nur durch den Diegeseis-Papyrus uumlberliefert ist die groumlszligten Uumlbereinstimmungen mit der Elegie 14 auf48

]Φιλη-

τάδου παιδὸς εὐπρεποῦς ἐραστὴς ἰδὼν

῾Ερμοῦ ἄγαλμα ἐν παλαιστριδίῳ ἐντε-

ταμένον πυνθάνεται μὴ διὰ τὸν Φιλη-

τάδαν ῾Ο δέ φησιν ἄνωθεν εἶναι Τυρση-

νὸς καὶ κατὰ μυστικὸν λόγον ἐντε-

τάσθαι ἐπὶ κακῷ δὲ αὐτὸν φιλεῖν τὸν

Φιλητάδαν

Als der Liebhaber des schoumlnen Knaben Philetades auf einer kleinen Palaumlstraein Bildnis eines erigierten Hermes sieht fragt er bdquoEtwa wegen PhiletadesldquoDas Bildnis aber antwortet ihm von oben herab dass es etruskisch sei undwegen einer mystischen Lehre erigiert sei dass seine Liebe zu Philetades aberzum Schlechten gereiche49

In der Elegie und im Kallimachos-Fragment findet der Dialog zwischen einem ithyphal-lischen Gott und einem Knabenliebhaber statt Sowohl die Dialogform die Dialogpartnerals auch das uumlbergeordnete Thema stimmen folglich uumlberein Eine weitere Gemeinsamkeitist die uumlberraschende und ungluumlckliche Wende am Ende des Iambus bzw der Elegie Inbeiden Faumlllen erfaumlhrt der Leser dass eine gluumlckliche Liebesbeziehung unmoumlglich ist Dieseungluumlckliche Wende hat bei Tibull jedoch deutlich mehr Tragweite weil sie das bis dahinnahegelegte Verstaumlndnis der Elegie veraumlndert ja sogar ins Gegenteil verkehrt Durch sieverliert der gesamte Vortrag des Priapus an Bedeutung Des Weiteren unterscheidet sichdie Elegie dadurch dass Tibull Priapus als Gespraumlchspartner auswaumlhlt Doch auch dabeigreift er auf hellenistische Vorstellungen zuruumlck Priapus war im Hellenismus sehr beliebt50

und tritt beispielsweise im ersten Idyll von Theokrit als Liebeslehrer auf51 Aufgrund derUumlbereinstimmung von Hauptthema Form und uumlberraschender Wendung ist es durchausmoumlglich die Elegie 14 als erweiterte und verlaumlngerte Transformation des neunten Iambusvon Kallimachos anzusehen Erkennt der Leser diesen Bezug zur hellenistischen Dichtungschon beim Lesen wird er etwas auf das uumlberraschende Ende vorbereitet wenn nichtwird er ihm wohl spaumltestens nach dem Lesen der Schlusspointe deutlich werden so dassdie Freude des Wiedererkennens des Iambus im zweiten Lesedurchgang ihre volle Wir-kung entfalten kann und dem Leser mehr und mehr Parallelen zwischen der Elegie und

48 Vgl Dawson (1946) 12ndash13 Luck (1959) 93 Bulloch (1973) 78ndash79 Cairns (1979) 189ndash190 Murgatroyd(1980) 130 Maltby (2002) 216

49 Dieg 833ndash40 zu Call Iamb 9 Pf50 Vgl Murgatroyd (1980) 129ndash131 Maltby (2002) 21651 Hier allerdings ohne den Kontext der Knabenliebe Vgl Theoc Id 180ndash92

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hellenistischer Dichtung auffallen

Neben dieser Transformation ist aber auch die Nachahmung von einigen Eigenheitender hellenistischen Poesie nachweisbar Eines der Merkmale der hellenistischen Poesie istdas Taumluschen des Lesers52 Diese Tendenz bezeichnet Asper in Bezug auf Kallimachosauch als bdquoEindruck der Unberechenbarkeitldquo53 Als Beispiel fuumlr diese Unberechenbarkeitkann der oben vorgestellte neunte Iambus von Kallimachos dienen Auch Theokrits vier-tes Epigramm waumlre ein Beispiel in dem ein Liebender einem Hirten zunaumlchst auftraumlgtPriapus zu bitten ihn von seiner Liebe zu erloumlsen dann aber deutlich macht dass er sichin Wahrheit eine gluumlckliche Liebesbeziehung wuumlnscht54

Die Tendenz den Leser bestaumlndig in die Irre zu fuumlhren ist in Tibulls vierter Elegiesehr deutlich Schon zu Beginn spielt Tibull mit den Lesererwartungen Nach dem erstenVers Sic umbrosa tibi contingant tecta Priape (So moumlgen dir Priapus schattenspendendeDaumlcher zuteilwerden)55 koumlnnte der Leser wohl vor allem durch das an ein rituelles Gebeterinnernde einleitende sic56 noch annehmen dass nun ein Gebet zu Priapus folgt Wenigspaumlter wird jedoch die eigentliche Absicht des elegischen Ichs deutlich Quae tua formo-sos cepit sollertia (Welche dir eigene Faumlhigkeit haumllt die schoumlnen Juumlnglinge gefangen)57

Der Gott wird als Ratgeber in der Knabenliebe angerufen Der anfaumlngliche Eindruck ei-nes unmittelbaren Dialogs wird jedoch durch den erzaumlhlenden Einschub in den Versen7ndash8 aufgeloumlst58 Erst jetzt erfaumlhrt der Leser dass es sich gar nicht um einen unmittelbarstattfindenden sondern um einen durch das elegische Ich wiedergegebenen Dialog han-delt Durch die Einfuumlhrung des Priapus als jemanden ohne gepflegtes Aumluszligeres59 und diespottende Beschreibung des Priapus als Bacchi rustica proles armatus curva falcedeus (Der baumluerliche Nachkomme des Bacchus der Gott bewaffnet mit einer gekruumlmm-ten Sichel)60 werden beim Leser keine groszligen Erwartungen bezuumlglich des nun folgendenVortrages geweckt Es schlieszligt sich jedoch ein rhetorisch ausgefeilter wohl gegliederter61

Lehrvortrag an Im abschlieszligenden Monolog des elegischen Ichs wird dann das deutlichwas Cairns als bdquoTibullan trick endingldquo62 bezeichnet Hier haumlufen sich die den Leser uumlberra-schenden Wendungen im Handlungsverlauf Bisher wurde der Leser im Glauben gelassendas elegische Ich erfrage alle Ratschlaumlge fuumlr sich selbst Nun erfaumlhrt er aber dass es diese

52 Vgl Cairns (1979) 166ndash19153 Asper (2004) 5154 Vgl Theoc Ep 455 V 156 Vgl Maltby (2002) 216ndash21757 V 358 Vgl Radicke (2006) 20559 Vgl V 460 Vv 6ndash761 In seiner Rede bedient sich Priapus vieler rhetorischer Stilfiguren Besonders haumlufig werden Ana-

phern verwendet (Vgl Vv 111213 Vv 1718 Vv 1920 Vv 28293031 Vv 4143) Sein Vortrag istdaruumlber hinaus noch kunstvoll in sich verlaumlngernde Abschnitte gegliedert von denen die ersten drei aus jedrei Distichen bestehen auf die dann Abschnitte aus sechs neun und acht Distichen folgen Vgl Radicke(2006) 197 Murgatroyd (1980) 128

62 Cairns (1979) 173

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nur fuumlr einen gewissen Titius in Erfahrung gebracht habe63 Doch damit nicht genug SedTitium coniunx haec meminisse vetat (Aber seine Frau verbietet Titius sich daran zuerinnern)64 Da Titius nun aber gar keinen Gebrauch von seinen Lehren machen kanngibt sich das elegische Ich im Folgenden einer Vision von sich selbst als Liebeslehrer hinMe qui spernuntur amantes consultent (Moumlgen mich die Liebenden die zuruumlckgewie-sen werden um Rat fragen)65 Doch auch diese vom Leser nach zweimaliger Irrefuumlhrunggerade erst gewonnene Information wird sofort wieder fuumlr unguumlltig erklaumlrt Das elegischeIch wird selbst von einem Knaben zuruumlckgewiesen und gequaumllt66 Es wird klar dass daselegische Ich alle Ratschlaumlge doch zumindest zum Teil auch fuumlr sich erfragt hat selbst inder Knabenliebe wenig erfolgreich und somit auch nur wenig als Liebeslehrer geeignet istDurch das verzweifelte Flehen Parce puer quaeso (Verschone mich Junge bitte)67 wirddie Hilflosigkeit des elegischen Ichs deutlich Alle vorher gegebenen Ratschlaumlge sind in derLiebe voumlllig nutzlos

Tibull fuumlhrt seine Leser also wiederholt in die Irre indem er ganz bewusst Infor-mationen zuruumlckhaumllt oder die bisherigen Erwartungen des Lesers enttaumluscht Dadurchgelingt es ihm nicht nur den Leser zu unterhalten sondern auch ihn waumlhrend der gan-zen Elegie in einem Zustand der staumlndigen Spannung verharren zu lassen Auch koumlnnteman meinen dass durch diese staumlndigen Taumluschungen die Unberechenbarkeit und die Un-vorhersehbarkeit der Liebe unterstrichen werden Genauso wie der Leser im Verlauf derElegie nie wirklich sicher sein kann woran er ist ist auch der Liebende nie wirklich aufder sicheren Seite kann die Reaktion des anderen nie vorausplanen muss immer mit demUnvorstellbaren rechnen

Ein weiteres hellenistisches Merkmal das Tibull nachahmt ist die Ironie Kallima-chosrsquo bdquointelligenter Witzldquo68 und Theokrits bdquofelicitously ironic and grotesque effectsldquo69 dieoft durch das Versetzen von Elementen der staumldtischen Kultur zu einfachen Schafhirtenhervorgerufen werden70 koumlnnen durchaus als Vorbilder fuumlr die feine Ironie gedient habendie die gesamte Elegie durchzieht

Schon allein der Gedanke dass die unvorhersehbare Liebe die sich keinen Regeln un-terwirft durch eine bestimmte Technik oder durch das Einhalten bestimmter Ratschlaumlgeerlernt berechnet oder beherrscht werden kann ist amuumlsant71 Derselben Idee wird sichspaumlter auch Ovid in seiner Ars amatoria bedienen

Aber auch der Gott Priapus wird auf sehr ironische und belustigende Weise ein-

63 Vgl V 7364 V 7465 Vv 77ndash7866 Vgl V 8167 V 8368 Asper (2004) 5369 Giangrande (1986) 4970 Vgl ebd71 Vgl Littlewood (1983) 2152

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gefuumlhrt Zunaumlchst wird er dem Leser dem allgemeinem Bild von ihm entsprechend alswenig gepflegter Gott72 als rusticus und armatus curva falce73 vorgestellt Dann ist daszum Lehrvortrag uumlberleitende Distichon74 aber durch sehr poetische und ernste Spracheausgestaltet Es wird das archaische Wort proles75 verwendet das einen feierlichen undernsthaften Ton hat76 das sic ego77 erinnert an epischen Sprachgebrauch78 und die Haumlu-figkeit von Spondeen steigt deutlich an79 so dass die Ernsthaftigkeit und Bedeutung desDistichons deutlich gesteigert werden Somit dient das Distichon nicht nur als Uumlberleitungvon der Rede des elegischen Ichs zu der des Gottes sondern verwandelt auch vor den geis-tigen Augen des augusteischen Lesers den ihm als einfach ungebildet und ithyphallischbekannten Gartengott Priapus in eine ernstzunehmende fast schon heroische LehrpersonDiese Art Ironie durch den Gegensatz zwischen heroischer Uumlberhoumlhung und baumluerlicherEinfachheit zu erzeugen erinnert ein wenig an die von Giangrande beschriebene IronieTheokrits

Es folgt der Vortrag des Priapus selbst der von Maltby als bdquomock-didacticldquo80 be-schrieben wird Dieser Eindruck kommt durch den Gegensatz zwischen dem formell vor-getragenen und rhetorisch ausgearbeiteten Vortrag des Priapus und dem eher informellenThema und der Tatsache dass Priapusrsquo praecepta hauptsaumlchlich auf allgemeinen Banalitauml-ten fuszligen zustande Dies vermag schon die naumlhere Untersuchung des ersten praeceptum81

der Rede zu zeigen Der Rat nicht gleich aufzugeben sondern Geduld zu haben wird bei-spielsweise durch das Bild von Menschen die es im Laufe der Zeit schaffen sogar Loumlwenzu zaumlhmen von Wasser das mit der Zeit einen Stein aushoumlhlen kann von Trauben diein der Sonne reifen und von Sternen die sich auf ihren festgelegten Bahnen fortbewegenkunstvoll illustriert82 Die besondere Macht der Zeit wird durch die Anaphern von longadies83 und annus84 hervorgehoben Gleichzeitig ist es voumlllig offenbar dass der Rat ab-zuwarten und die Zeit fuumlr sich arbeiten zu lassen kein voumlllig neuer vorher unbekannterGeniestreich des Priapus ist Dennoch scheint er vom Liebesratgeber Priapus voumlllig ernstgenommen und fuumlr aumluszligerst wichtig gehalten zu werden Dadurch entsteht ein uumlberaus iro-nischer Eindruck Dieses Prinzip eine sorgfaumlltige Gliederung in praeceptum gefolgt vonBeispielen und stilistischen Figuren bei eigentlich trivialen Ratschlaumlgen ist auch bei allenfolgenden Abschnitten der Rede festzustellen

72Vgl V 473 Vgl Vv 7ndash874 Vv 7ndash875 V 776 Murgatroyd (1980) 13477 V 678 Vgl Maltby (2002) 21879 Vgl Littlewood (1983) 215380 Malbty (2002) 21581 Vv 15ndash2082 Vgl Vv 17-2083 Vv 171884 Vv 1920

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In der finalen Wendung der Elegie kommt eine ganz neue Nuance von Ironie zumTragen Nachdem vorher Ironie auf Kosten des Priapus eingesetzt worden ist wird durchdas Eingestehen der eigenen Machtlosigkeit durch das elegische Ich85 nun noch der Aspektder Selbstironie hinzugefuumlgt Das elegische Ich das sich vorher noch ausgemalt hat dasseine Schar junger Maumlnner es deducat86 was ein Fachausdruck fuumlr das Ehrengeleit einerbedeutenden Persoumlnlichkeit oder eines Politikers darstellt87verliert so all seine Autoritaumltmuss gar befuumlrchten dass die Leser es auslachen werden88 Doch nicht nur das elegischeIch wird so ins Laumlcherliche gezogen die gesamte Elegie verliert durch die Erkenntnisdass alle Ratschlaumlge im Angesicht der Liebe nur vana magisteria (leere Lehren)89 sindihre Aussagekraft und Bedeutung Diese Bedeutungslosigkeit und die daraus resultieren-de Hilfslosigkeit werden durch die Positionierung dieses Ausdrucks am Schluss der Elegiehervorgehoben Zu der wirkungsvollen Stellung kommt die Besonderheit dass hier mitmagisteria ein fuumlnfsilbiges Wort am Ende des Pentameter steht was ansonsten von Ti-bull eher vermieden wird90 Die Elegie endet folglich mit der Feststellung dass sie ihrenvordergruumlndigen Sinn das Geben von Ratschlaumlgen fuumlr die Knabenliebe nicht erfuumlllenkonnte Diese Form der Ironie beschreibt Luck deshalb vielleicht nicht ganz zu Unrechtals bdquotouch of romantic ironyldquo91

Um die Funktion der Ironie besser verstehen zu koumlnnen ist Radickes Aufsatz uumlberdie Elegie 14 in dem er feststellt dass die Rede des Priapus durch bdquounzuverlaumlssige Redeldquogekennzeichnet ist aumluszligerst hilfreich92 Auf diese bdquounzuverlaumlssige Redeldquo werde schon vorder Schlusspointe hingewiesen indem Priapus schon waumlhrend seines Lehrvortrags mit zu-nehmender Deutlichkeit zwischen seiner vordergruumlndigen Rolle als Liebeslehrer und derRolle des verschmaumlhten Liebhabers die ja eigentlich dem elegischen Ich zukommt hinund her springe Dies werde dadurch deutlich dass einige Abschnitte der Rede wie zBdie Warnung vor der Liebe93 oder die Kritik an kaumluflicher Liebe94 eindeutig aus Sichteines ungluumlcklichen Liebhabers erfolgen waumlhrend andere durchaus zur Rolle als Liebes-lehrer passen95 Dadurch werde offenbar dass es sich bei dem durch das elegische Ichwiedergegebenen Dialog gar nicht um einen solchen handle sondern Priapus vielmehr dieFunktion einer bdquoMaske durch die das elegische Ich seine Gefuumlhle mitteilt oder bessergesagt seine Gefuumlhle zu verbergen suchtldquo96 erfuumlllt und der Lehrvortrag als letzter ver-zweifelter Versuch zu werten sei Marathus von sich zu uumlberzeugen Auch die Tatsache

85 Vgl Vv 81ndash8486 V 8087 Vgl Georges s V deduco II e ζ αα88 Vgl V 8489 V 8490 Vgl Maltby (2002) 23991 Luck (1959) 9992 Vgl Radicke (2006)93 Vv 8ndash1694 Vv 57ndash7295 Vv 15ndash20 21ndash26 39ndash5096 Ebd 202

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dass die Elegie von Beginn an von Ironie durchzogen wird die zum Ende hin immer staumlr-ker wird koumlnnte als Hinweis auf diese bdquounzuverlaumlssige Redeldquo gewertet werden Der Leserwird durch die ironische Einfuumlhrung des Priapus gleich darauf hingewiesen dass dieser alsLiebeslehrer nicht ganz ernst zu nehmen ist Der Gegensatz zwischen Ernsthaftigkeit undtrivialen Ratschlaumlgen in der Rede verweist zusaumltzlich zum Gegensatz zwischen der Rolledes Liebeslehrers und des Liebenden noch deutlicher auf die Maskenfunktion des Priapusbis schlieszliglich die letzte Wendung der Elegie keinen Zweifel mehr an der Tatsache laumlsstdass der Lehrvortrag des Priapus nur ein verzweifelter Versuch des elegischen Ichs ist dieeigene Hilfslosigkeit zu verbergen

Eine weitere Parallele zur hellenistischen Poesie ist die Ringkomposition in Tibulls Ele-gie 14 Die Ringkomposition bei der eine bestimmte Anzahl von Themen bis zu einemzentralen Punkt behandelt werden die dann nach diesem in der umgekehrten Reihen-folge wieder behandelt werden ist zwar schon seit Homer zu finden da sie anfaumlnglichwohl vor allem als Gedaumlchtnisstuumltze bei muumlndlicher Poesie diente97 Sie nimmt aber aucheinen wichtigen Platz in der hellenistischen Dichtung mit ihrer hohen Wertschaumltzung vonformalen Strukturen ein und laumlsst sich beispielsweise in Theokrits Idyll 28 wiederfinden98

Bei den Abschnitten in die sich die vierte Elegie gliedert faumlllt ein aumlhnliches Prinzipauf99 Die einleitende Anrede100 (A1) steht dem anschlieszligenden Kommentar des elegi-schen Ichs101 (A2) gegenuumlber die Warnung des Priapus vor der Knabenliebe102 (B1) derKritik an kaumluflicher Liebe und dem Lobpreis der Dichtung103 (B2) und die Passagen indenen Priapus zur Geduld und zu falschen Schwuumlren auffordert104 (C1) dem Aufruf da-zu den Wuumlnschen des Geliebten zu folgen105 (C2) Das Mittelstuumlck das als Spiegelachsedient bildet der Abschnitt (D) in dem auf die Vergaumlnglichkeit der Jungend aufmerksamgemacht wird106 (A2) kommentiert sein Gegenstuumlck ironisch indem es (A1) als voumllligsinnlos enthuumlllt und (B2) gibt einen moumlglichen Grund fuumlr die Warnung in (B1) an107

Auffaumlllig ist jedoch auch dass sich mit (B1) und (B2) zwei Abschnitte gegenuumlberstehenin denen Priapus seine ihm zugewiesene Rolle als Liebeslehrer verlaumlsst waumlhrend in (C1)und (C2) Priapus seine Rolle als Liebeslehrer erfuumlllt Der Abschnitt (D) nimmt zu Rechtdie wichtige Mittelstellung ein weil hier der verzweifelte Versuch des lyrischen Ichs Ma-rathus durch den vorgeschobenen Liebeslehrer Priapus doch noch fuumlr sich zu gewinnenbesonders deutlich durchschimmert Das Argument der Vergaumlnglichkeit der Jugend und

97 Vgl Cairns (1979) 195ndash19698 Vgl ebd 193ndash194 20299 Vgl ebd 207ndash208

100 Vv 1ndash8101 Vv 73-84102 Vv 9ndash14103 Vv 57ndash72104 V 15ndash26105 Vv 39ndash56106 Vv 27ndash38 Vgl ebd 207107 Vgl ebd

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die daraus folgende Aufforderung die verbleibende Zeit zu nutzen wird naumlmlich vorrangigvon Liebenden verwendet um den Geliebten oder die Geliebte von einer Beziehung zuuumlberzeugen108 Tibull selbst verwendet diese Argumentation an anderer Stelle um seineDelia von sich zu uumlberzeugen109 Mit Abschnitt (D) steht folglich ein Abschnitt im Mit-telpunkt der unweigerlich die Doppelrolle des Priapus als Liebeslehrer einerseits und alsungluumlcklicher Liebender andererseits offenbart

Trotz der wiederholten Taumluschung des Lesers und der Ironie liegt der Elegie alsoauch eine klare Gliederung zu Grunde die dafuumlr sorgt dass der Leser nicht voumlllig die Ori-entierung verliert und ebenfalls die besondere Rolle des Priapus als Maske des elegischenIchs hervorhebt

5 Mit Hilfe der durch Genette gepraumlgten Begriffe der Inter- und der Hypertextualitaumltlassen sich folglich viele verschiedene Einwirkungen hellenistischer Poesie auf die vierteElegie ausmachen Auch wenn es nicht immer leicht ist beide Begriffe klar voneinanderabzugrenzen haben sie es doch ermoumlglicht die verschiedenen Arten der Einwirkung einesTextes auf einen anderen zu unterscheiden und so ein systematisches detaillierteres undvollstaumlndigeres Bild der Beziehungen zwischen hellenistischer Dichtung und Tibulls Elegieaufzuzeigen

Intertextuelle Beziehungen lassen sich besonders deutlich zwischen Tibull und Kal-limachosrsquo Aitien Iamben und Epigrammen ausmachen Diese werden sinnvoll und pro-duktiv in die Elegie eingebunden und stets verwendet um den Inhalt der Elegie deut-licher hervorzuheben Gleichzeitig lassen sie sich auch poetologisch deuten Die groszligenAumlhnlichkeiten zu Kallimachos besonders im letzten Teil der Elegie110 sind auf eine Wie-dererkennung durch den Leser ausgelegt und verdeutlichen ihm dass sich in der Elegienoch weitere nicht so direkte und woumlrtliche Bezuumlge zu Kallimachos im Besonderen undzur hellenistischen Dichtung im Allgemeinen finden lassen Sie bewirken dass der Lesernach weiteren indirekteren Parallelen sucht und bereits nach der typischen hellenistischenIronie und Unberechenbarkeit oder aumlhnlichen Merkmalen der hellenistischen DichtungAusschau haumllt

Diese indirekteren von Genette als hypertextuell bezeichneten Beziehungen lassensich in der Tat ebenfalls in groszliger Zahl in der Elegie wiederfinden Die Elegie wurdewohl nach dem Vorbild von Kallimachosrsquo neuntem Iambus gestaltet Auszligerdem werdenauch sie konsequent verwendet um den Inhalt kunstvoll zu unterstreichen und dem Le-ser das Verstaumlndnis der gesamten Elegie zu erleichtern Die Ironie weist eindeutig auf dieMaskenfunktion des Priapus hin die haumlufigen Uumlberraschungen fuumlr den Leser auf die Unbe-staumlndigkeit der Liebe Durch die Ringkomposition bietet Tibull dem Leser aber dennochnoch einige Orientierungshilfen durch die sich die Elegie leichter verstehen laumlsst

108 Vgl ebd Radicke (2006) 199109 Vgl Tib 1168ndash78110 Vv 57ndash84

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Die Funktion der transtextuellen Beziehungen ist es daher die Aussage hervorzuhe-ben dass Liebe nicht gelehrt nicht erlernt und nicht beherrscht werden kann Sie werdennicht einfach um ihrer selbst willen uumlbernommen sondern veraumlndert neu angeordnetund zu etwas voumlllig Neuem zu einer subjektiven Liebesgeschichte zusammengefuumlgt Zu-gleich werden sie jedoch nicht so verfremdet dass der Leser sie nicht wiedererkennen kannDurch die Beziehungen zur hellenistischen Dichtung schafft Tibull deutlich hervorstechen-de Orientierungspunkte fuumlr den Leser und hebt dabei zugleich die Botschaft der absolutenHilfslosigkeit in der Liebe gekonnt auszligergewoumlhnlich und aumluszligerst unterhaltsam hervor jabildet sie sogar ganz konkret durch die Gestaltung der Elegie ab ohne dabei die Leserorientierungslos oder gar bdquoill-preparedldquo im Dunkeln zuruumlckzulassen

Uumlber die Autorin Helen E Neutzler ist seit dem Wintersemester 20132014 BA-Studentin der Faumlcher klassische Philologie und Archaumlologische Wissenschaften an derRuhr-Universitaumlt Bochum Schwerpunkte legt sie in diesen beiden Faumlchern auf Latein unddie klassische Archaumlologie Im Oktober 2014 wurde ihr ein Stipendium des Bildungsfondsder RUB im Rahmen des Deutschlandstipendiums verliehen

Bibliography

Textausgaben und Kommentare

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Monographien und Aufsaumltze

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zum fuumlnfundzwangzigjaumlhrigen Bestehen des philologischen Vereins zu Breslau Bres-lau 1896 48ndash58

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Page 2: Hellenistische Leuchtfeuer in Tibulls Priapus-Elegie · Hellenistische Leuchtfeuer in Tibulls Priapus-Elegie Transtextuelle Bezüge zur hellenistischen Dichtung und ihre Funktion

HELLENISTISCHE LEUCHTFEUER IN TIBULLS PRIAPUS-ELEGIE

uumlber Tibulls Vorbilder zu gewinnen und somit auch seine Elegien besser verstehen zukoumlnnen

Die Frage nach den hellenistischen Einfluumlssen auf Tibulls Werk findet in der Forschungschon lange Beachtung bereits an der Wende vom 19 zum 20 Jahrhundert wurde aufsie aufmerksam gemacht5 Auch Smith beruumlcksichtigte diese Einfluumlsse in seinem Tibull-Kommentar6 Papyrus-Funde mit Fragmenten der Aitien und Iamben des alexandrinischenDichters Kallimachos ab dem Ende des 19 Jahrhunderts7 fuumlhrten zu einer deutlichen Bele-bung der Fragestellung besonders der Frage nach Kallimachosrsquo Einfluss auf Tibull 1946machte Dawson in seinem Aufsatz zum dritten Iambus von Kallimachos auf deutlicheParallelen zu Tibulls Elegie 14 aufmerksam auch zwischen dem neunten Iambus undder Elegie sah er thematische Verwandtschaften8 Als dann Kallimachosrsquo Werk durch diezweibaumlndige Ausgabe von Pfeiffer9 in der Mitte des 20 Jahrhunderts so gut zugaumlnglichwar wie noch nie wurden immer neue Bezuumlge zu Kallimachos entdeckt Luck ergaumlnztenoch weitere Stellen und wies darauf hin dass sowohl das Hauptthema und die dialogi-sche Struktur als auch die Fiktion der sprechenden Statue und diverse Unterthemen vonhellenistischer Dichtung ndash insbesondere von Kallimachos ndash beeinflusst seien Tibull sei bdquoinhis dependence on the classical and Alexandrian tradition in Greek poetry [ ] hardlymore lsquooriginalrsquo than either Propertius or Ovidldquo10

Ein Jahr spaumlter auf der jaumlhrlichen Konferenz der Fondation Hardt bewerteten dieTeilnehmer die hellenistischen Elemente in Tibull voumlllig anders und waren fast uumlberein-stimmend der Meinung dass bdquola tendance consciente de sa poeacutesie pour la forme commepour le fond nrsquoest pas helleacutenistique mais romainerdquo11 (die bewusste Tendenz seiner Poesiesowohl was die Form als auch was den Inhalt angeht nicht hellenistisch sondern roumlmischist) Auch nach der Einschaumltzung von Solmsen ist die Elegie eher durch Motive der Tra-goumldie und anderer augusteischen genera beeinflusst als durch hellenistische Dichtung12

1973 erstellte Bulloch eine detaillierte Liste mit allen bisher erkannten Bezuumlgen zwischenhellenistischen Dichtern und Tibull von denen sich sieben auf die Elegie 14 beziehen undalle bis auf ein Bezug aus Kallimachosrsquo Dichtungen stammen13 Cairns zeigte 1979 in sei-ner Monographie Tibullus A Hellenistic Poet at Rome14 die Beziehung zwischen TibullsElegien und hellenistischer Dichtung in thematischer sprachlicher kompositorischer undgattungsgemaumlszliger Hinsicht auf Auch Murgatroyd und Maltby weisen in ihren jeweiligen

5 Vgl zB Wilhelm (1896) Jacoby (1910)6 Vgl Smith (1911) 264ndash265 270 281 2897 Vgl Lehnus (2011) 26ndash278 Vgl Dawson (1946)9 Vgl Pfeiffer (19491953)

10 Luck (1959) 83ndash8411 Beitrag des Philologen Waszink in der Diskussion zum Vortrag von Grimal (1963) 29412 Vgl Solmsen (1962) 320ndash32513 Vgl Bulloch (1973)14 Vgl Cairns (1979)

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Kommentaren zur Elegie 14 auf den groszligen Einfluss hellenistischer Dichtung hin15

Bei der Betrachtung dieser Forschungsgeschichte fallen folgende Dinge auf Die Be-einflussung der vierten Elegie durch hellenistische Dichtung scheint fast unumstritten zusein lediglich die Tiefe und die Bedeutung die diesen Einfluumlssen beigemessen werdenund ihre Bewertung unterscheiden sich Die groumlszligten Gemeinsamkeiten werden mit Kalli-machos gesehen was aber wohl vor allem an dem im Vergleich zu anderen hellenistischenDichtern recht guten Uumlberlieferungszustand seiner Werke liegt Luck und Bulloch bie-ten detaillierte Auflistungen der woumlrtlichen und thematischen Bezuumlge in der Elegie 14Cairns beruumlcksichtigt auch andere Arten von Relationen zwischen zwei Texten und lie-fert so ebenfalls wertvolle Ansaumltze fuumlr diese Arbeit Wahrlich erstaunlich ist jedoch dassbisher niemand der konkreten Funktion der transtextuellen Beziehungen in der Elegie 14nachgegangen zu sein scheint Immer wird lediglich auf ihr bloszliges Vorhandensein verwie-sen Dabei ist gerade die Frage nach ihrer Funktion entscheidend fuumlr ihr Verstaumlndnis unddas der gesamten Elegie

Aus dem Gang der bisherigen Forschung ergeben sich folglich zwei Ziele fuumlr die vor-liegende Arbeit Zunaumlchst wird in ihr auf der Basis von Genettes Transtextualitaumltsmodellden verschiedenen Arten von transtextuellen Bezuumlgen zwischen hellenistischer Poesie undder Elegie 14 nachgegangen werden In einem zweiten Schritt soll dann jeweils die Fragenach der Funktion dieser Bezuumlge fuumlr das Verstaumlndnis der Elegie beantwortet werden Da-bei wird die These vertreten dass diese sowohl vom Leser erkannt werden und ihm so alspoetologische Hinweise zur Orientierung dienen sollen als auch besonders die inhaltlicheAussage der Elegie naumlmlich das Versagen von jeglichen Lehrmethoden Prinzipien oderPlanungen im Angesicht der Liebe auf eine humorvolle und in der roumlmischen Liebeselegievoumlllig neuartige Art hervorheben

2 Um die vielfaumlltigen Bezuumlge zwischen verschiedenen Texten moumlglichst systematischund vollstaumlndig erfassen zu koumlnnen ist es notwendig sich der verschiedenen Arten auf dieein Text einen anderen beeinflussen kann bewusst zu werden Zu diesem Zweck stellt Ge-nette in seiner Monographie Palimpseste Die Literatur auf zweiter Stufe den Begriff derTranstextualitaumlt auf16 Unter Transtextualitaumlt versteht er hierbei alles was einen Textin eine offensichtliche oder versteckte Relation zu anderen Texten setzt17 Diese Rela-tionen koumlnnen ganz unterschiedlicher Natur sein Genette unterscheidet insgesamt fuumlnfTypen transtextueller Beziehungen18 Von diesen scheinen mir besonders die Begriffe derIntertextualitaumlt und der Hypertextualitaumlt fuumlr diese Arbeit geeignet und weiterfuumlhrend zusein Unter Intertextualitaumlt versteht Genette die bdquoeffektive Praumlsenz eines Textes in einemanderen Textldquo19 Er begrenzt die vielfaumlltigen Bedeutungsebenen die der Begriff der In-

15 Vgl Murgatroyd (1980) 128ndash159 Maltby (2002) 215ndash23916 Genette (1993) 9ndash1617 Vgl ebd 918 Vgl ebd 1019 Ebd

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HELLENISTISCHE LEUCHTFEUER IN TIBULLS PRIAPUS-ELEGIE

tertextualitaumlt im Laufe der Zeit erhalten hat somit auf konkrete gekennzeichnete undungekennzeichnete Uumlbernahmen aus oder direkte Anspielungen auf einen anderen Textohne deren Erkennung der neue Text oft nicht verstanden werden kann20 Die Hypertex-tualitaumlt bezeichnet hingegen die Beziehung zwischen einem fruumlheren Hypotext und einemvon diesem abgeleiteten spaumlteren Hypertext Der Hypotext wird hierbei entweder durchTransformation veraumlndert oder nachgeahmt21 Dabei muss die zu Grunde liegende Vorla-ge nicht explizit erwaumlhnt werden oft weist nur die Tatsache dass der juumlngere Text ohneden alten in seiner aktuellen Form gar nicht existieren koumlnnte auf eine hypertextuelleVerbindung hin22

Nicht immer lassen sich diese beiden Begriffe eindeutig und klar voneinander abgren-zen Genauso wie es nur selten vorkommt dass selbst eine fast woumlrtlich uumlbereinstimmendePassage in genau dem gleichen Kontext mit genau dem gleichen Sinn und der gleichenIntention uumlbernommen wird lassen sich oft bei der Transformation oder Nachahmung ei-nes Textes auch intertextuelle Beziehungen erkennen Daher werden Bezuumlge die sehr engund eindeutig auf bestimmte Textstellen Bezug nehmen im Folgenden als intertextuellbezeichnet und diejenigen die ganze Ideenkomplexe und typische Merkmale eines Autorsoder einer ganzen Gattung transformieren oder nachahmen als hypertextuell

Trotz dieser Problematik ermoumlglicht es die von Genette getroffene Unterscheidungvon verschiedenen Arten der Transtextualitaumlt sich der verschiedenen Formen der Bezie-hungen zwischen mehreren Texten bewusst zu werden und beschraumlnkt die Untersuchungnicht nur auf die woumlrtliche Ebene Gleichzeitig bietet diese Systematik eine Trennungder verschiedenen Ebenen auf denen Texte aufeinander einwirken koumlnnen So laumlsst sichein systematischeres und vollstaumlndigeres Bild der Beziehungen zwischen hellenistischerDichtung und Tibulls Elegie aufzeigen Daher werden im Folgenden zunaumlchst die inter-textuellen Bezuumlge der Elegie zur hellenistischen Dichtung herausgearbeitet und jeweils aufihre konkrete Funktion untersucht gefolgt von den hypertextuellen Bezuumlgen

3 Da die Intertextualitaumlt die direkteste aller transtextuellen Beziehungen ist undBezug auf eine konkrete Textstelle nimmt handelt es sich bei ihr hauptsaumlchlich um the-matische oder gar woumlrtliche Uumlbereinstimmungen und Aumlhnlichkeiten Im Folgenden soll esjedoch nicht das Ziel sein alle intertextuellen Beziehungen zwischen der vierten ElegieTibulls und hellenistischer Poesie herauszuarbeiten was schon allein aufgrund der nurbruchstuumlckhaften Uumlberlieferung der hellenistischen Dichtung nicht moumlglich waumlre sondernvielmehr einzelne wichtige intertextuell beeinflusste Themenkomplexe herauszustellen undihre Bedeutung zu ergruumlnden

In der vierten Elegie Tibulls lassen sich gleich mehrere hellenistische Themen und Bil-der finden Schon das Hauptthema der Elegie der παιδικὸς ἔρως (paidikos eros) verweist

20 Vgl ebd21 Vgl ebd 14ndash1622 Vgl ebd 15

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deutlich auf die hellenistische Dichtung23 Im Hellenismus entstanden viele erotische Epi-gramme aber auch andere laumlngere erotische Dichtungen die das Thema der Knabenliebebehandeln Beispiele hierfuumlr sind Kallimachosrsquo Iamben 3 und 5 oder Theokrits Idyllen 29und 30

Mit dem paidikos eros fuumlhrt Tibull ein ganz neues Thema in die roumlmische Liebeselegieein Dadurch uumlberrascht er den Leser dem bisher nur die Elegien in denen die Liebezu Frauen behandelt wird bekannt sind und ruft ihm unweigerlich die hellenistischeDichtung in Erinnerung Die Wahl dieses Themas bietet aber wohl vor allem den ReizBekanntes in einer voumlllig neuen Form zu praumlsentieren24 Von der eher ernsthaften Delia-Thematik wird Abstand genommen um die bekannte Liebesproblematik in einem neuenThemenkomplex humorvoll und ironisch behandeln zu koumlnnen Das Scheitern der Liebeist aber auch hier unausweichlich und dient wohl auch als Andeutung dass der Traumeines gluumlcklichen Wiedersehens mit Delia der am Ende der dritten Elegie gehegt wird25

zumindest nicht dauerhaft wahr werden kann wie zu Beginn der fuumlnften Elegie dann auchsofort deutlich wird26

Auch im ersten Lehrsatz des Priapus

Sed te ne capiant primo si forte negarittaedia paulatim sub iuga colla dabit

Aber dich soll kein Uumlberdruss ergreifen wenn er [der Knabe] sich zunaumlchstheftig weigern sollte Nach und nach wird er seinen Hals unter das Joch geben

laumlsst sich eine enge intertextuelle Beziehung zu Kallimachos ausmachen27

Ληφθήσει περίφευγε Μενέκρατες᾿ εἶπα Πανήμου

εἰκάδι καὶ Λῴου τῇ τίνι τῇ δεκάτῃ

ἦλθεν ὁ βοῦς ὑπ᾿ ἄροτρον ἐκούσιος εὖ γ᾿ ἐμὸς ῾Ερμῆς

εὖ γ᾿ ἐμόςmiddot οὐ παρὰ τὰς εἴκοσι μεμφόμεθα

lsquoAuch du wirst ergriffen werden fliehe nur Menekratesrsquo sagte ich am zwan-zigsten Tag des Panemos und ndash an welchem Tag des Loos noch ndash am zehntenkam der Ochse freiwillig unter das Joch Recht so mein Gluumlck28 gut meinesallein uumlber die zwanzig Tage aumlrgere ich mich nicht29

23 Vgl Luck (1959) 93 Cairns (1979) 21ndash2324 Vgl Lee-Stecum (1998) 15425 Vgl Tib 1389ndash9326 Vgl Tib 151ndash227 Vv 15ndash16 Vgl Luck (1959) 94 Bulloch (1973) 79 Murgatroyd (1980) 137 Maltby (2002) 220ndash22128 Der Ausruf ἐμὸς ῾Ερμῆς nimmt Bezug zu der Redewendung κοινὸς ῾Ερμῆς (Vgl LSJ sV ῾Ερμῆς

II2) die das Teilen von Gluumlck bezeichnet und betont durch die Verwendung des Possessivpronomensἐμός dass der Sprecher das Gluumlck ganz fuumlr sich allein beansprucht Vgl Asper (2004) 465 Anm 13

29 Call Epigr 45 Pf

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HELLENISTISCHE LEUCHTFEUER IN TIBULLS PRIAPUS-ELEGIE

Beide Male wird die Vorstellung des mit der Zeit nachgebenden Juumlnglings durch die Me-tapher des sich-unters-Joch-Beugens ausgedruumlckt und so die endlich totale Kontrolle uumlberden umworbenen Jungen hervorgehoben Das uumlbereinstimmende Bild des Jochs in diesemganz speziellen Kontext der Knabenliebe laumlsst deutlich auf einen intertextuellen Bezugschlieszligen

Im letzten Teil von Priapusrsquo Rede polemisiert dieser deutlich gegen Jungen die ihreLiebe vom Erhalt materieller Geschenke abhaumlngig machen die Dichtkunst dagegen nichtzu schaumltzen wissen30 Hier sind die drei Themen kaumlufliche Liebe Armut und Dichtung engmiteinander verwoben All diese Themen kommen auch schon in hellenistischer Dichtungvor und die Beziehung zu Kallimachos scheint hier besonders eng zu sein

Durch den Ausruf

Heu male nunc artes miseras haec saecula tractantiam tener assuevit munera velle puer

Ach nun behandeln diese Jahrhunderte die elenden Kuumlnste schlechtSchon der zarte Knabe hat sich daran gewoumlhnt Geschenke zu verlangen31

werden kaumlufliche Liebe und die zunehmende Orientierung an materiellen Werten beklagtDer dritte Iambus von Kallimachos zeigt ein ganz aumlhnliches Bild32 Auch wenn der ersteTeil des Iambus nur schlecht erhalten ist verraumlt die Diegesis

Καταμέμφεται τὸν καιρὸν ὡς πλούτου

μᾶλλον ἢ ἀρετῆς ὄντα τὸν δὲ

πρὸ αὐτοῦ ἀποδέχεται ὃς τῆς ἐναν-

τίας ἦν τούτων γνώμηςmiddot παρεπι-

κόπτει δὲ καὶ Εὐθύδημόν τινα ὡς

κεχρημένον τῇ ὥρᾳ πορισμῷ ὑ-

πὸ τῆς μητρὸς πλουσίῳ συσταθέντα

Er tadelt die aktuellen Zustaumlnde weil sie mehr Wert auf Reichtum alsauf Tugend legen die Zeit vor diesen die der gegenteiligen Auffassungwar billigt er Dabei schilt er auch einen Euthydemos weil er seinejugendliche Schoumlnheit zu Erwerbszwecken missbrauche nachdem er vonseiner Mutter mit einem Reichen zusammengebracht worden sei33

Beide Dichter verurteilen die Tatsache dass materiellen Guumltern ein houmlherer Wert bei-gemessen wird als der Tugend und der Dichtung Daruumlber hinaus steht diese Kritik in

30 Vv 57ndash7331 Vv 57ndash5832 Vgl Dawson (1946) 11ndash12 Murgatroyd (1980) 151 Maltby (2002) 23133 Dieg 634ndash40 zu Call Iamb 3 Pf Die Diegeseis werden im Folgenden aus Pfeiffer zitiert

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beiden Faumlllen im direkten Zusammenhang mit der KnabenliebeDiese Gemeinsamkeit wird sogar noch verstaumlrkt beruumlcksichtigt man dass der oben

zitierte Ausruf in den Versen 57ndash58 eindeutig aus der Perspektive eines armen Manneserfolgt der dem umworbenen Jungen keine solchen kostbaren Geschenke machen kann umdessen Gunst zu bekommen Dieser Standpunkt findet sich in Kallimachosrsquo Epigramm 32wieder in dem das elegische Ich einem Juumlngling namens Menippos gegenuumlber seine Armuteingesteht und ihn anfleht ihm diese nicht immer wieder vorzuhalten34 Beide Textstellenbeschreiben die Situation eines Mannes der aufgrund seiner Armut in der Knabenliebenicht erfolgreich ist

Des Weiteren faumlllt auf dass sowohl bei Kallimachos als auch bei Tibull der Kultder Kybele im Zusammenhang mit der Verdammung der kaumluflichen Liebe vorkommt35

In der Elegie 14 verflucht Priapus denjenigen der die Musen nicht zu schaumltzen weiszlig auffolgende Weise

At qui non audit Musas qui vendit amoremIdaeae currus ille sequatur OpisEt tercentenas erroribus expleat urbesEt secet ad Phrygios vilia membra modos

Aber wer die Musen nicht houmlrt wer Liebe verkauft jener soll den Wagen derphrygischen Ops36 folgen dreihundert Staumldte auf Irrfahrten durchwandern undsich zu phrygischen Rhythmen seine nutzlosen Glieder abschneiden37

Kallimachos kommentiert im dritten Iambus angesichts seiner Erfolgslosigkeit beimJuumlngling Euthydemos die durch dessen Fixierung auf Reichtum verschuldet ist

[ ] ν μοι τοῦτ᾿rsquoἂν ἦν ὀνήϊσ[το]ν

]υ[] [] Κ[υβή]βῃ τὴν κόμην ἀναρρίπτειν

Φρύγ[α] πρ[ὸς] αὐλὸν ἢ ποδῆρες ἕλκοντα

῎Αδω[ν]ιν αἰαῖ τῆς θεοῦ τὸν ἄνθρωπον

ἰηλεμίζεινmiddot νῦν δ᾿ ὁ μάργος ἐς Μούσας

ἔνευσαmiddot38

Es waumlre wohl dieses fuumlr mich am besten zum phrygischen Floumltenspiel das Haaremporzuwerfen oder das lange Gewand schleppend den Adonis ach weh denMann der Goumlttin zu beweinen jetzt habe ich Toumlrichter mich aber den Musenzugewandt

34 Vgl Call Epigr 32 Pf35 Vgl Dawson (1946) 12 Luck (1959) 96ndash97 Bulloch (1973) 79ndash80 Murgatroyd (1980) 15436 Ops die Frau Saturns ist das roumlmische Aumlquivalent zu Rhea der Frau Kronosrsquo welche die Griechen

wiederum mit Kybele der Goumlttin des Ida verbanden Vgl Murgatroyd (1980) 153ndash15437 Vv 67ndash7038 Call Iamb 3 fr 193 34ndash39 Pf

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HELLENISTISCHE LEUCHTFEUER IN TIBULLS PRIAPUS-ELEGIE

Da hier beide im gleichen Zusammenhang naumlmlich der der Armut geschuldeten Er-folgslosigkeit bei einem Knaben den Kult der Kybele hinzuziehen ist hier eine Beein-flussung Tibulls durch Kallimachos sehr wahrscheinlich Trotz dieser sehr nahen Parallelebesteht jedoch ein deutlicher Unterschied darin dass Kallimachos den Kult der Kybe-le an dem nur Eunuchen teilnahmen genauso wie den des Adonis der nur von Frauengepflegt wurde ironisch als letzten Ausweg aus seiner wenig Erfolg versprechenden Lagedarstellt da er ja durch das Beitreten zu einem dieser Kulte von seiner ungluumlcklichenLiebe befreit waumlre Tibull hingegen verwendet den Kybele-Kult als grausame und ab-schreckende Verfluchung des fuumlr die Musen Unempfaumlnglichen der nur durch materielleGeschenke zu gewinnen ist Er uumlbernimmt zwar die Kybele-Thematik fuumlgt sie aber aufeine voumlllig andere ihm eigene Weise in seine Elegie ein

Die besondere Wertschaumltzung der Dichtkunst durch das elegische Ich wird vor allem indiesem Distichon deutlich Quem referunt Musae vivet dum robora tellus dum caelumstellas dum vehet amnis aquas (Wen die Musen nennen der wird leben solange die ErdeEichen solange der Himmel Sterne solange der Fluss Wasser fuumlhrt)39) In Kallimachosrsquozwoumllftem Iambus hebt Apollon der Heras Tochter zum Geburtstag ein Lied schenkt denbesonderen Wert der Dichtung ganz aumlhnlich hervor ἡ δ᾿ ἐμὴ τῇ παιδὶ καλλίͺστη δόσιςἔστ᾿ ἐμὸν γένειον ἁγνεύῃ ͺ τριχός καὶ ἐρίφοις χαίρωσιν ἅρπͺαγ[ες λ]ύκ[ο]ι (Meine Gabeist aber fuumlr das Kind wunderschoumln so lange mein Kinn von Haar rein ist und sich dieraumluberischen Woumllfe an Zicklein erfreuen)40 waumlhrend die Geschenke der anderen Goumlttermit der Zeit vergehen wuumlrden Bulloch macht in diesem Zusammenhang auf die paralleleSatzkonstruktion mit dum bzw ἔστε aufmerksam41

Alle drei Themen die Armut die scharfe Kritik an kaumluflicher Liebe und die besondereWertschaumltzung der Dichtung finden sich folglich sowohl bei Tibull als auch bei Kallima-chos Tibull kombiniert sie neu baut sie stimmig und kontrastierend in seine Elegie einum die unabdingbare Notwendigkeit des Scheiterns seiner Liebe zu Marathus eindrucks-voll hervorzuheben Zugleich positioniert sich Tibull durch sie deutlich in der Naumlhe zuKallimachos besonders weil die Rede uumlber Dichtung immer auch poetologisch verstandenwerden kann So laumlsst er den Leser bereits vermuten dass seine Elegie auch noch anderekallimacheische oder hellenistische Elemente enthalten koumlnnte

Im abschlieszligenden Kommentar des elegischen Ichs42 laumlsst sich ebenfalls eine intertex-tuelle Beziehung erkennen Das elegische Ich sieht sich nachdem es enthuumlllt hat dassTitius die gewonnenen Informationen gar nicht anwenden kann als erfolgreicher und an-gesehener Lehrer Tempus erit cum me Veneris praecepta ferentem deducat iuvenumsedula turba senem (Die Zeit wird kommen wenn mich als alten Mann waumlhrend ich

39 Vv 65ndash6640 Call Iamb fr 163 67ndash70 Asper Hier wird der Kallimachos-Ausgabe von Asper gefolgt41 Vgl Bulloch (1973) 7942 Vv 73ndash84

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Liebeslehren verbreite eine eifrige Schar junger Maumlnner begleitet)43 Ein aumlhnliches Bildverwendet Kallimachos in den Aitien44

γηράσκει δ᾿ ὁ γέρων κεῖνος ἐλαφρότερον

κοῦροι τὸν φιλέουσιν ἑὸν δέ μιν οἷα γονῆα

χειρὸς ἐπ᾿ οἰκείην ἄχρις ἄγουσι θύρην

Jener Greis altert leichter den die jungen Maumlnner lieben und wie ihren eigenenVater an der Hand gaumlnzlich bis zur Tuumlr seines Hauses fuumlhren45

In beiden Ausschnitten wird die Wertschaumltzung eines alten Mannes durch juumlngere dieihm ein Ehrengeleit geben thematisiert und als wuumlnschens- und erstrebenswert darge-stellt Tibull benutzt diese Vorstellung aber als seinen eigenen Traum er subjektivisiertKallimachosrsquo Vorlage und macht eine allgemein vorgetragene Ansicht zu seiner eigenenWunschvorstellung Dieser Traum des elegischen Ichs hat die Funktion die darauf folgendeEnthuumlllung des eigenen Versagens in der Liebe noch deutlicher hervorzuheben

Tibull uumlbernimmt Ideen Motive Bilder und Vergleiche welche sich meist auf einekonkrete Textstelle zuruumlckfuumlhren lassen die aber oft dennoch in voumlllig neuer Gestalt indie Elegie eingefuumlgt worden sind und sich deshalb manchmal nicht klar von hypertextuel-len Bezuumlgen trennen lassen Besonders seine Aussagen uumlber die Dichtung und die damitverbundenen intertextuellen Bezuumlge zu Kallimachos lassen sich poetologisch deuten DerLeser hat nun erste Orientierungspunkte erhalten die ihm ein tieferes Verstaumlndnis derElegie ermoumlglichen und durch die er auch undeutlichere Beziehungen zur hellenistischenDichtung wahrnehmen kann

4 Neben diesen intertextuellen enthaumllt Tibulls Elegie auch hypertextuelle Beziehun-gen Hierbei nimmt die Elegie entweder durch Transformation also durch die Veraumln-derung einer Vorlage oder durch Nachahmung bestimmter stilistischer Eigenheiten aufeinen anderen Text Bezug Der naumlchste Unterabschnitt wird aufzeigen dass das Prinzipder Transformation am neunten Iambus von Kallimachos nachweisbar ist die restlichenbeschaumlftigen sich mit der Nachahmung bestimmter Merkmale hellenistischer Poesie undihrer Dichter

Die aumluszligere Form der Elegie scheint durch Transformation verschiedener Kallimachos-Fragmente gestaltet worden zu sein Der Dialog mit einer Statue ist gleich mehrmalsin seinen Werken zu finden Neben dem Aitien-Fragment 11446 und dem Epigramm 2447

43 Vv 79ndash8044 Vgl Luck (1959) 98 Bulloch (1973) 76 Maltby (2002) 23745 Call Aet 1fr 41 Pf46 Dialog zwischen Apollo und einer unbekannten Person47 Die Statue eines Helden spricht

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weist der neunte Iambus der uns abgesehen von zwei Versen auch nur durch den Diegeseis-Papyrus uumlberliefert ist die groumlszligten Uumlbereinstimmungen mit der Elegie 14 auf48

]Φιλη-

τάδου παιδὸς εὐπρεποῦς ἐραστὴς ἰδὼν

῾Ερμοῦ ἄγαλμα ἐν παλαιστριδίῳ ἐντε-

ταμένον πυνθάνεται μὴ διὰ τὸν Φιλη-

τάδαν ῾Ο δέ φησιν ἄνωθεν εἶναι Τυρση-

νὸς καὶ κατὰ μυστικὸν λόγον ἐντε-

τάσθαι ἐπὶ κακῷ δὲ αὐτὸν φιλεῖν τὸν

Φιλητάδαν

Als der Liebhaber des schoumlnen Knaben Philetades auf einer kleinen Palaumlstraein Bildnis eines erigierten Hermes sieht fragt er bdquoEtwa wegen PhiletadesldquoDas Bildnis aber antwortet ihm von oben herab dass es etruskisch sei undwegen einer mystischen Lehre erigiert sei dass seine Liebe zu Philetades aberzum Schlechten gereiche49

In der Elegie und im Kallimachos-Fragment findet der Dialog zwischen einem ithyphal-lischen Gott und einem Knabenliebhaber statt Sowohl die Dialogform die Dialogpartnerals auch das uumlbergeordnete Thema stimmen folglich uumlberein Eine weitere Gemeinsamkeitist die uumlberraschende und ungluumlckliche Wende am Ende des Iambus bzw der Elegie Inbeiden Faumlllen erfaumlhrt der Leser dass eine gluumlckliche Liebesbeziehung unmoumlglich ist Dieseungluumlckliche Wende hat bei Tibull jedoch deutlich mehr Tragweite weil sie das bis dahinnahegelegte Verstaumlndnis der Elegie veraumlndert ja sogar ins Gegenteil verkehrt Durch sieverliert der gesamte Vortrag des Priapus an Bedeutung Des Weiteren unterscheidet sichdie Elegie dadurch dass Tibull Priapus als Gespraumlchspartner auswaumlhlt Doch auch dabeigreift er auf hellenistische Vorstellungen zuruumlck Priapus war im Hellenismus sehr beliebt50

und tritt beispielsweise im ersten Idyll von Theokrit als Liebeslehrer auf51 Aufgrund derUumlbereinstimmung von Hauptthema Form und uumlberraschender Wendung ist es durchausmoumlglich die Elegie 14 als erweiterte und verlaumlngerte Transformation des neunten Iambusvon Kallimachos anzusehen Erkennt der Leser diesen Bezug zur hellenistischen Dichtungschon beim Lesen wird er etwas auf das uumlberraschende Ende vorbereitet wenn nichtwird er ihm wohl spaumltestens nach dem Lesen der Schlusspointe deutlich werden so dassdie Freude des Wiedererkennens des Iambus im zweiten Lesedurchgang ihre volle Wir-kung entfalten kann und dem Leser mehr und mehr Parallelen zwischen der Elegie und

48 Vgl Dawson (1946) 12ndash13 Luck (1959) 93 Bulloch (1973) 78ndash79 Cairns (1979) 189ndash190 Murgatroyd(1980) 130 Maltby (2002) 216

49 Dieg 833ndash40 zu Call Iamb 9 Pf50 Vgl Murgatroyd (1980) 129ndash131 Maltby (2002) 21651 Hier allerdings ohne den Kontext der Knabenliebe Vgl Theoc Id 180ndash92

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hellenistischer Dichtung auffallen

Neben dieser Transformation ist aber auch die Nachahmung von einigen Eigenheitender hellenistischen Poesie nachweisbar Eines der Merkmale der hellenistischen Poesie istdas Taumluschen des Lesers52 Diese Tendenz bezeichnet Asper in Bezug auf Kallimachosauch als bdquoEindruck der Unberechenbarkeitldquo53 Als Beispiel fuumlr diese Unberechenbarkeitkann der oben vorgestellte neunte Iambus von Kallimachos dienen Auch Theokrits vier-tes Epigramm waumlre ein Beispiel in dem ein Liebender einem Hirten zunaumlchst auftraumlgtPriapus zu bitten ihn von seiner Liebe zu erloumlsen dann aber deutlich macht dass er sichin Wahrheit eine gluumlckliche Liebesbeziehung wuumlnscht54

Die Tendenz den Leser bestaumlndig in die Irre zu fuumlhren ist in Tibulls vierter Elegiesehr deutlich Schon zu Beginn spielt Tibull mit den Lesererwartungen Nach dem erstenVers Sic umbrosa tibi contingant tecta Priape (So moumlgen dir Priapus schattenspendendeDaumlcher zuteilwerden)55 koumlnnte der Leser wohl vor allem durch das an ein rituelles Gebeterinnernde einleitende sic56 noch annehmen dass nun ein Gebet zu Priapus folgt Wenigspaumlter wird jedoch die eigentliche Absicht des elegischen Ichs deutlich Quae tua formo-sos cepit sollertia (Welche dir eigene Faumlhigkeit haumllt die schoumlnen Juumlnglinge gefangen)57

Der Gott wird als Ratgeber in der Knabenliebe angerufen Der anfaumlngliche Eindruck ei-nes unmittelbaren Dialogs wird jedoch durch den erzaumlhlenden Einschub in den Versen7ndash8 aufgeloumlst58 Erst jetzt erfaumlhrt der Leser dass es sich gar nicht um einen unmittelbarstattfindenden sondern um einen durch das elegische Ich wiedergegebenen Dialog han-delt Durch die Einfuumlhrung des Priapus als jemanden ohne gepflegtes Aumluszligeres59 und diespottende Beschreibung des Priapus als Bacchi rustica proles armatus curva falcedeus (Der baumluerliche Nachkomme des Bacchus der Gott bewaffnet mit einer gekruumlmm-ten Sichel)60 werden beim Leser keine groszligen Erwartungen bezuumlglich des nun folgendenVortrages geweckt Es schlieszligt sich jedoch ein rhetorisch ausgefeilter wohl gegliederter61

Lehrvortrag an Im abschlieszligenden Monolog des elegischen Ichs wird dann das deutlichwas Cairns als bdquoTibullan trick endingldquo62 bezeichnet Hier haumlufen sich die den Leser uumlberra-schenden Wendungen im Handlungsverlauf Bisher wurde der Leser im Glauben gelassendas elegische Ich erfrage alle Ratschlaumlge fuumlr sich selbst Nun erfaumlhrt er aber dass es diese

52 Vgl Cairns (1979) 166ndash19153 Asper (2004) 5154 Vgl Theoc Ep 455 V 156 Vgl Maltby (2002) 216ndash21757 V 358 Vgl Radicke (2006) 20559 Vgl V 460 Vv 6ndash761 In seiner Rede bedient sich Priapus vieler rhetorischer Stilfiguren Besonders haumlufig werden Ana-

phern verwendet (Vgl Vv 111213 Vv 1718 Vv 1920 Vv 28293031 Vv 4143) Sein Vortrag istdaruumlber hinaus noch kunstvoll in sich verlaumlngernde Abschnitte gegliedert von denen die ersten drei aus jedrei Distichen bestehen auf die dann Abschnitte aus sechs neun und acht Distichen folgen Vgl Radicke(2006) 197 Murgatroyd (1980) 128

62 Cairns (1979) 173

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nur fuumlr einen gewissen Titius in Erfahrung gebracht habe63 Doch damit nicht genug SedTitium coniunx haec meminisse vetat (Aber seine Frau verbietet Titius sich daran zuerinnern)64 Da Titius nun aber gar keinen Gebrauch von seinen Lehren machen kanngibt sich das elegische Ich im Folgenden einer Vision von sich selbst als Liebeslehrer hinMe qui spernuntur amantes consultent (Moumlgen mich die Liebenden die zuruumlckgewie-sen werden um Rat fragen)65 Doch auch diese vom Leser nach zweimaliger Irrefuumlhrunggerade erst gewonnene Information wird sofort wieder fuumlr unguumlltig erklaumlrt Das elegischeIch wird selbst von einem Knaben zuruumlckgewiesen und gequaumllt66 Es wird klar dass daselegische Ich alle Ratschlaumlge doch zumindest zum Teil auch fuumlr sich erfragt hat selbst inder Knabenliebe wenig erfolgreich und somit auch nur wenig als Liebeslehrer geeignet istDurch das verzweifelte Flehen Parce puer quaeso (Verschone mich Junge bitte)67 wirddie Hilflosigkeit des elegischen Ichs deutlich Alle vorher gegebenen Ratschlaumlge sind in derLiebe voumlllig nutzlos

Tibull fuumlhrt seine Leser also wiederholt in die Irre indem er ganz bewusst Infor-mationen zuruumlckhaumllt oder die bisherigen Erwartungen des Lesers enttaumluscht Dadurchgelingt es ihm nicht nur den Leser zu unterhalten sondern auch ihn waumlhrend der gan-zen Elegie in einem Zustand der staumlndigen Spannung verharren zu lassen Auch koumlnnteman meinen dass durch diese staumlndigen Taumluschungen die Unberechenbarkeit und die Un-vorhersehbarkeit der Liebe unterstrichen werden Genauso wie der Leser im Verlauf derElegie nie wirklich sicher sein kann woran er ist ist auch der Liebende nie wirklich aufder sicheren Seite kann die Reaktion des anderen nie vorausplanen muss immer mit demUnvorstellbaren rechnen

Ein weiteres hellenistisches Merkmal das Tibull nachahmt ist die Ironie Kallima-chosrsquo bdquointelligenter Witzldquo68 und Theokrits bdquofelicitously ironic and grotesque effectsldquo69 dieoft durch das Versetzen von Elementen der staumldtischen Kultur zu einfachen Schafhirtenhervorgerufen werden70 koumlnnen durchaus als Vorbilder fuumlr die feine Ironie gedient habendie die gesamte Elegie durchzieht

Schon allein der Gedanke dass die unvorhersehbare Liebe die sich keinen Regeln un-terwirft durch eine bestimmte Technik oder durch das Einhalten bestimmter Ratschlaumlgeerlernt berechnet oder beherrscht werden kann ist amuumlsant71 Derselben Idee wird sichspaumlter auch Ovid in seiner Ars amatoria bedienen

Aber auch der Gott Priapus wird auf sehr ironische und belustigende Weise ein-

63 Vgl V 7364 V 7465 Vv 77ndash7866 Vgl V 8167 V 8368 Asper (2004) 5369 Giangrande (1986) 4970 Vgl ebd71 Vgl Littlewood (1983) 2152

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gefuumlhrt Zunaumlchst wird er dem Leser dem allgemeinem Bild von ihm entsprechend alswenig gepflegter Gott72 als rusticus und armatus curva falce73 vorgestellt Dann ist daszum Lehrvortrag uumlberleitende Distichon74 aber durch sehr poetische und ernste Spracheausgestaltet Es wird das archaische Wort proles75 verwendet das einen feierlichen undernsthaften Ton hat76 das sic ego77 erinnert an epischen Sprachgebrauch78 und die Haumlu-figkeit von Spondeen steigt deutlich an79 so dass die Ernsthaftigkeit und Bedeutung desDistichons deutlich gesteigert werden Somit dient das Distichon nicht nur als Uumlberleitungvon der Rede des elegischen Ichs zu der des Gottes sondern verwandelt auch vor den geis-tigen Augen des augusteischen Lesers den ihm als einfach ungebildet und ithyphallischbekannten Gartengott Priapus in eine ernstzunehmende fast schon heroische LehrpersonDiese Art Ironie durch den Gegensatz zwischen heroischer Uumlberhoumlhung und baumluerlicherEinfachheit zu erzeugen erinnert ein wenig an die von Giangrande beschriebene IronieTheokrits

Es folgt der Vortrag des Priapus selbst der von Maltby als bdquomock-didacticldquo80 be-schrieben wird Dieser Eindruck kommt durch den Gegensatz zwischen dem formell vor-getragenen und rhetorisch ausgearbeiteten Vortrag des Priapus und dem eher informellenThema und der Tatsache dass Priapusrsquo praecepta hauptsaumlchlich auf allgemeinen Banalitauml-ten fuszligen zustande Dies vermag schon die naumlhere Untersuchung des ersten praeceptum81

der Rede zu zeigen Der Rat nicht gleich aufzugeben sondern Geduld zu haben wird bei-spielsweise durch das Bild von Menschen die es im Laufe der Zeit schaffen sogar Loumlwenzu zaumlhmen von Wasser das mit der Zeit einen Stein aushoumlhlen kann von Trauben diein der Sonne reifen und von Sternen die sich auf ihren festgelegten Bahnen fortbewegenkunstvoll illustriert82 Die besondere Macht der Zeit wird durch die Anaphern von longadies83 und annus84 hervorgehoben Gleichzeitig ist es voumlllig offenbar dass der Rat ab-zuwarten und die Zeit fuumlr sich arbeiten zu lassen kein voumlllig neuer vorher unbekannterGeniestreich des Priapus ist Dennoch scheint er vom Liebesratgeber Priapus voumlllig ernstgenommen und fuumlr aumluszligerst wichtig gehalten zu werden Dadurch entsteht ein uumlberaus iro-nischer Eindruck Dieses Prinzip eine sorgfaumlltige Gliederung in praeceptum gefolgt vonBeispielen und stilistischen Figuren bei eigentlich trivialen Ratschlaumlgen ist auch bei allenfolgenden Abschnitten der Rede festzustellen

72Vgl V 473 Vgl Vv 7ndash874 Vv 7ndash875 V 776 Murgatroyd (1980) 13477 V 678 Vgl Maltby (2002) 21879 Vgl Littlewood (1983) 215380 Malbty (2002) 21581 Vv 15ndash2082 Vgl Vv 17-2083 Vv 171884 Vv 1920

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HELLENISTISCHE LEUCHTFEUER IN TIBULLS PRIAPUS-ELEGIE

In der finalen Wendung der Elegie kommt eine ganz neue Nuance von Ironie zumTragen Nachdem vorher Ironie auf Kosten des Priapus eingesetzt worden ist wird durchdas Eingestehen der eigenen Machtlosigkeit durch das elegische Ich85 nun noch der Aspektder Selbstironie hinzugefuumlgt Das elegische Ich das sich vorher noch ausgemalt hat dasseine Schar junger Maumlnner es deducat86 was ein Fachausdruck fuumlr das Ehrengeleit einerbedeutenden Persoumlnlichkeit oder eines Politikers darstellt87verliert so all seine Autoritaumltmuss gar befuumlrchten dass die Leser es auslachen werden88 Doch nicht nur das elegischeIch wird so ins Laumlcherliche gezogen die gesamte Elegie verliert durch die Erkenntnisdass alle Ratschlaumlge im Angesicht der Liebe nur vana magisteria (leere Lehren)89 sindihre Aussagekraft und Bedeutung Diese Bedeutungslosigkeit und die daraus resultieren-de Hilfslosigkeit werden durch die Positionierung dieses Ausdrucks am Schluss der Elegiehervorgehoben Zu der wirkungsvollen Stellung kommt die Besonderheit dass hier mitmagisteria ein fuumlnfsilbiges Wort am Ende des Pentameter steht was ansonsten von Ti-bull eher vermieden wird90 Die Elegie endet folglich mit der Feststellung dass sie ihrenvordergruumlndigen Sinn das Geben von Ratschlaumlgen fuumlr die Knabenliebe nicht erfuumlllenkonnte Diese Form der Ironie beschreibt Luck deshalb vielleicht nicht ganz zu Unrechtals bdquotouch of romantic ironyldquo91

Um die Funktion der Ironie besser verstehen zu koumlnnen ist Radickes Aufsatz uumlberdie Elegie 14 in dem er feststellt dass die Rede des Priapus durch bdquounzuverlaumlssige Redeldquogekennzeichnet ist aumluszligerst hilfreich92 Auf diese bdquounzuverlaumlssige Redeldquo werde schon vorder Schlusspointe hingewiesen indem Priapus schon waumlhrend seines Lehrvortrags mit zu-nehmender Deutlichkeit zwischen seiner vordergruumlndigen Rolle als Liebeslehrer und derRolle des verschmaumlhten Liebhabers die ja eigentlich dem elegischen Ich zukommt hinund her springe Dies werde dadurch deutlich dass einige Abschnitte der Rede wie zBdie Warnung vor der Liebe93 oder die Kritik an kaumluflicher Liebe94 eindeutig aus Sichteines ungluumlcklichen Liebhabers erfolgen waumlhrend andere durchaus zur Rolle als Liebes-lehrer passen95 Dadurch werde offenbar dass es sich bei dem durch das elegische Ichwiedergegebenen Dialog gar nicht um einen solchen handle sondern Priapus vielmehr dieFunktion einer bdquoMaske durch die das elegische Ich seine Gefuumlhle mitteilt oder bessergesagt seine Gefuumlhle zu verbergen suchtldquo96 erfuumlllt und der Lehrvortrag als letzter ver-zweifelter Versuch zu werten sei Marathus von sich zu uumlberzeugen Auch die Tatsache

85 Vgl Vv 81ndash8486 V 8087 Vgl Georges s V deduco II e ζ αα88 Vgl V 8489 V 8490 Vgl Maltby (2002) 23991 Luck (1959) 9992 Vgl Radicke (2006)93 Vv 8ndash1694 Vv 57ndash7295 Vv 15ndash20 21ndash26 39ndash5096 Ebd 202

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dass die Elegie von Beginn an von Ironie durchzogen wird die zum Ende hin immer staumlr-ker wird koumlnnte als Hinweis auf diese bdquounzuverlaumlssige Redeldquo gewertet werden Der Leserwird durch die ironische Einfuumlhrung des Priapus gleich darauf hingewiesen dass dieser alsLiebeslehrer nicht ganz ernst zu nehmen ist Der Gegensatz zwischen Ernsthaftigkeit undtrivialen Ratschlaumlgen in der Rede verweist zusaumltzlich zum Gegensatz zwischen der Rolledes Liebeslehrers und des Liebenden noch deutlicher auf die Maskenfunktion des Priapusbis schlieszliglich die letzte Wendung der Elegie keinen Zweifel mehr an der Tatsache laumlsstdass der Lehrvortrag des Priapus nur ein verzweifelter Versuch des elegischen Ichs ist dieeigene Hilfslosigkeit zu verbergen

Eine weitere Parallele zur hellenistischen Poesie ist die Ringkomposition in Tibulls Ele-gie 14 Die Ringkomposition bei der eine bestimmte Anzahl von Themen bis zu einemzentralen Punkt behandelt werden die dann nach diesem in der umgekehrten Reihen-folge wieder behandelt werden ist zwar schon seit Homer zu finden da sie anfaumlnglichwohl vor allem als Gedaumlchtnisstuumltze bei muumlndlicher Poesie diente97 Sie nimmt aber aucheinen wichtigen Platz in der hellenistischen Dichtung mit ihrer hohen Wertschaumltzung vonformalen Strukturen ein und laumlsst sich beispielsweise in Theokrits Idyll 28 wiederfinden98

Bei den Abschnitten in die sich die vierte Elegie gliedert faumlllt ein aumlhnliches Prinzipauf99 Die einleitende Anrede100 (A1) steht dem anschlieszligenden Kommentar des elegi-schen Ichs101 (A2) gegenuumlber die Warnung des Priapus vor der Knabenliebe102 (B1) derKritik an kaumluflicher Liebe und dem Lobpreis der Dichtung103 (B2) und die Passagen indenen Priapus zur Geduld und zu falschen Schwuumlren auffordert104 (C1) dem Aufruf da-zu den Wuumlnschen des Geliebten zu folgen105 (C2) Das Mittelstuumlck das als Spiegelachsedient bildet der Abschnitt (D) in dem auf die Vergaumlnglichkeit der Jungend aufmerksamgemacht wird106 (A2) kommentiert sein Gegenstuumlck ironisch indem es (A1) als voumllligsinnlos enthuumlllt und (B2) gibt einen moumlglichen Grund fuumlr die Warnung in (B1) an107

Auffaumlllig ist jedoch auch dass sich mit (B1) und (B2) zwei Abschnitte gegenuumlberstehenin denen Priapus seine ihm zugewiesene Rolle als Liebeslehrer verlaumlsst waumlhrend in (C1)und (C2) Priapus seine Rolle als Liebeslehrer erfuumlllt Der Abschnitt (D) nimmt zu Rechtdie wichtige Mittelstellung ein weil hier der verzweifelte Versuch des lyrischen Ichs Ma-rathus durch den vorgeschobenen Liebeslehrer Priapus doch noch fuumlr sich zu gewinnenbesonders deutlich durchschimmert Das Argument der Vergaumlnglichkeit der Jugend und

97 Vgl Cairns (1979) 195ndash19698 Vgl ebd 193ndash194 20299 Vgl ebd 207ndash208

100 Vv 1ndash8101 Vv 73-84102 Vv 9ndash14103 Vv 57ndash72104 V 15ndash26105 Vv 39ndash56106 Vv 27ndash38 Vgl ebd 207107 Vgl ebd

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HELLENISTISCHE LEUCHTFEUER IN TIBULLS PRIAPUS-ELEGIE

die daraus folgende Aufforderung die verbleibende Zeit zu nutzen wird naumlmlich vorrangigvon Liebenden verwendet um den Geliebten oder die Geliebte von einer Beziehung zuuumlberzeugen108 Tibull selbst verwendet diese Argumentation an anderer Stelle um seineDelia von sich zu uumlberzeugen109 Mit Abschnitt (D) steht folglich ein Abschnitt im Mit-telpunkt der unweigerlich die Doppelrolle des Priapus als Liebeslehrer einerseits und alsungluumlcklicher Liebender andererseits offenbart

Trotz der wiederholten Taumluschung des Lesers und der Ironie liegt der Elegie alsoauch eine klare Gliederung zu Grunde die dafuumlr sorgt dass der Leser nicht voumlllig die Ori-entierung verliert und ebenfalls die besondere Rolle des Priapus als Maske des elegischenIchs hervorhebt

5 Mit Hilfe der durch Genette gepraumlgten Begriffe der Inter- und der Hypertextualitaumltlassen sich folglich viele verschiedene Einwirkungen hellenistischer Poesie auf die vierteElegie ausmachen Auch wenn es nicht immer leicht ist beide Begriffe klar voneinanderabzugrenzen haben sie es doch ermoumlglicht die verschiedenen Arten der Einwirkung einesTextes auf einen anderen zu unterscheiden und so ein systematisches detaillierteres undvollstaumlndigeres Bild der Beziehungen zwischen hellenistischer Dichtung und Tibulls Elegieaufzuzeigen

Intertextuelle Beziehungen lassen sich besonders deutlich zwischen Tibull und Kal-limachosrsquo Aitien Iamben und Epigrammen ausmachen Diese werden sinnvoll und pro-duktiv in die Elegie eingebunden und stets verwendet um den Inhalt der Elegie deut-licher hervorzuheben Gleichzeitig lassen sie sich auch poetologisch deuten Die groszligenAumlhnlichkeiten zu Kallimachos besonders im letzten Teil der Elegie110 sind auf eine Wie-dererkennung durch den Leser ausgelegt und verdeutlichen ihm dass sich in der Elegienoch weitere nicht so direkte und woumlrtliche Bezuumlge zu Kallimachos im Besonderen undzur hellenistischen Dichtung im Allgemeinen finden lassen Sie bewirken dass der Lesernach weiteren indirekteren Parallelen sucht und bereits nach der typischen hellenistischenIronie und Unberechenbarkeit oder aumlhnlichen Merkmalen der hellenistischen DichtungAusschau haumllt

Diese indirekteren von Genette als hypertextuell bezeichneten Beziehungen lassensich in der Tat ebenfalls in groszliger Zahl in der Elegie wiederfinden Die Elegie wurdewohl nach dem Vorbild von Kallimachosrsquo neuntem Iambus gestaltet Auszligerdem werdenauch sie konsequent verwendet um den Inhalt kunstvoll zu unterstreichen und dem Le-ser das Verstaumlndnis der gesamten Elegie zu erleichtern Die Ironie weist eindeutig auf dieMaskenfunktion des Priapus hin die haumlufigen Uumlberraschungen fuumlr den Leser auf die Unbe-staumlndigkeit der Liebe Durch die Ringkomposition bietet Tibull dem Leser aber dennochnoch einige Orientierungshilfen durch die sich die Elegie leichter verstehen laumlsst

108 Vgl ebd Radicke (2006) 199109 Vgl Tib 1168ndash78110 Vv 57ndash84

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Die Funktion der transtextuellen Beziehungen ist es daher die Aussage hervorzuhe-ben dass Liebe nicht gelehrt nicht erlernt und nicht beherrscht werden kann Sie werdennicht einfach um ihrer selbst willen uumlbernommen sondern veraumlndert neu angeordnetund zu etwas voumlllig Neuem zu einer subjektiven Liebesgeschichte zusammengefuumlgt Zu-gleich werden sie jedoch nicht so verfremdet dass der Leser sie nicht wiedererkennen kannDurch die Beziehungen zur hellenistischen Dichtung schafft Tibull deutlich hervorstechen-de Orientierungspunkte fuumlr den Leser und hebt dabei zugleich die Botschaft der absolutenHilfslosigkeit in der Liebe gekonnt auszligergewoumlhnlich und aumluszligerst unterhaltsam hervor jabildet sie sogar ganz konkret durch die Gestaltung der Elegie ab ohne dabei die Leserorientierungslos oder gar bdquoill-preparedldquo im Dunkeln zuruumlckzulassen

Uumlber die Autorin Helen E Neutzler ist seit dem Wintersemester 20132014 BA-Studentin der Faumlcher klassische Philologie und Archaumlologische Wissenschaften an derRuhr-Universitaumlt Bochum Schwerpunkte legt sie in diesen beiden Faumlchern auf Latein unddie klassische Archaumlologie Im Oktober 2014 wurde ihr ein Stipendium des Bildungsfondsder RUB im Rahmen des Deutschlandstipendiums verliehen

Bibliography

Textausgaben und Kommentare

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Page 3: Hellenistische Leuchtfeuer in Tibulls Priapus-Elegie · Hellenistische Leuchtfeuer in Tibulls Priapus-Elegie Transtextuelle Bezüge zur hellenistischen Dichtung und ihre Funktion

HELEN E NEUTZLER

Kommentaren zur Elegie 14 auf den groszligen Einfluss hellenistischer Dichtung hin15

Bei der Betrachtung dieser Forschungsgeschichte fallen folgende Dinge auf Die Be-einflussung der vierten Elegie durch hellenistische Dichtung scheint fast unumstritten zusein lediglich die Tiefe und die Bedeutung die diesen Einfluumlssen beigemessen werdenund ihre Bewertung unterscheiden sich Die groumlszligten Gemeinsamkeiten werden mit Kalli-machos gesehen was aber wohl vor allem an dem im Vergleich zu anderen hellenistischenDichtern recht guten Uumlberlieferungszustand seiner Werke liegt Luck und Bulloch bie-ten detaillierte Auflistungen der woumlrtlichen und thematischen Bezuumlge in der Elegie 14Cairns beruumlcksichtigt auch andere Arten von Relationen zwischen zwei Texten und lie-fert so ebenfalls wertvolle Ansaumltze fuumlr diese Arbeit Wahrlich erstaunlich ist jedoch dassbisher niemand der konkreten Funktion der transtextuellen Beziehungen in der Elegie 14nachgegangen zu sein scheint Immer wird lediglich auf ihr bloszliges Vorhandensein verwie-sen Dabei ist gerade die Frage nach ihrer Funktion entscheidend fuumlr ihr Verstaumlndnis unddas der gesamten Elegie

Aus dem Gang der bisherigen Forschung ergeben sich folglich zwei Ziele fuumlr die vor-liegende Arbeit Zunaumlchst wird in ihr auf der Basis von Genettes Transtextualitaumltsmodellden verschiedenen Arten von transtextuellen Bezuumlgen zwischen hellenistischer Poesie undder Elegie 14 nachgegangen werden In einem zweiten Schritt soll dann jeweils die Fragenach der Funktion dieser Bezuumlge fuumlr das Verstaumlndnis der Elegie beantwortet werden Da-bei wird die These vertreten dass diese sowohl vom Leser erkannt werden und ihm so alspoetologische Hinweise zur Orientierung dienen sollen als auch besonders die inhaltlicheAussage der Elegie naumlmlich das Versagen von jeglichen Lehrmethoden Prinzipien oderPlanungen im Angesicht der Liebe auf eine humorvolle und in der roumlmischen Liebeselegievoumlllig neuartige Art hervorheben

2 Um die vielfaumlltigen Bezuumlge zwischen verschiedenen Texten moumlglichst systematischund vollstaumlndig erfassen zu koumlnnen ist es notwendig sich der verschiedenen Arten auf dieein Text einen anderen beeinflussen kann bewusst zu werden Zu diesem Zweck stellt Ge-nette in seiner Monographie Palimpseste Die Literatur auf zweiter Stufe den Begriff derTranstextualitaumlt auf16 Unter Transtextualitaumlt versteht er hierbei alles was einen Textin eine offensichtliche oder versteckte Relation zu anderen Texten setzt17 Diese Rela-tionen koumlnnen ganz unterschiedlicher Natur sein Genette unterscheidet insgesamt fuumlnfTypen transtextueller Beziehungen18 Von diesen scheinen mir besonders die Begriffe derIntertextualitaumlt und der Hypertextualitaumlt fuumlr diese Arbeit geeignet und weiterfuumlhrend zusein Unter Intertextualitaumlt versteht Genette die bdquoeffektive Praumlsenz eines Textes in einemanderen Textldquo19 Er begrenzt die vielfaumlltigen Bedeutungsebenen die der Begriff der In-

15 Vgl Murgatroyd (1980) 128ndash159 Maltby (2002) 215ndash23916 Genette (1993) 9ndash1617 Vgl ebd 918 Vgl ebd 1019 Ebd

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HELLENISTISCHE LEUCHTFEUER IN TIBULLS PRIAPUS-ELEGIE

tertextualitaumlt im Laufe der Zeit erhalten hat somit auf konkrete gekennzeichnete undungekennzeichnete Uumlbernahmen aus oder direkte Anspielungen auf einen anderen Textohne deren Erkennung der neue Text oft nicht verstanden werden kann20 Die Hypertex-tualitaumlt bezeichnet hingegen die Beziehung zwischen einem fruumlheren Hypotext und einemvon diesem abgeleiteten spaumlteren Hypertext Der Hypotext wird hierbei entweder durchTransformation veraumlndert oder nachgeahmt21 Dabei muss die zu Grunde liegende Vorla-ge nicht explizit erwaumlhnt werden oft weist nur die Tatsache dass der juumlngere Text ohneden alten in seiner aktuellen Form gar nicht existieren koumlnnte auf eine hypertextuelleVerbindung hin22

Nicht immer lassen sich diese beiden Begriffe eindeutig und klar voneinander abgren-zen Genauso wie es nur selten vorkommt dass selbst eine fast woumlrtlich uumlbereinstimmendePassage in genau dem gleichen Kontext mit genau dem gleichen Sinn und der gleichenIntention uumlbernommen wird lassen sich oft bei der Transformation oder Nachahmung ei-nes Textes auch intertextuelle Beziehungen erkennen Daher werden Bezuumlge die sehr engund eindeutig auf bestimmte Textstellen Bezug nehmen im Folgenden als intertextuellbezeichnet und diejenigen die ganze Ideenkomplexe und typische Merkmale eines Autorsoder einer ganzen Gattung transformieren oder nachahmen als hypertextuell

Trotz dieser Problematik ermoumlglicht es die von Genette getroffene Unterscheidungvon verschiedenen Arten der Transtextualitaumlt sich der verschiedenen Formen der Bezie-hungen zwischen mehreren Texten bewusst zu werden und beschraumlnkt die Untersuchungnicht nur auf die woumlrtliche Ebene Gleichzeitig bietet diese Systematik eine Trennungder verschiedenen Ebenen auf denen Texte aufeinander einwirken koumlnnen So laumlsst sichein systematischeres und vollstaumlndigeres Bild der Beziehungen zwischen hellenistischerDichtung und Tibulls Elegie aufzeigen Daher werden im Folgenden zunaumlchst die inter-textuellen Bezuumlge der Elegie zur hellenistischen Dichtung herausgearbeitet und jeweils aufihre konkrete Funktion untersucht gefolgt von den hypertextuellen Bezuumlgen

3 Da die Intertextualitaumlt die direkteste aller transtextuellen Beziehungen ist undBezug auf eine konkrete Textstelle nimmt handelt es sich bei ihr hauptsaumlchlich um the-matische oder gar woumlrtliche Uumlbereinstimmungen und Aumlhnlichkeiten Im Folgenden soll esjedoch nicht das Ziel sein alle intertextuellen Beziehungen zwischen der vierten ElegieTibulls und hellenistischer Poesie herauszuarbeiten was schon allein aufgrund der nurbruchstuumlckhaften Uumlberlieferung der hellenistischen Dichtung nicht moumlglich waumlre sondernvielmehr einzelne wichtige intertextuell beeinflusste Themenkomplexe herauszustellen undihre Bedeutung zu ergruumlnden

In der vierten Elegie Tibulls lassen sich gleich mehrere hellenistische Themen und Bil-der finden Schon das Hauptthema der Elegie der παιδικὸς ἔρως (paidikos eros) verweist

20 Vgl ebd21 Vgl ebd 14ndash1622 Vgl ebd 15

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deutlich auf die hellenistische Dichtung23 Im Hellenismus entstanden viele erotische Epi-gramme aber auch andere laumlngere erotische Dichtungen die das Thema der Knabenliebebehandeln Beispiele hierfuumlr sind Kallimachosrsquo Iamben 3 und 5 oder Theokrits Idyllen 29und 30

Mit dem paidikos eros fuumlhrt Tibull ein ganz neues Thema in die roumlmische Liebeselegieein Dadurch uumlberrascht er den Leser dem bisher nur die Elegien in denen die Liebezu Frauen behandelt wird bekannt sind und ruft ihm unweigerlich die hellenistischeDichtung in Erinnerung Die Wahl dieses Themas bietet aber wohl vor allem den ReizBekanntes in einer voumlllig neuen Form zu praumlsentieren24 Von der eher ernsthaften Delia-Thematik wird Abstand genommen um die bekannte Liebesproblematik in einem neuenThemenkomplex humorvoll und ironisch behandeln zu koumlnnen Das Scheitern der Liebeist aber auch hier unausweichlich und dient wohl auch als Andeutung dass der Traumeines gluumlcklichen Wiedersehens mit Delia der am Ende der dritten Elegie gehegt wird25

zumindest nicht dauerhaft wahr werden kann wie zu Beginn der fuumlnften Elegie dann auchsofort deutlich wird26

Auch im ersten Lehrsatz des Priapus

Sed te ne capiant primo si forte negarittaedia paulatim sub iuga colla dabit

Aber dich soll kein Uumlberdruss ergreifen wenn er [der Knabe] sich zunaumlchstheftig weigern sollte Nach und nach wird er seinen Hals unter das Joch geben

laumlsst sich eine enge intertextuelle Beziehung zu Kallimachos ausmachen27

Ληφθήσει περίφευγε Μενέκρατες᾿ εἶπα Πανήμου

εἰκάδι καὶ Λῴου τῇ τίνι τῇ δεκάτῃ

ἦλθεν ὁ βοῦς ὑπ᾿ ἄροτρον ἐκούσιος εὖ γ᾿ ἐμὸς ῾Ερμῆς

εὖ γ᾿ ἐμόςmiddot οὐ παρὰ τὰς εἴκοσι μεμφόμεθα

lsquoAuch du wirst ergriffen werden fliehe nur Menekratesrsquo sagte ich am zwan-zigsten Tag des Panemos und ndash an welchem Tag des Loos noch ndash am zehntenkam der Ochse freiwillig unter das Joch Recht so mein Gluumlck28 gut meinesallein uumlber die zwanzig Tage aumlrgere ich mich nicht29

23 Vgl Luck (1959) 93 Cairns (1979) 21ndash2324 Vgl Lee-Stecum (1998) 15425 Vgl Tib 1389ndash9326 Vgl Tib 151ndash227 Vv 15ndash16 Vgl Luck (1959) 94 Bulloch (1973) 79 Murgatroyd (1980) 137 Maltby (2002) 220ndash22128 Der Ausruf ἐμὸς ῾Ερμῆς nimmt Bezug zu der Redewendung κοινὸς ῾Ερμῆς (Vgl LSJ sV ῾Ερμῆς

II2) die das Teilen von Gluumlck bezeichnet und betont durch die Verwendung des Possessivpronomensἐμός dass der Sprecher das Gluumlck ganz fuumlr sich allein beansprucht Vgl Asper (2004) 465 Anm 13

29 Call Epigr 45 Pf

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Beide Male wird die Vorstellung des mit der Zeit nachgebenden Juumlnglings durch die Me-tapher des sich-unters-Joch-Beugens ausgedruumlckt und so die endlich totale Kontrolle uumlberden umworbenen Jungen hervorgehoben Das uumlbereinstimmende Bild des Jochs in diesemganz speziellen Kontext der Knabenliebe laumlsst deutlich auf einen intertextuellen Bezugschlieszligen

Im letzten Teil von Priapusrsquo Rede polemisiert dieser deutlich gegen Jungen die ihreLiebe vom Erhalt materieller Geschenke abhaumlngig machen die Dichtkunst dagegen nichtzu schaumltzen wissen30 Hier sind die drei Themen kaumlufliche Liebe Armut und Dichtung engmiteinander verwoben All diese Themen kommen auch schon in hellenistischer Dichtungvor und die Beziehung zu Kallimachos scheint hier besonders eng zu sein

Durch den Ausruf

Heu male nunc artes miseras haec saecula tractantiam tener assuevit munera velle puer

Ach nun behandeln diese Jahrhunderte die elenden Kuumlnste schlechtSchon der zarte Knabe hat sich daran gewoumlhnt Geschenke zu verlangen31

werden kaumlufliche Liebe und die zunehmende Orientierung an materiellen Werten beklagtDer dritte Iambus von Kallimachos zeigt ein ganz aumlhnliches Bild32 Auch wenn der ersteTeil des Iambus nur schlecht erhalten ist verraumlt die Diegesis

Καταμέμφεται τὸν καιρὸν ὡς πλούτου

μᾶλλον ἢ ἀρετῆς ὄντα τὸν δὲ

πρὸ αὐτοῦ ἀποδέχεται ὃς τῆς ἐναν-

τίας ἦν τούτων γνώμηςmiddot παρεπι-

κόπτει δὲ καὶ Εὐθύδημόν τινα ὡς

κεχρημένον τῇ ὥρᾳ πορισμῷ ὑ-

πὸ τῆς μητρὸς πλουσίῳ συσταθέντα

Er tadelt die aktuellen Zustaumlnde weil sie mehr Wert auf Reichtum alsauf Tugend legen die Zeit vor diesen die der gegenteiligen Auffassungwar billigt er Dabei schilt er auch einen Euthydemos weil er seinejugendliche Schoumlnheit zu Erwerbszwecken missbrauche nachdem er vonseiner Mutter mit einem Reichen zusammengebracht worden sei33

Beide Dichter verurteilen die Tatsache dass materiellen Guumltern ein houmlherer Wert bei-gemessen wird als der Tugend und der Dichtung Daruumlber hinaus steht diese Kritik in

30 Vv 57ndash7331 Vv 57ndash5832 Vgl Dawson (1946) 11ndash12 Murgatroyd (1980) 151 Maltby (2002) 23133 Dieg 634ndash40 zu Call Iamb 3 Pf Die Diegeseis werden im Folgenden aus Pfeiffer zitiert

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beiden Faumlllen im direkten Zusammenhang mit der KnabenliebeDiese Gemeinsamkeit wird sogar noch verstaumlrkt beruumlcksichtigt man dass der oben

zitierte Ausruf in den Versen 57ndash58 eindeutig aus der Perspektive eines armen Manneserfolgt der dem umworbenen Jungen keine solchen kostbaren Geschenke machen kann umdessen Gunst zu bekommen Dieser Standpunkt findet sich in Kallimachosrsquo Epigramm 32wieder in dem das elegische Ich einem Juumlngling namens Menippos gegenuumlber seine Armuteingesteht und ihn anfleht ihm diese nicht immer wieder vorzuhalten34 Beide Textstellenbeschreiben die Situation eines Mannes der aufgrund seiner Armut in der Knabenliebenicht erfolgreich ist

Des Weiteren faumlllt auf dass sowohl bei Kallimachos als auch bei Tibull der Kultder Kybele im Zusammenhang mit der Verdammung der kaumluflichen Liebe vorkommt35

In der Elegie 14 verflucht Priapus denjenigen der die Musen nicht zu schaumltzen weiszlig auffolgende Weise

At qui non audit Musas qui vendit amoremIdaeae currus ille sequatur OpisEt tercentenas erroribus expleat urbesEt secet ad Phrygios vilia membra modos

Aber wer die Musen nicht houmlrt wer Liebe verkauft jener soll den Wagen derphrygischen Ops36 folgen dreihundert Staumldte auf Irrfahrten durchwandern undsich zu phrygischen Rhythmen seine nutzlosen Glieder abschneiden37

Kallimachos kommentiert im dritten Iambus angesichts seiner Erfolgslosigkeit beimJuumlngling Euthydemos die durch dessen Fixierung auf Reichtum verschuldet ist

[ ] ν μοι τοῦτ᾿rsquoἂν ἦν ὀνήϊσ[το]ν

]υ[] [] Κ[υβή]βῃ τὴν κόμην ἀναρρίπτειν

Φρύγ[α] πρ[ὸς] αὐλὸν ἢ ποδῆρες ἕλκοντα

῎Αδω[ν]ιν αἰαῖ τῆς θεοῦ τὸν ἄνθρωπον

ἰηλεμίζεινmiddot νῦν δ᾿ ὁ μάργος ἐς Μούσας

ἔνευσαmiddot38

Es waumlre wohl dieses fuumlr mich am besten zum phrygischen Floumltenspiel das Haaremporzuwerfen oder das lange Gewand schleppend den Adonis ach weh denMann der Goumlttin zu beweinen jetzt habe ich Toumlrichter mich aber den Musenzugewandt

34 Vgl Call Epigr 32 Pf35 Vgl Dawson (1946) 12 Luck (1959) 96ndash97 Bulloch (1973) 79ndash80 Murgatroyd (1980) 15436 Ops die Frau Saturns ist das roumlmische Aumlquivalent zu Rhea der Frau Kronosrsquo welche die Griechen

wiederum mit Kybele der Goumlttin des Ida verbanden Vgl Murgatroyd (1980) 153ndash15437 Vv 67ndash7038 Call Iamb 3 fr 193 34ndash39 Pf

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Da hier beide im gleichen Zusammenhang naumlmlich der der Armut geschuldeten Er-folgslosigkeit bei einem Knaben den Kult der Kybele hinzuziehen ist hier eine Beein-flussung Tibulls durch Kallimachos sehr wahrscheinlich Trotz dieser sehr nahen Parallelebesteht jedoch ein deutlicher Unterschied darin dass Kallimachos den Kult der Kybe-le an dem nur Eunuchen teilnahmen genauso wie den des Adonis der nur von Frauengepflegt wurde ironisch als letzten Ausweg aus seiner wenig Erfolg versprechenden Lagedarstellt da er ja durch das Beitreten zu einem dieser Kulte von seiner ungluumlcklichenLiebe befreit waumlre Tibull hingegen verwendet den Kybele-Kult als grausame und ab-schreckende Verfluchung des fuumlr die Musen Unempfaumlnglichen der nur durch materielleGeschenke zu gewinnen ist Er uumlbernimmt zwar die Kybele-Thematik fuumlgt sie aber aufeine voumlllig andere ihm eigene Weise in seine Elegie ein

Die besondere Wertschaumltzung der Dichtkunst durch das elegische Ich wird vor allem indiesem Distichon deutlich Quem referunt Musae vivet dum robora tellus dum caelumstellas dum vehet amnis aquas (Wen die Musen nennen der wird leben solange die ErdeEichen solange der Himmel Sterne solange der Fluss Wasser fuumlhrt)39) In Kallimachosrsquozwoumllftem Iambus hebt Apollon der Heras Tochter zum Geburtstag ein Lied schenkt denbesonderen Wert der Dichtung ganz aumlhnlich hervor ἡ δ᾿ ἐμὴ τῇ παιδὶ καλλίͺστη δόσιςἔστ᾿ ἐμὸν γένειον ἁγνεύῃ ͺ τριχός καὶ ἐρίφοις χαίρωσιν ἅρπͺαγ[ες λ]ύκ[ο]ι (Meine Gabeist aber fuumlr das Kind wunderschoumln so lange mein Kinn von Haar rein ist und sich dieraumluberischen Woumllfe an Zicklein erfreuen)40 waumlhrend die Geschenke der anderen Goumlttermit der Zeit vergehen wuumlrden Bulloch macht in diesem Zusammenhang auf die paralleleSatzkonstruktion mit dum bzw ἔστε aufmerksam41

Alle drei Themen die Armut die scharfe Kritik an kaumluflicher Liebe und die besondereWertschaumltzung der Dichtung finden sich folglich sowohl bei Tibull als auch bei Kallima-chos Tibull kombiniert sie neu baut sie stimmig und kontrastierend in seine Elegie einum die unabdingbare Notwendigkeit des Scheiterns seiner Liebe zu Marathus eindrucks-voll hervorzuheben Zugleich positioniert sich Tibull durch sie deutlich in der Naumlhe zuKallimachos besonders weil die Rede uumlber Dichtung immer auch poetologisch verstandenwerden kann So laumlsst er den Leser bereits vermuten dass seine Elegie auch noch anderekallimacheische oder hellenistische Elemente enthalten koumlnnte

Im abschlieszligenden Kommentar des elegischen Ichs42 laumlsst sich ebenfalls eine intertex-tuelle Beziehung erkennen Das elegische Ich sieht sich nachdem es enthuumlllt hat dassTitius die gewonnenen Informationen gar nicht anwenden kann als erfolgreicher und an-gesehener Lehrer Tempus erit cum me Veneris praecepta ferentem deducat iuvenumsedula turba senem (Die Zeit wird kommen wenn mich als alten Mann waumlhrend ich

39 Vv 65ndash6640 Call Iamb fr 163 67ndash70 Asper Hier wird der Kallimachos-Ausgabe von Asper gefolgt41 Vgl Bulloch (1973) 7942 Vv 73ndash84

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Liebeslehren verbreite eine eifrige Schar junger Maumlnner begleitet)43 Ein aumlhnliches Bildverwendet Kallimachos in den Aitien44

γηράσκει δ᾿ ὁ γέρων κεῖνος ἐλαφρότερον

κοῦροι τὸν φιλέουσιν ἑὸν δέ μιν οἷα γονῆα

χειρὸς ἐπ᾿ οἰκείην ἄχρις ἄγουσι θύρην

Jener Greis altert leichter den die jungen Maumlnner lieben und wie ihren eigenenVater an der Hand gaumlnzlich bis zur Tuumlr seines Hauses fuumlhren45

In beiden Ausschnitten wird die Wertschaumltzung eines alten Mannes durch juumlngere dieihm ein Ehrengeleit geben thematisiert und als wuumlnschens- und erstrebenswert darge-stellt Tibull benutzt diese Vorstellung aber als seinen eigenen Traum er subjektivisiertKallimachosrsquo Vorlage und macht eine allgemein vorgetragene Ansicht zu seiner eigenenWunschvorstellung Dieser Traum des elegischen Ichs hat die Funktion die darauf folgendeEnthuumlllung des eigenen Versagens in der Liebe noch deutlicher hervorzuheben

Tibull uumlbernimmt Ideen Motive Bilder und Vergleiche welche sich meist auf einekonkrete Textstelle zuruumlckfuumlhren lassen die aber oft dennoch in voumlllig neuer Gestalt indie Elegie eingefuumlgt worden sind und sich deshalb manchmal nicht klar von hypertextuel-len Bezuumlgen trennen lassen Besonders seine Aussagen uumlber die Dichtung und die damitverbundenen intertextuellen Bezuumlge zu Kallimachos lassen sich poetologisch deuten DerLeser hat nun erste Orientierungspunkte erhalten die ihm ein tieferes Verstaumlndnis derElegie ermoumlglichen und durch die er auch undeutlichere Beziehungen zur hellenistischenDichtung wahrnehmen kann

4 Neben diesen intertextuellen enthaumllt Tibulls Elegie auch hypertextuelle Beziehun-gen Hierbei nimmt die Elegie entweder durch Transformation also durch die Veraumln-derung einer Vorlage oder durch Nachahmung bestimmter stilistischer Eigenheiten aufeinen anderen Text Bezug Der naumlchste Unterabschnitt wird aufzeigen dass das Prinzipder Transformation am neunten Iambus von Kallimachos nachweisbar ist die restlichenbeschaumlftigen sich mit der Nachahmung bestimmter Merkmale hellenistischer Poesie undihrer Dichter

Die aumluszligere Form der Elegie scheint durch Transformation verschiedener Kallimachos-Fragmente gestaltet worden zu sein Der Dialog mit einer Statue ist gleich mehrmalsin seinen Werken zu finden Neben dem Aitien-Fragment 11446 und dem Epigramm 2447

43 Vv 79ndash8044 Vgl Luck (1959) 98 Bulloch (1973) 76 Maltby (2002) 23745 Call Aet 1fr 41 Pf46 Dialog zwischen Apollo und einer unbekannten Person47 Die Statue eines Helden spricht

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weist der neunte Iambus der uns abgesehen von zwei Versen auch nur durch den Diegeseis-Papyrus uumlberliefert ist die groumlszligten Uumlbereinstimmungen mit der Elegie 14 auf48

]Φιλη-

τάδου παιδὸς εὐπρεποῦς ἐραστὴς ἰδὼν

῾Ερμοῦ ἄγαλμα ἐν παλαιστριδίῳ ἐντε-

ταμένον πυνθάνεται μὴ διὰ τὸν Φιλη-

τάδαν ῾Ο δέ φησιν ἄνωθεν εἶναι Τυρση-

νὸς καὶ κατὰ μυστικὸν λόγον ἐντε-

τάσθαι ἐπὶ κακῷ δὲ αὐτὸν φιλεῖν τὸν

Φιλητάδαν

Als der Liebhaber des schoumlnen Knaben Philetades auf einer kleinen Palaumlstraein Bildnis eines erigierten Hermes sieht fragt er bdquoEtwa wegen PhiletadesldquoDas Bildnis aber antwortet ihm von oben herab dass es etruskisch sei undwegen einer mystischen Lehre erigiert sei dass seine Liebe zu Philetades aberzum Schlechten gereiche49

In der Elegie und im Kallimachos-Fragment findet der Dialog zwischen einem ithyphal-lischen Gott und einem Knabenliebhaber statt Sowohl die Dialogform die Dialogpartnerals auch das uumlbergeordnete Thema stimmen folglich uumlberein Eine weitere Gemeinsamkeitist die uumlberraschende und ungluumlckliche Wende am Ende des Iambus bzw der Elegie Inbeiden Faumlllen erfaumlhrt der Leser dass eine gluumlckliche Liebesbeziehung unmoumlglich ist Dieseungluumlckliche Wende hat bei Tibull jedoch deutlich mehr Tragweite weil sie das bis dahinnahegelegte Verstaumlndnis der Elegie veraumlndert ja sogar ins Gegenteil verkehrt Durch sieverliert der gesamte Vortrag des Priapus an Bedeutung Des Weiteren unterscheidet sichdie Elegie dadurch dass Tibull Priapus als Gespraumlchspartner auswaumlhlt Doch auch dabeigreift er auf hellenistische Vorstellungen zuruumlck Priapus war im Hellenismus sehr beliebt50

und tritt beispielsweise im ersten Idyll von Theokrit als Liebeslehrer auf51 Aufgrund derUumlbereinstimmung von Hauptthema Form und uumlberraschender Wendung ist es durchausmoumlglich die Elegie 14 als erweiterte und verlaumlngerte Transformation des neunten Iambusvon Kallimachos anzusehen Erkennt der Leser diesen Bezug zur hellenistischen Dichtungschon beim Lesen wird er etwas auf das uumlberraschende Ende vorbereitet wenn nichtwird er ihm wohl spaumltestens nach dem Lesen der Schlusspointe deutlich werden so dassdie Freude des Wiedererkennens des Iambus im zweiten Lesedurchgang ihre volle Wir-kung entfalten kann und dem Leser mehr und mehr Parallelen zwischen der Elegie und

48 Vgl Dawson (1946) 12ndash13 Luck (1959) 93 Bulloch (1973) 78ndash79 Cairns (1979) 189ndash190 Murgatroyd(1980) 130 Maltby (2002) 216

49 Dieg 833ndash40 zu Call Iamb 9 Pf50 Vgl Murgatroyd (1980) 129ndash131 Maltby (2002) 21651 Hier allerdings ohne den Kontext der Knabenliebe Vgl Theoc Id 180ndash92

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hellenistischer Dichtung auffallen

Neben dieser Transformation ist aber auch die Nachahmung von einigen Eigenheitender hellenistischen Poesie nachweisbar Eines der Merkmale der hellenistischen Poesie istdas Taumluschen des Lesers52 Diese Tendenz bezeichnet Asper in Bezug auf Kallimachosauch als bdquoEindruck der Unberechenbarkeitldquo53 Als Beispiel fuumlr diese Unberechenbarkeitkann der oben vorgestellte neunte Iambus von Kallimachos dienen Auch Theokrits vier-tes Epigramm waumlre ein Beispiel in dem ein Liebender einem Hirten zunaumlchst auftraumlgtPriapus zu bitten ihn von seiner Liebe zu erloumlsen dann aber deutlich macht dass er sichin Wahrheit eine gluumlckliche Liebesbeziehung wuumlnscht54

Die Tendenz den Leser bestaumlndig in die Irre zu fuumlhren ist in Tibulls vierter Elegiesehr deutlich Schon zu Beginn spielt Tibull mit den Lesererwartungen Nach dem erstenVers Sic umbrosa tibi contingant tecta Priape (So moumlgen dir Priapus schattenspendendeDaumlcher zuteilwerden)55 koumlnnte der Leser wohl vor allem durch das an ein rituelles Gebeterinnernde einleitende sic56 noch annehmen dass nun ein Gebet zu Priapus folgt Wenigspaumlter wird jedoch die eigentliche Absicht des elegischen Ichs deutlich Quae tua formo-sos cepit sollertia (Welche dir eigene Faumlhigkeit haumllt die schoumlnen Juumlnglinge gefangen)57

Der Gott wird als Ratgeber in der Knabenliebe angerufen Der anfaumlngliche Eindruck ei-nes unmittelbaren Dialogs wird jedoch durch den erzaumlhlenden Einschub in den Versen7ndash8 aufgeloumlst58 Erst jetzt erfaumlhrt der Leser dass es sich gar nicht um einen unmittelbarstattfindenden sondern um einen durch das elegische Ich wiedergegebenen Dialog han-delt Durch die Einfuumlhrung des Priapus als jemanden ohne gepflegtes Aumluszligeres59 und diespottende Beschreibung des Priapus als Bacchi rustica proles armatus curva falcedeus (Der baumluerliche Nachkomme des Bacchus der Gott bewaffnet mit einer gekruumlmm-ten Sichel)60 werden beim Leser keine groszligen Erwartungen bezuumlglich des nun folgendenVortrages geweckt Es schlieszligt sich jedoch ein rhetorisch ausgefeilter wohl gegliederter61

Lehrvortrag an Im abschlieszligenden Monolog des elegischen Ichs wird dann das deutlichwas Cairns als bdquoTibullan trick endingldquo62 bezeichnet Hier haumlufen sich die den Leser uumlberra-schenden Wendungen im Handlungsverlauf Bisher wurde der Leser im Glauben gelassendas elegische Ich erfrage alle Ratschlaumlge fuumlr sich selbst Nun erfaumlhrt er aber dass es diese

52 Vgl Cairns (1979) 166ndash19153 Asper (2004) 5154 Vgl Theoc Ep 455 V 156 Vgl Maltby (2002) 216ndash21757 V 358 Vgl Radicke (2006) 20559 Vgl V 460 Vv 6ndash761 In seiner Rede bedient sich Priapus vieler rhetorischer Stilfiguren Besonders haumlufig werden Ana-

phern verwendet (Vgl Vv 111213 Vv 1718 Vv 1920 Vv 28293031 Vv 4143) Sein Vortrag istdaruumlber hinaus noch kunstvoll in sich verlaumlngernde Abschnitte gegliedert von denen die ersten drei aus jedrei Distichen bestehen auf die dann Abschnitte aus sechs neun und acht Distichen folgen Vgl Radicke(2006) 197 Murgatroyd (1980) 128

62 Cairns (1979) 173

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nur fuumlr einen gewissen Titius in Erfahrung gebracht habe63 Doch damit nicht genug SedTitium coniunx haec meminisse vetat (Aber seine Frau verbietet Titius sich daran zuerinnern)64 Da Titius nun aber gar keinen Gebrauch von seinen Lehren machen kanngibt sich das elegische Ich im Folgenden einer Vision von sich selbst als Liebeslehrer hinMe qui spernuntur amantes consultent (Moumlgen mich die Liebenden die zuruumlckgewie-sen werden um Rat fragen)65 Doch auch diese vom Leser nach zweimaliger Irrefuumlhrunggerade erst gewonnene Information wird sofort wieder fuumlr unguumlltig erklaumlrt Das elegischeIch wird selbst von einem Knaben zuruumlckgewiesen und gequaumllt66 Es wird klar dass daselegische Ich alle Ratschlaumlge doch zumindest zum Teil auch fuumlr sich erfragt hat selbst inder Knabenliebe wenig erfolgreich und somit auch nur wenig als Liebeslehrer geeignet istDurch das verzweifelte Flehen Parce puer quaeso (Verschone mich Junge bitte)67 wirddie Hilflosigkeit des elegischen Ichs deutlich Alle vorher gegebenen Ratschlaumlge sind in derLiebe voumlllig nutzlos

Tibull fuumlhrt seine Leser also wiederholt in die Irre indem er ganz bewusst Infor-mationen zuruumlckhaumllt oder die bisherigen Erwartungen des Lesers enttaumluscht Dadurchgelingt es ihm nicht nur den Leser zu unterhalten sondern auch ihn waumlhrend der gan-zen Elegie in einem Zustand der staumlndigen Spannung verharren zu lassen Auch koumlnnteman meinen dass durch diese staumlndigen Taumluschungen die Unberechenbarkeit und die Un-vorhersehbarkeit der Liebe unterstrichen werden Genauso wie der Leser im Verlauf derElegie nie wirklich sicher sein kann woran er ist ist auch der Liebende nie wirklich aufder sicheren Seite kann die Reaktion des anderen nie vorausplanen muss immer mit demUnvorstellbaren rechnen

Ein weiteres hellenistisches Merkmal das Tibull nachahmt ist die Ironie Kallima-chosrsquo bdquointelligenter Witzldquo68 und Theokrits bdquofelicitously ironic and grotesque effectsldquo69 dieoft durch das Versetzen von Elementen der staumldtischen Kultur zu einfachen Schafhirtenhervorgerufen werden70 koumlnnen durchaus als Vorbilder fuumlr die feine Ironie gedient habendie die gesamte Elegie durchzieht

Schon allein der Gedanke dass die unvorhersehbare Liebe die sich keinen Regeln un-terwirft durch eine bestimmte Technik oder durch das Einhalten bestimmter Ratschlaumlgeerlernt berechnet oder beherrscht werden kann ist amuumlsant71 Derselben Idee wird sichspaumlter auch Ovid in seiner Ars amatoria bedienen

Aber auch der Gott Priapus wird auf sehr ironische und belustigende Weise ein-

63 Vgl V 7364 V 7465 Vv 77ndash7866 Vgl V 8167 V 8368 Asper (2004) 5369 Giangrande (1986) 4970 Vgl ebd71 Vgl Littlewood (1983) 2152

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gefuumlhrt Zunaumlchst wird er dem Leser dem allgemeinem Bild von ihm entsprechend alswenig gepflegter Gott72 als rusticus und armatus curva falce73 vorgestellt Dann ist daszum Lehrvortrag uumlberleitende Distichon74 aber durch sehr poetische und ernste Spracheausgestaltet Es wird das archaische Wort proles75 verwendet das einen feierlichen undernsthaften Ton hat76 das sic ego77 erinnert an epischen Sprachgebrauch78 und die Haumlu-figkeit von Spondeen steigt deutlich an79 so dass die Ernsthaftigkeit und Bedeutung desDistichons deutlich gesteigert werden Somit dient das Distichon nicht nur als Uumlberleitungvon der Rede des elegischen Ichs zu der des Gottes sondern verwandelt auch vor den geis-tigen Augen des augusteischen Lesers den ihm als einfach ungebildet und ithyphallischbekannten Gartengott Priapus in eine ernstzunehmende fast schon heroische LehrpersonDiese Art Ironie durch den Gegensatz zwischen heroischer Uumlberhoumlhung und baumluerlicherEinfachheit zu erzeugen erinnert ein wenig an die von Giangrande beschriebene IronieTheokrits

Es folgt der Vortrag des Priapus selbst der von Maltby als bdquomock-didacticldquo80 be-schrieben wird Dieser Eindruck kommt durch den Gegensatz zwischen dem formell vor-getragenen und rhetorisch ausgearbeiteten Vortrag des Priapus und dem eher informellenThema und der Tatsache dass Priapusrsquo praecepta hauptsaumlchlich auf allgemeinen Banalitauml-ten fuszligen zustande Dies vermag schon die naumlhere Untersuchung des ersten praeceptum81

der Rede zu zeigen Der Rat nicht gleich aufzugeben sondern Geduld zu haben wird bei-spielsweise durch das Bild von Menschen die es im Laufe der Zeit schaffen sogar Loumlwenzu zaumlhmen von Wasser das mit der Zeit einen Stein aushoumlhlen kann von Trauben diein der Sonne reifen und von Sternen die sich auf ihren festgelegten Bahnen fortbewegenkunstvoll illustriert82 Die besondere Macht der Zeit wird durch die Anaphern von longadies83 und annus84 hervorgehoben Gleichzeitig ist es voumlllig offenbar dass der Rat ab-zuwarten und die Zeit fuumlr sich arbeiten zu lassen kein voumlllig neuer vorher unbekannterGeniestreich des Priapus ist Dennoch scheint er vom Liebesratgeber Priapus voumlllig ernstgenommen und fuumlr aumluszligerst wichtig gehalten zu werden Dadurch entsteht ein uumlberaus iro-nischer Eindruck Dieses Prinzip eine sorgfaumlltige Gliederung in praeceptum gefolgt vonBeispielen und stilistischen Figuren bei eigentlich trivialen Ratschlaumlgen ist auch bei allenfolgenden Abschnitten der Rede festzustellen

72Vgl V 473 Vgl Vv 7ndash874 Vv 7ndash875 V 776 Murgatroyd (1980) 13477 V 678 Vgl Maltby (2002) 21879 Vgl Littlewood (1983) 215380 Malbty (2002) 21581 Vv 15ndash2082 Vgl Vv 17-2083 Vv 171884 Vv 1920

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In der finalen Wendung der Elegie kommt eine ganz neue Nuance von Ironie zumTragen Nachdem vorher Ironie auf Kosten des Priapus eingesetzt worden ist wird durchdas Eingestehen der eigenen Machtlosigkeit durch das elegische Ich85 nun noch der Aspektder Selbstironie hinzugefuumlgt Das elegische Ich das sich vorher noch ausgemalt hat dasseine Schar junger Maumlnner es deducat86 was ein Fachausdruck fuumlr das Ehrengeleit einerbedeutenden Persoumlnlichkeit oder eines Politikers darstellt87verliert so all seine Autoritaumltmuss gar befuumlrchten dass die Leser es auslachen werden88 Doch nicht nur das elegischeIch wird so ins Laumlcherliche gezogen die gesamte Elegie verliert durch die Erkenntnisdass alle Ratschlaumlge im Angesicht der Liebe nur vana magisteria (leere Lehren)89 sindihre Aussagekraft und Bedeutung Diese Bedeutungslosigkeit und die daraus resultieren-de Hilfslosigkeit werden durch die Positionierung dieses Ausdrucks am Schluss der Elegiehervorgehoben Zu der wirkungsvollen Stellung kommt die Besonderheit dass hier mitmagisteria ein fuumlnfsilbiges Wort am Ende des Pentameter steht was ansonsten von Ti-bull eher vermieden wird90 Die Elegie endet folglich mit der Feststellung dass sie ihrenvordergruumlndigen Sinn das Geben von Ratschlaumlgen fuumlr die Knabenliebe nicht erfuumlllenkonnte Diese Form der Ironie beschreibt Luck deshalb vielleicht nicht ganz zu Unrechtals bdquotouch of romantic ironyldquo91

Um die Funktion der Ironie besser verstehen zu koumlnnen ist Radickes Aufsatz uumlberdie Elegie 14 in dem er feststellt dass die Rede des Priapus durch bdquounzuverlaumlssige Redeldquogekennzeichnet ist aumluszligerst hilfreich92 Auf diese bdquounzuverlaumlssige Redeldquo werde schon vorder Schlusspointe hingewiesen indem Priapus schon waumlhrend seines Lehrvortrags mit zu-nehmender Deutlichkeit zwischen seiner vordergruumlndigen Rolle als Liebeslehrer und derRolle des verschmaumlhten Liebhabers die ja eigentlich dem elegischen Ich zukommt hinund her springe Dies werde dadurch deutlich dass einige Abschnitte der Rede wie zBdie Warnung vor der Liebe93 oder die Kritik an kaumluflicher Liebe94 eindeutig aus Sichteines ungluumlcklichen Liebhabers erfolgen waumlhrend andere durchaus zur Rolle als Liebes-lehrer passen95 Dadurch werde offenbar dass es sich bei dem durch das elegische Ichwiedergegebenen Dialog gar nicht um einen solchen handle sondern Priapus vielmehr dieFunktion einer bdquoMaske durch die das elegische Ich seine Gefuumlhle mitteilt oder bessergesagt seine Gefuumlhle zu verbergen suchtldquo96 erfuumlllt und der Lehrvortrag als letzter ver-zweifelter Versuch zu werten sei Marathus von sich zu uumlberzeugen Auch die Tatsache

85 Vgl Vv 81ndash8486 V 8087 Vgl Georges s V deduco II e ζ αα88 Vgl V 8489 V 8490 Vgl Maltby (2002) 23991 Luck (1959) 9992 Vgl Radicke (2006)93 Vv 8ndash1694 Vv 57ndash7295 Vv 15ndash20 21ndash26 39ndash5096 Ebd 202

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dass die Elegie von Beginn an von Ironie durchzogen wird die zum Ende hin immer staumlr-ker wird koumlnnte als Hinweis auf diese bdquounzuverlaumlssige Redeldquo gewertet werden Der Leserwird durch die ironische Einfuumlhrung des Priapus gleich darauf hingewiesen dass dieser alsLiebeslehrer nicht ganz ernst zu nehmen ist Der Gegensatz zwischen Ernsthaftigkeit undtrivialen Ratschlaumlgen in der Rede verweist zusaumltzlich zum Gegensatz zwischen der Rolledes Liebeslehrers und des Liebenden noch deutlicher auf die Maskenfunktion des Priapusbis schlieszliglich die letzte Wendung der Elegie keinen Zweifel mehr an der Tatsache laumlsstdass der Lehrvortrag des Priapus nur ein verzweifelter Versuch des elegischen Ichs ist dieeigene Hilfslosigkeit zu verbergen

Eine weitere Parallele zur hellenistischen Poesie ist die Ringkomposition in Tibulls Ele-gie 14 Die Ringkomposition bei der eine bestimmte Anzahl von Themen bis zu einemzentralen Punkt behandelt werden die dann nach diesem in der umgekehrten Reihen-folge wieder behandelt werden ist zwar schon seit Homer zu finden da sie anfaumlnglichwohl vor allem als Gedaumlchtnisstuumltze bei muumlndlicher Poesie diente97 Sie nimmt aber aucheinen wichtigen Platz in der hellenistischen Dichtung mit ihrer hohen Wertschaumltzung vonformalen Strukturen ein und laumlsst sich beispielsweise in Theokrits Idyll 28 wiederfinden98

Bei den Abschnitten in die sich die vierte Elegie gliedert faumlllt ein aumlhnliches Prinzipauf99 Die einleitende Anrede100 (A1) steht dem anschlieszligenden Kommentar des elegi-schen Ichs101 (A2) gegenuumlber die Warnung des Priapus vor der Knabenliebe102 (B1) derKritik an kaumluflicher Liebe und dem Lobpreis der Dichtung103 (B2) und die Passagen indenen Priapus zur Geduld und zu falschen Schwuumlren auffordert104 (C1) dem Aufruf da-zu den Wuumlnschen des Geliebten zu folgen105 (C2) Das Mittelstuumlck das als Spiegelachsedient bildet der Abschnitt (D) in dem auf die Vergaumlnglichkeit der Jungend aufmerksamgemacht wird106 (A2) kommentiert sein Gegenstuumlck ironisch indem es (A1) als voumllligsinnlos enthuumlllt und (B2) gibt einen moumlglichen Grund fuumlr die Warnung in (B1) an107

Auffaumlllig ist jedoch auch dass sich mit (B1) und (B2) zwei Abschnitte gegenuumlberstehenin denen Priapus seine ihm zugewiesene Rolle als Liebeslehrer verlaumlsst waumlhrend in (C1)und (C2) Priapus seine Rolle als Liebeslehrer erfuumlllt Der Abschnitt (D) nimmt zu Rechtdie wichtige Mittelstellung ein weil hier der verzweifelte Versuch des lyrischen Ichs Ma-rathus durch den vorgeschobenen Liebeslehrer Priapus doch noch fuumlr sich zu gewinnenbesonders deutlich durchschimmert Das Argument der Vergaumlnglichkeit der Jugend und

97 Vgl Cairns (1979) 195ndash19698 Vgl ebd 193ndash194 20299 Vgl ebd 207ndash208

100 Vv 1ndash8101 Vv 73-84102 Vv 9ndash14103 Vv 57ndash72104 V 15ndash26105 Vv 39ndash56106 Vv 27ndash38 Vgl ebd 207107 Vgl ebd

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die daraus folgende Aufforderung die verbleibende Zeit zu nutzen wird naumlmlich vorrangigvon Liebenden verwendet um den Geliebten oder die Geliebte von einer Beziehung zuuumlberzeugen108 Tibull selbst verwendet diese Argumentation an anderer Stelle um seineDelia von sich zu uumlberzeugen109 Mit Abschnitt (D) steht folglich ein Abschnitt im Mit-telpunkt der unweigerlich die Doppelrolle des Priapus als Liebeslehrer einerseits und alsungluumlcklicher Liebender andererseits offenbart

Trotz der wiederholten Taumluschung des Lesers und der Ironie liegt der Elegie alsoauch eine klare Gliederung zu Grunde die dafuumlr sorgt dass der Leser nicht voumlllig die Ori-entierung verliert und ebenfalls die besondere Rolle des Priapus als Maske des elegischenIchs hervorhebt

5 Mit Hilfe der durch Genette gepraumlgten Begriffe der Inter- und der Hypertextualitaumltlassen sich folglich viele verschiedene Einwirkungen hellenistischer Poesie auf die vierteElegie ausmachen Auch wenn es nicht immer leicht ist beide Begriffe klar voneinanderabzugrenzen haben sie es doch ermoumlglicht die verschiedenen Arten der Einwirkung einesTextes auf einen anderen zu unterscheiden und so ein systematisches detaillierteres undvollstaumlndigeres Bild der Beziehungen zwischen hellenistischer Dichtung und Tibulls Elegieaufzuzeigen

Intertextuelle Beziehungen lassen sich besonders deutlich zwischen Tibull und Kal-limachosrsquo Aitien Iamben und Epigrammen ausmachen Diese werden sinnvoll und pro-duktiv in die Elegie eingebunden und stets verwendet um den Inhalt der Elegie deut-licher hervorzuheben Gleichzeitig lassen sie sich auch poetologisch deuten Die groszligenAumlhnlichkeiten zu Kallimachos besonders im letzten Teil der Elegie110 sind auf eine Wie-dererkennung durch den Leser ausgelegt und verdeutlichen ihm dass sich in der Elegienoch weitere nicht so direkte und woumlrtliche Bezuumlge zu Kallimachos im Besonderen undzur hellenistischen Dichtung im Allgemeinen finden lassen Sie bewirken dass der Lesernach weiteren indirekteren Parallelen sucht und bereits nach der typischen hellenistischenIronie und Unberechenbarkeit oder aumlhnlichen Merkmalen der hellenistischen DichtungAusschau haumllt

Diese indirekteren von Genette als hypertextuell bezeichneten Beziehungen lassensich in der Tat ebenfalls in groszliger Zahl in der Elegie wiederfinden Die Elegie wurdewohl nach dem Vorbild von Kallimachosrsquo neuntem Iambus gestaltet Auszligerdem werdenauch sie konsequent verwendet um den Inhalt kunstvoll zu unterstreichen und dem Le-ser das Verstaumlndnis der gesamten Elegie zu erleichtern Die Ironie weist eindeutig auf dieMaskenfunktion des Priapus hin die haumlufigen Uumlberraschungen fuumlr den Leser auf die Unbe-staumlndigkeit der Liebe Durch die Ringkomposition bietet Tibull dem Leser aber dennochnoch einige Orientierungshilfen durch die sich die Elegie leichter verstehen laumlsst

108 Vgl ebd Radicke (2006) 199109 Vgl Tib 1168ndash78110 Vv 57ndash84

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Die Funktion der transtextuellen Beziehungen ist es daher die Aussage hervorzuhe-ben dass Liebe nicht gelehrt nicht erlernt und nicht beherrscht werden kann Sie werdennicht einfach um ihrer selbst willen uumlbernommen sondern veraumlndert neu angeordnetund zu etwas voumlllig Neuem zu einer subjektiven Liebesgeschichte zusammengefuumlgt Zu-gleich werden sie jedoch nicht so verfremdet dass der Leser sie nicht wiedererkennen kannDurch die Beziehungen zur hellenistischen Dichtung schafft Tibull deutlich hervorstechen-de Orientierungspunkte fuumlr den Leser und hebt dabei zugleich die Botschaft der absolutenHilfslosigkeit in der Liebe gekonnt auszligergewoumlhnlich und aumluszligerst unterhaltsam hervor jabildet sie sogar ganz konkret durch die Gestaltung der Elegie ab ohne dabei die Leserorientierungslos oder gar bdquoill-preparedldquo im Dunkeln zuruumlckzulassen

Uumlber die Autorin Helen E Neutzler ist seit dem Wintersemester 20132014 BA-Studentin der Faumlcher klassische Philologie und Archaumlologische Wissenschaften an derRuhr-Universitaumlt Bochum Schwerpunkte legt sie in diesen beiden Faumlchern auf Latein unddie klassische Archaumlologie Im Oktober 2014 wurde ihr ein Stipendium des Bildungsfondsder RUB im Rahmen des Deutschlandstipendiums verliehen

Bibliography

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Littlewood (1983) R Joy Littlewood bdquoHumour in Tibullusldquo ANRW II 303 1983 2128ndash2158

Luck (1959) Georg Luck The Latin Love Elegy London 21969 (1959)Radicke (2006) Jan Radicke bdquoPriapus ein raumltselhafter Liebeslehrer Zur Interpretation

von Tibulls Elegie I 4ldquo Hermes 1342 2006 195ndash210Solmsen (1962) Friedrich Solmsen bdquoTibullus as an Augustan Poetldquo Hermes 90 1962

259ndash325Wilhelm (1896) Friedrich Wilhelm bdquoZu Tibullus (I 4)ldquo in Satura Viadrina Festschrift

zum fuumlnfundzwangzigjaumlhrigen Bestehen des philologischen Vereins zu Breslau Bres-lau 1896 48ndash58

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Page 4: Hellenistische Leuchtfeuer in Tibulls Priapus-Elegie · Hellenistische Leuchtfeuer in Tibulls Priapus-Elegie Transtextuelle Bezüge zur hellenistischen Dichtung und ihre Funktion

HELLENISTISCHE LEUCHTFEUER IN TIBULLS PRIAPUS-ELEGIE

tertextualitaumlt im Laufe der Zeit erhalten hat somit auf konkrete gekennzeichnete undungekennzeichnete Uumlbernahmen aus oder direkte Anspielungen auf einen anderen Textohne deren Erkennung der neue Text oft nicht verstanden werden kann20 Die Hypertex-tualitaumlt bezeichnet hingegen die Beziehung zwischen einem fruumlheren Hypotext und einemvon diesem abgeleiteten spaumlteren Hypertext Der Hypotext wird hierbei entweder durchTransformation veraumlndert oder nachgeahmt21 Dabei muss die zu Grunde liegende Vorla-ge nicht explizit erwaumlhnt werden oft weist nur die Tatsache dass der juumlngere Text ohneden alten in seiner aktuellen Form gar nicht existieren koumlnnte auf eine hypertextuelleVerbindung hin22

Nicht immer lassen sich diese beiden Begriffe eindeutig und klar voneinander abgren-zen Genauso wie es nur selten vorkommt dass selbst eine fast woumlrtlich uumlbereinstimmendePassage in genau dem gleichen Kontext mit genau dem gleichen Sinn und der gleichenIntention uumlbernommen wird lassen sich oft bei der Transformation oder Nachahmung ei-nes Textes auch intertextuelle Beziehungen erkennen Daher werden Bezuumlge die sehr engund eindeutig auf bestimmte Textstellen Bezug nehmen im Folgenden als intertextuellbezeichnet und diejenigen die ganze Ideenkomplexe und typische Merkmale eines Autorsoder einer ganzen Gattung transformieren oder nachahmen als hypertextuell

Trotz dieser Problematik ermoumlglicht es die von Genette getroffene Unterscheidungvon verschiedenen Arten der Transtextualitaumlt sich der verschiedenen Formen der Bezie-hungen zwischen mehreren Texten bewusst zu werden und beschraumlnkt die Untersuchungnicht nur auf die woumlrtliche Ebene Gleichzeitig bietet diese Systematik eine Trennungder verschiedenen Ebenen auf denen Texte aufeinander einwirken koumlnnen So laumlsst sichein systematischeres und vollstaumlndigeres Bild der Beziehungen zwischen hellenistischerDichtung und Tibulls Elegie aufzeigen Daher werden im Folgenden zunaumlchst die inter-textuellen Bezuumlge der Elegie zur hellenistischen Dichtung herausgearbeitet und jeweils aufihre konkrete Funktion untersucht gefolgt von den hypertextuellen Bezuumlgen

3 Da die Intertextualitaumlt die direkteste aller transtextuellen Beziehungen ist undBezug auf eine konkrete Textstelle nimmt handelt es sich bei ihr hauptsaumlchlich um the-matische oder gar woumlrtliche Uumlbereinstimmungen und Aumlhnlichkeiten Im Folgenden soll esjedoch nicht das Ziel sein alle intertextuellen Beziehungen zwischen der vierten ElegieTibulls und hellenistischer Poesie herauszuarbeiten was schon allein aufgrund der nurbruchstuumlckhaften Uumlberlieferung der hellenistischen Dichtung nicht moumlglich waumlre sondernvielmehr einzelne wichtige intertextuell beeinflusste Themenkomplexe herauszustellen undihre Bedeutung zu ergruumlnden

In der vierten Elegie Tibulls lassen sich gleich mehrere hellenistische Themen und Bil-der finden Schon das Hauptthema der Elegie der παιδικὸς ἔρως (paidikos eros) verweist

20 Vgl ebd21 Vgl ebd 14ndash1622 Vgl ebd 15

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deutlich auf die hellenistische Dichtung23 Im Hellenismus entstanden viele erotische Epi-gramme aber auch andere laumlngere erotische Dichtungen die das Thema der Knabenliebebehandeln Beispiele hierfuumlr sind Kallimachosrsquo Iamben 3 und 5 oder Theokrits Idyllen 29und 30

Mit dem paidikos eros fuumlhrt Tibull ein ganz neues Thema in die roumlmische Liebeselegieein Dadurch uumlberrascht er den Leser dem bisher nur die Elegien in denen die Liebezu Frauen behandelt wird bekannt sind und ruft ihm unweigerlich die hellenistischeDichtung in Erinnerung Die Wahl dieses Themas bietet aber wohl vor allem den ReizBekanntes in einer voumlllig neuen Form zu praumlsentieren24 Von der eher ernsthaften Delia-Thematik wird Abstand genommen um die bekannte Liebesproblematik in einem neuenThemenkomplex humorvoll und ironisch behandeln zu koumlnnen Das Scheitern der Liebeist aber auch hier unausweichlich und dient wohl auch als Andeutung dass der Traumeines gluumlcklichen Wiedersehens mit Delia der am Ende der dritten Elegie gehegt wird25

zumindest nicht dauerhaft wahr werden kann wie zu Beginn der fuumlnften Elegie dann auchsofort deutlich wird26

Auch im ersten Lehrsatz des Priapus

Sed te ne capiant primo si forte negarittaedia paulatim sub iuga colla dabit

Aber dich soll kein Uumlberdruss ergreifen wenn er [der Knabe] sich zunaumlchstheftig weigern sollte Nach und nach wird er seinen Hals unter das Joch geben

laumlsst sich eine enge intertextuelle Beziehung zu Kallimachos ausmachen27

Ληφθήσει περίφευγε Μενέκρατες᾿ εἶπα Πανήμου

εἰκάδι καὶ Λῴου τῇ τίνι τῇ δεκάτῃ

ἦλθεν ὁ βοῦς ὑπ᾿ ἄροτρον ἐκούσιος εὖ γ᾿ ἐμὸς ῾Ερμῆς

εὖ γ᾿ ἐμόςmiddot οὐ παρὰ τὰς εἴκοσι μεμφόμεθα

lsquoAuch du wirst ergriffen werden fliehe nur Menekratesrsquo sagte ich am zwan-zigsten Tag des Panemos und ndash an welchem Tag des Loos noch ndash am zehntenkam der Ochse freiwillig unter das Joch Recht so mein Gluumlck28 gut meinesallein uumlber die zwanzig Tage aumlrgere ich mich nicht29

23 Vgl Luck (1959) 93 Cairns (1979) 21ndash2324 Vgl Lee-Stecum (1998) 15425 Vgl Tib 1389ndash9326 Vgl Tib 151ndash227 Vv 15ndash16 Vgl Luck (1959) 94 Bulloch (1973) 79 Murgatroyd (1980) 137 Maltby (2002) 220ndash22128 Der Ausruf ἐμὸς ῾Ερμῆς nimmt Bezug zu der Redewendung κοινὸς ῾Ερμῆς (Vgl LSJ sV ῾Ερμῆς

II2) die das Teilen von Gluumlck bezeichnet und betont durch die Verwendung des Possessivpronomensἐμός dass der Sprecher das Gluumlck ganz fuumlr sich allein beansprucht Vgl Asper (2004) 465 Anm 13

29 Call Epigr 45 Pf

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HELLENISTISCHE LEUCHTFEUER IN TIBULLS PRIAPUS-ELEGIE

Beide Male wird die Vorstellung des mit der Zeit nachgebenden Juumlnglings durch die Me-tapher des sich-unters-Joch-Beugens ausgedruumlckt und so die endlich totale Kontrolle uumlberden umworbenen Jungen hervorgehoben Das uumlbereinstimmende Bild des Jochs in diesemganz speziellen Kontext der Knabenliebe laumlsst deutlich auf einen intertextuellen Bezugschlieszligen

Im letzten Teil von Priapusrsquo Rede polemisiert dieser deutlich gegen Jungen die ihreLiebe vom Erhalt materieller Geschenke abhaumlngig machen die Dichtkunst dagegen nichtzu schaumltzen wissen30 Hier sind die drei Themen kaumlufliche Liebe Armut und Dichtung engmiteinander verwoben All diese Themen kommen auch schon in hellenistischer Dichtungvor und die Beziehung zu Kallimachos scheint hier besonders eng zu sein

Durch den Ausruf

Heu male nunc artes miseras haec saecula tractantiam tener assuevit munera velle puer

Ach nun behandeln diese Jahrhunderte die elenden Kuumlnste schlechtSchon der zarte Knabe hat sich daran gewoumlhnt Geschenke zu verlangen31

werden kaumlufliche Liebe und die zunehmende Orientierung an materiellen Werten beklagtDer dritte Iambus von Kallimachos zeigt ein ganz aumlhnliches Bild32 Auch wenn der ersteTeil des Iambus nur schlecht erhalten ist verraumlt die Diegesis

Καταμέμφεται τὸν καιρὸν ὡς πλούτου

μᾶλλον ἢ ἀρετῆς ὄντα τὸν δὲ

πρὸ αὐτοῦ ἀποδέχεται ὃς τῆς ἐναν-

τίας ἦν τούτων γνώμηςmiddot παρεπι-

κόπτει δὲ καὶ Εὐθύδημόν τινα ὡς

κεχρημένον τῇ ὥρᾳ πορισμῷ ὑ-

πὸ τῆς μητρὸς πλουσίῳ συσταθέντα

Er tadelt die aktuellen Zustaumlnde weil sie mehr Wert auf Reichtum alsauf Tugend legen die Zeit vor diesen die der gegenteiligen Auffassungwar billigt er Dabei schilt er auch einen Euthydemos weil er seinejugendliche Schoumlnheit zu Erwerbszwecken missbrauche nachdem er vonseiner Mutter mit einem Reichen zusammengebracht worden sei33

Beide Dichter verurteilen die Tatsache dass materiellen Guumltern ein houmlherer Wert bei-gemessen wird als der Tugend und der Dichtung Daruumlber hinaus steht diese Kritik in

30 Vv 57ndash7331 Vv 57ndash5832 Vgl Dawson (1946) 11ndash12 Murgatroyd (1980) 151 Maltby (2002) 23133 Dieg 634ndash40 zu Call Iamb 3 Pf Die Diegeseis werden im Folgenden aus Pfeiffer zitiert

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beiden Faumlllen im direkten Zusammenhang mit der KnabenliebeDiese Gemeinsamkeit wird sogar noch verstaumlrkt beruumlcksichtigt man dass der oben

zitierte Ausruf in den Versen 57ndash58 eindeutig aus der Perspektive eines armen Manneserfolgt der dem umworbenen Jungen keine solchen kostbaren Geschenke machen kann umdessen Gunst zu bekommen Dieser Standpunkt findet sich in Kallimachosrsquo Epigramm 32wieder in dem das elegische Ich einem Juumlngling namens Menippos gegenuumlber seine Armuteingesteht und ihn anfleht ihm diese nicht immer wieder vorzuhalten34 Beide Textstellenbeschreiben die Situation eines Mannes der aufgrund seiner Armut in der Knabenliebenicht erfolgreich ist

Des Weiteren faumlllt auf dass sowohl bei Kallimachos als auch bei Tibull der Kultder Kybele im Zusammenhang mit der Verdammung der kaumluflichen Liebe vorkommt35

In der Elegie 14 verflucht Priapus denjenigen der die Musen nicht zu schaumltzen weiszlig auffolgende Weise

At qui non audit Musas qui vendit amoremIdaeae currus ille sequatur OpisEt tercentenas erroribus expleat urbesEt secet ad Phrygios vilia membra modos

Aber wer die Musen nicht houmlrt wer Liebe verkauft jener soll den Wagen derphrygischen Ops36 folgen dreihundert Staumldte auf Irrfahrten durchwandern undsich zu phrygischen Rhythmen seine nutzlosen Glieder abschneiden37

Kallimachos kommentiert im dritten Iambus angesichts seiner Erfolgslosigkeit beimJuumlngling Euthydemos die durch dessen Fixierung auf Reichtum verschuldet ist

[ ] ν μοι τοῦτ᾿rsquoἂν ἦν ὀνήϊσ[το]ν

]υ[] [] Κ[υβή]βῃ τὴν κόμην ἀναρρίπτειν

Φρύγ[α] πρ[ὸς] αὐλὸν ἢ ποδῆρες ἕλκοντα

῎Αδω[ν]ιν αἰαῖ τῆς θεοῦ τὸν ἄνθρωπον

ἰηλεμίζεινmiddot νῦν δ᾿ ὁ μάργος ἐς Μούσας

ἔνευσαmiddot38

Es waumlre wohl dieses fuumlr mich am besten zum phrygischen Floumltenspiel das Haaremporzuwerfen oder das lange Gewand schleppend den Adonis ach weh denMann der Goumlttin zu beweinen jetzt habe ich Toumlrichter mich aber den Musenzugewandt

34 Vgl Call Epigr 32 Pf35 Vgl Dawson (1946) 12 Luck (1959) 96ndash97 Bulloch (1973) 79ndash80 Murgatroyd (1980) 15436 Ops die Frau Saturns ist das roumlmische Aumlquivalent zu Rhea der Frau Kronosrsquo welche die Griechen

wiederum mit Kybele der Goumlttin des Ida verbanden Vgl Murgatroyd (1980) 153ndash15437 Vv 67ndash7038 Call Iamb 3 fr 193 34ndash39 Pf

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HELLENISTISCHE LEUCHTFEUER IN TIBULLS PRIAPUS-ELEGIE

Da hier beide im gleichen Zusammenhang naumlmlich der der Armut geschuldeten Er-folgslosigkeit bei einem Knaben den Kult der Kybele hinzuziehen ist hier eine Beein-flussung Tibulls durch Kallimachos sehr wahrscheinlich Trotz dieser sehr nahen Parallelebesteht jedoch ein deutlicher Unterschied darin dass Kallimachos den Kult der Kybe-le an dem nur Eunuchen teilnahmen genauso wie den des Adonis der nur von Frauengepflegt wurde ironisch als letzten Ausweg aus seiner wenig Erfolg versprechenden Lagedarstellt da er ja durch das Beitreten zu einem dieser Kulte von seiner ungluumlcklichenLiebe befreit waumlre Tibull hingegen verwendet den Kybele-Kult als grausame und ab-schreckende Verfluchung des fuumlr die Musen Unempfaumlnglichen der nur durch materielleGeschenke zu gewinnen ist Er uumlbernimmt zwar die Kybele-Thematik fuumlgt sie aber aufeine voumlllig andere ihm eigene Weise in seine Elegie ein

Die besondere Wertschaumltzung der Dichtkunst durch das elegische Ich wird vor allem indiesem Distichon deutlich Quem referunt Musae vivet dum robora tellus dum caelumstellas dum vehet amnis aquas (Wen die Musen nennen der wird leben solange die ErdeEichen solange der Himmel Sterne solange der Fluss Wasser fuumlhrt)39) In Kallimachosrsquozwoumllftem Iambus hebt Apollon der Heras Tochter zum Geburtstag ein Lied schenkt denbesonderen Wert der Dichtung ganz aumlhnlich hervor ἡ δ᾿ ἐμὴ τῇ παιδὶ καλλίͺστη δόσιςἔστ᾿ ἐμὸν γένειον ἁγνεύῃ ͺ τριχός καὶ ἐρίφοις χαίρωσιν ἅρπͺαγ[ες λ]ύκ[ο]ι (Meine Gabeist aber fuumlr das Kind wunderschoumln so lange mein Kinn von Haar rein ist und sich dieraumluberischen Woumllfe an Zicklein erfreuen)40 waumlhrend die Geschenke der anderen Goumlttermit der Zeit vergehen wuumlrden Bulloch macht in diesem Zusammenhang auf die paralleleSatzkonstruktion mit dum bzw ἔστε aufmerksam41

Alle drei Themen die Armut die scharfe Kritik an kaumluflicher Liebe und die besondereWertschaumltzung der Dichtung finden sich folglich sowohl bei Tibull als auch bei Kallima-chos Tibull kombiniert sie neu baut sie stimmig und kontrastierend in seine Elegie einum die unabdingbare Notwendigkeit des Scheiterns seiner Liebe zu Marathus eindrucks-voll hervorzuheben Zugleich positioniert sich Tibull durch sie deutlich in der Naumlhe zuKallimachos besonders weil die Rede uumlber Dichtung immer auch poetologisch verstandenwerden kann So laumlsst er den Leser bereits vermuten dass seine Elegie auch noch anderekallimacheische oder hellenistische Elemente enthalten koumlnnte

Im abschlieszligenden Kommentar des elegischen Ichs42 laumlsst sich ebenfalls eine intertex-tuelle Beziehung erkennen Das elegische Ich sieht sich nachdem es enthuumlllt hat dassTitius die gewonnenen Informationen gar nicht anwenden kann als erfolgreicher und an-gesehener Lehrer Tempus erit cum me Veneris praecepta ferentem deducat iuvenumsedula turba senem (Die Zeit wird kommen wenn mich als alten Mann waumlhrend ich

39 Vv 65ndash6640 Call Iamb fr 163 67ndash70 Asper Hier wird der Kallimachos-Ausgabe von Asper gefolgt41 Vgl Bulloch (1973) 7942 Vv 73ndash84

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Liebeslehren verbreite eine eifrige Schar junger Maumlnner begleitet)43 Ein aumlhnliches Bildverwendet Kallimachos in den Aitien44

γηράσκει δ᾿ ὁ γέρων κεῖνος ἐλαφρότερον

κοῦροι τὸν φιλέουσιν ἑὸν δέ μιν οἷα γονῆα

χειρὸς ἐπ᾿ οἰκείην ἄχρις ἄγουσι θύρην

Jener Greis altert leichter den die jungen Maumlnner lieben und wie ihren eigenenVater an der Hand gaumlnzlich bis zur Tuumlr seines Hauses fuumlhren45

In beiden Ausschnitten wird die Wertschaumltzung eines alten Mannes durch juumlngere dieihm ein Ehrengeleit geben thematisiert und als wuumlnschens- und erstrebenswert darge-stellt Tibull benutzt diese Vorstellung aber als seinen eigenen Traum er subjektivisiertKallimachosrsquo Vorlage und macht eine allgemein vorgetragene Ansicht zu seiner eigenenWunschvorstellung Dieser Traum des elegischen Ichs hat die Funktion die darauf folgendeEnthuumlllung des eigenen Versagens in der Liebe noch deutlicher hervorzuheben

Tibull uumlbernimmt Ideen Motive Bilder und Vergleiche welche sich meist auf einekonkrete Textstelle zuruumlckfuumlhren lassen die aber oft dennoch in voumlllig neuer Gestalt indie Elegie eingefuumlgt worden sind und sich deshalb manchmal nicht klar von hypertextuel-len Bezuumlgen trennen lassen Besonders seine Aussagen uumlber die Dichtung und die damitverbundenen intertextuellen Bezuumlge zu Kallimachos lassen sich poetologisch deuten DerLeser hat nun erste Orientierungspunkte erhalten die ihm ein tieferes Verstaumlndnis derElegie ermoumlglichen und durch die er auch undeutlichere Beziehungen zur hellenistischenDichtung wahrnehmen kann

4 Neben diesen intertextuellen enthaumllt Tibulls Elegie auch hypertextuelle Beziehun-gen Hierbei nimmt die Elegie entweder durch Transformation also durch die Veraumln-derung einer Vorlage oder durch Nachahmung bestimmter stilistischer Eigenheiten aufeinen anderen Text Bezug Der naumlchste Unterabschnitt wird aufzeigen dass das Prinzipder Transformation am neunten Iambus von Kallimachos nachweisbar ist die restlichenbeschaumlftigen sich mit der Nachahmung bestimmter Merkmale hellenistischer Poesie undihrer Dichter

Die aumluszligere Form der Elegie scheint durch Transformation verschiedener Kallimachos-Fragmente gestaltet worden zu sein Der Dialog mit einer Statue ist gleich mehrmalsin seinen Werken zu finden Neben dem Aitien-Fragment 11446 und dem Epigramm 2447

43 Vv 79ndash8044 Vgl Luck (1959) 98 Bulloch (1973) 76 Maltby (2002) 23745 Call Aet 1fr 41 Pf46 Dialog zwischen Apollo und einer unbekannten Person47 Die Statue eines Helden spricht

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weist der neunte Iambus der uns abgesehen von zwei Versen auch nur durch den Diegeseis-Papyrus uumlberliefert ist die groumlszligten Uumlbereinstimmungen mit der Elegie 14 auf48

]Φιλη-

τάδου παιδὸς εὐπρεποῦς ἐραστὴς ἰδὼν

῾Ερμοῦ ἄγαλμα ἐν παλαιστριδίῳ ἐντε-

ταμένον πυνθάνεται μὴ διὰ τὸν Φιλη-

τάδαν ῾Ο δέ φησιν ἄνωθεν εἶναι Τυρση-

νὸς καὶ κατὰ μυστικὸν λόγον ἐντε-

τάσθαι ἐπὶ κακῷ δὲ αὐτὸν φιλεῖν τὸν

Φιλητάδαν

Als der Liebhaber des schoumlnen Knaben Philetades auf einer kleinen Palaumlstraein Bildnis eines erigierten Hermes sieht fragt er bdquoEtwa wegen PhiletadesldquoDas Bildnis aber antwortet ihm von oben herab dass es etruskisch sei undwegen einer mystischen Lehre erigiert sei dass seine Liebe zu Philetades aberzum Schlechten gereiche49

In der Elegie und im Kallimachos-Fragment findet der Dialog zwischen einem ithyphal-lischen Gott und einem Knabenliebhaber statt Sowohl die Dialogform die Dialogpartnerals auch das uumlbergeordnete Thema stimmen folglich uumlberein Eine weitere Gemeinsamkeitist die uumlberraschende und ungluumlckliche Wende am Ende des Iambus bzw der Elegie Inbeiden Faumlllen erfaumlhrt der Leser dass eine gluumlckliche Liebesbeziehung unmoumlglich ist Dieseungluumlckliche Wende hat bei Tibull jedoch deutlich mehr Tragweite weil sie das bis dahinnahegelegte Verstaumlndnis der Elegie veraumlndert ja sogar ins Gegenteil verkehrt Durch sieverliert der gesamte Vortrag des Priapus an Bedeutung Des Weiteren unterscheidet sichdie Elegie dadurch dass Tibull Priapus als Gespraumlchspartner auswaumlhlt Doch auch dabeigreift er auf hellenistische Vorstellungen zuruumlck Priapus war im Hellenismus sehr beliebt50

und tritt beispielsweise im ersten Idyll von Theokrit als Liebeslehrer auf51 Aufgrund derUumlbereinstimmung von Hauptthema Form und uumlberraschender Wendung ist es durchausmoumlglich die Elegie 14 als erweiterte und verlaumlngerte Transformation des neunten Iambusvon Kallimachos anzusehen Erkennt der Leser diesen Bezug zur hellenistischen Dichtungschon beim Lesen wird er etwas auf das uumlberraschende Ende vorbereitet wenn nichtwird er ihm wohl spaumltestens nach dem Lesen der Schlusspointe deutlich werden so dassdie Freude des Wiedererkennens des Iambus im zweiten Lesedurchgang ihre volle Wir-kung entfalten kann und dem Leser mehr und mehr Parallelen zwischen der Elegie und

48 Vgl Dawson (1946) 12ndash13 Luck (1959) 93 Bulloch (1973) 78ndash79 Cairns (1979) 189ndash190 Murgatroyd(1980) 130 Maltby (2002) 216

49 Dieg 833ndash40 zu Call Iamb 9 Pf50 Vgl Murgatroyd (1980) 129ndash131 Maltby (2002) 21651 Hier allerdings ohne den Kontext der Knabenliebe Vgl Theoc Id 180ndash92

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hellenistischer Dichtung auffallen

Neben dieser Transformation ist aber auch die Nachahmung von einigen Eigenheitender hellenistischen Poesie nachweisbar Eines der Merkmale der hellenistischen Poesie istdas Taumluschen des Lesers52 Diese Tendenz bezeichnet Asper in Bezug auf Kallimachosauch als bdquoEindruck der Unberechenbarkeitldquo53 Als Beispiel fuumlr diese Unberechenbarkeitkann der oben vorgestellte neunte Iambus von Kallimachos dienen Auch Theokrits vier-tes Epigramm waumlre ein Beispiel in dem ein Liebender einem Hirten zunaumlchst auftraumlgtPriapus zu bitten ihn von seiner Liebe zu erloumlsen dann aber deutlich macht dass er sichin Wahrheit eine gluumlckliche Liebesbeziehung wuumlnscht54

Die Tendenz den Leser bestaumlndig in die Irre zu fuumlhren ist in Tibulls vierter Elegiesehr deutlich Schon zu Beginn spielt Tibull mit den Lesererwartungen Nach dem erstenVers Sic umbrosa tibi contingant tecta Priape (So moumlgen dir Priapus schattenspendendeDaumlcher zuteilwerden)55 koumlnnte der Leser wohl vor allem durch das an ein rituelles Gebeterinnernde einleitende sic56 noch annehmen dass nun ein Gebet zu Priapus folgt Wenigspaumlter wird jedoch die eigentliche Absicht des elegischen Ichs deutlich Quae tua formo-sos cepit sollertia (Welche dir eigene Faumlhigkeit haumllt die schoumlnen Juumlnglinge gefangen)57

Der Gott wird als Ratgeber in der Knabenliebe angerufen Der anfaumlngliche Eindruck ei-nes unmittelbaren Dialogs wird jedoch durch den erzaumlhlenden Einschub in den Versen7ndash8 aufgeloumlst58 Erst jetzt erfaumlhrt der Leser dass es sich gar nicht um einen unmittelbarstattfindenden sondern um einen durch das elegische Ich wiedergegebenen Dialog han-delt Durch die Einfuumlhrung des Priapus als jemanden ohne gepflegtes Aumluszligeres59 und diespottende Beschreibung des Priapus als Bacchi rustica proles armatus curva falcedeus (Der baumluerliche Nachkomme des Bacchus der Gott bewaffnet mit einer gekruumlmm-ten Sichel)60 werden beim Leser keine groszligen Erwartungen bezuumlglich des nun folgendenVortrages geweckt Es schlieszligt sich jedoch ein rhetorisch ausgefeilter wohl gegliederter61

Lehrvortrag an Im abschlieszligenden Monolog des elegischen Ichs wird dann das deutlichwas Cairns als bdquoTibullan trick endingldquo62 bezeichnet Hier haumlufen sich die den Leser uumlberra-schenden Wendungen im Handlungsverlauf Bisher wurde der Leser im Glauben gelassendas elegische Ich erfrage alle Ratschlaumlge fuumlr sich selbst Nun erfaumlhrt er aber dass es diese

52 Vgl Cairns (1979) 166ndash19153 Asper (2004) 5154 Vgl Theoc Ep 455 V 156 Vgl Maltby (2002) 216ndash21757 V 358 Vgl Radicke (2006) 20559 Vgl V 460 Vv 6ndash761 In seiner Rede bedient sich Priapus vieler rhetorischer Stilfiguren Besonders haumlufig werden Ana-

phern verwendet (Vgl Vv 111213 Vv 1718 Vv 1920 Vv 28293031 Vv 4143) Sein Vortrag istdaruumlber hinaus noch kunstvoll in sich verlaumlngernde Abschnitte gegliedert von denen die ersten drei aus jedrei Distichen bestehen auf die dann Abschnitte aus sechs neun und acht Distichen folgen Vgl Radicke(2006) 197 Murgatroyd (1980) 128

62 Cairns (1979) 173

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nur fuumlr einen gewissen Titius in Erfahrung gebracht habe63 Doch damit nicht genug SedTitium coniunx haec meminisse vetat (Aber seine Frau verbietet Titius sich daran zuerinnern)64 Da Titius nun aber gar keinen Gebrauch von seinen Lehren machen kanngibt sich das elegische Ich im Folgenden einer Vision von sich selbst als Liebeslehrer hinMe qui spernuntur amantes consultent (Moumlgen mich die Liebenden die zuruumlckgewie-sen werden um Rat fragen)65 Doch auch diese vom Leser nach zweimaliger Irrefuumlhrunggerade erst gewonnene Information wird sofort wieder fuumlr unguumlltig erklaumlrt Das elegischeIch wird selbst von einem Knaben zuruumlckgewiesen und gequaumllt66 Es wird klar dass daselegische Ich alle Ratschlaumlge doch zumindest zum Teil auch fuumlr sich erfragt hat selbst inder Knabenliebe wenig erfolgreich und somit auch nur wenig als Liebeslehrer geeignet istDurch das verzweifelte Flehen Parce puer quaeso (Verschone mich Junge bitte)67 wirddie Hilflosigkeit des elegischen Ichs deutlich Alle vorher gegebenen Ratschlaumlge sind in derLiebe voumlllig nutzlos

Tibull fuumlhrt seine Leser also wiederholt in die Irre indem er ganz bewusst Infor-mationen zuruumlckhaumllt oder die bisherigen Erwartungen des Lesers enttaumluscht Dadurchgelingt es ihm nicht nur den Leser zu unterhalten sondern auch ihn waumlhrend der gan-zen Elegie in einem Zustand der staumlndigen Spannung verharren zu lassen Auch koumlnnteman meinen dass durch diese staumlndigen Taumluschungen die Unberechenbarkeit und die Un-vorhersehbarkeit der Liebe unterstrichen werden Genauso wie der Leser im Verlauf derElegie nie wirklich sicher sein kann woran er ist ist auch der Liebende nie wirklich aufder sicheren Seite kann die Reaktion des anderen nie vorausplanen muss immer mit demUnvorstellbaren rechnen

Ein weiteres hellenistisches Merkmal das Tibull nachahmt ist die Ironie Kallima-chosrsquo bdquointelligenter Witzldquo68 und Theokrits bdquofelicitously ironic and grotesque effectsldquo69 dieoft durch das Versetzen von Elementen der staumldtischen Kultur zu einfachen Schafhirtenhervorgerufen werden70 koumlnnen durchaus als Vorbilder fuumlr die feine Ironie gedient habendie die gesamte Elegie durchzieht

Schon allein der Gedanke dass die unvorhersehbare Liebe die sich keinen Regeln un-terwirft durch eine bestimmte Technik oder durch das Einhalten bestimmter Ratschlaumlgeerlernt berechnet oder beherrscht werden kann ist amuumlsant71 Derselben Idee wird sichspaumlter auch Ovid in seiner Ars amatoria bedienen

Aber auch der Gott Priapus wird auf sehr ironische und belustigende Weise ein-

63 Vgl V 7364 V 7465 Vv 77ndash7866 Vgl V 8167 V 8368 Asper (2004) 5369 Giangrande (1986) 4970 Vgl ebd71 Vgl Littlewood (1983) 2152

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gefuumlhrt Zunaumlchst wird er dem Leser dem allgemeinem Bild von ihm entsprechend alswenig gepflegter Gott72 als rusticus und armatus curva falce73 vorgestellt Dann ist daszum Lehrvortrag uumlberleitende Distichon74 aber durch sehr poetische und ernste Spracheausgestaltet Es wird das archaische Wort proles75 verwendet das einen feierlichen undernsthaften Ton hat76 das sic ego77 erinnert an epischen Sprachgebrauch78 und die Haumlu-figkeit von Spondeen steigt deutlich an79 so dass die Ernsthaftigkeit und Bedeutung desDistichons deutlich gesteigert werden Somit dient das Distichon nicht nur als Uumlberleitungvon der Rede des elegischen Ichs zu der des Gottes sondern verwandelt auch vor den geis-tigen Augen des augusteischen Lesers den ihm als einfach ungebildet und ithyphallischbekannten Gartengott Priapus in eine ernstzunehmende fast schon heroische LehrpersonDiese Art Ironie durch den Gegensatz zwischen heroischer Uumlberhoumlhung und baumluerlicherEinfachheit zu erzeugen erinnert ein wenig an die von Giangrande beschriebene IronieTheokrits

Es folgt der Vortrag des Priapus selbst der von Maltby als bdquomock-didacticldquo80 be-schrieben wird Dieser Eindruck kommt durch den Gegensatz zwischen dem formell vor-getragenen und rhetorisch ausgearbeiteten Vortrag des Priapus und dem eher informellenThema und der Tatsache dass Priapusrsquo praecepta hauptsaumlchlich auf allgemeinen Banalitauml-ten fuszligen zustande Dies vermag schon die naumlhere Untersuchung des ersten praeceptum81

der Rede zu zeigen Der Rat nicht gleich aufzugeben sondern Geduld zu haben wird bei-spielsweise durch das Bild von Menschen die es im Laufe der Zeit schaffen sogar Loumlwenzu zaumlhmen von Wasser das mit der Zeit einen Stein aushoumlhlen kann von Trauben diein der Sonne reifen und von Sternen die sich auf ihren festgelegten Bahnen fortbewegenkunstvoll illustriert82 Die besondere Macht der Zeit wird durch die Anaphern von longadies83 und annus84 hervorgehoben Gleichzeitig ist es voumlllig offenbar dass der Rat ab-zuwarten und die Zeit fuumlr sich arbeiten zu lassen kein voumlllig neuer vorher unbekannterGeniestreich des Priapus ist Dennoch scheint er vom Liebesratgeber Priapus voumlllig ernstgenommen und fuumlr aumluszligerst wichtig gehalten zu werden Dadurch entsteht ein uumlberaus iro-nischer Eindruck Dieses Prinzip eine sorgfaumlltige Gliederung in praeceptum gefolgt vonBeispielen und stilistischen Figuren bei eigentlich trivialen Ratschlaumlgen ist auch bei allenfolgenden Abschnitten der Rede festzustellen

72Vgl V 473 Vgl Vv 7ndash874 Vv 7ndash875 V 776 Murgatroyd (1980) 13477 V 678 Vgl Maltby (2002) 21879 Vgl Littlewood (1983) 215380 Malbty (2002) 21581 Vv 15ndash2082 Vgl Vv 17-2083 Vv 171884 Vv 1920

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In der finalen Wendung der Elegie kommt eine ganz neue Nuance von Ironie zumTragen Nachdem vorher Ironie auf Kosten des Priapus eingesetzt worden ist wird durchdas Eingestehen der eigenen Machtlosigkeit durch das elegische Ich85 nun noch der Aspektder Selbstironie hinzugefuumlgt Das elegische Ich das sich vorher noch ausgemalt hat dasseine Schar junger Maumlnner es deducat86 was ein Fachausdruck fuumlr das Ehrengeleit einerbedeutenden Persoumlnlichkeit oder eines Politikers darstellt87verliert so all seine Autoritaumltmuss gar befuumlrchten dass die Leser es auslachen werden88 Doch nicht nur das elegischeIch wird so ins Laumlcherliche gezogen die gesamte Elegie verliert durch die Erkenntnisdass alle Ratschlaumlge im Angesicht der Liebe nur vana magisteria (leere Lehren)89 sindihre Aussagekraft und Bedeutung Diese Bedeutungslosigkeit und die daraus resultieren-de Hilfslosigkeit werden durch die Positionierung dieses Ausdrucks am Schluss der Elegiehervorgehoben Zu der wirkungsvollen Stellung kommt die Besonderheit dass hier mitmagisteria ein fuumlnfsilbiges Wort am Ende des Pentameter steht was ansonsten von Ti-bull eher vermieden wird90 Die Elegie endet folglich mit der Feststellung dass sie ihrenvordergruumlndigen Sinn das Geben von Ratschlaumlgen fuumlr die Knabenliebe nicht erfuumlllenkonnte Diese Form der Ironie beschreibt Luck deshalb vielleicht nicht ganz zu Unrechtals bdquotouch of romantic ironyldquo91

Um die Funktion der Ironie besser verstehen zu koumlnnen ist Radickes Aufsatz uumlberdie Elegie 14 in dem er feststellt dass die Rede des Priapus durch bdquounzuverlaumlssige Redeldquogekennzeichnet ist aumluszligerst hilfreich92 Auf diese bdquounzuverlaumlssige Redeldquo werde schon vorder Schlusspointe hingewiesen indem Priapus schon waumlhrend seines Lehrvortrags mit zu-nehmender Deutlichkeit zwischen seiner vordergruumlndigen Rolle als Liebeslehrer und derRolle des verschmaumlhten Liebhabers die ja eigentlich dem elegischen Ich zukommt hinund her springe Dies werde dadurch deutlich dass einige Abschnitte der Rede wie zBdie Warnung vor der Liebe93 oder die Kritik an kaumluflicher Liebe94 eindeutig aus Sichteines ungluumlcklichen Liebhabers erfolgen waumlhrend andere durchaus zur Rolle als Liebes-lehrer passen95 Dadurch werde offenbar dass es sich bei dem durch das elegische Ichwiedergegebenen Dialog gar nicht um einen solchen handle sondern Priapus vielmehr dieFunktion einer bdquoMaske durch die das elegische Ich seine Gefuumlhle mitteilt oder bessergesagt seine Gefuumlhle zu verbergen suchtldquo96 erfuumlllt und der Lehrvortrag als letzter ver-zweifelter Versuch zu werten sei Marathus von sich zu uumlberzeugen Auch die Tatsache

85 Vgl Vv 81ndash8486 V 8087 Vgl Georges s V deduco II e ζ αα88 Vgl V 8489 V 8490 Vgl Maltby (2002) 23991 Luck (1959) 9992 Vgl Radicke (2006)93 Vv 8ndash1694 Vv 57ndash7295 Vv 15ndash20 21ndash26 39ndash5096 Ebd 202

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dass die Elegie von Beginn an von Ironie durchzogen wird die zum Ende hin immer staumlr-ker wird koumlnnte als Hinweis auf diese bdquounzuverlaumlssige Redeldquo gewertet werden Der Leserwird durch die ironische Einfuumlhrung des Priapus gleich darauf hingewiesen dass dieser alsLiebeslehrer nicht ganz ernst zu nehmen ist Der Gegensatz zwischen Ernsthaftigkeit undtrivialen Ratschlaumlgen in der Rede verweist zusaumltzlich zum Gegensatz zwischen der Rolledes Liebeslehrers und des Liebenden noch deutlicher auf die Maskenfunktion des Priapusbis schlieszliglich die letzte Wendung der Elegie keinen Zweifel mehr an der Tatsache laumlsstdass der Lehrvortrag des Priapus nur ein verzweifelter Versuch des elegischen Ichs ist dieeigene Hilfslosigkeit zu verbergen

Eine weitere Parallele zur hellenistischen Poesie ist die Ringkomposition in Tibulls Ele-gie 14 Die Ringkomposition bei der eine bestimmte Anzahl von Themen bis zu einemzentralen Punkt behandelt werden die dann nach diesem in der umgekehrten Reihen-folge wieder behandelt werden ist zwar schon seit Homer zu finden da sie anfaumlnglichwohl vor allem als Gedaumlchtnisstuumltze bei muumlndlicher Poesie diente97 Sie nimmt aber aucheinen wichtigen Platz in der hellenistischen Dichtung mit ihrer hohen Wertschaumltzung vonformalen Strukturen ein und laumlsst sich beispielsweise in Theokrits Idyll 28 wiederfinden98

Bei den Abschnitten in die sich die vierte Elegie gliedert faumlllt ein aumlhnliches Prinzipauf99 Die einleitende Anrede100 (A1) steht dem anschlieszligenden Kommentar des elegi-schen Ichs101 (A2) gegenuumlber die Warnung des Priapus vor der Knabenliebe102 (B1) derKritik an kaumluflicher Liebe und dem Lobpreis der Dichtung103 (B2) und die Passagen indenen Priapus zur Geduld und zu falschen Schwuumlren auffordert104 (C1) dem Aufruf da-zu den Wuumlnschen des Geliebten zu folgen105 (C2) Das Mittelstuumlck das als Spiegelachsedient bildet der Abschnitt (D) in dem auf die Vergaumlnglichkeit der Jungend aufmerksamgemacht wird106 (A2) kommentiert sein Gegenstuumlck ironisch indem es (A1) als voumllligsinnlos enthuumlllt und (B2) gibt einen moumlglichen Grund fuumlr die Warnung in (B1) an107

Auffaumlllig ist jedoch auch dass sich mit (B1) und (B2) zwei Abschnitte gegenuumlberstehenin denen Priapus seine ihm zugewiesene Rolle als Liebeslehrer verlaumlsst waumlhrend in (C1)und (C2) Priapus seine Rolle als Liebeslehrer erfuumlllt Der Abschnitt (D) nimmt zu Rechtdie wichtige Mittelstellung ein weil hier der verzweifelte Versuch des lyrischen Ichs Ma-rathus durch den vorgeschobenen Liebeslehrer Priapus doch noch fuumlr sich zu gewinnenbesonders deutlich durchschimmert Das Argument der Vergaumlnglichkeit der Jugend und

97 Vgl Cairns (1979) 195ndash19698 Vgl ebd 193ndash194 20299 Vgl ebd 207ndash208

100 Vv 1ndash8101 Vv 73-84102 Vv 9ndash14103 Vv 57ndash72104 V 15ndash26105 Vv 39ndash56106 Vv 27ndash38 Vgl ebd 207107 Vgl ebd

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die daraus folgende Aufforderung die verbleibende Zeit zu nutzen wird naumlmlich vorrangigvon Liebenden verwendet um den Geliebten oder die Geliebte von einer Beziehung zuuumlberzeugen108 Tibull selbst verwendet diese Argumentation an anderer Stelle um seineDelia von sich zu uumlberzeugen109 Mit Abschnitt (D) steht folglich ein Abschnitt im Mit-telpunkt der unweigerlich die Doppelrolle des Priapus als Liebeslehrer einerseits und alsungluumlcklicher Liebender andererseits offenbart

Trotz der wiederholten Taumluschung des Lesers und der Ironie liegt der Elegie alsoauch eine klare Gliederung zu Grunde die dafuumlr sorgt dass der Leser nicht voumlllig die Ori-entierung verliert und ebenfalls die besondere Rolle des Priapus als Maske des elegischenIchs hervorhebt

5 Mit Hilfe der durch Genette gepraumlgten Begriffe der Inter- und der Hypertextualitaumltlassen sich folglich viele verschiedene Einwirkungen hellenistischer Poesie auf die vierteElegie ausmachen Auch wenn es nicht immer leicht ist beide Begriffe klar voneinanderabzugrenzen haben sie es doch ermoumlglicht die verschiedenen Arten der Einwirkung einesTextes auf einen anderen zu unterscheiden und so ein systematisches detaillierteres undvollstaumlndigeres Bild der Beziehungen zwischen hellenistischer Dichtung und Tibulls Elegieaufzuzeigen

Intertextuelle Beziehungen lassen sich besonders deutlich zwischen Tibull und Kal-limachosrsquo Aitien Iamben und Epigrammen ausmachen Diese werden sinnvoll und pro-duktiv in die Elegie eingebunden und stets verwendet um den Inhalt der Elegie deut-licher hervorzuheben Gleichzeitig lassen sie sich auch poetologisch deuten Die groszligenAumlhnlichkeiten zu Kallimachos besonders im letzten Teil der Elegie110 sind auf eine Wie-dererkennung durch den Leser ausgelegt und verdeutlichen ihm dass sich in der Elegienoch weitere nicht so direkte und woumlrtliche Bezuumlge zu Kallimachos im Besonderen undzur hellenistischen Dichtung im Allgemeinen finden lassen Sie bewirken dass der Lesernach weiteren indirekteren Parallelen sucht und bereits nach der typischen hellenistischenIronie und Unberechenbarkeit oder aumlhnlichen Merkmalen der hellenistischen DichtungAusschau haumllt

Diese indirekteren von Genette als hypertextuell bezeichneten Beziehungen lassensich in der Tat ebenfalls in groszliger Zahl in der Elegie wiederfinden Die Elegie wurdewohl nach dem Vorbild von Kallimachosrsquo neuntem Iambus gestaltet Auszligerdem werdenauch sie konsequent verwendet um den Inhalt kunstvoll zu unterstreichen und dem Le-ser das Verstaumlndnis der gesamten Elegie zu erleichtern Die Ironie weist eindeutig auf dieMaskenfunktion des Priapus hin die haumlufigen Uumlberraschungen fuumlr den Leser auf die Unbe-staumlndigkeit der Liebe Durch die Ringkomposition bietet Tibull dem Leser aber dennochnoch einige Orientierungshilfen durch die sich die Elegie leichter verstehen laumlsst

108 Vgl ebd Radicke (2006) 199109 Vgl Tib 1168ndash78110 Vv 57ndash84

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Die Funktion der transtextuellen Beziehungen ist es daher die Aussage hervorzuhe-ben dass Liebe nicht gelehrt nicht erlernt und nicht beherrscht werden kann Sie werdennicht einfach um ihrer selbst willen uumlbernommen sondern veraumlndert neu angeordnetund zu etwas voumlllig Neuem zu einer subjektiven Liebesgeschichte zusammengefuumlgt Zu-gleich werden sie jedoch nicht so verfremdet dass der Leser sie nicht wiedererkennen kannDurch die Beziehungen zur hellenistischen Dichtung schafft Tibull deutlich hervorstechen-de Orientierungspunkte fuumlr den Leser und hebt dabei zugleich die Botschaft der absolutenHilfslosigkeit in der Liebe gekonnt auszligergewoumlhnlich und aumluszligerst unterhaltsam hervor jabildet sie sogar ganz konkret durch die Gestaltung der Elegie ab ohne dabei die Leserorientierungslos oder gar bdquoill-preparedldquo im Dunkeln zuruumlckzulassen

Uumlber die Autorin Helen E Neutzler ist seit dem Wintersemester 20132014 BA-Studentin der Faumlcher klassische Philologie und Archaumlologische Wissenschaften an derRuhr-Universitaumlt Bochum Schwerpunkte legt sie in diesen beiden Faumlchern auf Latein unddie klassische Archaumlologie Im Oktober 2014 wurde ihr ein Stipendium des Bildungsfondsder RUB im Rahmen des Deutschlandstipendiums verliehen

Bibliography

Textausgaben und Kommentare

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2004Maltby (2002) Robert Maltby Tibullus Elegies Text Introduction and Commentary

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Monographien und Aufsaumltze

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259ndash325Wilhelm (1896) Friedrich Wilhelm bdquoZu Tibullus (I 4)ldquo in Satura Viadrina Festschrift

zum fuumlnfundzwangzigjaumlhrigen Bestehen des philologischen Vereins zu Breslau Bres-lau 1896 48ndash58

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Page 5: Hellenistische Leuchtfeuer in Tibulls Priapus-Elegie · Hellenistische Leuchtfeuer in Tibulls Priapus-Elegie Transtextuelle Bezüge zur hellenistischen Dichtung und ihre Funktion

HELEN E NEUTZLER

deutlich auf die hellenistische Dichtung23 Im Hellenismus entstanden viele erotische Epi-gramme aber auch andere laumlngere erotische Dichtungen die das Thema der Knabenliebebehandeln Beispiele hierfuumlr sind Kallimachosrsquo Iamben 3 und 5 oder Theokrits Idyllen 29und 30

Mit dem paidikos eros fuumlhrt Tibull ein ganz neues Thema in die roumlmische Liebeselegieein Dadurch uumlberrascht er den Leser dem bisher nur die Elegien in denen die Liebezu Frauen behandelt wird bekannt sind und ruft ihm unweigerlich die hellenistischeDichtung in Erinnerung Die Wahl dieses Themas bietet aber wohl vor allem den ReizBekanntes in einer voumlllig neuen Form zu praumlsentieren24 Von der eher ernsthaften Delia-Thematik wird Abstand genommen um die bekannte Liebesproblematik in einem neuenThemenkomplex humorvoll und ironisch behandeln zu koumlnnen Das Scheitern der Liebeist aber auch hier unausweichlich und dient wohl auch als Andeutung dass der Traumeines gluumlcklichen Wiedersehens mit Delia der am Ende der dritten Elegie gehegt wird25

zumindest nicht dauerhaft wahr werden kann wie zu Beginn der fuumlnften Elegie dann auchsofort deutlich wird26

Auch im ersten Lehrsatz des Priapus

Sed te ne capiant primo si forte negarittaedia paulatim sub iuga colla dabit

Aber dich soll kein Uumlberdruss ergreifen wenn er [der Knabe] sich zunaumlchstheftig weigern sollte Nach und nach wird er seinen Hals unter das Joch geben

laumlsst sich eine enge intertextuelle Beziehung zu Kallimachos ausmachen27

Ληφθήσει περίφευγε Μενέκρατες᾿ εἶπα Πανήμου

εἰκάδι καὶ Λῴου τῇ τίνι τῇ δεκάτῃ

ἦλθεν ὁ βοῦς ὑπ᾿ ἄροτρον ἐκούσιος εὖ γ᾿ ἐμὸς ῾Ερμῆς

εὖ γ᾿ ἐμόςmiddot οὐ παρὰ τὰς εἴκοσι μεμφόμεθα

lsquoAuch du wirst ergriffen werden fliehe nur Menekratesrsquo sagte ich am zwan-zigsten Tag des Panemos und ndash an welchem Tag des Loos noch ndash am zehntenkam der Ochse freiwillig unter das Joch Recht so mein Gluumlck28 gut meinesallein uumlber die zwanzig Tage aumlrgere ich mich nicht29

23 Vgl Luck (1959) 93 Cairns (1979) 21ndash2324 Vgl Lee-Stecum (1998) 15425 Vgl Tib 1389ndash9326 Vgl Tib 151ndash227 Vv 15ndash16 Vgl Luck (1959) 94 Bulloch (1973) 79 Murgatroyd (1980) 137 Maltby (2002) 220ndash22128 Der Ausruf ἐμὸς ῾Ερμῆς nimmt Bezug zu der Redewendung κοινὸς ῾Ερμῆς (Vgl LSJ sV ῾Ερμῆς

II2) die das Teilen von Gluumlck bezeichnet und betont durch die Verwendung des Possessivpronomensἐμός dass der Sprecher das Gluumlck ganz fuumlr sich allein beansprucht Vgl Asper (2004) 465 Anm 13

29 Call Epigr 45 Pf

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Beide Male wird die Vorstellung des mit der Zeit nachgebenden Juumlnglings durch die Me-tapher des sich-unters-Joch-Beugens ausgedruumlckt und so die endlich totale Kontrolle uumlberden umworbenen Jungen hervorgehoben Das uumlbereinstimmende Bild des Jochs in diesemganz speziellen Kontext der Knabenliebe laumlsst deutlich auf einen intertextuellen Bezugschlieszligen

Im letzten Teil von Priapusrsquo Rede polemisiert dieser deutlich gegen Jungen die ihreLiebe vom Erhalt materieller Geschenke abhaumlngig machen die Dichtkunst dagegen nichtzu schaumltzen wissen30 Hier sind die drei Themen kaumlufliche Liebe Armut und Dichtung engmiteinander verwoben All diese Themen kommen auch schon in hellenistischer Dichtungvor und die Beziehung zu Kallimachos scheint hier besonders eng zu sein

Durch den Ausruf

Heu male nunc artes miseras haec saecula tractantiam tener assuevit munera velle puer

Ach nun behandeln diese Jahrhunderte die elenden Kuumlnste schlechtSchon der zarte Knabe hat sich daran gewoumlhnt Geschenke zu verlangen31

werden kaumlufliche Liebe und die zunehmende Orientierung an materiellen Werten beklagtDer dritte Iambus von Kallimachos zeigt ein ganz aumlhnliches Bild32 Auch wenn der ersteTeil des Iambus nur schlecht erhalten ist verraumlt die Diegesis

Καταμέμφεται τὸν καιρὸν ὡς πλούτου

μᾶλλον ἢ ἀρετῆς ὄντα τὸν δὲ

πρὸ αὐτοῦ ἀποδέχεται ὃς τῆς ἐναν-

τίας ἦν τούτων γνώμηςmiddot παρεπι-

κόπτει δὲ καὶ Εὐθύδημόν τινα ὡς

κεχρημένον τῇ ὥρᾳ πορισμῷ ὑ-

πὸ τῆς μητρὸς πλουσίῳ συσταθέντα

Er tadelt die aktuellen Zustaumlnde weil sie mehr Wert auf Reichtum alsauf Tugend legen die Zeit vor diesen die der gegenteiligen Auffassungwar billigt er Dabei schilt er auch einen Euthydemos weil er seinejugendliche Schoumlnheit zu Erwerbszwecken missbrauche nachdem er vonseiner Mutter mit einem Reichen zusammengebracht worden sei33

Beide Dichter verurteilen die Tatsache dass materiellen Guumltern ein houmlherer Wert bei-gemessen wird als der Tugend und der Dichtung Daruumlber hinaus steht diese Kritik in

30 Vv 57ndash7331 Vv 57ndash5832 Vgl Dawson (1946) 11ndash12 Murgatroyd (1980) 151 Maltby (2002) 23133 Dieg 634ndash40 zu Call Iamb 3 Pf Die Diegeseis werden im Folgenden aus Pfeiffer zitiert

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beiden Faumlllen im direkten Zusammenhang mit der KnabenliebeDiese Gemeinsamkeit wird sogar noch verstaumlrkt beruumlcksichtigt man dass der oben

zitierte Ausruf in den Versen 57ndash58 eindeutig aus der Perspektive eines armen Manneserfolgt der dem umworbenen Jungen keine solchen kostbaren Geschenke machen kann umdessen Gunst zu bekommen Dieser Standpunkt findet sich in Kallimachosrsquo Epigramm 32wieder in dem das elegische Ich einem Juumlngling namens Menippos gegenuumlber seine Armuteingesteht und ihn anfleht ihm diese nicht immer wieder vorzuhalten34 Beide Textstellenbeschreiben die Situation eines Mannes der aufgrund seiner Armut in der Knabenliebenicht erfolgreich ist

Des Weiteren faumlllt auf dass sowohl bei Kallimachos als auch bei Tibull der Kultder Kybele im Zusammenhang mit der Verdammung der kaumluflichen Liebe vorkommt35

In der Elegie 14 verflucht Priapus denjenigen der die Musen nicht zu schaumltzen weiszlig auffolgende Weise

At qui non audit Musas qui vendit amoremIdaeae currus ille sequatur OpisEt tercentenas erroribus expleat urbesEt secet ad Phrygios vilia membra modos

Aber wer die Musen nicht houmlrt wer Liebe verkauft jener soll den Wagen derphrygischen Ops36 folgen dreihundert Staumldte auf Irrfahrten durchwandern undsich zu phrygischen Rhythmen seine nutzlosen Glieder abschneiden37

Kallimachos kommentiert im dritten Iambus angesichts seiner Erfolgslosigkeit beimJuumlngling Euthydemos die durch dessen Fixierung auf Reichtum verschuldet ist

[ ] ν μοι τοῦτ᾿rsquoἂν ἦν ὀνήϊσ[το]ν

]υ[] [] Κ[υβή]βῃ τὴν κόμην ἀναρρίπτειν

Φρύγ[α] πρ[ὸς] αὐλὸν ἢ ποδῆρες ἕλκοντα

῎Αδω[ν]ιν αἰαῖ τῆς θεοῦ τὸν ἄνθρωπον

ἰηλεμίζεινmiddot νῦν δ᾿ ὁ μάργος ἐς Μούσας

ἔνευσαmiddot38

Es waumlre wohl dieses fuumlr mich am besten zum phrygischen Floumltenspiel das Haaremporzuwerfen oder das lange Gewand schleppend den Adonis ach weh denMann der Goumlttin zu beweinen jetzt habe ich Toumlrichter mich aber den Musenzugewandt

34 Vgl Call Epigr 32 Pf35 Vgl Dawson (1946) 12 Luck (1959) 96ndash97 Bulloch (1973) 79ndash80 Murgatroyd (1980) 15436 Ops die Frau Saturns ist das roumlmische Aumlquivalent zu Rhea der Frau Kronosrsquo welche die Griechen

wiederum mit Kybele der Goumlttin des Ida verbanden Vgl Murgatroyd (1980) 153ndash15437 Vv 67ndash7038 Call Iamb 3 fr 193 34ndash39 Pf

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Da hier beide im gleichen Zusammenhang naumlmlich der der Armut geschuldeten Er-folgslosigkeit bei einem Knaben den Kult der Kybele hinzuziehen ist hier eine Beein-flussung Tibulls durch Kallimachos sehr wahrscheinlich Trotz dieser sehr nahen Parallelebesteht jedoch ein deutlicher Unterschied darin dass Kallimachos den Kult der Kybe-le an dem nur Eunuchen teilnahmen genauso wie den des Adonis der nur von Frauengepflegt wurde ironisch als letzten Ausweg aus seiner wenig Erfolg versprechenden Lagedarstellt da er ja durch das Beitreten zu einem dieser Kulte von seiner ungluumlcklichenLiebe befreit waumlre Tibull hingegen verwendet den Kybele-Kult als grausame und ab-schreckende Verfluchung des fuumlr die Musen Unempfaumlnglichen der nur durch materielleGeschenke zu gewinnen ist Er uumlbernimmt zwar die Kybele-Thematik fuumlgt sie aber aufeine voumlllig andere ihm eigene Weise in seine Elegie ein

Die besondere Wertschaumltzung der Dichtkunst durch das elegische Ich wird vor allem indiesem Distichon deutlich Quem referunt Musae vivet dum robora tellus dum caelumstellas dum vehet amnis aquas (Wen die Musen nennen der wird leben solange die ErdeEichen solange der Himmel Sterne solange der Fluss Wasser fuumlhrt)39) In Kallimachosrsquozwoumllftem Iambus hebt Apollon der Heras Tochter zum Geburtstag ein Lied schenkt denbesonderen Wert der Dichtung ganz aumlhnlich hervor ἡ δ᾿ ἐμὴ τῇ παιδὶ καλλίͺστη δόσιςἔστ᾿ ἐμὸν γένειον ἁγνεύῃ ͺ τριχός καὶ ἐρίφοις χαίρωσιν ἅρπͺαγ[ες λ]ύκ[ο]ι (Meine Gabeist aber fuumlr das Kind wunderschoumln so lange mein Kinn von Haar rein ist und sich dieraumluberischen Woumllfe an Zicklein erfreuen)40 waumlhrend die Geschenke der anderen Goumlttermit der Zeit vergehen wuumlrden Bulloch macht in diesem Zusammenhang auf die paralleleSatzkonstruktion mit dum bzw ἔστε aufmerksam41

Alle drei Themen die Armut die scharfe Kritik an kaumluflicher Liebe und die besondereWertschaumltzung der Dichtung finden sich folglich sowohl bei Tibull als auch bei Kallima-chos Tibull kombiniert sie neu baut sie stimmig und kontrastierend in seine Elegie einum die unabdingbare Notwendigkeit des Scheiterns seiner Liebe zu Marathus eindrucks-voll hervorzuheben Zugleich positioniert sich Tibull durch sie deutlich in der Naumlhe zuKallimachos besonders weil die Rede uumlber Dichtung immer auch poetologisch verstandenwerden kann So laumlsst er den Leser bereits vermuten dass seine Elegie auch noch anderekallimacheische oder hellenistische Elemente enthalten koumlnnte

Im abschlieszligenden Kommentar des elegischen Ichs42 laumlsst sich ebenfalls eine intertex-tuelle Beziehung erkennen Das elegische Ich sieht sich nachdem es enthuumlllt hat dassTitius die gewonnenen Informationen gar nicht anwenden kann als erfolgreicher und an-gesehener Lehrer Tempus erit cum me Veneris praecepta ferentem deducat iuvenumsedula turba senem (Die Zeit wird kommen wenn mich als alten Mann waumlhrend ich

39 Vv 65ndash6640 Call Iamb fr 163 67ndash70 Asper Hier wird der Kallimachos-Ausgabe von Asper gefolgt41 Vgl Bulloch (1973) 7942 Vv 73ndash84

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Liebeslehren verbreite eine eifrige Schar junger Maumlnner begleitet)43 Ein aumlhnliches Bildverwendet Kallimachos in den Aitien44

γηράσκει δ᾿ ὁ γέρων κεῖνος ἐλαφρότερον

κοῦροι τὸν φιλέουσιν ἑὸν δέ μιν οἷα γονῆα

χειρὸς ἐπ᾿ οἰκείην ἄχρις ἄγουσι θύρην

Jener Greis altert leichter den die jungen Maumlnner lieben und wie ihren eigenenVater an der Hand gaumlnzlich bis zur Tuumlr seines Hauses fuumlhren45

In beiden Ausschnitten wird die Wertschaumltzung eines alten Mannes durch juumlngere dieihm ein Ehrengeleit geben thematisiert und als wuumlnschens- und erstrebenswert darge-stellt Tibull benutzt diese Vorstellung aber als seinen eigenen Traum er subjektivisiertKallimachosrsquo Vorlage und macht eine allgemein vorgetragene Ansicht zu seiner eigenenWunschvorstellung Dieser Traum des elegischen Ichs hat die Funktion die darauf folgendeEnthuumlllung des eigenen Versagens in der Liebe noch deutlicher hervorzuheben

Tibull uumlbernimmt Ideen Motive Bilder und Vergleiche welche sich meist auf einekonkrete Textstelle zuruumlckfuumlhren lassen die aber oft dennoch in voumlllig neuer Gestalt indie Elegie eingefuumlgt worden sind und sich deshalb manchmal nicht klar von hypertextuel-len Bezuumlgen trennen lassen Besonders seine Aussagen uumlber die Dichtung und die damitverbundenen intertextuellen Bezuumlge zu Kallimachos lassen sich poetologisch deuten DerLeser hat nun erste Orientierungspunkte erhalten die ihm ein tieferes Verstaumlndnis derElegie ermoumlglichen und durch die er auch undeutlichere Beziehungen zur hellenistischenDichtung wahrnehmen kann

4 Neben diesen intertextuellen enthaumllt Tibulls Elegie auch hypertextuelle Beziehun-gen Hierbei nimmt die Elegie entweder durch Transformation also durch die Veraumln-derung einer Vorlage oder durch Nachahmung bestimmter stilistischer Eigenheiten aufeinen anderen Text Bezug Der naumlchste Unterabschnitt wird aufzeigen dass das Prinzipder Transformation am neunten Iambus von Kallimachos nachweisbar ist die restlichenbeschaumlftigen sich mit der Nachahmung bestimmter Merkmale hellenistischer Poesie undihrer Dichter

Die aumluszligere Form der Elegie scheint durch Transformation verschiedener Kallimachos-Fragmente gestaltet worden zu sein Der Dialog mit einer Statue ist gleich mehrmalsin seinen Werken zu finden Neben dem Aitien-Fragment 11446 und dem Epigramm 2447

43 Vv 79ndash8044 Vgl Luck (1959) 98 Bulloch (1973) 76 Maltby (2002) 23745 Call Aet 1fr 41 Pf46 Dialog zwischen Apollo und einer unbekannten Person47 Die Statue eines Helden spricht

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weist der neunte Iambus der uns abgesehen von zwei Versen auch nur durch den Diegeseis-Papyrus uumlberliefert ist die groumlszligten Uumlbereinstimmungen mit der Elegie 14 auf48

]Φιλη-

τάδου παιδὸς εὐπρεποῦς ἐραστὴς ἰδὼν

῾Ερμοῦ ἄγαλμα ἐν παλαιστριδίῳ ἐντε-

ταμένον πυνθάνεται μὴ διὰ τὸν Φιλη-

τάδαν ῾Ο δέ φησιν ἄνωθεν εἶναι Τυρση-

νὸς καὶ κατὰ μυστικὸν λόγον ἐντε-

τάσθαι ἐπὶ κακῷ δὲ αὐτὸν φιλεῖν τὸν

Φιλητάδαν

Als der Liebhaber des schoumlnen Knaben Philetades auf einer kleinen Palaumlstraein Bildnis eines erigierten Hermes sieht fragt er bdquoEtwa wegen PhiletadesldquoDas Bildnis aber antwortet ihm von oben herab dass es etruskisch sei undwegen einer mystischen Lehre erigiert sei dass seine Liebe zu Philetades aberzum Schlechten gereiche49

In der Elegie und im Kallimachos-Fragment findet der Dialog zwischen einem ithyphal-lischen Gott und einem Knabenliebhaber statt Sowohl die Dialogform die Dialogpartnerals auch das uumlbergeordnete Thema stimmen folglich uumlberein Eine weitere Gemeinsamkeitist die uumlberraschende und ungluumlckliche Wende am Ende des Iambus bzw der Elegie Inbeiden Faumlllen erfaumlhrt der Leser dass eine gluumlckliche Liebesbeziehung unmoumlglich ist Dieseungluumlckliche Wende hat bei Tibull jedoch deutlich mehr Tragweite weil sie das bis dahinnahegelegte Verstaumlndnis der Elegie veraumlndert ja sogar ins Gegenteil verkehrt Durch sieverliert der gesamte Vortrag des Priapus an Bedeutung Des Weiteren unterscheidet sichdie Elegie dadurch dass Tibull Priapus als Gespraumlchspartner auswaumlhlt Doch auch dabeigreift er auf hellenistische Vorstellungen zuruumlck Priapus war im Hellenismus sehr beliebt50

und tritt beispielsweise im ersten Idyll von Theokrit als Liebeslehrer auf51 Aufgrund derUumlbereinstimmung von Hauptthema Form und uumlberraschender Wendung ist es durchausmoumlglich die Elegie 14 als erweiterte und verlaumlngerte Transformation des neunten Iambusvon Kallimachos anzusehen Erkennt der Leser diesen Bezug zur hellenistischen Dichtungschon beim Lesen wird er etwas auf das uumlberraschende Ende vorbereitet wenn nichtwird er ihm wohl spaumltestens nach dem Lesen der Schlusspointe deutlich werden so dassdie Freude des Wiedererkennens des Iambus im zweiten Lesedurchgang ihre volle Wir-kung entfalten kann und dem Leser mehr und mehr Parallelen zwischen der Elegie und

48 Vgl Dawson (1946) 12ndash13 Luck (1959) 93 Bulloch (1973) 78ndash79 Cairns (1979) 189ndash190 Murgatroyd(1980) 130 Maltby (2002) 216

49 Dieg 833ndash40 zu Call Iamb 9 Pf50 Vgl Murgatroyd (1980) 129ndash131 Maltby (2002) 21651 Hier allerdings ohne den Kontext der Knabenliebe Vgl Theoc Id 180ndash92

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hellenistischer Dichtung auffallen

Neben dieser Transformation ist aber auch die Nachahmung von einigen Eigenheitender hellenistischen Poesie nachweisbar Eines der Merkmale der hellenistischen Poesie istdas Taumluschen des Lesers52 Diese Tendenz bezeichnet Asper in Bezug auf Kallimachosauch als bdquoEindruck der Unberechenbarkeitldquo53 Als Beispiel fuumlr diese Unberechenbarkeitkann der oben vorgestellte neunte Iambus von Kallimachos dienen Auch Theokrits vier-tes Epigramm waumlre ein Beispiel in dem ein Liebender einem Hirten zunaumlchst auftraumlgtPriapus zu bitten ihn von seiner Liebe zu erloumlsen dann aber deutlich macht dass er sichin Wahrheit eine gluumlckliche Liebesbeziehung wuumlnscht54

Die Tendenz den Leser bestaumlndig in die Irre zu fuumlhren ist in Tibulls vierter Elegiesehr deutlich Schon zu Beginn spielt Tibull mit den Lesererwartungen Nach dem erstenVers Sic umbrosa tibi contingant tecta Priape (So moumlgen dir Priapus schattenspendendeDaumlcher zuteilwerden)55 koumlnnte der Leser wohl vor allem durch das an ein rituelles Gebeterinnernde einleitende sic56 noch annehmen dass nun ein Gebet zu Priapus folgt Wenigspaumlter wird jedoch die eigentliche Absicht des elegischen Ichs deutlich Quae tua formo-sos cepit sollertia (Welche dir eigene Faumlhigkeit haumllt die schoumlnen Juumlnglinge gefangen)57

Der Gott wird als Ratgeber in der Knabenliebe angerufen Der anfaumlngliche Eindruck ei-nes unmittelbaren Dialogs wird jedoch durch den erzaumlhlenden Einschub in den Versen7ndash8 aufgeloumlst58 Erst jetzt erfaumlhrt der Leser dass es sich gar nicht um einen unmittelbarstattfindenden sondern um einen durch das elegische Ich wiedergegebenen Dialog han-delt Durch die Einfuumlhrung des Priapus als jemanden ohne gepflegtes Aumluszligeres59 und diespottende Beschreibung des Priapus als Bacchi rustica proles armatus curva falcedeus (Der baumluerliche Nachkomme des Bacchus der Gott bewaffnet mit einer gekruumlmm-ten Sichel)60 werden beim Leser keine groszligen Erwartungen bezuumlglich des nun folgendenVortrages geweckt Es schlieszligt sich jedoch ein rhetorisch ausgefeilter wohl gegliederter61

Lehrvortrag an Im abschlieszligenden Monolog des elegischen Ichs wird dann das deutlichwas Cairns als bdquoTibullan trick endingldquo62 bezeichnet Hier haumlufen sich die den Leser uumlberra-schenden Wendungen im Handlungsverlauf Bisher wurde der Leser im Glauben gelassendas elegische Ich erfrage alle Ratschlaumlge fuumlr sich selbst Nun erfaumlhrt er aber dass es diese

52 Vgl Cairns (1979) 166ndash19153 Asper (2004) 5154 Vgl Theoc Ep 455 V 156 Vgl Maltby (2002) 216ndash21757 V 358 Vgl Radicke (2006) 20559 Vgl V 460 Vv 6ndash761 In seiner Rede bedient sich Priapus vieler rhetorischer Stilfiguren Besonders haumlufig werden Ana-

phern verwendet (Vgl Vv 111213 Vv 1718 Vv 1920 Vv 28293031 Vv 4143) Sein Vortrag istdaruumlber hinaus noch kunstvoll in sich verlaumlngernde Abschnitte gegliedert von denen die ersten drei aus jedrei Distichen bestehen auf die dann Abschnitte aus sechs neun und acht Distichen folgen Vgl Radicke(2006) 197 Murgatroyd (1980) 128

62 Cairns (1979) 173

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nur fuumlr einen gewissen Titius in Erfahrung gebracht habe63 Doch damit nicht genug SedTitium coniunx haec meminisse vetat (Aber seine Frau verbietet Titius sich daran zuerinnern)64 Da Titius nun aber gar keinen Gebrauch von seinen Lehren machen kanngibt sich das elegische Ich im Folgenden einer Vision von sich selbst als Liebeslehrer hinMe qui spernuntur amantes consultent (Moumlgen mich die Liebenden die zuruumlckgewie-sen werden um Rat fragen)65 Doch auch diese vom Leser nach zweimaliger Irrefuumlhrunggerade erst gewonnene Information wird sofort wieder fuumlr unguumlltig erklaumlrt Das elegischeIch wird selbst von einem Knaben zuruumlckgewiesen und gequaumllt66 Es wird klar dass daselegische Ich alle Ratschlaumlge doch zumindest zum Teil auch fuumlr sich erfragt hat selbst inder Knabenliebe wenig erfolgreich und somit auch nur wenig als Liebeslehrer geeignet istDurch das verzweifelte Flehen Parce puer quaeso (Verschone mich Junge bitte)67 wirddie Hilflosigkeit des elegischen Ichs deutlich Alle vorher gegebenen Ratschlaumlge sind in derLiebe voumlllig nutzlos

Tibull fuumlhrt seine Leser also wiederholt in die Irre indem er ganz bewusst Infor-mationen zuruumlckhaumllt oder die bisherigen Erwartungen des Lesers enttaumluscht Dadurchgelingt es ihm nicht nur den Leser zu unterhalten sondern auch ihn waumlhrend der gan-zen Elegie in einem Zustand der staumlndigen Spannung verharren zu lassen Auch koumlnnteman meinen dass durch diese staumlndigen Taumluschungen die Unberechenbarkeit und die Un-vorhersehbarkeit der Liebe unterstrichen werden Genauso wie der Leser im Verlauf derElegie nie wirklich sicher sein kann woran er ist ist auch der Liebende nie wirklich aufder sicheren Seite kann die Reaktion des anderen nie vorausplanen muss immer mit demUnvorstellbaren rechnen

Ein weiteres hellenistisches Merkmal das Tibull nachahmt ist die Ironie Kallima-chosrsquo bdquointelligenter Witzldquo68 und Theokrits bdquofelicitously ironic and grotesque effectsldquo69 dieoft durch das Versetzen von Elementen der staumldtischen Kultur zu einfachen Schafhirtenhervorgerufen werden70 koumlnnen durchaus als Vorbilder fuumlr die feine Ironie gedient habendie die gesamte Elegie durchzieht

Schon allein der Gedanke dass die unvorhersehbare Liebe die sich keinen Regeln un-terwirft durch eine bestimmte Technik oder durch das Einhalten bestimmter Ratschlaumlgeerlernt berechnet oder beherrscht werden kann ist amuumlsant71 Derselben Idee wird sichspaumlter auch Ovid in seiner Ars amatoria bedienen

Aber auch der Gott Priapus wird auf sehr ironische und belustigende Weise ein-

63 Vgl V 7364 V 7465 Vv 77ndash7866 Vgl V 8167 V 8368 Asper (2004) 5369 Giangrande (1986) 4970 Vgl ebd71 Vgl Littlewood (1983) 2152

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gefuumlhrt Zunaumlchst wird er dem Leser dem allgemeinem Bild von ihm entsprechend alswenig gepflegter Gott72 als rusticus und armatus curva falce73 vorgestellt Dann ist daszum Lehrvortrag uumlberleitende Distichon74 aber durch sehr poetische und ernste Spracheausgestaltet Es wird das archaische Wort proles75 verwendet das einen feierlichen undernsthaften Ton hat76 das sic ego77 erinnert an epischen Sprachgebrauch78 und die Haumlu-figkeit von Spondeen steigt deutlich an79 so dass die Ernsthaftigkeit und Bedeutung desDistichons deutlich gesteigert werden Somit dient das Distichon nicht nur als Uumlberleitungvon der Rede des elegischen Ichs zu der des Gottes sondern verwandelt auch vor den geis-tigen Augen des augusteischen Lesers den ihm als einfach ungebildet und ithyphallischbekannten Gartengott Priapus in eine ernstzunehmende fast schon heroische LehrpersonDiese Art Ironie durch den Gegensatz zwischen heroischer Uumlberhoumlhung und baumluerlicherEinfachheit zu erzeugen erinnert ein wenig an die von Giangrande beschriebene IronieTheokrits

Es folgt der Vortrag des Priapus selbst der von Maltby als bdquomock-didacticldquo80 be-schrieben wird Dieser Eindruck kommt durch den Gegensatz zwischen dem formell vor-getragenen und rhetorisch ausgearbeiteten Vortrag des Priapus und dem eher informellenThema und der Tatsache dass Priapusrsquo praecepta hauptsaumlchlich auf allgemeinen Banalitauml-ten fuszligen zustande Dies vermag schon die naumlhere Untersuchung des ersten praeceptum81

der Rede zu zeigen Der Rat nicht gleich aufzugeben sondern Geduld zu haben wird bei-spielsweise durch das Bild von Menschen die es im Laufe der Zeit schaffen sogar Loumlwenzu zaumlhmen von Wasser das mit der Zeit einen Stein aushoumlhlen kann von Trauben diein der Sonne reifen und von Sternen die sich auf ihren festgelegten Bahnen fortbewegenkunstvoll illustriert82 Die besondere Macht der Zeit wird durch die Anaphern von longadies83 und annus84 hervorgehoben Gleichzeitig ist es voumlllig offenbar dass der Rat ab-zuwarten und die Zeit fuumlr sich arbeiten zu lassen kein voumlllig neuer vorher unbekannterGeniestreich des Priapus ist Dennoch scheint er vom Liebesratgeber Priapus voumlllig ernstgenommen und fuumlr aumluszligerst wichtig gehalten zu werden Dadurch entsteht ein uumlberaus iro-nischer Eindruck Dieses Prinzip eine sorgfaumlltige Gliederung in praeceptum gefolgt vonBeispielen und stilistischen Figuren bei eigentlich trivialen Ratschlaumlgen ist auch bei allenfolgenden Abschnitten der Rede festzustellen

72Vgl V 473 Vgl Vv 7ndash874 Vv 7ndash875 V 776 Murgatroyd (1980) 13477 V 678 Vgl Maltby (2002) 21879 Vgl Littlewood (1983) 215380 Malbty (2002) 21581 Vv 15ndash2082 Vgl Vv 17-2083 Vv 171884 Vv 1920

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In der finalen Wendung der Elegie kommt eine ganz neue Nuance von Ironie zumTragen Nachdem vorher Ironie auf Kosten des Priapus eingesetzt worden ist wird durchdas Eingestehen der eigenen Machtlosigkeit durch das elegische Ich85 nun noch der Aspektder Selbstironie hinzugefuumlgt Das elegische Ich das sich vorher noch ausgemalt hat dasseine Schar junger Maumlnner es deducat86 was ein Fachausdruck fuumlr das Ehrengeleit einerbedeutenden Persoumlnlichkeit oder eines Politikers darstellt87verliert so all seine Autoritaumltmuss gar befuumlrchten dass die Leser es auslachen werden88 Doch nicht nur das elegischeIch wird so ins Laumlcherliche gezogen die gesamte Elegie verliert durch die Erkenntnisdass alle Ratschlaumlge im Angesicht der Liebe nur vana magisteria (leere Lehren)89 sindihre Aussagekraft und Bedeutung Diese Bedeutungslosigkeit und die daraus resultieren-de Hilfslosigkeit werden durch die Positionierung dieses Ausdrucks am Schluss der Elegiehervorgehoben Zu der wirkungsvollen Stellung kommt die Besonderheit dass hier mitmagisteria ein fuumlnfsilbiges Wort am Ende des Pentameter steht was ansonsten von Ti-bull eher vermieden wird90 Die Elegie endet folglich mit der Feststellung dass sie ihrenvordergruumlndigen Sinn das Geben von Ratschlaumlgen fuumlr die Knabenliebe nicht erfuumlllenkonnte Diese Form der Ironie beschreibt Luck deshalb vielleicht nicht ganz zu Unrechtals bdquotouch of romantic ironyldquo91

Um die Funktion der Ironie besser verstehen zu koumlnnen ist Radickes Aufsatz uumlberdie Elegie 14 in dem er feststellt dass die Rede des Priapus durch bdquounzuverlaumlssige Redeldquogekennzeichnet ist aumluszligerst hilfreich92 Auf diese bdquounzuverlaumlssige Redeldquo werde schon vorder Schlusspointe hingewiesen indem Priapus schon waumlhrend seines Lehrvortrags mit zu-nehmender Deutlichkeit zwischen seiner vordergruumlndigen Rolle als Liebeslehrer und derRolle des verschmaumlhten Liebhabers die ja eigentlich dem elegischen Ich zukommt hinund her springe Dies werde dadurch deutlich dass einige Abschnitte der Rede wie zBdie Warnung vor der Liebe93 oder die Kritik an kaumluflicher Liebe94 eindeutig aus Sichteines ungluumlcklichen Liebhabers erfolgen waumlhrend andere durchaus zur Rolle als Liebes-lehrer passen95 Dadurch werde offenbar dass es sich bei dem durch das elegische Ichwiedergegebenen Dialog gar nicht um einen solchen handle sondern Priapus vielmehr dieFunktion einer bdquoMaske durch die das elegische Ich seine Gefuumlhle mitteilt oder bessergesagt seine Gefuumlhle zu verbergen suchtldquo96 erfuumlllt und der Lehrvortrag als letzter ver-zweifelter Versuch zu werten sei Marathus von sich zu uumlberzeugen Auch die Tatsache

85 Vgl Vv 81ndash8486 V 8087 Vgl Georges s V deduco II e ζ αα88 Vgl V 8489 V 8490 Vgl Maltby (2002) 23991 Luck (1959) 9992 Vgl Radicke (2006)93 Vv 8ndash1694 Vv 57ndash7295 Vv 15ndash20 21ndash26 39ndash5096 Ebd 202

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dass die Elegie von Beginn an von Ironie durchzogen wird die zum Ende hin immer staumlr-ker wird koumlnnte als Hinweis auf diese bdquounzuverlaumlssige Redeldquo gewertet werden Der Leserwird durch die ironische Einfuumlhrung des Priapus gleich darauf hingewiesen dass dieser alsLiebeslehrer nicht ganz ernst zu nehmen ist Der Gegensatz zwischen Ernsthaftigkeit undtrivialen Ratschlaumlgen in der Rede verweist zusaumltzlich zum Gegensatz zwischen der Rolledes Liebeslehrers und des Liebenden noch deutlicher auf die Maskenfunktion des Priapusbis schlieszliglich die letzte Wendung der Elegie keinen Zweifel mehr an der Tatsache laumlsstdass der Lehrvortrag des Priapus nur ein verzweifelter Versuch des elegischen Ichs ist dieeigene Hilfslosigkeit zu verbergen

Eine weitere Parallele zur hellenistischen Poesie ist die Ringkomposition in Tibulls Ele-gie 14 Die Ringkomposition bei der eine bestimmte Anzahl von Themen bis zu einemzentralen Punkt behandelt werden die dann nach diesem in der umgekehrten Reihen-folge wieder behandelt werden ist zwar schon seit Homer zu finden da sie anfaumlnglichwohl vor allem als Gedaumlchtnisstuumltze bei muumlndlicher Poesie diente97 Sie nimmt aber aucheinen wichtigen Platz in der hellenistischen Dichtung mit ihrer hohen Wertschaumltzung vonformalen Strukturen ein und laumlsst sich beispielsweise in Theokrits Idyll 28 wiederfinden98

Bei den Abschnitten in die sich die vierte Elegie gliedert faumlllt ein aumlhnliches Prinzipauf99 Die einleitende Anrede100 (A1) steht dem anschlieszligenden Kommentar des elegi-schen Ichs101 (A2) gegenuumlber die Warnung des Priapus vor der Knabenliebe102 (B1) derKritik an kaumluflicher Liebe und dem Lobpreis der Dichtung103 (B2) und die Passagen indenen Priapus zur Geduld und zu falschen Schwuumlren auffordert104 (C1) dem Aufruf da-zu den Wuumlnschen des Geliebten zu folgen105 (C2) Das Mittelstuumlck das als Spiegelachsedient bildet der Abschnitt (D) in dem auf die Vergaumlnglichkeit der Jungend aufmerksamgemacht wird106 (A2) kommentiert sein Gegenstuumlck ironisch indem es (A1) als voumllligsinnlos enthuumlllt und (B2) gibt einen moumlglichen Grund fuumlr die Warnung in (B1) an107

Auffaumlllig ist jedoch auch dass sich mit (B1) und (B2) zwei Abschnitte gegenuumlberstehenin denen Priapus seine ihm zugewiesene Rolle als Liebeslehrer verlaumlsst waumlhrend in (C1)und (C2) Priapus seine Rolle als Liebeslehrer erfuumlllt Der Abschnitt (D) nimmt zu Rechtdie wichtige Mittelstellung ein weil hier der verzweifelte Versuch des lyrischen Ichs Ma-rathus durch den vorgeschobenen Liebeslehrer Priapus doch noch fuumlr sich zu gewinnenbesonders deutlich durchschimmert Das Argument der Vergaumlnglichkeit der Jugend und

97 Vgl Cairns (1979) 195ndash19698 Vgl ebd 193ndash194 20299 Vgl ebd 207ndash208

100 Vv 1ndash8101 Vv 73-84102 Vv 9ndash14103 Vv 57ndash72104 V 15ndash26105 Vv 39ndash56106 Vv 27ndash38 Vgl ebd 207107 Vgl ebd

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die daraus folgende Aufforderung die verbleibende Zeit zu nutzen wird naumlmlich vorrangigvon Liebenden verwendet um den Geliebten oder die Geliebte von einer Beziehung zuuumlberzeugen108 Tibull selbst verwendet diese Argumentation an anderer Stelle um seineDelia von sich zu uumlberzeugen109 Mit Abschnitt (D) steht folglich ein Abschnitt im Mit-telpunkt der unweigerlich die Doppelrolle des Priapus als Liebeslehrer einerseits und alsungluumlcklicher Liebender andererseits offenbart

Trotz der wiederholten Taumluschung des Lesers und der Ironie liegt der Elegie alsoauch eine klare Gliederung zu Grunde die dafuumlr sorgt dass der Leser nicht voumlllig die Ori-entierung verliert und ebenfalls die besondere Rolle des Priapus als Maske des elegischenIchs hervorhebt

5 Mit Hilfe der durch Genette gepraumlgten Begriffe der Inter- und der Hypertextualitaumltlassen sich folglich viele verschiedene Einwirkungen hellenistischer Poesie auf die vierteElegie ausmachen Auch wenn es nicht immer leicht ist beide Begriffe klar voneinanderabzugrenzen haben sie es doch ermoumlglicht die verschiedenen Arten der Einwirkung einesTextes auf einen anderen zu unterscheiden und so ein systematisches detaillierteres undvollstaumlndigeres Bild der Beziehungen zwischen hellenistischer Dichtung und Tibulls Elegieaufzuzeigen

Intertextuelle Beziehungen lassen sich besonders deutlich zwischen Tibull und Kal-limachosrsquo Aitien Iamben und Epigrammen ausmachen Diese werden sinnvoll und pro-duktiv in die Elegie eingebunden und stets verwendet um den Inhalt der Elegie deut-licher hervorzuheben Gleichzeitig lassen sie sich auch poetologisch deuten Die groszligenAumlhnlichkeiten zu Kallimachos besonders im letzten Teil der Elegie110 sind auf eine Wie-dererkennung durch den Leser ausgelegt und verdeutlichen ihm dass sich in der Elegienoch weitere nicht so direkte und woumlrtliche Bezuumlge zu Kallimachos im Besonderen undzur hellenistischen Dichtung im Allgemeinen finden lassen Sie bewirken dass der Lesernach weiteren indirekteren Parallelen sucht und bereits nach der typischen hellenistischenIronie und Unberechenbarkeit oder aumlhnlichen Merkmalen der hellenistischen DichtungAusschau haumllt

Diese indirekteren von Genette als hypertextuell bezeichneten Beziehungen lassensich in der Tat ebenfalls in groszliger Zahl in der Elegie wiederfinden Die Elegie wurdewohl nach dem Vorbild von Kallimachosrsquo neuntem Iambus gestaltet Auszligerdem werdenauch sie konsequent verwendet um den Inhalt kunstvoll zu unterstreichen und dem Le-ser das Verstaumlndnis der gesamten Elegie zu erleichtern Die Ironie weist eindeutig auf dieMaskenfunktion des Priapus hin die haumlufigen Uumlberraschungen fuumlr den Leser auf die Unbe-staumlndigkeit der Liebe Durch die Ringkomposition bietet Tibull dem Leser aber dennochnoch einige Orientierungshilfen durch die sich die Elegie leichter verstehen laumlsst

108 Vgl ebd Radicke (2006) 199109 Vgl Tib 1168ndash78110 Vv 57ndash84

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Die Funktion der transtextuellen Beziehungen ist es daher die Aussage hervorzuhe-ben dass Liebe nicht gelehrt nicht erlernt und nicht beherrscht werden kann Sie werdennicht einfach um ihrer selbst willen uumlbernommen sondern veraumlndert neu angeordnetund zu etwas voumlllig Neuem zu einer subjektiven Liebesgeschichte zusammengefuumlgt Zu-gleich werden sie jedoch nicht so verfremdet dass der Leser sie nicht wiedererkennen kannDurch die Beziehungen zur hellenistischen Dichtung schafft Tibull deutlich hervorstechen-de Orientierungspunkte fuumlr den Leser und hebt dabei zugleich die Botschaft der absolutenHilfslosigkeit in der Liebe gekonnt auszligergewoumlhnlich und aumluszligerst unterhaltsam hervor jabildet sie sogar ganz konkret durch die Gestaltung der Elegie ab ohne dabei die Leserorientierungslos oder gar bdquoill-preparedldquo im Dunkeln zuruumlckzulassen

Uumlber die Autorin Helen E Neutzler ist seit dem Wintersemester 20132014 BA-Studentin der Faumlcher klassische Philologie und Archaumlologische Wissenschaften an derRuhr-Universitaumlt Bochum Schwerpunkte legt sie in diesen beiden Faumlchern auf Latein unddie klassische Archaumlologie Im Oktober 2014 wurde ihr ein Stipendium des Bildungsfondsder RUB im Rahmen des Deutschlandstipendiums verliehen

Bibliography

Textausgaben und Kommentare

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Monographien und Aufsaumltze

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zum fuumlnfundzwangzigjaumlhrigen Bestehen des philologischen Vereins zu Breslau Bres-lau 1896 48ndash58

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Page 6: Hellenistische Leuchtfeuer in Tibulls Priapus-Elegie · Hellenistische Leuchtfeuer in Tibulls Priapus-Elegie Transtextuelle Bezüge zur hellenistischen Dichtung und ihre Funktion

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Beide Male wird die Vorstellung des mit der Zeit nachgebenden Juumlnglings durch die Me-tapher des sich-unters-Joch-Beugens ausgedruumlckt und so die endlich totale Kontrolle uumlberden umworbenen Jungen hervorgehoben Das uumlbereinstimmende Bild des Jochs in diesemganz speziellen Kontext der Knabenliebe laumlsst deutlich auf einen intertextuellen Bezugschlieszligen

Im letzten Teil von Priapusrsquo Rede polemisiert dieser deutlich gegen Jungen die ihreLiebe vom Erhalt materieller Geschenke abhaumlngig machen die Dichtkunst dagegen nichtzu schaumltzen wissen30 Hier sind die drei Themen kaumlufliche Liebe Armut und Dichtung engmiteinander verwoben All diese Themen kommen auch schon in hellenistischer Dichtungvor und die Beziehung zu Kallimachos scheint hier besonders eng zu sein

Durch den Ausruf

Heu male nunc artes miseras haec saecula tractantiam tener assuevit munera velle puer

Ach nun behandeln diese Jahrhunderte die elenden Kuumlnste schlechtSchon der zarte Knabe hat sich daran gewoumlhnt Geschenke zu verlangen31

werden kaumlufliche Liebe und die zunehmende Orientierung an materiellen Werten beklagtDer dritte Iambus von Kallimachos zeigt ein ganz aumlhnliches Bild32 Auch wenn der ersteTeil des Iambus nur schlecht erhalten ist verraumlt die Diegesis

Καταμέμφεται τὸν καιρὸν ὡς πλούτου

μᾶλλον ἢ ἀρετῆς ὄντα τὸν δὲ

πρὸ αὐτοῦ ἀποδέχεται ὃς τῆς ἐναν-

τίας ἦν τούτων γνώμηςmiddot παρεπι-

κόπτει δὲ καὶ Εὐθύδημόν τινα ὡς

κεχρημένον τῇ ὥρᾳ πορισμῷ ὑ-

πὸ τῆς μητρὸς πλουσίῳ συσταθέντα

Er tadelt die aktuellen Zustaumlnde weil sie mehr Wert auf Reichtum alsauf Tugend legen die Zeit vor diesen die der gegenteiligen Auffassungwar billigt er Dabei schilt er auch einen Euthydemos weil er seinejugendliche Schoumlnheit zu Erwerbszwecken missbrauche nachdem er vonseiner Mutter mit einem Reichen zusammengebracht worden sei33

Beide Dichter verurteilen die Tatsache dass materiellen Guumltern ein houmlherer Wert bei-gemessen wird als der Tugend und der Dichtung Daruumlber hinaus steht diese Kritik in

30 Vv 57ndash7331 Vv 57ndash5832 Vgl Dawson (1946) 11ndash12 Murgatroyd (1980) 151 Maltby (2002) 23133 Dieg 634ndash40 zu Call Iamb 3 Pf Die Diegeseis werden im Folgenden aus Pfeiffer zitiert

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beiden Faumlllen im direkten Zusammenhang mit der KnabenliebeDiese Gemeinsamkeit wird sogar noch verstaumlrkt beruumlcksichtigt man dass der oben

zitierte Ausruf in den Versen 57ndash58 eindeutig aus der Perspektive eines armen Manneserfolgt der dem umworbenen Jungen keine solchen kostbaren Geschenke machen kann umdessen Gunst zu bekommen Dieser Standpunkt findet sich in Kallimachosrsquo Epigramm 32wieder in dem das elegische Ich einem Juumlngling namens Menippos gegenuumlber seine Armuteingesteht und ihn anfleht ihm diese nicht immer wieder vorzuhalten34 Beide Textstellenbeschreiben die Situation eines Mannes der aufgrund seiner Armut in der Knabenliebenicht erfolgreich ist

Des Weiteren faumlllt auf dass sowohl bei Kallimachos als auch bei Tibull der Kultder Kybele im Zusammenhang mit der Verdammung der kaumluflichen Liebe vorkommt35

In der Elegie 14 verflucht Priapus denjenigen der die Musen nicht zu schaumltzen weiszlig auffolgende Weise

At qui non audit Musas qui vendit amoremIdaeae currus ille sequatur OpisEt tercentenas erroribus expleat urbesEt secet ad Phrygios vilia membra modos

Aber wer die Musen nicht houmlrt wer Liebe verkauft jener soll den Wagen derphrygischen Ops36 folgen dreihundert Staumldte auf Irrfahrten durchwandern undsich zu phrygischen Rhythmen seine nutzlosen Glieder abschneiden37

Kallimachos kommentiert im dritten Iambus angesichts seiner Erfolgslosigkeit beimJuumlngling Euthydemos die durch dessen Fixierung auf Reichtum verschuldet ist

[ ] ν μοι τοῦτ᾿rsquoἂν ἦν ὀνήϊσ[το]ν

]υ[] [] Κ[υβή]βῃ τὴν κόμην ἀναρρίπτειν

Φρύγ[α] πρ[ὸς] αὐλὸν ἢ ποδῆρες ἕλκοντα

῎Αδω[ν]ιν αἰαῖ τῆς θεοῦ τὸν ἄνθρωπον

ἰηλεμίζεινmiddot νῦν δ᾿ ὁ μάργος ἐς Μούσας

ἔνευσαmiddot38

Es waumlre wohl dieses fuumlr mich am besten zum phrygischen Floumltenspiel das Haaremporzuwerfen oder das lange Gewand schleppend den Adonis ach weh denMann der Goumlttin zu beweinen jetzt habe ich Toumlrichter mich aber den Musenzugewandt

34 Vgl Call Epigr 32 Pf35 Vgl Dawson (1946) 12 Luck (1959) 96ndash97 Bulloch (1973) 79ndash80 Murgatroyd (1980) 15436 Ops die Frau Saturns ist das roumlmische Aumlquivalent zu Rhea der Frau Kronosrsquo welche die Griechen

wiederum mit Kybele der Goumlttin des Ida verbanden Vgl Murgatroyd (1980) 153ndash15437 Vv 67ndash7038 Call Iamb 3 fr 193 34ndash39 Pf

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Da hier beide im gleichen Zusammenhang naumlmlich der der Armut geschuldeten Er-folgslosigkeit bei einem Knaben den Kult der Kybele hinzuziehen ist hier eine Beein-flussung Tibulls durch Kallimachos sehr wahrscheinlich Trotz dieser sehr nahen Parallelebesteht jedoch ein deutlicher Unterschied darin dass Kallimachos den Kult der Kybe-le an dem nur Eunuchen teilnahmen genauso wie den des Adonis der nur von Frauengepflegt wurde ironisch als letzten Ausweg aus seiner wenig Erfolg versprechenden Lagedarstellt da er ja durch das Beitreten zu einem dieser Kulte von seiner ungluumlcklichenLiebe befreit waumlre Tibull hingegen verwendet den Kybele-Kult als grausame und ab-schreckende Verfluchung des fuumlr die Musen Unempfaumlnglichen der nur durch materielleGeschenke zu gewinnen ist Er uumlbernimmt zwar die Kybele-Thematik fuumlgt sie aber aufeine voumlllig andere ihm eigene Weise in seine Elegie ein

Die besondere Wertschaumltzung der Dichtkunst durch das elegische Ich wird vor allem indiesem Distichon deutlich Quem referunt Musae vivet dum robora tellus dum caelumstellas dum vehet amnis aquas (Wen die Musen nennen der wird leben solange die ErdeEichen solange der Himmel Sterne solange der Fluss Wasser fuumlhrt)39) In Kallimachosrsquozwoumllftem Iambus hebt Apollon der Heras Tochter zum Geburtstag ein Lied schenkt denbesonderen Wert der Dichtung ganz aumlhnlich hervor ἡ δ᾿ ἐμὴ τῇ παιδὶ καλλίͺστη δόσιςἔστ᾿ ἐμὸν γένειον ἁγνεύῃ ͺ τριχός καὶ ἐρίφοις χαίρωσιν ἅρπͺαγ[ες λ]ύκ[ο]ι (Meine Gabeist aber fuumlr das Kind wunderschoumln so lange mein Kinn von Haar rein ist und sich dieraumluberischen Woumllfe an Zicklein erfreuen)40 waumlhrend die Geschenke der anderen Goumlttermit der Zeit vergehen wuumlrden Bulloch macht in diesem Zusammenhang auf die paralleleSatzkonstruktion mit dum bzw ἔστε aufmerksam41

Alle drei Themen die Armut die scharfe Kritik an kaumluflicher Liebe und die besondereWertschaumltzung der Dichtung finden sich folglich sowohl bei Tibull als auch bei Kallima-chos Tibull kombiniert sie neu baut sie stimmig und kontrastierend in seine Elegie einum die unabdingbare Notwendigkeit des Scheiterns seiner Liebe zu Marathus eindrucks-voll hervorzuheben Zugleich positioniert sich Tibull durch sie deutlich in der Naumlhe zuKallimachos besonders weil die Rede uumlber Dichtung immer auch poetologisch verstandenwerden kann So laumlsst er den Leser bereits vermuten dass seine Elegie auch noch anderekallimacheische oder hellenistische Elemente enthalten koumlnnte

Im abschlieszligenden Kommentar des elegischen Ichs42 laumlsst sich ebenfalls eine intertex-tuelle Beziehung erkennen Das elegische Ich sieht sich nachdem es enthuumlllt hat dassTitius die gewonnenen Informationen gar nicht anwenden kann als erfolgreicher und an-gesehener Lehrer Tempus erit cum me Veneris praecepta ferentem deducat iuvenumsedula turba senem (Die Zeit wird kommen wenn mich als alten Mann waumlhrend ich

39 Vv 65ndash6640 Call Iamb fr 163 67ndash70 Asper Hier wird der Kallimachos-Ausgabe von Asper gefolgt41 Vgl Bulloch (1973) 7942 Vv 73ndash84

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Liebeslehren verbreite eine eifrige Schar junger Maumlnner begleitet)43 Ein aumlhnliches Bildverwendet Kallimachos in den Aitien44

γηράσκει δ᾿ ὁ γέρων κεῖνος ἐλαφρότερον

κοῦροι τὸν φιλέουσιν ἑὸν δέ μιν οἷα γονῆα

χειρὸς ἐπ᾿ οἰκείην ἄχρις ἄγουσι θύρην

Jener Greis altert leichter den die jungen Maumlnner lieben und wie ihren eigenenVater an der Hand gaumlnzlich bis zur Tuumlr seines Hauses fuumlhren45

In beiden Ausschnitten wird die Wertschaumltzung eines alten Mannes durch juumlngere dieihm ein Ehrengeleit geben thematisiert und als wuumlnschens- und erstrebenswert darge-stellt Tibull benutzt diese Vorstellung aber als seinen eigenen Traum er subjektivisiertKallimachosrsquo Vorlage und macht eine allgemein vorgetragene Ansicht zu seiner eigenenWunschvorstellung Dieser Traum des elegischen Ichs hat die Funktion die darauf folgendeEnthuumlllung des eigenen Versagens in der Liebe noch deutlicher hervorzuheben

Tibull uumlbernimmt Ideen Motive Bilder und Vergleiche welche sich meist auf einekonkrete Textstelle zuruumlckfuumlhren lassen die aber oft dennoch in voumlllig neuer Gestalt indie Elegie eingefuumlgt worden sind und sich deshalb manchmal nicht klar von hypertextuel-len Bezuumlgen trennen lassen Besonders seine Aussagen uumlber die Dichtung und die damitverbundenen intertextuellen Bezuumlge zu Kallimachos lassen sich poetologisch deuten DerLeser hat nun erste Orientierungspunkte erhalten die ihm ein tieferes Verstaumlndnis derElegie ermoumlglichen und durch die er auch undeutlichere Beziehungen zur hellenistischenDichtung wahrnehmen kann

4 Neben diesen intertextuellen enthaumllt Tibulls Elegie auch hypertextuelle Beziehun-gen Hierbei nimmt die Elegie entweder durch Transformation also durch die Veraumln-derung einer Vorlage oder durch Nachahmung bestimmter stilistischer Eigenheiten aufeinen anderen Text Bezug Der naumlchste Unterabschnitt wird aufzeigen dass das Prinzipder Transformation am neunten Iambus von Kallimachos nachweisbar ist die restlichenbeschaumlftigen sich mit der Nachahmung bestimmter Merkmale hellenistischer Poesie undihrer Dichter

Die aumluszligere Form der Elegie scheint durch Transformation verschiedener Kallimachos-Fragmente gestaltet worden zu sein Der Dialog mit einer Statue ist gleich mehrmalsin seinen Werken zu finden Neben dem Aitien-Fragment 11446 und dem Epigramm 2447

43 Vv 79ndash8044 Vgl Luck (1959) 98 Bulloch (1973) 76 Maltby (2002) 23745 Call Aet 1fr 41 Pf46 Dialog zwischen Apollo und einer unbekannten Person47 Die Statue eines Helden spricht

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weist der neunte Iambus der uns abgesehen von zwei Versen auch nur durch den Diegeseis-Papyrus uumlberliefert ist die groumlszligten Uumlbereinstimmungen mit der Elegie 14 auf48

]Φιλη-

τάδου παιδὸς εὐπρεποῦς ἐραστὴς ἰδὼν

῾Ερμοῦ ἄγαλμα ἐν παλαιστριδίῳ ἐντε-

ταμένον πυνθάνεται μὴ διὰ τὸν Φιλη-

τάδαν ῾Ο δέ φησιν ἄνωθεν εἶναι Τυρση-

νὸς καὶ κατὰ μυστικὸν λόγον ἐντε-

τάσθαι ἐπὶ κακῷ δὲ αὐτὸν φιλεῖν τὸν

Φιλητάδαν

Als der Liebhaber des schoumlnen Knaben Philetades auf einer kleinen Palaumlstraein Bildnis eines erigierten Hermes sieht fragt er bdquoEtwa wegen PhiletadesldquoDas Bildnis aber antwortet ihm von oben herab dass es etruskisch sei undwegen einer mystischen Lehre erigiert sei dass seine Liebe zu Philetades aberzum Schlechten gereiche49

In der Elegie und im Kallimachos-Fragment findet der Dialog zwischen einem ithyphal-lischen Gott und einem Knabenliebhaber statt Sowohl die Dialogform die Dialogpartnerals auch das uumlbergeordnete Thema stimmen folglich uumlberein Eine weitere Gemeinsamkeitist die uumlberraschende und ungluumlckliche Wende am Ende des Iambus bzw der Elegie Inbeiden Faumlllen erfaumlhrt der Leser dass eine gluumlckliche Liebesbeziehung unmoumlglich ist Dieseungluumlckliche Wende hat bei Tibull jedoch deutlich mehr Tragweite weil sie das bis dahinnahegelegte Verstaumlndnis der Elegie veraumlndert ja sogar ins Gegenteil verkehrt Durch sieverliert der gesamte Vortrag des Priapus an Bedeutung Des Weiteren unterscheidet sichdie Elegie dadurch dass Tibull Priapus als Gespraumlchspartner auswaumlhlt Doch auch dabeigreift er auf hellenistische Vorstellungen zuruumlck Priapus war im Hellenismus sehr beliebt50

und tritt beispielsweise im ersten Idyll von Theokrit als Liebeslehrer auf51 Aufgrund derUumlbereinstimmung von Hauptthema Form und uumlberraschender Wendung ist es durchausmoumlglich die Elegie 14 als erweiterte und verlaumlngerte Transformation des neunten Iambusvon Kallimachos anzusehen Erkennt der Leser diesen Bezug zur hellenistischen Dichtungschon beim Lesen wird er etwas auf das uumlberraschende Ende vorbereitet wenn nichtwird er ihm wohl spaumltestens nach dem Lesen der Schlusspointe deutlich werden so dassdie Freude des Wiedererkennens des Iambus im zweiten Lesedurchgang ihre volle Wir-kung entfalten kann und dem Leser mehr und mehr Parallelen zwischen der Elegie und

48 Vgl Dawson (1946) 12ndash13 Luck (1959) 93 Bulloch (1973) 78ndash79 Cairns (1979) 189ndash190 Murgatroyd(1980) 130 Maltby (2002) 216

49 Dieg 833ndash40 zu Call Iamb 9 Pf50 Vgl Murgatroyd (1980) 129ndash131 Maltby (2002) 21651 Hier allerdings ohne den Kontext der Knabenliebe Vgl Theoc Id 180ndash92

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hellenistischer Dichtung auffallen

Neben dieser Transformation ist aber auch die Nachahmung von einigen Eigenheitender hellenistischen Poesie nachweisbar Eines der Merkmale der hellenistischen Poesie istdas Taumluschen des Lesers52 Diese Tendenz bezeichnet Asper in Bezug auf Kallimachosauch als bdquoEindruck der Unberechenbarkeitldquo53 Als Beispiel fuumlr diese Unberechenbarkeitkann der oben vorgestellte neunte Iambus von Kallimachos dienen Auch Theokrits vier-tes Epigramm waumlre ein Beispiel in dem ein Liebender einem Hirten zunaumlchst auftraumlgtPriapus zu bitten ihn von seiner Liebe zu erloumlsen dann aber deutlich macht dass er sichin Wahrheit eine gluumlckliche Liebesbeziehung wuumlnscht54

Die Tendenz den Leser bestaumlndig in die Irre zu fuumlhren ist in Tibulls vierter Elegiesehr deutlich Schon zu Beginn spielt Tibull mit den Lesererwartungen Nach dem erstenVers Sic umbrosa tibi contingant tecta Priape (So moumlgen dir Priapus schattenspendendeDaumlcher zuteilwerden)55 koumlnnte der Leser wohl vor allem durch das an ein rituelles Gebeterinnernde einleitende sic56 noch annehmen dass nun ein Gebet zu Priapus folgt Wenigspaumlter wird jedoch die eigentliche Absicht des elegischen Ichs deutlich Quae tua formo-sos cepit sollertia (Welche dir eigene Faumlhigkeit haumllt die schoumlnen Juumlnglinge gefangen)57

Der Gott wird als Ratgeber in der Knabenliebe angerufen Der anfaumlngliche Eindruck ei-nes unmittelbaren Dialogs wird jedoch durch den erzaumlhlenden Einschub in den Versen7ndash8 aufgeloumlst58 Erst jetzt erfaumlhrt der Leser dass es sich gar nicht um einen unmittelbarstattfindenden sondern um einen durch das elegische Ich wiedergegebenen Dialog han-delt Durch die Einfuumlhrung des Priapus als jemanden ohne gepflegtes Aumluszligeres59 und diespottende Beschreibung des Priapus als Bacchi rustica proles armatus curva falcedeus (Der baumluerliche Nachkomme des Bacchus der Gott bewaffnet mit einer gekruumlmm-ten Sichel)60 werden beim Leser keine groszligen Erwartungen bezuumlglich des nun folgendenVortrages geweckt Es schlieszligt sich jedoch ein rhetorisch ausgefeilter wohl gegliederter61

Lehrvortrag an Im abschlieszligenden Monolog des elegischen Ichs wird dann das deutlichwas Cairns als bdquoTibullan trick endingldquo62 bezeichnet Hier haumlufen sich die den Leser uumlberra-schenden Wendungen im Handlungsverlauf Bisher wurde der Leser im Glauben gelassendas elegische Ich erfrage alle Ratschlaumlge fuumlr sich selbst Nun erfaumlhrt er aber dass es diese

52 Vgl Cairns (1979) 166ndash19153 Asper (2004) 5154 Vgl Theoc Ep 455 V 156 Vgl Maltby (2002) 216ndash21757 V 358 Vgl Radicke (2006) 20559 Vgl V 460 Vv 6ndash761 In seiner Rede bedient sich Priapus vieler rhetorischer Stilfiguren Besonders haumlufig werden Ana-

phern verwendet (Vgl Vv 111213 Vv 1718 Vv 1920 Vv 28293031 Vv 4143) Sein Vortrag istdaruumlber hinaus noch kunstvoll in sich verlaumlngernde Abschnitte gegliedert von denen die ersten drei aus jedrei Distichen bestehen auf die dann Abschnitte aus sechs neun und acht Distichen folgen Vgl Radicke(2006) 197 Murgatroyd (1980) 128

62 Cairns (1979) 173

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nur fuumlr einen gewissen Titius in Erfahrung gebracht habe63 Doch damit nicht genug SedTitium coniunx haec meminisse vetat (Aber seine Frau verbietet Titius sich daran zuerinnern)64 Da Titius nun aber gar keinen Gebrauch von seinen Lehren machen kanngibt sich das elegische Ich im Folgenden einer Vision von sich selbst als Liebeslehrer hinMe qui spernuntur amantes consultent (Moumlgen mich die Liebenden die zuruumlckgewie-sen werden um Rat fragen)65 Doch auch diese vom Leser nach zweimaliger Irrefuumlhrunggerade erst gewonnene Information wird sofort wieder fuumlr unguumlltig erklaumlrt Das elegischeIch wird selbst von einem Knaben zuruumlckgewiesen und gequaumllt66 Es wird klar dass daselegische Ich alle Ratschlaumlge doch zumindest zum Teil auch fuumlr sich erfragt hat selbst inder Knabenliebe wenig erfolgreich und somit auch nur wenig als Liebeslehrer geeignet istDurch das verzweifelte Flehen Parce puer quaeso (Verschone mich Junge bitte)67 wirddie Hilflosigkeit des elegischen Ichs deutlich Alle vorher gegebenen Ratschlaumlge sind in derLiebe voumlllig nutzlos

Tibull fuumlhrt seine Leser also wiederholt in die Irre indem er ganz bewusst Infor-mationen zuruumlckhaumllt oder die bisherigen Erwartungen des Lesers enttaumluscht Dadurchgelingt es ihm nicht nur den Leser zu unterhalten sondern auch ihn waumlhrend der gan-zen Elegie in einem Zustand der staumlndigen Spannung verharren zu lassen Auch koumlnnteman meinen dass durch diese staumlndigen Taumluschungen die Unberechenbarkeit und die Un-vorhersehbarkeit der Liebe unterstrichen werden Genauso wie der Leser im Verlauf derElegie nie wirklich sicher sein kann woran er ist ist auch der Liebende nie wirklich aufder sicheren Seite kann die Reaktion des anderen nie vorausplanen muss immer mit demUnvorstellbaren rechnen

Ein weiteres hellenistisches Merkmal das Tibull nachahmt ist die Ironie Kallima-chosrsquo bdquointelligenter Witzldquo68 und Theokrits bdquofelicitously ironic and grotesque effectsldquo69 dieoft durch das Versetzen von Elementen der staumldtischen Kultur zu einfachen Schafhirtenhervorgerufen werden70 koumlnnen durchaus als Vorbilder fuumlr die feine Ironie gedient habendie die gesamte Elegie durchzieht

Schon allein der Gedanke dass die unvorhersehbare Liebe die sich keinen Regeln un-terwirft durch eine bestimmte Technik oder durch das Einhalten bestimmter Ratschlaumlgeerlernt berechnet oder beherrscht werden kann ist amuumlsant71 Derselben Idee wird sichspaumlter auch Ovid in seiner Ars amatoria bedienen

Aber auch der Gott Priapus wird auf sehr ironische und belustigende Weise ein-

63 Vgl V 7364 V 7465 Vv 77ndash7866 Vgl V 8167 V 8368 Asper (2004) 5369 Giangrande (1986) 4970 Vgl ebd71 Vgl Littlewood (1983) 2152

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gefuumlhrt Zunaumlchst wird er dem Leser dem allgemeinem Bild von ihm entsprechend alswenig gepflegter Gott72 als rusticus und armatus curva falce73 vorgestellt Dann ist daszum Lehrvortrag uumlberleitende Distichon74 aber durch sehr poetische und ernste Spracheausgestaltet Es wird das archaische Wort proles75 verwendet das einen feierlichen undernsthaften Ton hat76 das sic ego77 erinnert an epischen Sprachgebrauch78 und die Haumlu-figkeit von Spondeen steigt deutlich an79 so dass die Ernsthaftigkeit und Bedeutung desDistichons deutlich gesteigert werden Somit dient das Distichon nicht nur als Uumlberleitungvon der Rede des elegischen Ichs zu der des Gottes sondern verwandelt auch vor den geis-tigen Augen des augusteischen Lesers den ihm als einfach ungebildet und ithyphallischbekannten Gartengott Priapus in eine ernstzunehmende fast schon heroische LehrpersonDiese Art Ironie durch den Gegensatz zwischen heroischer Uumlberhoumlhung und baumluerlicherEinfachheit zu erzeugen erinnert ein wenig an die von Giangrande beschriebene IronieTheokrits

Es folgt der Vortrag des Priapus selbst der von Maltby als bdquomock-didacticldquo80 be-schrieben wird Dieser Eindruck kommt durch den Gegensatz zwischen dem formell vor-getragenen und rhetorisch ausgearbeiteten Vortrag des Priapus und dem eher informellenThema und der Tatsache dass Priapusrsquo praecepta hauptsaumlchlich auf allgemeinen Banalitauml-ten fuszligen zustande Dies vermag schon die naumlhere Untersuchung des ersten praeceptum81

der Rede zu zeigen Der Rat nicht gleich aufzugeben sondern Geduld zu haben wird bei-spielsweise durch das Bild von Menschen die es im Laufe der Zeit schaffen sogar Loumlwenzu zaumlhmen von Wasser das mit der Zeit einen Stein aushoumlhlen kann von Trauben diein der Sonne reifen und von Sternen die sich auf ihren festgelegten Bahnen fortbewegenkunstvoll illustriert82 Die besondere Macht der Zeit wird durch die Anaphern von longadies83 und annus84 hervorgehoben Gleichzeitig ist es voumlllig offenbar dass der Rat ab-zuwarten und die Zeit fuumlr sich arbeiten zu lassen kein voumlllig neuer vorher unbekannterGeniestreich des Priapus ist Dennoch scheint er vom Liebesratgeber Priapus voumlllig ernstgenommen und fuumlr aumluszligerst wichtig gehalten zu werden Dadurch entsteht ein uumlberaus iro-nischer Eindruck Dieses Prinzip eine sorgfaumlltige Gliederung in praeceptum gefolgt vonBeispielen und stilistischen Figuren bei eigentlich trivialen Ratschlaumlgen ist auch bei allenfolgenden Abschnitten der Rede festzustellen

72Vgl V 473 Vgl Vv 7ndash874 Vv 7ndash875 V 776 Murgatroyd (1980) 13477 V 678 Vgl Maltby (2002) 21879 Vgl Littlewood (1983) 215380 Malbty (2002) 21581 Vv 15ndash2082 Vgl Vv 17-2083 Vv 171884 Vv 1920

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In der finalen Wendung der Elegie kommt eine ganz neue Nuance von Ironie zumTragen Nachdem vorher Ironie auf Kosten des Priapus eingesetzt worden ist wird durchdas Eingestehen der eigenen Machtlosigkeit durch das elegische Ich85 nun noch der Aspektder Selbstironie hinzugefuumlgt Das elegische Ich das sich vorher noch ausgemalt hat dasseine Schar junger Maumlnner es deducat86 was ein Fachausdruck fuumlr das Ehrengeleit einerbedeutenden Persoumlnlichkeit oder eines Politikers darstellt87verliert so all seine Autoritaumltmuss gar befuumlrchten dass die Leser es auslachen werden88 Doch nicht nur das elegischeIch wird so ins Laumlcherliche gezogen die gesamte Elegie verliert durch die Erkenntnisdass alle Ratschlaumlge im Angesicht der Liebe nur vana magisteria (leere Lehren)89 sindihre Aussagekraft und Bedeutung Diese Bedeutungslosigkeit und die daraus resultieren-de Hilfslosigkeit werden durch die Positionierung dieses Ausdrucks am Schluss der Elegiehervorgehoben Zu der wirkungsvollen Stellung kommt die Besonderheit dass hier mitmagisteria ein fuumlnfsilbiges Wort am Ende des Pentameter steht was ansonsten von Ti-bull eher vermieden wird90 Die Elegie endet folglich mit der Feststellung dass sie ihrenvordergruumlndigen Sinn das Geben von Ratschlaumlgen fuumlr die Knabenliebe nicht erfuumlllenkonnte Diese Form der Ironie beschreibt Luck deshalb vielleicht nicht ganz zu Unrechtals bdquotouch of romantic ironyldquo91

Um die Funktion der Ironie besser verstehen zu koumlnnen ist Radickes Aufsatz uumlberdie Elegie 14 in dem er feststellt dass die Rede des Priapus durch bdquounzuverlaumlssige Redeldquogekennzeichnet ist aumluszligerst hilfreich92 Auf diese bdquounzuverlaumlssige Redeldquo werde schon vorder Schlusspointe hingewiesen indem Priapus schon waumlhrend seines Lehrvortrags mit zu-nehmender Deutlichkeit zwischen seiner vordergruumlndigen Rolle als Liebeslehrer und derRolle des verschmaumlhten Liebhabers die ja eigentlich dem elegischen Ich zukommt hinund her springe Dies werde dadurch deutlich dass einige Abschnitte der Rede wie zBdie Warnung vor der Liebe93 oder die Kritik an kaumluflicher Liebe94 eindeutig aus Sichteines ungluumlcklichen Liebhabers erfolgen waumlhrend andere durchaus zur Rolle als Liebes-lehrer passen95 Dadurch werde offenbar dass es sich bei dem durch das elegische Ichwiedergegebenen Dialog gar nicht um einen solchen handle sondern Priapus vielmehr dieFunktion einer bdquoMaske durch die das elegische Ich seine Gefuumlhle mitteilt oder bessergesagt seine Gefuumlhle zu verbergen suchtldquo96 erfuumlllt und der Lehrvortrag als letzter ver-zweifelter Versuch zu werten sei Marathus von sich zu uumlberzeugen Auch die Tatsache

85 Vgl Vv 81ndash8486 V 8087 Vgl Georges s V deduco II e ζ αα88 Vgl V 8489 V 8490 Vgl Maltby (2002) 23991 Luck (1959) 9992 Vgl Radicke (2006)93 Vv 8ndash1694 Vv 57ndash7295 Vv 15ndash20 21ndash26 39ndash5096 Ebd 202

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dass die Elegie von Beginn an von Ironie durchzogen wird die zum Ende hin immer staumlr-ker wird koumlnnte als Hinweis auf diese bdquounzuverlaumlssige Redeldquo gewertet werden Der Leserwird durch die ironische Einfuumlhrung des Priapus gleich darauf hingewiesen dass dieser alsLiebeslehrer nicht ganz ernst zu nehmen ist Der Gegensatz zwischen Ernsthaftigkeit undtrivialen Ratschlaumlgen in der Rede verweist zusaumltzlich zum Gegensatz zwischen der Rolledes Liebeslehrers und des Liebenden noch deutlicher auf die Maskenfunktion des Priapusbis schlieszliglich die letzte Wendung der Elegie keinen Zweifel mehr an der Tatsache laumlsstdass der Lehrvortrag des Priapus nur ein verzweifelter Versuch des elegischen Ichs ist dieeigene Hilfslosigkeit zu verbergen

Eine weitere Parallele zur hellenistischen Poesie ist die Ringkomposition in Tibulls Ele-gie 14 Die Ringkomposition bei der eine bestimmte Anzahl von Themen bis zu einemzentralen Punkt behandelt werden die dann nach diesem in der umgekehrten Reihen-folge wieder behandelt werden ist zwar schon seit Homer zu finden da sie anfaumlnglichwohl vor allem als Gedaumlchtnisstuumltze bei muumlndlicher Poesie diente97 Sie nimmt aber aucheinen wichtigen Platz in der hellenistischen Dichtung mit ihrer hohen Wertschaumltzung vonformalen Strukturen ein und laumlsst sich beispielsweise in Theokrits Idyll 28 wiederfinden98

Bei den Abschnitten in die sich die vierte Elegie gliedert faumlllt ein aumlhnliches Prinzipauf99 Die einleitende Anrede100 (A1) steht dem anschlieszligenden Kommentar des elegi-schen Ichs101 (A2) gegenuumlber die Warnung des Priapus vor der Knabenliebe102 (B1) derKritik an kaumluflicher Liebe und dem Lobpreis der Dichtung103 (B2) und die Passagen indenen Priapus zur Geduld und zu falschen Schwuumlren auffordert104 (C1) dem Aufruf da-zu den Wuumlnschen des Geliebten zu folgen105 (C2) Das Mittelstuumlck das als Spiegelachsedient bildet der Abschnitt (D) in dem auf die Vergaumlnglichkeit der Jungend aufmerksamgemacht wird106 (A2) kommentiert sein Gegenstuumlck ironisch indem es (A1) als voumllligsinnlos enthuumlllt und (B2) gibt einen moumlglichen Grund fuumlr die Warnung in (B1) an107

Auffaumlllig ist jedoch auch dass sich mit (B1) und (B2) zwei Abschnitte gegenuumlberstehenin denen Priapus seine ihm zugewiesene Rolle als Liebeslehrer verlaumlsst waumlhrend in (C1)und (C2) Priapus seine Rolle als Liebeslehrer erfuumlllt Der Abschnitt (D) nimmt zu Rechtdie wichtige Mittelstellung ein weil hier der verzweifelte Versuch des lyrischen Ichs Ma-rathus durch den vorgeschobenen Liebeslehrer Priapus doch noch fuumlr sich zu gewinnenbesonders deutlich durchschimmert Das Argument der Vergaumlnglichkeit der Jugend und

97 Vgl Cairns (1979) 195ndash19698 Vgl ebd 193ndash194 20299 Vgl ebd 207ndash208

100 Vv 1ndash8101 Vv 73-84102 Vv 9ndash14103 Vv 57ndash72104 V 15ndash26105 Vv 39ndash56106 Vv 27ndash38 Vgl ebd 207107 Vgl ebd

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die daraus folgende Aufforderung die verbleibende Zeit zu nutzen wird naumlmlich vorrangigvon Liebenden verwendet um den Geliebten oder die Geliebte von einer Beziehung zuuumlberzeugen108 Tibull selbst verwendet diese Argumentation an anderer Stelle um seineDelia von sich zu uumlberzeugen109 Mit Abschnitt (D) steht folglich ein Abschnitt im Mit-telpunkt der unweigerlich die Doppelrolle des Priapus als Liebeslehrer einerseits und alsungluumlcklicher Liebender andererseits offenbart

Trotz der wiederholten Taumluschung des Lesers und der Ironie liegt der Elegie alsoauch eine klare Gliederung zu Grunde die dafuumlr sorgt dass der Leser nicht voumlllig die Ori-entierung verliert und ebenfalls die besondere Rolle des Priapus als Maske des elegischenIchs hervorhebt

5 Mit Hilfe der durch Genette gepraumlgten Begriffe der Inter- und der Hypertextualitaumltlassen sich folglich viele verschiedene Einwirkungen hellenistischer Poesie auf die vierteElegie ausmachen Auch wenn es nicht immer leicht ist beide Begriffe klar voneinanderabzugrenzen haben sie es doch ermoumlglicht die verschiedenen Arten der Einwirkung einesTextes auf einen anderen zu unterscheiden und so ein systematisches detaillierteres undvollstaumlndigeres Bild der Beziehungen zwischen hellenistischer Dichtung und Tibulls Elegieaufzuzeigen

Intertextuelle Beziehungen lassen sich besonders deutlich zwischen Tibull und Kal-limachosrsquo Aitien Iamben und Epigrammen ausmachen Diese werden sinnvoll und pro-duktiv in die Elegie eingebunden und stets verwendet um den Inhalt der Elegie deut-licher hervorzuheben Gleichzeitig lassen sie sich auch poetologisch deuten Die groszligenAumlhnlichkeiten zu Kallimachos besonders im letzten Teil der Elegie110 sind auf eine Wie-dererkennung durch den Leser ausgelegt und verdeutlichen ihm dass sich in der Elegienoch weitere nicht so direkte und woumlrtliche Bezuumlge zu Kallimachos im Besonderen undzur hellenistischen Dichtung im Allgemeinen finden lassen Sie bewirken dass der Lesernach weiteren indirekteren Parallelen sucht und bereits nach der typischen hellenistischenIronie und Unberechenbarkeit oder aumlhnlichen Merkmalen der hellenistischen DichtungAusschau haumllt

Diese indirekteren von Genette als hypertextuell bezeichneten Beziehungen lassensich in der Tat ebenfalls in groszliger Zahl in der Elegie wiederfinden Die Elegie wurdewohl nach dem Vorbild von Kallimachosrsquo neuntem Iambus gestaltet Auszligerdem werdenauch sie konsequent verwendet um den Inhalt kunstvoll zu unterstreichen und dem Le-ser das Verstaumlndnis der gesamten Elegie zu erleichtern Die Ironie weist eindeutig auf dieMaskenfunktion des Priapus hin die haumlufigen Uumlberraschungen fuumlr den Leser auf die Unbe-staumlndigkeit der Liebe Durch die Ringkomposition bietet Tibull dem Leser aber dennochnoch einige Orientierungshilfen durch die sich die Elegie leichter verstehen laumlsst

108 Vgl ebd Radicke (2006) 199109 Vgl Tib 1168ndash78110 Vv 57ndash84

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Die Funktion der transtextuellen Beziehungen ist es daher die Aussage hervorzuhe-ben dass Liebe nicht gelehrt nicht erlernt und nicht beherrscht werden kann Sie werdennicht einfach um ihrer selbst willen uumlbernommen sondern veraumlndert neu angeordnetund zu etwas voumlllig Neuem zu einer subjektiven Liebesgeschichte zusammengefuumlgt Zu-gleich werden sie jedoch nicht so verfremdet dass der Leser sie nicht wiedererkennen kannDurch die Beziehungen zur hellenistischen Dichtung schafft Tibull deutlich hervorstechen-de Orientierungspunkte fuumlr den Leser und hebt dabei zugleich die Botschaft der absolutenHilfslosigkeit in der Liebe gekonnt auszligergewoumlhnlich und aumluszligerst unterhaltsam hervor jabildet sie sogar ganz konkret durch die Gestaltung der Elegie ab ohne dabei die Leserorientierungslos oder gar bdquoill-preparedldquo im Dunkeln zuruumlckzulassen

Uumlber die Autorin Helen E Neutzler ist seit dem Wintersemester 20132014 BA-Studentin der Faumlcher klassische Philologie und Archaumlologische Wissenschaften an derRuhr-Universitaumlt Bochum Schwerpunkte legt sie in diesen beiden Faumlchern auf Latein unddie klassische Archaumlologie Im Oktober 2014 wurde ihr ein Stipendium des Bildungsfondsder RUB im Rahmen des Deutschlandstipendiums verliehen

Bibliography

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One Cambridge 1998Lehnus (2011) Luigi Lehnus bdquoCallimachus Rediscovered in Papyrildquo in Benjamin Acosta-

Hughes Luigi Lehnus ua (Hgg) Brills Companion to Callimachus Leiden 2011 23ndash38

Littlewood (1983) R Joy Littlewood bdquoHumour in Tibullusldquo ANRW II 303 1983 2128ndash2158

Luck (1959) Georg Luck The Latin Love Elegy London 21969 (1959)Radicke (2006) Jan Radicke bdquoPriapus ein raumltselhafter Liebeslehrer Zur Interpretation

von Tibulls Elegie I 4ldquo Hermes 1342 2006 195ndash210Solmsen (1962) Friedrich Solmsen bdquoTibullus as an Augustan Poetldquo Hermes 90 1962

259ndash325Wilhelm (1896) Friedrich Wilhelm bdquoZu Tibullus (I 4)ldquo in Satura Viadrina Festschrift

zum fuumlnfundzwangzigjaumlhrigen Bestehen des philologischen Vereins zu Breslau Bres-lau 1896 48ndash58

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Page 7: Hellenistische Leuchtfeuer in Tibulls Priapus-Elegie · Hellenistische Leuchtfeuer in Tibulls Priapus-Elegie Transtextuelle Bezüge zur hellenistischen Dichtung und ihre Funktion

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beiden Faumlllen im direkten Zusammenhang mit der KnabenliebeDiese Gemeinsamkeit wird sogar noch verstaumlrkt beruumlcksichtigt man dass der oben

zitierte Ausruf in den Versen 57ndash58 eindeutig aus der Perspektive eines armen Manneserfolgt der dem umworbenen Jungen keine solchen kostbaren Geschenke machen kann umdessen Gunst zu bekommen Dieser Standpunkt findet sich in Kallimachosrsquo Epigramm 32wieder in dem das elegische Ich einem Juumlngling namens Menippos gegenuumlber seine Armuteingesteht und ihn anfleht ihm diese nicht immer wieder vorzuhalten34 Beide Textstellenbeschreiben die Situation eines Mannes der aufgrund seiner Armut in der Knabenliebenicht erfolgreich ist

Des Weiteren faumlllt auf dass sowohl bei Kallimachos als auch bei Tibull der Kultder Kybele im Zusammenhang mit der Verdammung der kaumluflichen Liebe vorkommt35

In der Elegie 14 verflucht Priapus denjenigen der die Musen nicht zu schaumltzen weiszlig auffolgende Weise

At qui non audit Musas qui vendit amoremIdaeae currus ille sequatur OpisEt tercentenas erroribus expleat urbesEt secet ad Phrygios vilia membra modos

Aber wer die Musen nicht houmlrt wer Liebe verkauft jener soll den Wagen derphrygischen Ops36 folgen dreihundert Staumldte auf Irrfahrten durchwandern undsich zu phrygischen Rhythmen seine nutzlosen Glieder abschneiden37

Kallimachos kommentiert im dritten Iambus angesichts seiner Erfolgslosigkeit beimJuumlngling Euthydemos die durch dessen Fixierung auf Reichtum verschuldet ist

[ ] ν μοι τοῦτ᾿rsquoἂν ἦν ὀνήϊσ[το]ν

]υ[] [] Κ[υβή]βῃ τὴν κόμην ἀναρρίπτειν

Φρύγ[α] πρ[ὸς] αὐλὸν ἢ ποδῆρες ἕλκοντα

῎Αδω[ν]ιν αἰαῖ τῆς θεοῦ τὸν ἄνθρωπον

ἰηλεμίζεινmiddot νῦν δ᾿ ὁ μάργος ἐς Μούσας

ἔνευσαmiddot38

Es waumlre wohl dieses fuumlr mich am besten zum phrygischen Floumltenspiel das Haaremporzuwerfen oder das lange Gewand schleppend den Adonis ach weh denMann der Goumlttin zu beweinen jetzt habe ich Toumlrichter mich aber den Musenzugewandt

34 Vgl Call Epigr 32 Pf35 Vgl Dawson (1946) 12 Luck (1959) 96ndash97 Bulloch (1973) 79ndash80 Murgatroyd (1980) 15436 Ops die Frau Saturns ist das roumlmische Aumlquivalent zu Rhea der Frau Kronosrsquo welche die Griechen

wiederum mit Kybele der Goumlttin des Ida verbanden Vgl Murgatroyd (1980) 153ndash15437 Vv 67ndash7038 Call Iamb 3 fr 193 34ndash39 Pf

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HELLENISTISCHE LEUCHTFEUER IN TIBULLS PRIAPUS-ELEGIE

Da hier beide im gleichen Zusammenhang naumlmlich der der Armut geschuldeten Er-folgslosigkeit bei einem Knaben den Kult der Kybele hinzuziehen ist hier eine Beein-flussung Tibulls durch Kallimachos sehr wahrscheinlich Trotz dieser sehr nahen Parallelebesteht jedoch ein deutlicher Unterschied darin dass Kallimachos den Kult der Kybe-le an dem nur Eunuchen teilnahmen genauso wie den des Adonis der nur von Frauengepflegt wurde ironisch als letzten Ausweg aus seiner wenig Erfolg versprechenden Lagedarstellt da er ja durch das Beitreten zu einem dieser Kulte von seiner ungluumlcklichenLiebe befreit waumlre Tibull hingegen verwendet den Kybele-Kult als grausame und ab-schreckende Verfluchung des fuumlr die Musen Unempfaumlnglichen der nur durch materielleGeschenke zu gewinnen ist Er uumlbernimmt zwar die Kybele-Thematik fuumlgt sie aber aufeine voumlllig andere ihm eigene Weise in seine Elegie ein

Die besondere Wertschaumltzung der Dichtkunst durch das elegische Ich wird vor allem indiesem Distichon deutlich Quem referunt Musae vivet dum robora tellus dum caelumstellas dum vehet amnis aquas (Wen die Musen nennen der wird leben solange die ErdeEichen solange der Himmel Sterne solange der Fluss Wasser fuumlhrt)39) In Kallimachosrsquozwoumllftem Iambus hebt Apollon der Heras Tochter zum Geburtstag ein Lied schenkt denbesonderen Wert der Dichtung ganz aumlhnlich hervor ἡ δ᾿ ἐμὴ τῇ παιδὶ καλλίͺστη δόσιςἔστ᾿ ἐμὸν γένειον ἁγνεύῃ ͺ τριχός καὶ ἐρίφοις χαίρωσιν ἅρπͺαγ[ες λ]ύκ[ο]ι (Meine Gabeist aber fuumlr das Kind wunderschoumln so lange mein Kinn von Haar rein ist und sich dieraumluberischen Woumllfe an Zicklein erfreuen)40 waumlhrend die Geschenke der anderen Goumlttermit der Zeit vergehen wuumlrden Bulloch macht in diesem Zusammenhang auf die paralleleSatzkonstruktion mit dum bzw ἔστε aufmerksam41

Alle drei Themen die Armut die scharfe Kritik an kaumluflicher Liebe und die besondereWertschaumltzung der Dichtung finden sich folglich sowohl bei Tibull als auch bei Kallima-chos Tibull kombiniert sie neu baut sie stimmig und kontrastierend in seine Elegie einum die unabdingbare Notwendigkeit des Scheiterns seiner Liebe zu Marathus eindrucks-voll hervorzuheben Zugleich positioniert sich Tibull durch sie deutlich in der Naumlhe zuKallimachos besonders weil die Rede uumlber Dichtung immer auch poetologisch verstandenwerden kann So laumlsst er den Leser bereits vermuten dass seine Elegie auch noch anderekallimacheische oder hellenistische Elemente enthalten koumlnnte

Im abschlieszligenden Kommentar des elegischen Ichs42 laumlsst sich ebenfalls eine intertex-tuelle Beziehung erkennen Das elegische Ich sieht sich nachdem es enthuumlllt hat dassTitius die gewonnenen Informationen gar nicht anwenden kann als erfolgreicher und an-gesehener Lehrer Tempus erit cum me Veneris praecepta ferentem deducat iuvenumsedula turba senem (Die Zeit wird kommen wenn mich als alten Mann waumlhrend ich

39 Vv 65ndash6640 Call Iamb fr 163 67ndash70 Asper Hier wird der Kallimachos-Ausgabe von Asper gefolgt41 Vgl Bulloch (1973) 7942 Vv 73ndash84

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Liebeslehren verbreite eine eifrige Schar junger Maumlnner begleitet)43 Ein aumlhnliches Bildverwendet Kallimachos in den Aitien44

γηράσκει δ᾿ ὁ γέρων κεῖνος ἐλαφρότερον

κοῦροι τὸν φιλέουσιν ἑὸν δέ μιν οἷα γονῆα

χειρὸς ἐπ᾿ οἰκείην ἄχρις ἄγουσι θύρην

Jener Greis altert leichter den die jungen Maumlnner lieben und wie ihren eigenenVater an der Hand gaumlnzlich bis zur Tuumlr seines Hauses fuumlhren45

In beiden Ausschnitten wird die Wertschaumltzung eines alten Mannes durch juumlngere dieihm ein Ehrengeleit geben thematisiert und als wuumlnschens- und erstrebenswert darge-stellt Tibull benutzt diese Vorstellung aber als seinen eigenen Traum er subjektivisiertKallimachosrsquo Vorlage und macht eine allgemein vorgetragene Ansicht zu seiner eigenenWunschvorstellung Dieser Traum des elegischen Ichs hat die Funktion die darauf folgendeEnthuumlllung des eigenen Versagens in der Liebe noch deutlicher hervorzuheben

Tibull uumlbernimmt Ideen Motive Bilder und Vergleiche welche sich meist auf einekonkrete Textstelle zuruumlckfuumlhren lassen die aber oft dennoch in voumlllig neuer Gestalt indie Elegie eingefuumlgt worden sind und sich deshalb manchmal nicht klar von hypertextuel-len Bezuumlgen trennen lassen Besonders seine Aussagen uumlber die Dichtung und die damitverbundenen intertextuellen Bezuumlge zu Kallimachos lassen sich poetologisch deuten DerLeser hat nun erste Orientierungspunkte erhalten die ihm ein tieferes Verstaumlndnis derElegie ermoumlglichen und durch die er auch undeutlichere Beziehungen zur hellenistischenDichtung wahrnehmen kann

4 Neben diesen intertextuellen enthaumllt Tibulls Elegie auch hypertextuelle Beziehun-gen Hierbei nimmt die Elegie entweder durch Transformation also durch die Veraumln-derung einer Vorlage oder durch Nachahmung bestimmter stilistischer Eigenheiten aufeinen anderen Text Bezug Der naumlchste Unterabschnitt wird aufzeigen dass das Prinzipder Transformation am neunten Iambus von Kallimachos nachweisbar ist die restlichenbeschaumlftigen sich mit der Nachahmung bestimmter Merkmale hellenistischer Poesie undihrer Dichter

Die aumluszligere Form der Elegie scheint durch Transformation verschiedener Kallimachos-Fragmente gestaltet worden zu sein Der Dialog mit einer Statue ist gleich mehrmalsin seinen Werken zu finden Neben dem Aitien-Fragment 11446 und dem Epigramm 2447

43 Vv 79ndash8044 Vgl Luck (1959) 98 Bulloch (1973) 76 Maltby (2002) 23745 Call Aet 1fr 41 Pf46 Dialog zwischen Apollo und einer unbekannten Person47 Die Statue eines Helden spricht

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HELLENISTISCHE LEUCHTFEUER IN TIBULLS PRIAPUS-ELEGIE

weist der neunte Iambus der uns abgesehen von zwei Versen auch nur durch den Diegeseis-Papyrus uumlberliefert ist die groumlszligten Uumlbereinstimmungen mit der Elegie 14 auf48

]Φιλη-

τάδου παιδὸς εὐπρεποῦς ἐραστὴς ἰδὼν

῾Ερμοῦ ἄγαλμα ἐν παλαιστριδίῳ ἐντε-

ταμένον πυνθάνεται μὴ διὰ τὸν Φιλη-

τάδαν ῾Ο δέ φησιν ἄνωθεν εἶναι Τυρση-

νὸς καὶ κατὰ μυστικὸν λόγον ἐντε-

τάσθαι ἐπὶ κακῷ δὲ αὐτὸν φιλεῖν τὸν

Φιλητάδαν

Als der Liebhaber des schoumlnen Knaben Philetades auf einer kleinen Palaumlstraein Bildnis eines erigierten Hermes sieht fragt er bdquoEtwa wegen PhiletadesldquoDas Bildnis aber antwortet ihm von oben herab dass es etruskisch sei undwegen einer mystischen Lehre erigiert sei dass seine Liebe zu Philetades aberzum Schlechten gereiche49

In der Elegie und im Kallimachos-Fragment findet der Dialog zwischen einem ithyphal-lischen Gott und einem Knabenliebhaber statt Sowohl die Dialogform die Dialogpartnerals auch das uumlbergeordnete Thema stimmen folglich uumlberein Eine weitere Gemeinsamkeitist die uumlberraschende und ungluumlckliche Wende am Ende des Iambus bzw der Elegie Inbeiden Faumlllen erfaumlhrt der Leser dass eine gluumlckliche Liebesbeziehung unmoumlglich ist Dieseungluumlckliche Wende hat bei Tibull jedoch deutlich mehr Tragweite weil sie das bis dahinnahegelegte Verstaumlndnis der Elegie veraumlndert ja sogar ins Gegenteil verkehrt Durch sieverliert der gesamte Vortrag des Priapus an Bedeutung Des Weiteren unterscheidet sichdie Elegie dadurch dass Tibull Priapus als Gespraumlchspartner auswaumlhlt Doch auch dabeigreift er auf hellenistische Vorstellungen zuruumlck Priapus war im Hellenismus sehr beliebt50

und tritt beispielsweise im ersten Idyll von Theokrit als Liebeslehrer auf51 Aufgrund derUumlbereinstimmung von Hauptthema Form und uumlberraschender Wendung ist es durchausmoumlglich die Elegie 14 als erweiterte und verlaumlngerte Transformation des neunten Iambusvon Kallimachos anzusehen Erkennt der Leser diesen Bezug zur hellenistischen Dichtungschon beim Lesen wird er etwas auf das uumlberraschende Ende vorbereitet wenn nichtwird er ihm wohl spaumltestens nach dem Lesen der Schlusspointe deutlich werden so dassdie Freude des Wiedererkennens des Iambus im zweiten Lesedurchgang ihre volle Wir-kung entfalten kann und dem Leser mehr und mehr Parallelen zwischen der Elegie und

48 Vgl Dawson (1946) 12ndash13 Luck (1959) 93 Bulloch (1973) 78ndash79 Cairns (1979) 189ndash190 Murgatroyd(1980) 130 Maltby (2002) 216

49 Dieg 833ndash40 zu Call Iamb 9 Pf50 Vgl Murgatroyd (1980) 129ndash131 Maltby (2002) 21651 Hier allerdings ohne den Kontext der Knabenliebe Vgl Theoc Id 180ndash92

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hellenistischer Dichtung auffallen

Neben dieser Transformation ist aber auch die Nachahmung von einigen Eigenheitender hellenistischen Poesie nachweisbar Eines der Merkmale der hellenistischen Poesie istdas Taumluschen des Lesers52 Diese Tendenz bezeichnet Asper in Bezug auf Kallimachosauch als bdquoEindruck der Unberechenbarkeitldquo53 Als Beispiel fuumlr diese Unberechenbarkeitkann der oben vorgestellte neunte Iambus von Kallimachos dienen Auch Theokrits vier-tes Epigramm waumlre ein Beispiel in dem ein Liebender einem Hirten zunaumlchst auftraumlgtPriapus zu bitten ihn von seiner Liebe zu erloumlsen dann aber deutlich macht dass er sichin Wahrheit eine gluumlckliche Liebesbeziehung wuumlnscht54

Die Tendenz den Leser bestaumlndig in die Irre zu fuumlhren ist in Tibulls vierter Elegiesehr deutlich Schon zu Beginn spielt Tibull mit den Lesererwartungen Nach dem erstenVers Sic umbrosa tibi contingant tecta Priape (So moumlgen dir Priapus schattenspendendeDaumlcher zuteilwerden)55 koumlnnte der Leser wohl vor allem durch das an ein rituelles Gebeterinnernde einleitende sic56 noch annehmen dass nun ein Gebet zu Priapus folgt Wenigspaumlter wird jedoch die eigentliche Absicht des elegischen Ichs deutlich Quae tua formo-sos cepit sollertia (Welche dir eigene Faumlhigkeit haumllt die schoumlnen Juumlnglinge gefangen)57

Der Gott wird als Ratgeber in der Knabenliebe angerufen Der anfaumlngliche Eindruck ei-nes unmittelbaren Dialogs wird jedoch durch den erzaumlhlenden Einschub in den Versen7ndash8 aufgeloumlst58 Erst jetzt erfaumlhrt der Leser dass es sich gar nicht um einen unmittelbarstattfindenden sondern um einen durch das elegische Ich wiedergegebenen Dialog han-delt Durch die Einfuumlhrung des Priapus als jemanden ohne gepflegtes Aumluszligeres59 und diespottende Beschreibung des Priapus als Bacchi rustica proles armatus curva falcedeus (Der baumluerliche Nachkomme des Bacchus der Gott bewaffnet mit einer gekruumlmm-ten Sichel)60 werden beim Leser keine groszligen Erwartungen bezuumlglich des nun folgendenVortrages geweckt Es schlieszligt sich jedoch ein rhetorisch ausgefeilter wohl gegliederter61

Lehrvortrag an Im abschlieszligenden Monolog des elegischen Ichs wird dann das deutlichwas Cairns als bdquoTibullan trick endingldquo62 bezeichnet Hier haumlufen sich die den Leser uumlberra-schenden Wendungen im Handlungsverlauf Bisher wurde der Leser im Glauben gelassendas elegische Ich erfrage alle Ratschlaumlge fuumlr sich selbst Nun erfaumlhrt er aber dass es diese

52 Vgl Cairns (1979) 166ndash19153 Asper (2004) 5154 Vgl Theoc Ep 455 V 156 Vgl Maltby (2002) 216ndash21757 V 358 Vgl Radicke (2006) 20559 Vgl V 460 Vv 6ndash761 In seiner Rede bedient sich Priapus vieler rhetorischer Stilfiguren Besonders haumlufig werden Ana-

phern verwendet (Vgl Vv 111213 Vv 1718 Vv 1920 Vv 28293031 Vv 4143) Sein Vortrag istdaruumlber hinaus noch kunstvoll in sich verlaumlngernde Abschnitte gegliedert von denen die ersten drei aus jedrei Distichen bestehen auf die dann Abschnitte aus sechs neun und acht Distichen folgen Vgl Radicke(2006) 197 Murgatroyd (1980) 128

62 Cairns (1979) 173

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HELLENISTISCHE LEUCHTFEUER IN TIBULLS PRIAPUS-ELEGIE

nur fuumlr einen gewissen Titius in Erfahrung gebracht habe63 Doch damit nicht genug SedTitium coniunx haec meminisse vetat (Aber seine Frau verbietet Titius sich daran zuerinnern)64 Da Titius nun aber gar keinen Gebrauch von seinen Lehren machen kanngibt sich das elegische Ich im Folgenden einer Vision von sich selbst als Liebeslehrer hinMe qui spernuntur amantes consultent (Moumlgen mich die Liebenden die zuruumlckgewie-sen werden um Rat fragen)65 Doch auch diese vom Leser nach zweimaliger Irrefuumlhrunggerade erst gewonnene Information wird sofort wieder fuumlr unguumlltig erklaumlrt Das elegischeIch wird selbst von einem Knaben zuruumlckgewiesen und gequaumllt66 Es wird klar dass daselegische Ich alle Ratschlaumlge doch zumindest zum Teil auch fuumlr sich erfragt hat selbst inder Knabenliebe wenig erfolgreich und somit auch nur wenig als Liebeslehrer geeignet istDurch das verzweifelte Flehen Parce puer quaeso (Verschone mich Junge bitte)67 wirddie Hilflosigkeit des elegischen Ichs deutlich Alle vorher gegebenen Ratschlaumlge sind in derLiebe voumlllig nutzlos

Tibull fuumlhrt seine Leser also wiederholt in die Irre indem er ganz bewusst Infor-mationen zuruumlckhaumllt oder die bisherigen Erwartungen des Lesers enttaumluscht Dadurchgelingt es ihm nicht nur den Leser zu unterhalten sondern auch ihn waumlhrend der gan-zen Elegie in einem Zustand der staumlndigen Spannung verharren zu lassen Auch koumlnnteman meinen dass durch diese staumlndigen Taumluschungen die Unberechenbarkeit und die Un-vorhersehbarkeit der Liebe unterstrichen werden Genauso wie der Leser im Verlauf derElegie nie wirklich sicher sein kann woran er ist ist auch der Liebende nie wirklich aufder sicheren Seite kann die Reaktion des anderen nie vorausplanen muss immer mit demUnvorstellbaren rechnen

Ein weiteres hellenistisches Merkmal das Tibull nachahmt ist die Ironie Kallima-chosrsquo bdquointelligenter Witzldquo68 und Theokrits bdquofelicitously ironic and grotesque effectsldquo69 dieoft durch das Versetzen von Elementen der staumldtischen Kultur zu einfachen Schafhirtenhervorgerufen werden70 koumlnnen durchaus als Vorbilder fuumlr die feine Ironie gedient habendie die gesamte Elegie durchzieht

Schon allein der Gedanke dass die unvorhersehbare Liebe die sich keinen Regeln un-terwirft durch eine bestimmte Technik oder durch das Einhalten bestimmter Ratschlaumlgeerlernt berechnet oder beherrscht werden kann ist amuumlsant71 Derselben Idee wird sichspaumlter auch Ovid in seiner Ars amatoria bedienen

Aber auch der Gott Priapus wird auf sehr ironische und belustigende Weise ein-

63 Vgl V 7364 V 7465 Vv 77ndash7866 Vgl V 8167 V 8368 Asper (2004) 5369 Giangrande (1986) 4970 Vgl ebd71 Vgl Littlewood (1983) 2152

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gefuumlhrt Zunaumlchst wird er dem Leser dem allgemeinem Bild von ihm entsprechend alswenig gepflegter Gott72 als rusticus und armatus curva falce73 vorgestellt Dann ist daszum Lehrvortrag uumlberleitende Distichon74 aber durch sehr poetische und ernste Spracheausgestaltet Es wird das archaische Wort proles75 verwendet das einen feierlichen undernsthaften Ton hat76 das sic ego77 erinnert an epischen Sprachgebrauch78 und die Haumlu-figkeit von Spondeen steigt deutlich an79 so dass die Ernsthaftigkeit und Bedeutung desDistichons deutlich gesteigert werden Somit dient das Distichon nicht nur als Uumlberleitungvon der Rede des elegischen Ichs zu der des Gottes sondern verwandelt auch vor den geis-tigen Augen des augusteischen Lesers den ihm als einfach ungebildet und ithyphallischbekannten Gartengott Priapus in eine ernstzunehmende fast schon heroische LehrpersonDiese Art Ironie durch den Gegensatz zwischen heroischer Uumlberhoumlhung und baumluerlicherEinfachheit zu erzeugen erinnert ein wenig an die von Giangrande beschriebene IronieTheokrits

Es folgt der Vortrag des Priapus selbst der von Maltby als bdquomock-didacticldquo80 be-schrieben wird Dieser Eindruck kommt durch den Gegensatz zwischen dem formell vor-getragenen und rhetorisch ausgearbeiteten Vortrag des Priapus und dem eher informellenThema und der Tatsache dass Priapusrsquo praecepta hauptsaumlchlich auf allgemeinen Banalitauml-ten fuszligen zustande Dies vermag schon die naumlhere Untersuchung des ersten praeceptum81

der Rede zu zeigen Der Rat nicht gleich aufzugeben sondern Geduld zu haben wird bei-spielsweise durch das Bild von Menschen die es im Laufe der Zeit schaffen sogar Loumlwenzu zaumlhmen von Wasser das mit der Zeit einen Stein aushoumlhlen kann von Trauben diein der Sonne reifen und von Sternen die sich auf ihren festgelegten Bahnen fortbewegenkunstvoll illustriert82 Die besondere Macht der Zeit wird durch die Anaphern von longadies83 und annus84 hervorgehoben Gleichzeitig ist es voumlllig offenbar dass der Rat ab-zuwarten und die Zeit fuumlr sich arbeiten zu lassen kein voumlllig neuer vorher unbekannterGeniestreich des Priapus ist Dennoch scheint er vom Liebesratgeber Priapus voumlllig ernstgenommen und fuumlr aumluszligerst wichtig gehalten zu werden Dadurch entsteht ein uumlberaus iro-nischer Eindruck Dieses Prinzip eine sorgfaumlltige Gliederung in praeceptum gefolgt vonBeispielen und stilistischen Figuren bei eigentlich trivialen Ratschlaumlgen ist auch bei allenfolgenden Abschnitten der Rede festzustellen

72Vgl V 473 Vgl Vv 7ndash874 Vv 7ndash875 V 776 Murgatroyd (1980) 13477 V 678 Vgl Maltby (2002) 21879 Vgl Littlewood (1983) 215380 Malbty (2002) 21581 Vv 15ndash2082 Vgl Vv 17-2083 Vv 171884 Vv 1920

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In der finalen Wendung der Elegie kommt eine ganz neue Nuance von Ironie zumTragen Nachdem vorher Ironie auf Kosten des Priapus eingesetzt worden ist wird durchdas Eingestehen der eigenen Machtlosigkeit durch das elegische Ich85 nun noch der Aspektder Selbstironie hinzugefuumlgt Das elegische Ich das sich vorher noch ausgemalt hat dasseine Schar junger Maumlnner es deducat86 was ein Fachausdruck fuumlr das Ehrengeleit einerbedeutenden Persoumlnlichkeit oder eines Politikers darstellt87verliert so all seine Autoritaumltmuss gar befuumlrchten dass die Leser es auslachen werden88 Doch nicht nur das elegischeIch wird so ins Laumlcherliche gezogen die gesamte Elegie verliert durch die Erkenntnisdass alle Ratschlaumlge im Angesicht der Liebe nur vana magisteria (leere Lehren)89 sindihre Aussagekraft und Bedeutung Diese Bedeutungslosigkeit und die daraus resultieren-de Hilfslosigkeit werden durch die Positionierung dieses Ausdrucks am Schluss der Elegiehervorgehoben Zu der wirkungsvollen Stellung kommt die Besonderheit dass hier mitmagisteria ein fuumlnfsilbiges Wort am Ende des Pentameter steht was ansonsten von Ti-bull eher vermieden wird90 Die Elegie endet folglich mit der Feststellung dass sie ihrenvordergruumlndigen Sinn das Geben von Ratschlaumlgen fuumlr die Knabenliebe nicht erfuumlllenkonnte Diese Form der Ironie beschreibt Luck deshalb vielleicht nicht ganz zu Unrechtals bdquotouch of romantic ironyldquo91

Um die Funktion der Ironie besser verstehen zu koumlnnen ist Radickes Aufsatz uumlberdie Elegie 14 in dem er feststellt dass die Rede des Priapus durch bdquounzuverlaumlssige Redeldquogekennzeichnet ist aumluszligerst hilfreich92 Auf diese bdquounzuverlaumlssige Redeldquo werde schon vorder Schlusspointe hingewiesen indem Priapus schon waumlhrend seines Lehrvortrags mit zu-nehmender Deutlichkeit zwischen seiner vordergruumlndigen Rolle als Liebeslehrer und derRolle des verschmaumlhten Liebhabers die ja eigentlich dem elegischen Ich zukommt hinund her springe Dies werde dadurch deutlich dass einige Abschnitte der Rede wie zBdie Warnung vor der Liebe93 oder die Kritik an kaumluflicher Liebe94 eindeutig aus Sichteines ungluumlcklichen Liebhabers erfolgen waumlhrend andere durchaus zur Rolle als Liebes-lehrer passen95 Dadurch werde offenbar dass es sich bei dem durch das elegische Ichwiedergegebenen Dialog gar nicht um einen solchen handle sondern Priapus vielmehr dieFunktion einer bdquoMaske durch die das elegische Ich seine Gefuumlhle mitteilt oder bessergesagt seine Gefuumlhle zu verbergen suchtldquo96 erfuumlllt und der Lehrvortrag als letzter ver-zweifelter Versuch zu werten sei Marathus von sich zu uumlberzeugen Auch die Tatsache

85 Vgl Vv 81ndash8486 V 8087 Vgl Georges s V deduco II e ζ αα88 Vgl V 8489 V 8490 Vgl Maltby (2002) 23991 Luck (1959) 9992 Vgl Radicke (2006)93 Vv 8ndash1694 Vv 57ndash7295 Vv 15ndash20 21ndash26 39ndash5096 Ebd 202

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dass die Elegie von Beginn an von Ironie durchzogen wird die zum Ende hin immer staumlr-ker wird koumlnnte als Hinweis auf diese bdquounzuverlaumlssige Redeldquo gewertet werden Der Leserwird durch die ironische Einfuumlhrung des Priapus gleich darauf hingewiesen dass dieser alsLiebeslehrer nicht ganz ernst zu nehmen ist Der Gegensatz zwischen Ernsthaftigkeit undtrivialen Ratschlaumlgen in der Rede verweist zusaumltzlich zum Gegensatz zwischen der Rolledes Liebeslehrers und des Liebenden noch deutlicher auf die Maskenfunktion des Priapusbis schlieszliglich die letzte Wendung der Elegie keinen Zweifel mehr an der Tatsache laumlsstdass der Lehrvortrag des Priapus nur ein verzweifelter Versuch des elegischen Ichs ist dieeigene Hilfslosigkeit zu verbergen

Eine weitere Parallele zur hellenistischen Poesie ist die Ringkomposition in Tibulls Ele-gie 14 Die Ringkomposition bei der eine bestimmte Anzahl von Themen bis zu einemzentralen Punkt behandelt werden die dann nach diesem in der umgekehrten Reihen-folge wieder behandelt werden ist zwar schon seit Homer zu finden da sie anfaumlnglichwohl vor allem als Gedaumlchtnisstuumltze bei muumlndlicher Poesie diente97 Sie nimmt aber aucheinen wichtigen Platz in der hellenistischen Dichtung mit ihrer hohen Wertschaumltzung vonformalen Strukturen ein und laumlsst sich beispielsweise in Theokrits Idyll 28 wiederfinden98

Bei den Abschnitten in die sich die vierte Elegie gliedert faumlllt ein aumlhnliches Prinzipauf99 Die einleitende Anrede100 (A1) steht dem anschlieszligenden Kommentar des elegi-schen Ichs101 (A2) gegenuumlber die Warnung des Priapus vor der Knabenliebe102 (B1) derKritik an kaumluflicher Liebe und dem Lobpreis der Dichtung103 (B2) und die Passagen indenen Priapus zur Geduld und zu falschen Schwuumlren auffordert104 (C1) dem Aufruf da-zu den Wuumlnschen des Geliebten zu folgen105 (C2) Das Mittelstuumlck das als Spiegelachsedient bildet der Abschnitt (D) in dem auf die Vergaumlnglichkeit der Jungend aufmerksamgemacht wird106 (A2) kommentiert sein Gegenstuumlck ironisch indem es (A1) als voumllligsinnlos enthuumlllt und (B2) gibt einen moumlglichen Grund fuumlr die Warnung in (B1) an107

Auffaumlllig ist jedoch auch dass sich mit (B1) und (B2) zwei Abschnitte gegenuumlberstehenin denen Priapus seine ihm zugewiesene Rolle als Liebeslehrer verlaumlsst waumlhrend in (C1)und (C2) Priapus seine Rolle als Liebeslehrer erfuumlllt Der Abschnitt (D) nimmt zu Rechtdie wichtige Mittelstellung ein weil hier der verzweifelte Versuch des lyrischen Ichs Ma-rathus durch den vorgeschobenen Liebeslehrer Priapus doch noch fuumlr sich zu gewinnenbesonders deutlich durchschimmert Das Argument der Vergaumlnglichkeit der Jugend und

97 Vgl Cairns (1979) 195ndash19698 Vgl ebd 193ndash194 20299 Vgl ebd 207ndash208

100 Vv 1ndash8101 Vv 73-84102 Vv 9ndash14103 Vv 57ndash72104 V 15ndash26105 Vv 39ndash56106 Vv 27ndash38 Vgl ebd 207107 Vgl ebd

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HELLENISTISCHE LEUCHTFEUER IN TIBULLS PRIAPUS-ELEGIE

die daraus folgende Aufforderung die verbleibende Zeit zu nutzen wird naumlmlich vorrangigvon Liebenden verwendet um den Geliebten oder die Geliebte von einer Beziehung zuuumlberzeugen108 Tibull selbst verwendet diese Argumentation an anderer Stelle um seineDelia von sich zu uumlberzeugen109 Mit Abschnitt (D) steht folglich ein Abschnitt im Mit-telpunkt der unweigerlich die Doppelrolle des Priapus als Liebeslehrer einerseits und alsungluumlcklicher Liebender andererseits offenbart

Trotz der wiederholten Taumluschung des Lesers und der Ironie liegt der Elegie alsoauch eine klare Gliederung zu Grunde die dafuumlr sorgt dass der Leser nicht voumlllig die Ori-entierung verliert und ebenfalls die besondere Rolle des Priapus als Maske des elegischenIchs hervorhebt

5 Mit Hilfe der durch Genette gepraumlgten Begriffe der Inter- und der Hypertextualitaumltlassen sich folglich viele verschiedene Einwirkungen hellenistischer Poesie auf die vierteElegie ausmachen Auch wenn es nicht immer leicht ist beide Begriffe klar voneinanderabzugrenzen haben sie es doch ermoumlglicht die verschiedenen Arten der Einwirkung einesTextes auf einen anderen zu unterscheiden und so ein systematisches detaillierteres undvollstaumlndigeres Bild der Beziehungen zwischen hellenistischer Dichtung und Tibulls Elegieaufzuzeigen

Intertextuelle Beziehungen lassen sich besonders deutlich zwischen Tibull und Kal-limachosrsquo Aitien Iamben und Epigrammen ausmachen Diese werden sinnvoll und pro-duktiv in die Elegie eingebunden und stets verwendet um den Inhalt der Elegie deut-licher hervorzuheben Gleichzeitig lassen sie sich auch poetologisch deuten Die groszligenAumlhnlichkeiten zu Kallimachos besonders im letzten Teil der Elegie110 sind auf eine Wie-dererkennung durch den Leser ausgelegt und verdeutlichen ihm dass sich in der Elegienoch weitere nicht so direkte und woumlrtliche Bezuumlge zu Kallimachos im Besonderen undzur hellenistischen Dichtung im Allgemeinen finden lassen Sie bewirken dass der Lesernach weiteren indirekteren Parallelen sucht und bereits nach der typischen hellenistischenIronie und Unberechenbarkeit oder aumlhnlichen Merkmalen der hellenistischen DichtungAusschau haumllt

Diese indirekteren von Genette als hypertextuell bezeichneten Beziehungen lassensich in der Tat ebenfalls in groszliger Zahl in der Elegie wiederfinden Die Elegie wurdewohl nach dem Vorbild von Kallimachosrsquo neuntem Iambus gestaltet Auszligerdem werdenauch sie konsequent verwendet um den Inhalt kunstvoll zu unterstreichen und dem Le-ser das Verstaumlndnis der gesamten Elegie zu erleichtern Die Ironie weist eindeutig auf dieMaskenfunktion des Priapus hin die haumlufigen Uumlberraschungen fuumlr den Leser auf die Unbe-staumlndigkeit der Liebe Durch die Ringkomposition bietet Tibull dem Leser aber dennochnoch einige Orientierungshilfen durch die sich die Elegie leichter verstehen laumlsst

108 Vgl ebd Radicke (2006) 199109 Vgl Tib 1168ndash78110 Vv 57ndash84

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HELEN E NEUTZLER

Die Funktion der transtextuellen Beziehungen ist es daher die Aussage hervorzuhe-ben dass Liebe nicht gelehrt nicht erlernt und nicht beherrscht werden kann Sie werdennicht einfach um ihrer selbst willen uumlbernommen sondern veraumlndert neu angeordnetund zu etwas voumlllig Neuem zu einer subjektiven Liebesgeschichte zusammengefuumlgt Zu-gleich werden sie jedoch nicht so verfremdet dass der Leser sie nicht wiedererkennen kannDurch die Beziehungen zur hellenistischen Dichtung schafft Tibull deutlich hervorstechen-de Orientierungspunkte fuumlr den Leser und hebt dabei zugleich die Botschaft der absolutenHilfslosigkeit in der Liebe gekonnt auszligergewoumlhnlich und aumluszligerst unterhaltsam hervor jabildet sie sogar ganz konkret durch die Gestaltung der Elegie ab ohne dabei die Leserorientierungslos oder gar bdquoill-preparedldquo im Dunkeln zuruumlckzulassen

Uumlber die Autorin Helen E Neutzler ist seit dem Wintersemester 20132014 BA-Studentin der Faumlcher klassische Philologie und Archaumlologische Wissenschaften an derRuhr-Universitaumlt Bochum Schwerpunkte legt sie in diesen beiden Faumlchern auf Latein unddie klassische Archaumlologie Im Oktober 2014 wurde ihr ein Stipendium des Bildungsfondsder RUB im Rahmen des Deutschlandstipendiums verliehen

Bibliography

Textausgaben und Kommentare

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Monographien und Aufsaumltze

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zum fuumlnfundzwangzigjaumlhrigen Bestehen des philologischen Vereins zu Breslau Bres-lau 1896 48ndash58

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Page 8: Hellenistische Leuchtfeuer in Tibulls Priapus-Elegie · Hellenistische Leuchtfeuer in Tibulls Priapus-Elegie Transtextuelle Bezüge zur hellenistischen Dichtung und ihre Funktion

HELLENISTISCHE LEUCHTFEUER IN TIBULLS PRIAPUS-ELEGIE

Da hier beide im gleichen Zusammenhang naumlmlich der der Armut geschuldeten Er-folgslosigkeit bei einem Knaben den Kult der Kybele hinzuziehen ist hier eine Beein-flussung Tibulls durch Kallimachos sehr wahrscheinlich Trotz dieser sehr nahen Parallelebesteht jedoch ein deutlicher Unterschied darin dass Kallimachos den Kult der Kybe-le an dem nur Eunuchen teilnahmen genauso wie den des Adonis der nur von Frauengepflegt wurde ironisch als letzten Ausweg aus seiner wenig Erfolg versprechenden Lagedarstellt da er ja durch das Beitreten zu einem dieser Kulte von seiner ungluumlcklichenLiebe befreit waumlre Tibull hingegen verwendet den Kybele-Kult als grausame und ab-schreckende Verfluchung des fuumlr die Musen Unempfaumlnglichen der nur durch materielleGeschenke zu gewinnen ist Er uumlbernimmt zwar die Kybele-Thematik fuumlgt sie aber aufeine voumlllig andere ihm eigene Weise in seine Elegie ein

Die besondere Wertschaumltzung der Dichtkunst durch das elegische Ich wird vor allem indiesem Distichon deutlich Quem referunt Musae vivet dum robora tellus dum caelumstellas dum vehet amnis aquas (Wen die Musen nennen der wird leben solange die ErdeEichen solange der Himmel Sterne solange der Fluss Wasser fuumlhrt)39) In Kallimachosrsquozwoumllftem Iambus hebt Apollon der Heras Tochter zum Geburtstag ein Lied schenkt denbesonderen Wert der Dichtung ganz aumlhnlich hervor ἡ δ᾿ ἐμὴ τῇ παιδὶ καλλίͺστη δόσιςἔστ᾿ ἐμὸν γένειον ἁγνεύῃ ͺ τριχός καὶ ἐρίφοις χαίρωσιν ἅρπͺαγ[ες λ]ύκ[ο]ι (Meine Gabeist aber fuumlr das Kind wunderschoumln so lange mein Kinn von Haar rein ist und sich dieraumluberischen Woumllfe an Zicklein erfreuen)40 waumlhrend die Geschenke der anderen Goumlttermit der Zeit vergehen wuumlrden Bulloch macht in diesem Zusammenhang auf die paralleleSatzkonstruktion mit dum bzw ἔστε aufmerksam41

Alle drei Themen die Armut die scharfe Kritik an kaumluflicher Liebe und die besondereWertschaumltzung der Dichtung finden sich folglich sowohl bei Tibull als auch bei Kallima-chos Tibull kombiniert sie neu baut sie stimmig und kontrastierend in seine Elegie einum die unabdingbare Notwendigkeit des Scheiterns seiner Liebe zu Marathus eindrucks-voll hervorzuheben Zugleich positioniert sich Tibull durch sie deutlich in der Naumlhe zuKallimachos besonders weil die Rede uumlber Dichtung immer auch poetologisch verstandenwerden kann So laumlsst er den Leser bereits vermuten dass seine Elegie auch noch anderekallimacheische oder hellenistische Elemente enthalten koumlnnte

Im abschlieszligenden Kommentar des elegischen Ichs42 laumlsst sich ebenfalls eine intertex-tuelle Beziehung erkennen Das elegische Ich sieht sich nachdem es enthuumlllt hat dassTitius die gewonnenen Informationen gar nicht anwenden kann als erfolgreicher und an-gesehener Lehrer Tempus erit cum me Veneris praecepta ferentem deducat iuvenumsedula turba senem (Die Zeit wird kommen wenn mich als alten Mann waumlhrend ich

39 Vv 65ndash6640 Call Iamb fr 163 67ndash70 Asper Hier wird der Kallimachos-Ausgabe von Asper gefolgt41 Vgl Bulloch (1973) 7942 Vv 73ndash84

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Liebeslehren verbreite eine eifrige Schar junger Maumlnner begleitet)43 Ein aumlhnliches Bildverwendet Kallimachos in den Aitien44

γηράσκει δ᾿ ὁ γέρων κεῖνος ἐλαφρότερον

κοῦροι τὸν φιλέουσιν ἑὸν δέ μιν οἷα γονῆα

χειρὸς ἐπ᾿ οἰκείην ἄχρις ἄγουσι θύρην

Jener Greis altert leichter den die jungen Maumlnner lieben und wie ihren eigenenVater an der Hand gaumlnzlich bis zur Tuumlr seines Hauses fuumlhren45

In beiden Ausschnitten wird die Wertschaumltzung eines alten Mannes durch juumlngere dieihm ein Ehrengeleit geben thematisiert und als wuumlnschens- und erstrebenswert darge-stellt Tibull benutzt diese Vorstellung aber als seinen eigenen Traum er subjektivisiertKallimachosrsquo Vorlage und macht eine allgemein vorgetragene Ansicht zu seiner eigenenWunschvorstellung Dieser Traum des elegischen Ichs hat die Funktion die darauf folgendeEnthuumlllung des eigenen Versagens in der Liebe noch deutlicher hervorzuheben

Tibull uumlbernimmt Ideen Motive Bilder und Vergleiche welche sich meist auf einekonkrete Textstelle zuruumlckfuumlhren lassen die aber oft dennoch in voumlllig neuer Gestalt indie Elegie eingefuumlgt worden sind und sich deshalb manchmal nicht klar von hypertextuel-len Bezuumlgen trennen lassen Besonders seine Aussagen uumlber die Dichtung und die damitverbundenen intertextuellen Bezuumlge zu Kallimachos lassen sich poetologisch deuten DerLeser hat nun erste Orientierungspunkte erhalten die ihm ein tieferes Verstaumlndnis derElegie ermoumlglichen und durch die er auch undeutlichere Beziehungen zur hellenistischenDichtung wahrnehmen kann

4 Neben diesen intertextuellen enthaumllt Tibulls Elegie auch hypertextuelle Beziehun-gen Hierbei nimmt die Elegie entweder durch Transformation also durch die Veraumln-derung einer Vorlage oder durch Nachahmung bestimmter stilistischer Eigenheiten aufeinen anderen Text Bezug Der naumlchste Unterabschnitt wird aufzeigen dass das Prinzipder Transformation am neunten Iambus von Kallimachos nachweisbar ist die restlichenbeschaumlftigen sich mit der Nachahmung bestimmter Merkmale hellenistischer Poesie undihrer Dichter

Die aumluszligere Form der Elegie scheint durch Transformation verschiedener Kallimachos-Fragmente gestaltet worden zu sein Der Dialog mit einer Statue ist gleich mehrmalsin seinen Werken zu finden Neben dem Aitien-Fragment 11446 und dem Epigramm 2447

43 Vv 79ndash8044 Vgl Luck (1959) 98 Bulloch (1973) 76 Maltby (2002) 23745 Call Aet 1fr 41 Pf46 Dialog zwischen Apollo und einer unbekannten Person47 Die Statue eines Helden spricht

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HELLENISTISCHE LEUCHTFEUER IN TIBULLS PRIAPUS-ELEGIE

weist der neunte Iambus der uns abgesehen von zwei Versen auch nur durch den Diegeseis-Papyrus uumlberliefert ist die groumlszligten Uumlbereinstimmungen mit der Elegie 14 auf48

]Φιλη-

τάδου παιδὸς εὐπρεποῦς ἐραστὴς ἰδὼν

῾Ερμοῦ ἄγαλμα ἐν παλαιστριδίῳ ἐντε-

ταμένον πυνθάνεται μὴ διὰ τὸν Φιλη-

τάδαν ῾Ο δέ φησιν ἄνωθεν εἶναι Τυρση-

νὸς καὶ κατὰ μυστικὸν λόγον ἐντε-

τάσθαι ἐπὶ κακῷ δὲ αὐτὸν φιλεῖν τὸν

Φιλητάδαν

Als der Liebhaber des schoumlnen Knaben Philetades auf einer kleinen Palaumlstraein Bildnis eines erigierten Hermes sieht fragt er bdquoEtwa wegen PhiletadesldquoDas Bildnis aber antwortet ihm von oben herab dass es etruskisch sei undwegen einer mystischen Lehre erigiert sei dass seine Liebe zu Philetades aberzum Schlechten gereiche49

In der Elegie und im Kallimachos-Fragment findet der Dialog zwischen einem ithyphal-lischen Gott und einem Knabenliebhaber statt Sowohl die Dialogform die Dialogpartnerals auch das uumlbergeordnete Thema stimmen folglich uumlberein Eine weitere Gemeinsamkeitist die uumlberraschende und ungluumlckliche Wende am Ende des Iambus bzw der Elegie Inbeiden Faumlllen erfaumlhrt der Leser dass eine gluumlckliche Liebesbeziehung unmoumlglich ist Dieseungluumlckliche Wende hat bei Tibull jedoch deutlich mehr Tragweite weil sie das bis dahinnahegelegte Verstaumlndnis der Elegie veraumlndert ja sogar ins Gegenteil verkehrt Durch sieverliert der gesamte Vortrag des Priapus an Bedeutung Des Weiteren unterscheidet sichdie Elegie dadurch dass Tibull Priapus als Gespraumlchspartner auswaumlhlt Doch auch dabeigreift er auf hellenistische Vorstellungen zuruumlck Priapus war im Hellenismus sehr beliebt50

und tritt beispielsweise im ersten Idyll von Theokrit als Liebeslehrer auf51 Aufgrund derUumlbereinstimmung von Hauptthema Form und uumlberraschender Wendung ist es durchausmoumlglich die Elegie 14 als erweiterte und verlaumlngerte Transformation des neunten Iambusvon Kallimachos anzusehen Erkennt der Leser diesen Bezug zur hellenistischen Dichtungschon beim Lesen wird er etwas auf das uumlberraschende Ende vorbereitet wenn nichtwird er ihm wohl spaumltestens nach dem Lesen der Schlusspointe deutlich werden so dassdie Freude des Wiedererkennens des Iambus im zweiten Lesedurchgang ihre volle Wir-kung entfalten kann und dem Leser mehr und mehr Parallelen zwischen der Elegie und

48 Vgl Dawson (1946) 12ndash13 Luck (1959) 93 Bulloch (1973) 78ndash79 Cairns (1979) 189ndash190 Murgatroyd(1980) 130 Maltby (2002) 216

49 Dieg 833ndash40 zu Call Iamb 9 Pf50 Vgl Murgatroyd (1980) 129ndash131 Maltby (2002) 21651 Hier allerdings ohne den Kontext der Knabenliebe Vgl Theoc Id 180ndash92

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hellenistischer Dichtung auffallen

Neben dieser Transformation ist aber auch die Nachahmung von einigen Eigenheitender hellenistischen Poesie nachweisbar Eines der Merkmale der hellenistischen Poesie istdas Taumluschen des Lesers52 Diese Tendenz bezeichnet Asper in Bezug auf Kallimachosauch als bdquoEindruck der Unberechenbarkeitldquo53 Als Beispiel fuumlr diese Unberechenbarkeitkann der oben vorgestellte neunte Iambus von Kallimachos dienen Auch Theokrits vier-tes Epigramm waumlre ein Beispiel in dem ein Liebender einem Hirten zunaumlchst auftraumlgtPriapus zu bitten ihn von seiner Liebe zu erloumlsen dann aber deutlich macht dass er sichin Wahrheit eine gluumlckliche Liebesbeziehung wuumlnscht54

Die Tendenz den Leser bestaumlndig in die Irre zu fuumlhren ist in Tibulls vierter Elegiesehr deutlich Schon zu Beginn spielt Tibull mit den Lesererwartungen Nach dem erstenVers Sic umbrosa tibi contingant tecta Priape (So moumlgen dir Priapus schattenspendendeDaumlcher zuteilwerden)55 koumlnnte der Leser wohl vor allem durch das an ein rituelles Gebeterinnernde einleitende sic56 noch annehmen dass nun ein Gebet zu Priapus folgt Wenigspaumlter wird jedoch die eigentliche Absicht des elegischen Ichs deutlich Quae tua formo-sos cepit sollertia (Welche dir eigene Faumlhigkeit haumllt die schoumlnen Juumlnglinge gefangen)57

Der Gott wird als Ratgeber in der Knabenliebe angerufen Der anfaumlngliche Eindruck ei-nes unmittelbaren Dialogs wird jedoch durch den erzaumlhlenden Einschub in den Versen7ndash8 aufgeloumlst58 Erst jetzt erfaumlhrt der Leser dass es sich gar nicht um einen unmittelbarstattfindenden sondern um einen durch das elegische Ich wiedergegebenen Dialog han-delt Durch die Einfuumlhrung des Priapus als jemanden ohne gepflegtes Aumluszligeres59 und diespottende Beschreibung des Priapus als Bacchi rustica proles armatus curva falcedeus (Der baumluerliche Nachkomme des Bacchus der Gott bewaffnet mit einer gekruumlmm-ten Sichel)60 werden beim Leser keine groszligen Erwartungen bezuumlglich des nun folgendenVortrages geweckt Es schlieszligt sich jedoch ein rhetorisch ausgefeilter wohl gegliederter61

Lehrvortrag an Im abschlieszligenden Monolog des elegischen Ichs wird dann das deutlichwas Cairns als bdquoTibullan trick endingldquo62 bezeichnet Hier haumlufen sich die den Leser uumlberra-schenden Wendungen im Handlungsverlauf Bisher wurde der Leser im Glauben gelassendas elegische Ich erfrage alle Ratschlaumlge fuumlr sich selbst Nun erfaumlhrt er aber dass es diese

52 Vgl Cairns (1979) 166ndash19153 Asper (2004) 5154 Vgl Theoc Ep 455 V 156 Vgl Maltby (2002) 216ndash21757 V 358 Vgl Radicke (2006) 20559 Vgl V 460 Vv 6ndash761 In seiner Rede bedient sich Priapus vieler rhetorischer Stilfiguren Besonders haumlufig werden Ana-

phern verwendet (Vgl Vv 111213 Vv 1718 Vv 1920 Vv 28293031 Vv 4143) Sein Vortrag istdaruumlber hinaus noch kunstvoll in sich verlaumlngernde Abschnitte gegliedert von denen die ersten drei aus jedrei Distichen bestehen auf die dann Abschnitte aus sechs neun und acht Distichen folgen Vgl Radicke(2006) 197 Murgatroyd (1980) 128

62 Cairns (1979) 173

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HELLENISTISCHE LEUCHTFEUER IN TIBULLS PRIAPUS-ELEGIE

nur fuumlr einen gewissen Titius in Erfahrung gebracht habe63 Doch damit nicht genug SedTitium coniunx haec meminisse vetat (Aber seine Frau verbietet Titius sich daran zuerinnern)64 Da Titius nun aber gar keinen Gebrauch von seinen Lehren machen kanngibt sich das elegische Ich im Folgenden einer Vision von sich selbst als Liebeslehrer hinMe qui spernuntur amantes consultent (Moumlgen mich die Liebenden die zuruumlckgewie-sen werden um Rat fragen)65 Doch auch diese vom Leser nach zweimaliger Irrefuumlhrunggerade erst gewonnene Information wird sofort wieder fuumlr unguumlltig erklaumlrt Das elegischeIch wird selbst von einem Knaben zuruumlckgewiesen und gequaumllt66 Es wird klar dass daselegische Ich alle Ratschlaumlge doch zumindest zum Teil auch fuumlr sich erfragt hat selbst inder Knabenliebe wenig erfolgreich und somit auch nur wenig als Liebeslehrer geeignet istDurch das verzweifelte Flehen Parce puer quaeso (Verschone mich Junge bitte)67 wirddie Hilflosigkeit des elegischen Ichs deutlich Alle vorher gegebenen Ratschlaumlge sind in derLiebe voumlllig nutzlos

Tibull fuumlhrt seine Leser also wiederholt in die Irre indem er ganz bewusst Infor-mationen zuruumlckhaumllt oder die bisherigen Erwartungen des Lesers enttaumluscht Dadurchgelingt es ihm nicht nur den Leser zu unterhalten sondern auch ihn waumlhrend der gan-zen Elegie in einem Zustand der staumlndigen Spannung verharren zu lassen Auch koumlnnteman meinen dass durch diese staumlndigen Taumluschungen die Unberechenbarkeit und die Un-vorhersehbarkeit der Liebe unterstrichen werden Genauso wie der Leser im Verlauf derElegie nie wirklich sicher sein kann woran er ist ist auch der Liebende nie wirklich aufder sicheren Seite kann die Reaktion des anderen nie vorausplanen muss immer mit demUnvorstellbaren rechnen

Ein weiteres hellenistisches Merkmal das Tibull nachahmt ist die Ironie Kallima-chosrsquo bdquointelligenter Witzldquo68 und Theokrits bdquofelicitously ironic and grotesque effectsldquo69 dieoft durch das Versetzen von Elementen der staumldtischen Kultur zu einfachen Schafhirtenhervorgerufen werden70 koumlnnen durchaus als Vorbilder fuumlr die feine Ironie gedient habendie die gesamte Elegie durchzieht

Schon allein der Gedanke dass die unvorhersehbare Liebe die sich keinen Regeln un-terwirft durch eine bestimmte Technik oder durch das Einhalten bestimmter Ratschlaumlgeerlernt berechnet oder beherrscht werden kann ist amuumlsant71 Derselben Idee wird sichspaumlter auch Ovid in seiner Ars amatoria bedienen

Aber auch der Gott Priapus wird auf sehr ironische und belustigende Weise ein-

63 Vgl V 7364 V 7465 Vv 77ndash7866 Vgl V 8167 V 8368 Asper (2004) 5369 Giangrande (1986) 4970 Vgl ebd71 Vgl Littlewood (1983) 2152

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gefuumlhrt Zunaumlchst wird er dem Leser dem allgemeinem Bild von ihm entsprechend alswenig gepflegter Gott72 als rusticus und armatus curva falce73 vorgestellt Dann ist daszum Lehrvortrag uumlberleitende Distichon74 aber durch sehr poetische und ernste Spracheausgestaltet Es wird das archaische Wort proles75 verwendet das einen feierlichen undernsthaften Ton hat76 das sic ego77 erinnert an epischen Sprachgebrauch78 und die Haumlu-figkeit von Spondeen steigt deutlich an79 so dass die Ernsthaftigkeit und Bedeutung desDistichons deutlich gesteigert werden Somit dient das Distichon nicht nur als Uumlberleitungvon der Rede des elegischen Ichs zu der des Gottes sondern verwandelt auch vor den geis-tigen Augen des augusteischen Lesers den ihm als einfach ungebildet und ithyphallischbekannten Gartengott Priapus in eine ernstzunehmende fast schon heroische LehrpersonDiese Art Ironie durch den Gegensatz zwischen heroischer Uumlberhoumlhung und baumluerlicherEinfachheit zu erzeugen erinnert ein wenig an die von Giangrande beschriebene IronieTheokrits

Es folgt der Vortrag des Priapus selbst der von Maltby als bdquomock-didacticldquo80 be-schrieben wird Dieser Eindruck kommt durch den Gegensatz zwischen dem formell vor-getragenen und rhetorisch ausgearbeiteten Vortrag des Priapus und dem eher informellenThema und der Tatsache dass Priapusrsquo praecepta hauptsaumlchlich auf allgemeinen Banalitauml-ten fuszligen zustande Dies vermag schon die naumlhere Untersuchung des ersten praeceptum81

der Rede zu zeigen Der Rat nicht gleich aufzugeben sondern Geduld zu haben wird bei-spielsweise durch das Bild von Menschen die es im Laufe der Zeit schaffen sogar Loumlwenzu zaumlhmen von Wasser das mit der Zeit einen Stein aushoumlhlen kann von Trauben diein der Sonne reifen und von Sternen die sich auf ihren festgelegten Bahnen fortbewegenkunstvoll illustriert82 Die besondere Macht der Zeit wird durch die Anaphern von longadies83 und annus84 hervorgehoben Gleichzeitig ist es voumlllig offenbar dass der Rat ab-zuwarten und die Zeit fuumlr sich arbeiten zu lassen kein voumlllig neuer vorher unbekannterGeniestreich des Priapus ist Dennoch scheint er vom Liebesratgeber Priapus voumlllig ernstgenommen und fuumlr aumluszligerst wichtig gehalten zu werden Dadurch entsteht ein uumlberaus iro-nischer Eindruck Dieses Prinzip eine sorgfaumlltige Gliederung in praeceptum gefolgt vonBeispielen und stilistischen Figuren bei eigentlich trivialen Ratschlaumlgen ist auch bei allenfolgenden Abschnitten der Rede festzustellen

72Vgl V 473 Vgl Vv 7ndash874 Vv 7ndash875 V 776 Murgatroyd (1980) 13477 V 678 Vgl Maltby (2002) 21879 Vgl Littlewood (1983) 215380 Malbty (2002) 21581 Vv 15ndash2082 Vgl Vv 17-2083 Vv 171884 Vv 1920

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In der finalen Wendung der Elegie kommt eine ganz neue Nuance von Ironie zumTragen Nachdem vorher Ironie auf Kosten des Priapus eingesetzt worden ist wird durchdas Eingestehen der eigenen Machtlosigkeit durch das elegische Ich85 nun noch der Aspektder Selbstironie hinzugefuumlgt Das elegische Ich das sich vorher noch ausgemalt hat dasseine Schar junger Maumlnner es deducat86 was ein Fachausdruck fuumlr das Ehrengeleit einerbedeutenden Persoumlnlichkeit oder eines Politikers darstellt87verliert so all seine Autoritaumltmuss gar befuumlrchten dass die Leser es auslachen werden88 Doch nicht nur das elegischeIch wird so ins Laumlcherliche gezogen die gesamte Elegie verliert durch die Erkenntnisdass alle Ratschlaumlge im Angesicht der Liebe nur vana magisteria (leere Lehren)89 sindihre Aussagekraft und Bedeutung Diese Bedeutungslosigkeit und die daraus resultieren-de Hilfslosigkeit werden durch die Positionierung dieses Ausdrucks am Schluss der Elegiehervorgehoben Zu der wirkungsvollen Stellung kommt die Besonderheit dass hier mitmagisteria ein fuumlnfsilbiges Wort am Ende des Pentameter steht was ansonsten von Ti-bull eher vermieden wird90 Die Elegie endet folglich mit der Feststellung dass sie ihrenvordergruumlndigen Sinn das Geben von Ratschlaumlgen fuumlr die Knabenliebe nicht erfuumlllenkonnte Diese Form der Ironie beschreibt Luck deshalb vielleicht nicht ganz zu Unrechtals bdquotouch of romantic ironyldquo91

Um die Funktion der Ironie besser verstehen zu koumlnnen ist Radickes Aufsatz uumlberdie Elegie 14 in dem er feststellt dass die Rede des Priapus durch bdquounzuverlaumlssige Redeldquogekennzeichnet ist aumluszligerst hilfreich92 Auf diese bdquounzuverlaumlssige Redeldquo werde schon vorder Schlusspointe hingewiesen indem Priapus schon waumlhrend seines Lehrvortrags mit zu-nehmender Deutlichkeit zwischen seiner vordergruumlndigen Rolle als Liebeslehrer und derRolle des verschmaumlhten Liebhabers die ja eigentlich dem elegischen Ich zukommt hinund her springe Dies werde dadurch deutlich dass einige Abschnitte der Rede wie zBdie Warnung vor der Liebe93 oder die Kritik an kaumluflicher Liebe94 eindeutig aus Sichteines ungluumlcklichen Liebhabers erfolgen waumlhrend andere durchaus zur Rolle als Liebes-lehrer passen95 Dadurch werde offenbar dass es sich bei dem durch das elegische Ichwiedergegebenen Dialog gar nicht um einen solchen handle sondern Priapus vielmehr dieFunktion einer bdquoMaske durch die das elegische Ich seine Gefuumlhle mitteilt oder bessergesagt seine Gefuumlhle zu verbergen suchtldquo96 erfuumlllt und der Lehrvortrag als letzter ver-zweifelter Versuch zu werten sei Marathus von sich zu uumlberzeugen Auch die Tatsache

85 Vgl Vv 81ndash8486 V 8087 Vgl Georges s V deduco II e ζ αα88 Vgl V 8489 V 8490 Vgl Maltby (2002) 23991 Luck (1959) 9992 Vgl Radicke (2006)93 Vv 8ndash1694 Vv 57ndash7295 Vv 15ndash20 21ndash26 39ndash5096 Ebd 202

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dass die Elegie von Beginn an von Ironie durchzogen wird die zum Ende hin immer staumlr-ker wird koumlnnte als Hinweis auf diese bdquounzuverlaumlssige Redeldquo gewertet werden Der Leserwird durch die ironische Einfuumlhrung des Priapus gleich darauf hingewiesen dass dieser alsLiebeslehrer nicht ganz ernst zu nehmen ist Der Gegensatz zwischen Ernsthaftigkeit undtrivialen Ratschlaumlgen in der Rede verweist zusaumltzlich zum Gegensatz zwischen der Rolledes Liebeslehrers und des Liebenden noch deutlicher auf die Maskenfunktion des Priapusbis schlieszliglich die letzte Wendung der Elegie keinen Zweifel mehr an der Tatsache laumlsstdass der Lehrvortrag des Priapus nur ein verzweifelter Versuch des elegischen Ichs ist dieeigene Hilfslosigkeit zu verbergen

Eine weitere Parallele zur hellenistischen Poesie ist die Ringkomposition in Tibulls Ele-gie 14 Die Ringkomposition bei der eine bestimmte Anzahl von Themen bis zu einemzentralen Punkt behandelt werden die dann nach diesem in der umgekehrten Reihen-folge wieder behandelt werden ist zwar schon seit Homer zu finden da sie anfaumlnglichwohl vor allem als Gedaumlchtnisstuumltze bei muumlndlicher Poesie diente97 Sie nimmt aber aucheinen wichtigen Platz in der hellenistischen Dichtung mit ihrer hohen Wertschaumltzung vonformalen Strukturen ein und laumlsst sich beispielsweise in Theokrits Idyll 28 wiederfinden98

Bei den Abschnitten in die sich die vierte Elegie gliedert faumlllt ein aumlhnliches Prinzipauf99 Die einleitende Anrede100 (A1) steht dem anschlieszligenden Kommentar des elegi-schen Ichs101 (A2) gegenuumlber die Warnung des Priapus vor der Knabenliebe102 (B1) derKritik an kaumluflicher Liebe und dem Lobpreis der Dichtung103 (B2) und die Passagen indenen Priapus zur Geduld und zu falschen Schwuumlren auffordert104 (C1) dem Aufruf da-zu den Wuumlnschen des Geliebten zu folgen105 (C2) Das Mittelstuumlck das als Spiegelachsedient bildet der Abschnitt (D) in dem auf die Vergaumlnglichkeit der Jungend aufmerksamgemacht wird106 (A2) kommentiert sein Gegenstuumlck ironisch indem es (A1) als voumllligsinnlos enthuumlllt und (B2) gibt einen moumlglichen Grund fuumlr die Warnung in (B1) an107

Auffaumlllig ist jedoch auch dass sich mit (B1) und (B2) zwei Abschnitte gegenuumlberstehenin denen Priapus seine ihm zugewiesene Rolle als Liebeslehrer verlaumlsst waumlhrend in (C1)und (C2) Priapus seine Rolle als Liebeslehrer erfuumlllt Der Abschnitt (D) nimmt zu Rechtdie wichtige Mittelstellung ein weil hier der verzweifelte Versuch des lyrischen Ichs Ma-rathus durch den vorgeschobenen Liebeslehrer Priapus doch noch fuumlr sich zu gewinnenbesonders deutlich durchschimmert Das Argument der Vergaumlnglichkeit der Jugend und

97 Vgl Cairns (1979) 195ndash19698 Vgl ebd 193ndash194 20299 Vgl ebd 207ndash208

100 Vv 1ndash8101 Vv 73-84102 Vv 9ndash14103 Vv 57ndash72104 V 15ndash26105 Vv 39ndash56106 Vv 27ndash38 Vgl ebd 207107 Vgl ebd

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HELLENISTISCHE LEUCHTFEUER IN TIBULLS PRIAPUS-ELEGIE

die daraus folgende Aufforderung die verbleibende Zeit zu nutzen wird naumlmlich vorrangigvon Liebenden verwendet um den Geliebten oder die Geliebte von einer Beziehung zuuumlberzeugen108 Tibull selbst verwendet diese Argumentation an anderer Stelle um seineDelia von sich zu uumlberzeugen109 Mit Abschnitt (D) steht folglich ein Abschnitt im Mit-telpunkt der unweigerlich die Doppelrolle des Priapus als Liebeslehrer einerseits und alsungluumlcklicher Liebender andererseits offenbart

Trotz der wiederholten Taumluschung des Lesers und der Ironie liegt der Elegie alsoauch eine klare Gliederung zu Grunde die dafuumlr sorgt dass der Leser nicht voumlllig die Ori-entierung verliert und ebenfalls die besondere Rolle des Priapus als Maske des elegischenIchs hervorhebt

5 Mit Hilfe der durch Genette gepraumlgten Begriffe der Inter- und der Hypertextualitaumltlassen sich folglich viele verschiedene Einwirkungen hellenistischer Poesie auf die vierteElegie ausmachen Auch wenn es nicht immer leicht ist beide Begriffe klar voneinanderabzugrenzen haben sie es doch ermoumlglicht die verschiedenen Arten der Einwirkung einesTextes auf einen anderen zu unterscheiden und so ein systematisches detaillierteres undvollstaumlndigeres Bild der Beziehungen zwischen hellenistischer Dichtung und Tibulls Elegieaufzuzeigen

Intertextuelle Beziehungen lassen sich besonders deutlich zwischen Tibull und Kal-limachosrsquo Aitien Iamben und Epigrammen ausmachen Diese werden sinnvoll und pro-duktiv in die Elegie eingebunden und stets verwendet um den Inhalt der Elegie deut-licher hervorzuheben Gleichzeitig lassen sie sich auch poetologisch deuten Die groszligenAumlhnlichkeiten zu Kallimachos besonders im letzten Teil der Elegie110 sind auf eine Wie-dererkennung durch den Leser ausgelegt und verdeutlichen ihm dass sich in der Elegienoch weitere nicht so direkte und woumlrtliche Bezuumlge zu Kallimachos im Besonderen undzur hellenistischen Dichtung im Allgemeinen finden lassen Sie bewirken dass der Lesernach weiteren indirekteren Parallelen sucht und bereits nach der typischen hellenistischenIronie und Unberechenbarkeit oder aumlhnlichen Merkmalen der hellenistischen DichtungAusschau haumllt

Diese indirekteren von Genette als hypertextuell bezeichneten Beziehungen lassensich in der Tat ebenfalls in groszliger Zahl in der Elegie wiederfinden Die Elegie wurdewohl nach dem Vorbild von Kallimachosrsquo neuntem Iambus gestaltet Auszligerdem werdenauch sie konsequent verwendet um den Inhalt kunstvoll zu unterstreichen und dem Le-ser das Verstaumlndnis der gesamten Elegie zu erleichtern Die Ironie weist eindeutig auf dieMaskenfunktion des Priapus hin die haumlufigen Uumlberraschungen fuumlr den Leser auf die Unbe-staumlndigkeit der Liebe Durch die Ringkomposition bietet Tibull dem Leser aber dennochnoch einige Orientierungshilfen durch die sich die Elegie leichter verstehen laumlsst

108 Vgl ebd Radicke (2006) 199109 Vgl Tib 1168ndash78110 Vv 57ndash84

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HELEN E NEUTZLER

Die Funktion der transtextuellen Beziehungen ist es daher die Aussage hervorzuhe-ben dass Liebe nicht gelehrt nicht erlernt und nicht beherrscht werden kann Sie werdennicht einfach um ihrer selbst willen uumlbernommen sondern veraumlndert neu angeordnetund zu etwas voumlllig Neuem zu einer subjektiven Liebesgeschichte zusammengefuumlgt Zu-gleich werden sie jedoch nicht so verfremdet dass der Leser sie nicht wiedererkennen kannDurch die Beziehungen zur hellenistischen Dichtung schafft Tibull deutlich hervorstechen-de Orientierungspunkte fuumlr den Leser und hebt dabei zugleich die Botschaft der absolutenHilfslosigkeit in der Liebe gekonnt auszligergewoumlhnlich und aumluszligerst unterhaltsam hervor jabildet sie sogar ganz konkret durch die Gestaltung der Elegie ab ohne dabei die Leserorientierungslos oder gar bdquoill-preparedldquo im Dunkeln zuruumlckzulassen

Uumlber die Autorin Helen E Neutzler ist seit dem Wintersemester 20132014 BA-Studentin der Faumlcher klassische Philologie und Archaumlologische Wissenschaften an derRuhr-Universitaumlt Bochum Schwerpunkte legt sie in diesen beiden Faumlchern auf Latein unddie klassische Archaumlologie Im Oktober 2014 wurde ihr ein Stipendium des Bildungsfondsder RUB im Rahmen des Deutschlandstipendiums verliehen

Bibliography

Textausgaben und Kommentare

Albius Tibullus aliorumque Carmina Edidit Georg Luck Stuttgart 1988Callimachus Volumen I Fragmenta Edidit Rudolfus Pfeiffer Oxford 1949Callimachus Volumen II Hymni et Epigrammata Edidit Rudolfus Pfeiffer Oxford 1953Asper (2004) Markus Asper Kallimachos Werke Griechisch und Deutsch Darmstadt

2004Maltby (2002) Robert Maltby Tibullus Elegies Text Introduction and Commentary

Cambridge 2002Murgatroyd (1980) Paul Murgatroyd Tibullus I A Commentary on the First Book of

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Monographien und Aufsaumltze

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HELLENISTISCHE LEUCHTFEUER IN TIBULLS PRIAPUS-ELEGIE

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von Tibulls Elegie I 4ldquo Hermes 1342 2006 195ndash210Solmsen (1962) Friedrich Solmsen bdquoTibullus as an Augustan Poetldquo Hermes 90 1962

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zum fuumlnfundzwangzigjaumlhrigen Bestehen des philologischen Vereins zu Breslau Bres-lau 1896 48ndash58

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Page 9: Hellenistische Leuchtfeuer in Tibulls Priapus-Elegie · Hellenistische Leuchtfeuer in Tibulls Priapus-Elegie Transtextuelle Bezüge zur hellenistischen Dichtung und ihre Funktion

HELEN E NEUTZLER

Liebeslehren verbreite eine eifrige Schar junger Maumlnner begleitet)43 Ein aumlhnliches Bildverwendet Kallimachos in den Aitien44

γηράσκει δ᾿ ὁ γέρων κεῖνος ἐλαφρότερον

κοῦροι τὸν φιλέουσιν ἑὸν δέ μιν οἷα γονῆα

χειρὸς ἐπ᾿ οἰκείην ἄχρις ἄγουσι θύρην

Jener Greis altert leichter den die jungen Maumlnner lieben und wie ihren eigenenVater an der Hand gaumlnzlich bis zur Tuumlr seines Hauses fuumlhren45

In beiden Ausschnitten wird die Wertschaumltzung eines alten Mannes durch juumlngere dieihm ein Ehrengeleit geben thematisiert und als wuumlnschens- und erstrebenswert darge-stellt Tibull benutzt diese Vorstellung aber als seinen eigenen Traum er subjektivisiertKallimachosrsquo Vorlage und macht eine allgemein vorgetragene Ansicht zu seiner eigenenWunschvorstellung Dieser Traum des elegischen Ichs hat die Funktion die darauf folgendeEnthuumlllung des eigenen Versagens in der Liebe noch deutlicher hervorzuheben

Tibull uumlbernimmt Ideen Motive Bilder und Vergleiche welche sich meist auf einekonkrete Textstelle zuruumlckfuumlhren lassen die aber oft dennoch in voumlllig neuer Gestalt indie Elegie eingefuumlgt worden sind und sich deshalb manchmal nicht klar von hypertextuel-len Bezuumlgen trennen lassen Besonders seine Aussagen uumlber die Dichtung und die damitverbundenen intertextuellen Bezuumlge zu Kallimachos lassen sich poetologisch deuten DerLeser hat nun erste Orientierungspunkte erhalten die ihm ein tieferes Verstaumlndnis derElegie ermoumlglichen und durch die er auch undeutlichere Beziehungen zur hellenistischenDichtung wahrnehmen kann

4 Neben diesen intertextuellen enthaumllt Tibulls Elegie auch hypertextuelle Beziehun-gen Hierbei nimmt die Elegie entweder durch Transformation also durch die Veraumln-derung einer Vorlage oder durch Nachahmung bestimmter stilistischer Eigenheiten aufeinen anderen Text Bezug Der naumlchste Unterabschnitt wird aufzeigen dass das Prinzipder Transformation am neunten Iambus von Kallimachos nachweisbar ist die restlichenbeschaumlftigen sich mit der Nachahmung bestimmter Merkmale hellenistischer Poesie undihrer Dichter

Die aumluszligere Form der Elegie scheint durch Transformation verschiedener Kallimachos-Fragmente gestaltet worden zu sein Der Dialog mit einer Statue ist gleich mehrmalsin seinen Werken zu finden Neben dem Aitien-Fragment 11446 und dem Epigramm 2447

43 Vv 79ndash8044 Vgl Luck (1959) 98 Bulloch (1973) 76 Maltby (2002) 23745 Call Aet 1fr 41 Pf46 Dialog zwischen Apollo und einer unbekannten Person47 Die Statue eines Helden spricht

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weist der neunte Iambus der uns abgesehen von zwei Versen auch nur durch den Diegeseis-Papyrus uumlberliefert ist die groumlszligten Uumlbereinstimmungen mit der Elegie 14 auf48

]Φιλη-

τάδου παιδὸς εὐπρεποῦς ἐραστὴς ἰδὼν

῾Ερμοῦ ἄγαλμα ἐν παλαιστριδίῳ ἐντε-

ταμένον πυνθάνεται μὴ διὰ τὸν Φιλη-

τάδαν ῾Ο δέ φησιν ἄνωθεν εἶναι Τυρση-

νὸς καὶ κατὰ μυστικὸν λόγον ἐντε-

τάσθαι ἐπὶ κακῷ δὲ αὐτὸν φιλεῖν τὸν

Φιλητάδαν

Als der Liebhaber des schoumlnen Knaben Philetades auf einer kleinen Palaumlstraein Bildnis eines erigierten Hermes sieht fragt er bdquoEtwa wegen PhiletadesldquoDas Bildnis aber antwortet ihm von oben herab dass es etruskisch sei undwegen einer mystischen Lehre erigiert sei dass seine Liebe zu Philetades aberzum Schlechten gereiche49

In der Elegie und im Kallimachos-Fragment findet der Dialog zwischen einem ithyphal-lischen Gott und einem Knabenliebhaber statt Sowohl die Dialogform die Dialogpartnerals auch das uumlbergeordnete Thema stimmen folglich uumlberein Eine weitere Gemeinsamkeitist die uumlberraschende und ungluumlckliche Wende am Ende des Iambus bzw der Elegie Inbeiden Faumlllen erfaumlhrt der Leser dass eine gluumlckliche Liebesbeziehung unmoumlglich ist Dieseungluumlckliche Wende hat bei Tibull jedoch deutlich mehr Tragweite weil sie das bis dahinnahegelegte Verstaumlndnis der Elegie veraumlndert ja sogar ins Gegenteil verkehrt Durch sieverliert der gesamte Vortrag des Priapus an Bedeutung Des Weiteren unterscheidet sichdie Elegie dadurch dass Tibull Priapus als Gespraumlchspartner auswaumlhlt Doch auch dabeigreift er auf hellenistische Vorstellungen zuruumlck Priapus war im Hellenismus sehr beliebt50

und tritt beispielsweise im ersten Idyll von Theokrit als Liebeslehrer auf51 Aufgrund derUumlbereinstimmung von Hauptthema Form und uumlberraschender Wendung ist es durchausmoumlglich die Elegie 14 als erweiterte und verlaumlngerte Transformation des neunten Iambusvon Kallimachos anzusehen Erkennt der Leser diesen Bezug zur hellenistischen Dichtungschon beim Lesen wird er etwas auf das uumlberraschende Ende vorbereitet wenn nichtwird er ihm wohl spaumltestens nach dem Lesen der Schlusspointe deutlich werden so dassdie Freude des Wiedererkennens des Iambus im zweiten Lesedurchgang ihre volle Wir-kung entfalten kann und dem Leser mehr und mehr Parallelen zwischen der Elegie und

48 Vgl Dawson (1946) 12ndash13 Luck (1959) 93 Bulloch (1973) 78ndash79 Cairns (1979) 189ndash190 Murgatroyd(1980) 130 Maltby (2002) 216

49 Dieg 833ndash40 zu Call Iamb 9 Pf50 Vgl Murgatroyd (1980) 129ndash131 Maltby (2002) 21651 Hier allerdings ohne den Kontext der Knabenliebe Vgl Theoc Id 180ndash92

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hellenistischer Dichtung auffallen

Neben dieser Transformation ist aber auch die Nachahmung von einigen Eigenheitender hellenistischen Poesie nachweisbar Eines der Merkmale der hellenistischen Poesie istdas Taumluschen des Lesers52 Diese Tendenz bezeichnet Asper in Bezug auf Kallimachosauch als bdquoEindruck der Unberechenbarkeitldquo53 Als Beispiel fuumlr diese Unberechenbarkeitkann der oben vorgestellte neunte Iambus von Kallimachos dienen Auch Theokrits vier-tes Epigramm waumlre ein Beispiel in dem ein Liebender einem Hirten zunaumlchst auftraumlgtPriapus zu bitten ihn von seiner Liebe zu erloumlsen dann aber deutlich macht dass er sichin Wahrheit eine gluumlckliche Liebesbeziehung wuumlnscht54

Die Tendenz den Leser bestaumlndig in die Irre zu fuumlhren ist in Tibulls vierter Elegiesehr deutlich Schon zu Beginn spielt Tibull mit den Lesererwartungen Nach dem erstenVers Sic umbrosa tibi contingant tecta Priape (So moumlgen dir Priapus schattenspendendeDaumlcher zuteilwerden)55 koumlnnte der Leser wohl vor allem durch das an ein rituelles Gebeterinnernde einleitende sic56 noch annehmen dass nun ein Gebet zu Priapus folgt Wenigspaumlter wird jedoch die eigentliche Absicht des elegischen Ichs deutlich Quae tua formo-sos cepit sollertia (Welche dir eigene Faumlhigkeit haumllt die schoumlnen Juumlnglinge gefangen)57

Der Gott wird als Ratgeber in der Knabenliebe angerufen Der anfaumlngliche Eindruck ei-nes unmittelbaren Dialogs wird jedoch durch den erzaumlhlenden Einschub in den Versen7ndash8 aufgeloumlst58 Erst jetzt erfaumlhrt der Leser dass es sich gar nicht um einen unmittelbarstattfindenden sondern um einen durch das elegische Ich wiedergegebenen Dialog han-delt Durch die Einfuumlhrung des Priapus als jemanden ohne gepflegtes Aumluszligeres59 und diespottende Beschreibung des Priapus als Bacchi rustica proles armatus curva falcedeus (Der baumluerliche Nachkomme des Bacchus der Gott bewaffnet mit einer gekruumlmm-ten Sichel)60 werden beim Leser keine groszligen Erwartungen bezuumlglich des nun folgendenVortrages geweckt Es schlieszligt sich jedoch ein rhetorisch ausgefeilter wohl gegliederter61

Lehrvortrag an Im abschlieszligenden Monolog des elegischen Ichs wird dann das deutlichwas Cairns als bdquoTibullan trick endingldquo62 bezeichnet Hier haumlufen sich die den Leser uumlberra-schenden Wendungen im Handlungsverlauf Bisher wurde der Leser im Glauben gelassendas elegische Ich erfrage alle Ratschlaumlge fuumlr sich selbst Nun erfaumlhrt er aber dass es diese

52 Vgl Cairns (1979) 166ndash19153 Asper (2004) 5154 Vgl Theoc Ep 455 V 156 Vgl Maltby (2002) 216ndash21757 V 358 Vgl Radicke (2006) 20559 Vgl V 460 Vv 6ndash761 In seiner Rede bedient sich Priapus vieler rhetorischer Stilfiguren Besonders haumlufig werden Ana-

phern verwendet (Vgl Vv 111213 Vv 1718 Vv 1920 Vv 28293031 Vv 4143) Sein Vortrag istdaruumlber hinaus noch kunstvoll in sich verlaumlngernde Abschnitte gegliedert von denen die ersten drei aus jedrei Distichen bestehen auf die dann Abschnitte aus sechs neun und acht Distichen folgen Vgl Radicke(2006) 197 Murgatroyd (1980) 128

62 Cairns (1979) 173

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nur fuumlr einen gewissen Titius in Erfahrung gebracht habe63 Doch damit nicht genug SedTitium coniunx haec meminisse vetat (Aber seine Frau verbietet Titius sich daran zuerinnern)64 Da Titius nun aber gar keinen Gebrauch von seinen Lehren machen kanngibt sich das elegische Ich im Folgenden einer Vision von sich selbst als Liebeslehrer hinMe qui spernuntur amantes consultent (Moumlgen mich die Liebenden die zuruumlckgewie-sen werden um Rat fragen)65 Doch auch diese vom Leser nach zweimaliger Irrefuumlhrunggerade erst gewonnene Information wird sofort wieder fuumlr unguumlltig erklaumlrt Das elegischeIch wird selbst von einem Knaben zuruumlckgewiesen und gequaumllt66 Es wird klar dass daselegische Ich alle Ratschlaumlge doch zumindest zum Teil auch fuumlr sich erfragt hat selbst inder Knabenliebe wenig erfolgreich und somit auch nur wenig als Liebeslehrer geeignet istDurch das verzweifelte Flehen Parce puer quaeso (Verschone mich Junge bitte)67 wirddie Hilflosigkeit des elegischen Ichs deutlich Alle vorher gegebenen Ratschlaumlge sind in derLiebe voumlllig nutzlos

Tibull fuumlhrt seine Leser also wiederholt in die Irre indem er ganz bewusst Infor-mationen zuruumlckhaumllt oder die bisherigen Erwartungen des Lesers enttaumluscht Dadurchgelingt es ihm nicht nur den Leser zu unterhalten sondern auch ihn waumlhrend der gan-zen Elegie in einem Zustand der staumlndigen Spannung verharren zu lassen Auch koumlnnteman meinen dass durch diese staumlndigen Taumluschungen die Unberechenbarkeit und die Un-vorhersehbarkeit der Liebe unterstrichen werden Genauso wie der Leser im Verlauf derElegie nie wirklich sicher sein kann woran er ist ist auch der Liebende nie wirklich aufder sicheren Seite kann die Reaktion des anderen nie vorausplanen muss immer mit demUnvorstellbaren rechnen

Ein weiteres hellenistisches Merkmal das Tibull nachahmt ist die Ironie Kallima-chosrsquo bdquointelligenter Witzldquo68 und Theokrits bdquofelicitously ironic and grotesque effectsldquo69 dieoft durch das Versetzen von Elementen der staumldtischen Kultur zu einfachen Schafhirtenhervorgerufen werden70 koumlnnen durchaus als Vorbilder fuumlr die feine Ironie gedient habendie die gesamte Elegie durchzieht

Schon allein der Gedanke dass die unvorhersehbare Liebe die sich keinen Regeln un-terwirft durch eine bestimmte Technik oder durch das Einhalten bestimmter Ratschlaumlgeerlernt berechnet oder beherrscht werden kann ist amuumlsant71 Derselben Idee wird sichspaumlter auch Ovid in seiner Ars amatoria bedienen

Aber auch der Gott Priapus wird auf sehr ironische und belustigende Weise ein-

63 Vgl V 7364 V 7465 Vv 77ndash7866 Vgl V 8167 V 8368 Asper (2004) 5369 Giangrande (1986) 4970 Vgl ebd71 Vgl Littlewood (1983) 2152

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gefuumlhrt Zunaumlchst wird er dem Leser dem allgemeinem Bild von ihm entsprechend alswenig gepflegter Gott72 als rusticus und armatus curva falce73 vorgestellt Dann ist daszum Lehrvortrag uumlberleitende Distichon74 aber durch sehr poetische und ernste Spracheausgestaltet Es wird das archaische Wort proles75 verwendet das einen feierlichen undernsthaften Ton hat76 das sic ego77 erinnert an epischen Sprachgebrauch78 und die Haumlu-figkeit von Spondeen steigt deutlich an79 so dass die Ernsthaftigkeit und Bedeutung desDistichons deutlich gesteigert werden Somit dient das Distichon nicht nur als Uumlberleitungvon der Rede des elegischen Ichs zu der des Gottes sondern verwandelt auch vor den geis-tigen Augen des augusteischen Lesers den ihm als einfach ungebildet und ithyphallischbekannten Gartengott Priapus in eine ernstzunehmende fast schon heroische LehrpersonDiese Art Ironie durch den Gegensatz zwischen heroischer Uumlberhoumlhung und baumluerlicherEinfachheit zu erzeugen erinnert ein wenig an die von Giangrande beschriebene IronieTheokrits

Es folgt der Vortrag des Priapus selbst der von Maltby als bdquomock-didacticldquo80 be-schrieben wird Dieser Eindruck kommt durch den Gegensatz zwischen dem formell vor-getragenen und rhetorisch ausgearbeiteten Vortrag des Priapus und dem eher informellenThema und der Tatsache dass Priapusrsquo praecepta hauptsaumlchlich auf allgemeinen Banalitauml-ten fuszligen zustande Dies vermag schon die naumlhere Untersuchung des ersten praeceptum81

der Rede zu zeigen Der Rat nicht gleich aufzugeben sondern Geduld zu haben wird bei-spielsweise durch das Bild von Menschen die es im Laufe der Zeit schaffen sogar Loumlwenzu zaumlhmen von Wasser das mit der Zeit einen Stein aushoumlhlen kann von Trauben diein der Sonne reifen und von Sternen die sich auf ihren festgelegten Bahnen fortbewegenkunstvoll illustriert82 Die besondere Macht der Zeit wird durch die Anaphern von longadies83 und annus84 hervorgehoben Gleichzeitig ist es voumlllig offenbar dass der Rat ab-zuwarten und die Zeit fuumlr sich arbeiten zu lassen kein voumlllig neuer vorher unbekannterGeniestreich des Priapus ist Dennoch scheint er vom Liebesratgeber Priapus voumlllig ernstgenommen und fuumlr aumluszligerst wichtig gehalten zu werden Dadurch entsteht ein uumlberaus iro-nischer Eindruck Dieses Prinzip eine sorgfaumlltige Gliederung in praeceptum gefolgt vonBeispielen und stilistischen Figuren bei eigentlich trivialen Ratschlaumlgen ist auch bei allenfolgenden Abschnitten der Rede festzustellen

72Vgl V 473 Vgl Vv 7ndash874 Vv 7ndash875 V 776 Murgatroyd (1980) 13477 V 678 Vgl Maltby (2002) 21879 Vgl Littlewood (1983) 215380 Malbty (2002) 21581 Vv 15ndash2082 Vgl Vv 17-2083 Vv 171884 Vv 1920

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In der finalen Wendung der Elegie kommt eine ganz neue Nuance von Ironie zumTragen Nachdem vorher Ironie auf Kosten des Priapus eingesetzt worden ist wird durchdas Eingestehen der eigenen Machtlosigkeit durch das elegische Ich85 nun noch der Aspektder Selbstironie hinzugefuumlgt Das elegische Ich das sich vorher noch ausgemalt hat dasseine Schar junger Maumlnner es deducat86 was ein Fachausdruck fuumlr das Ehrengeleit einerbedeutenden Persoumlnlichkeit oder eines Politikers darstellt87verliert so all seine Autoritaumltmuss gar befuumlrchten dass die Leser es auslachen werden88 Doch nicht nur das elegischeIch wird so ins Laumlcherliche gezogen die gesamte Elegie verliert durch die Erkenntnisdass alle Ratschlaumlge im Angesicht der Liebe nur vana magisteria (leere Lehren)89 sindihre Aussagekraft und Bedeutung Diese Bedeutungslosigkeit und die daraus resultieren-de Hilfslosigkeit werden durch die Positionierung dieses Ausdrucks am Schluss der Elegiehervorgehoben Zu der wirkungsvollen Stellung kommt die Besonderheit dass hier mitmagisteria ein fuumlnfsilbiges Wort am Ende des Pentameter steht was ansonsten von Ti-bull eher vermieden wird90 Die Elegie endet folglich mit der Feststellung dass sie ihrenvordergruumlndigen Sinn das Geben von Ratschlaumlgen fuumlr die Knabenliebe nicht erfuumlllenkonnte Diese Form der Ironie beschreibt Luck deshalb vielleicht nicht ganz zu Unrechtals bdquotouch of romantic ironyldquo91

Um die Funktion der Ironie besser verstehen zu koumlnnen ist Radickes Aufsatz uumlberdie Elegie 14 in dem er feststellt dass die Rede des Priapus durch bdquounzuverlaumlssige Redeldquogekennzeichnet ist aumluszligerst hilfreich92 Auf diese bdquounzuverlaumlssige Redeldquo werde schon vorder Schlusspointe hingewiesen indem Priapus schon waumlhrend seines Lehrvortrags mit zu-nehmender Deutlichkeit zwischen seiner vordergruumlndigen Rolle als Liebeslehrer und derRolle des verschmaumlhten Liebhabers die ja eigentlich dem elegischen Ich zukommt hinund her springe Dies werde dadurch deutlich dass einige Abschnitte der Rede wie zBdie Warnung vor der Liebe93 oder die Kritik an kaumluflicher Liebe94 eindeutig aus Sichteines ungluumlcklichen Liebhabers erfolgen waumlhrend andere durchaus zur Rolle als Liebes-lehrer passen95 Dadurch werde offenbar dass es sich bei dem durch das elegische Ichwiedergegebenen Dialog gar nicht um einen solchen handle sondern Priapus vielmehr dieFunktion einer bdquoMaske durch die das elegische Ich seine Gefuumlhle mitteilt oder bessergesagt seine Gefuumlhle zu verbergen suchtldquo96 erfuumlllt und der Lehrvortrag als letzter ver-zweifelter Versuch zu werten sei Marathus von sich zu uumlberzeugen Auch die Tatsache

85 Vgl Vv 81ndash8486 V 8087 Vgl Georges s V deduco II e ζ αα88 Vgl V 8489 V 8490 Vgl Maltby (2002) 23991 Luck (1959) 9992 Vgl Radicke (2006)93 Vv 8ndash1694 Vv 57ndash7295 Vv 15ndash20 21ndash26 39ndash5096 Ebd 202

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dass die Elegie von Beginn an von Ironie durchzogen wird die zum Ende hin immer staumlr-ker wird koumlnnte als Hinweis auf diese bdquounzuverlaumlssige Redeldquo gewertet werden Der Leserwird durch die ironische Einfuumlhrung des Priapus gleich darauf hingewiesen dass dieser alsLiebeslehrer nicht ganz ernst zu nehmen ist Der Gegensatz zwischen Ernsthaftigkeit undtrivialen Ratschlaumlgen in der Rede verweist zusaumltzlich zum Gegensatz zwischen der Rolledes Liebeslehrers und des Liebenden noch deutlicher auf die Maskenfunktion des Priapusbis schlieszliglich die letzte Wendung der Elegie keinen Zweifel mehr an der Tatsache laumlsstdass der Lehrvortrag des Priapus nur ein verzweifelter Versuch des elegischen Ichs ist dieeigene Hilfslosigkeit zu verbergen

Eine weitere Parallele zur hellenistischen Poesie ist die Ringkomposition in Tibulls Ele-gie 14 Die Ringkomposition bei der eine bestimmte Anzahl von Themen bis zu einemzentralen Punkt behandelt werden die dann nach diesem in der umgekehrten Reihen-folge wieder behandelt werden ist zwar schon seit Homer zu finden da sie anfaumlnglichwohl vor allem als Gedaumlchtnisstuumltze bei muumlndlicher Poesie diente97 Sie nimmt aber aucheinen wichtigen Platz in der hellenistischen Dichtung mit ihrer hohen Wertschaumltzung vonformalen Strukturen ein und laumlsst sich beispielsweise in Theokrits Idyll 28 wiederfinden98

Bei den Abschnitten in die sich die vierte Elegie gliedert faumlllt ein aumlhnliches Prinzipauf99 Die einleitende Anrede100 (A1) steht dem anschlieszligenden Kommentar des elegi-schen Ichs101 (A2) gegenuumlber die Warnung des Priapus vor der Knabenliebe102 (B1) derKritik an kaumluflicher Liebe und dem Lobpreis der Dichtung103 (B2) und die Passagen indenen Priapus zur Geduld und zu falschen Schwuumlren auffordert104 (C1) dem Aufruf da-zu den Wuumlnschen des Geliebten zu folgen105 (C2) Das Mittelstuumlck das als Spiegelachsedient bildet der Abschnitt (D) in dem auf die Vergaumlnglichkeit der Jungend aufmerksamgemacht wird106 (A2) kommentiert sein Gegenstuumlck ironisch indem es (A1) als voumllligsinnlos enthuumlllt und (B2) gibt einen moumlglichen Grund fuumlr die Warnung in (B1) an107

Auffaumlllig ist jedoch auch dass sich mit (B1) und (B2) zwei Abschnitte gegenuumlberstehenin denen Priapus seine ihm zugewiesene Rolle als Liebeslehrer verlaumlsst waumlhrend in (C1)und (C2) Priapus seine Rolle als Liebeslehrer erfuumlllt Der Abschnitt (D) nimmt zu Rechtdie wichtige Mittelstellung ein weil hier der verzweifelte Versuch des lyrischen Ichs Ma-rathus durch den vorgeschobenen Liebeslehrer Priapus doch noch fuumlr sich zu gewinnenbesonders deutlich durchschimmert Das Argument der Vergaumlnglichkeit der Jugend und

97 Vgl Cairns (1979) 195ndash19698 Vgl ebd 193ndash194 20299 Vgl ebd 207ndash208

100 Vv 1ndash8101 Vv 73-84102 Vv 9ndash14103 Vv 57ndash72104 V 15ndash26105 Vv 39ndash56106 Vv 27ndash38 Vgl ebd 207107 Vgl ebd

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die daraus folgende Aufforderung die verbleibende Zeit zu nutzen wird naumlmlich vorrangigvon Liebenden verwendet um den Geliebten oder die Geliebte von einer Beziehung zuuumlberzeugen108 Tibull selbst verwendet diese Argumentation an anderer Stelle um seineDelia von sich zu uumlberzeugen109 Mit Abschnitt (D) steht folglich ein Abschnitt im Mit-telpunkt der unweigerlich die Doppelrolle des Priapus als Liebeslehrer einerseits und alsungluumlcklicher Liebender andererseits offenbart

Trotz der wiederholten Taumluschung des Lesers und der Ironie liegt der Elegie alsoauch eine klare Gliederung zu Grunde die dafuumlr sorgt dass der Leser nicht voumlllig die Ori-entierung verliert und ebenfalls die besondere Rolle des Priapus als Maske des elegischenIchs hervorhebt

5 Mit Hilfe der durch Genette gepraumlgten Begriffe der Inter- und der Hypertextualitaumltlassen sich folglich viele verschiedene Einwirkungen hellenistischer Poesie auf die vierteElegie ausmachen Auch wenn es nicht immer leicht ist beide Begriffe klar voneinanderabzugrenzen haben sie es doch ermoumlglicht die verschiedenen Arten der Einwirkung einesTextes auf einen anderen zu unterscheiden und so ein systematisches detaillierteres undvollstaumlndigeres Bild der Beziehungen zwischen hellenistischer Dichtung und Tibulls Elegieaufzuzeigen

Intertextuelle Beziehungen lassen sich besonders deutlich zwischen Tibull und Kal-limachosrsquo Aitien Iamben und Epigrammen ausmachen Diese werden sinnvoll und pro-duktiv in die Elegie eingebunden und stets verwendet um den Inhalt der Elegie deut-licher hervorzuheben Gleichzeitig lassen sie sich auch poetologisch deuten Die groszligenAumlhnlichkeiten zu Kallimachos besonders im letzten Teil der Elegie110 sind auf eine Wie-dererkennung durch den Leser ausgelegt und verdeutlichen ihm dass sich in der Elegienoch weitere nicht so direkte und woumlrtliche Bezuumlge zu Kallimachos im Besonderen undzur hellenistischen Dichtung im Allgemeinen finden lassen Sie bewirken dass der Lesernach weiteren indirekteren Parallelen sucht und bereits nach der typischen hellenistischenIronie und Unberechenbarkeit oder aumlhnlichen Merkmalen der hellenistischen DichtungAusschau haumllt

Diese indirekteren von Genette als hypertextuell bezeichneten Beziehungen lassensich in der Tat ebenfalls in groszliger Zahl in der Elegie wiederfinden Die Elegie wurdewohl nach dem Vorbild von Kallimachosrsquo neuntem Iambus gestaltet Auszligerdem werdenauch sie konsequent verwendet um den Inhalt kunstvoll zu unterstreichen und dem Le-ser das Verstaumlndnis der gesamten Elegie zu erleichtern Die Ironie weist eindeutig auf dieMaskenfunktion des Priapus hin die haumlufigen Uumlberraschungen fuumlr den Leser auf die Unbe-staumlndigkeit der Liebe Durch die Ringkomposition bietet Tibull dem Leser aber dennochnoch einige Orientierungshilfen durch die sich die Elegie leichter verstehen laumlsst

108 Vgl ebd Radicke (2006) 199109 Vgl Tib 1168ndash78110 Vv 57ndash84

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HELEN E NEUTZLER

Die Funktion der transtextuellen Beziehungen ist es daher die Aussage hervorzuhe-ben dass Liebe nicht gelehrt nicht erlernt und nicht beherrscht werden kann Sie werdennicht einfach um ihrer selbst willen uumlbernommen sondern veraumlndert neu angeordnetund zu etwas voumlllig Neuem zu einer subjektiven Liebesgeschichte zusammengefuumlgt Zu-gleich werden sie jedoch nicht so verfremdet dass der Leser sie nicht wiedererkennen kannDurch die Beziehungen zur hellenistischen Dichtung schafft Tibull deutlich hervorstechen-de Orientierungspunkte fuumlr den Leser und hebt dabei zugleich die Botschaft der absolutenHilfslosigkeit in der Liebe gekonnt auszligergewoumlhnlich und aumluszligerst unterhaltsam hervor jabildet sie sogar ganz konkret durch die Gestaltung der Elegie ab ohne dabei die Leserorientierungslos oder gar bdquoill-preparedldquo im Dunkeln zuruumlckzulassen

Uumlber die Autorin Helen E Neutzler ist seit dem Wintersemester 20132014 BA-Studentin der Faumlcher klassische Philologie und Archaumlologische Wissenschaften an derRuhr-Universitaumlt Bochum Schwerpunkte legt sie in diesen beiden Faumlchern auf Latein unddie klassische Archaumlologie Im Oktober 2014 wurde ihr ein Stipendium des Bildungsfondsder RUB im Rahmen des Deutschlandstipendiums verliehen

Bibliography

Textausgaben und Kommentare

Albius Tibullus aliorumque Carmina Edidit Georg Luck Stuttgart 1988Callimachus Volumen I Fragmenta Edidit Rudolfus Pfeiffer Oxford 1949Callimachus Volumen II Hymni et Epigrammata Edidit Rudolfus Pfeiffer Oxford 1953Asper (2004) Markus Asper Kallimachos Werke Griechisch und Deutsch Darmstadt

2004Maltby (2002) Robert Maltby Tibullus Elegies Text Introduction and Commentary

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Albius Tibullus Bristol 1980Smith (1913) Kirby F Smith The Elegies of Albius Tibullus The Corpus Tibullianum

Edited With Introduction and Notes on Books I II and IV 2ndash14 Darmstadt 31964(1913)

Monographien und Aufsaumltze

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HELLENISTISCHE LEUCHTFEUER IN TIBULLS PRIAPUS-ELEGIE

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zum fuumlnfundzwangzigjaumlhrigen Bestehen des philologischen Vereins zu Breslau Bres-lau 1896 48ndash58

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Page 10: Hellenistische Leuchtfeuer in Tibulls Priapus-Elegie · Hellenistische Leuchtfeuer in Tibulls Priapus-Elegie Transtextuelle Bezüge zur hellenistischen Dichtung und ihre Funktion

HELLENISTISCHE LEUCHTFEUER IN TIBULLS PRIAPUS-ELEGIE

weist der neunte Iambus der uns abgesehen von zwei Versen auch nur durch den Diegeseis-Papyrus uumlberliefert ist die groumlszligten Uumlbereinstimmungen mit der Elegie 14 auf48

]Φιλη-

τάδου παιδὸς εὐπρεποῦς ἐραστὴς ἰδὼν

῾Ερμοῦ ἄγαλμα ἐν παλαιστριδίῳ ἐντε-

ταμένον πυνθάνεται μὴ διὰ τὸν Φιλη-

τάδαν ῾Ο δέ φησιν ἄνωθεν εἶναι Τυρση-

νὸς καὶ κατὰ μυστικὸν λόγον ἐντε-

τάσθαι ἐπὶ κακῷ δὲ αὐτὸν φιλεῖν τὸν

Φιλητάδαν

Als der Liebhaber des schoumlnen Knaben Philetades auf einer kleinen Palaumlstraein Bildnis eines erigierten Hermes sieht fragt er bdquoEtwa wegen PhiletadesldquoDas Bildnis aber antwortet ihm von oben herab dass es etruskisch sei undwegen einer mystischen Lehre erigiert sei dass seine Liebe zu Philetades aberzum Schlechten gereiche49

In der Elegie und im Kallimachos-Fragment findet der Dialog zwischen einem ithyphal-lischen Gott und einem Knabenliebhaber statt Sowohl die Dialogform die Dialogpartnerals auch das uumlbergeordnete Thema stimmen folglich uumlberein Eine weitere Gemeinsamkeitist die uumlberraschende und ungluumlckliche Wende am Ende des Iambus bzw der Elegie Inbeiden Faumlllen erfaumlhrt der Leser dass eine gluumlckliche Liebesbeziehung unmoumlglich ist Dieseungluumlckliche Wende hat bei Tibull jedoch deutlich mehr Tragweite weil sie das bis dahinnahegelegte Verstaumlndnis der Elegie veraumlndert ja sogar ins Gegenteil verkehrt Durch sieverliert der gesamte Vortrag des Priapus an Bedeutung Des Weiteren unterscheidet sichdie Elegie dadurch dass Tibull Priapus als Gespraumlchspartner auswaumlhlt Doch auch dabeigreift er auf hellenistische Vorstellungen zuruumlck Priapus war im Hellenismus sehr beliebt50

und tritt beispielsweise im ersten Idyll von Theokrit als Liebeslehrer auf51 Aufgrund derUumlbereinstimmung von Hauptthema Form und uumlberraschender Wendung ist es durchausmoumlglich die Elegie 14 als erweiterte und verlaumlngerte Transformation des neunten Iambusvon Kallimachos anzusehen Erkennt der Leser diesen Bezug zur hellenistischen Dichtungschon beim Lesen wird er etwas auf das uumlberraschende Ende vorbereitet wenn nichtwird er ihm wohl spaumltestens nach dem Lesen der Schlusspointe deutlich werden so dassdie Freude des Wiedererkennens des Iambus im zweiten Lesedurchgang ihre volle Wir-kung entfalten kann und dem Leser mehr und mehr Parallelen zwischen der Elegie und

48 Vgl Dawson (1946) 12ndash13 Luck (1959) 93 Bulloch (1973) 78ndash79 Cairns (1979) 189ndash190 Murgatroyd(1980) 130 Maltby (2002) 216

49 Dieg 833ndash40 zu Call Iamb 9 Pf50 Vgl Murgatroyd (1980) 129ndash131 Maltby (2002) 21651 Hier allerdings ohne den Kontext der Knabenliebe Vgl Theoc Id 180ndash92

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HELEN E NEUTZLER

hellenistischer Dichtung auffallen

Neben dieser Transformation ist aber auch die Nachahmung von einigen Eigenheitender hellenistischen Poesie nachweisbar Eines der Merkmale der hellenistischen Poesie istdas Taumluschen des Lesers52 Diese Tendenz bezeichnet Asper in Bezug auf Kallimachosauch als bdquoEindruck der Unberechenbarkeitldquo53 Als Beispiel fuumlr diese Unberechenbarkeitkann der oben vorgestellte neunte Iambus von Kallimachos dienen Auch Theokrits vier-tes Epigramm waumlre ein Beispiel in dem ein Liebender einem Hirten zunaumlchst auftraumlgtPriapus zu bitten ihn von seiner Liebe zu erloumlsen dann aber deutlich macht dass er sichin Wahrheit eine gluumlckliche Liebesbeziehung wuumlnscht54

Die Tendenz den Leser bestaumlndig in die Irre zu fuumlhren ist in Tibulls vierter Elegiesehr deutlich Schon zu Beginn spielt Tibull mit den Lesererwartungen Nach dem erstenVers Sic umbrosa tibi contingant tecta Priape (So moumlgen dir Priapus schattenspendendeDaumlcher zuteilwerden)55 koumlnnte der Leser wohl vor allem durch das an ein rituelles Gebeterinnernde einleitende sic56 noch annehmen dass nun ein Gebet zu Priapus folgt Wenigspaumlter wird jedoch die eigentliche Absicht des elegischen Ichs deutlich Quae tua formo-sos cepit sollertia (Welche dir eigene Faumlhigkeit haumllt die schoumlnen Juumlnglinge gefangen)57

Der Gott wird als Ratgeber in der Knabenliebe angerufen Der anfaumlngliche Eindruck ei-nes unmittelbaren Dialogs wird jedoch durch den erzaumlhlenden Einschub in den Versen7ndash8 aufgeloumlst58 Erst jetzt erfaumlhrt der Leser dass es sich gar nicht um einen unmittelbarstattfindenden sondern um einen durch das elegische Ich wiedergegebenen Dialog han-delt Durch die Einfuumlhrung des Priapus als jemanden ohne gepflegtes Aumluszligeres59 und diespottende Beschreibung des Priapus als Bacchi rustica proles armatus curva falcedeus (Der baumluerliche Nachkomme des Bacchus der Gott bewaffnet mit einer gekruumlmm-ten Sichel)60 werden beim Leser keine groszligen Erwartungen bezuumlglich des nun folgendenVortrages geweckt Es schlieszligt sich jedoch ein rhetorisch ausgefeilter wohl gegliederter61

Lehrvortrag an Im abschlieszligenden Monolog des elegischen Ichs wird dann das deutlichwas Cairns als bdquoTibullan trick endingldquo62 bezeichnet Hier haumlufen sich die den Leser uumlberra-schenden Wendungen im Handlungsverlauf Bisher wurde der Leser im Glauben gelassendas elegische Ich erfrage alle Ratschlaumlge fuumlr sich selbst Nun erfaumlhrt er aber dass es diese

52 Vgl Cairns (1979) 166ndash19153 Asper (2004) 5154 Vgl Theoc Ep 455 V 156 Vgl Maltby (2002) 216ndash21757 V 358 Vgl Radicke (2006) 20559 Vgl V 460 Vv 6ndash761 In seiner Rede bedient sich Priapus vieler rhetorischer Stilfiguren Besonders haumlufig werden Ana-

phern verwendet (Vgl Vv 111213 Vv 1718 Vv 1920 Vv 28293031 Vv 4143) Sein Vortrag istdaruumlber hinaus noch kunstvoll in sich verlaumlngernde Abschnitte gegliedert von denen die ersten drei aus jedrei Distichen bestehen auf die dann Abschnitte aus sechs neun und acht Distichen folgen Vgl Radicke(2006) 197 Murgatroyd (1980) 128

62 Cairns (1979) 173

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HELLENISTISCHE LEUCHTFEUER IN TIBULLS PRIAPUS-ELEGIE

nur fuumlr einen gewissen Titius in Erfahrung gebracht habe63 Doch damit nicht genug SedTitium coniunx haec meminisse vetat (Aber seine Frau verbietet Titius sich daran zuerinnern)64 Da Titius nun aber gar keinen Gebrauch von seinen Lehren machen kanngibt sich das elegische Ich im Folgenden einer Vision von sich selbst als Liebeslehrer hinMe qui spernuntur amantes consultent (Moumlgen mich die Liebenden die zuruumlckgewie-sen werden um Rat fragen)65 Doch auch diese vom Leser nach zweimaliger Irrefuumlhrunggerade erst gewonnene Information wird sofort wieder fuumlr unguumlltig erklaumlrt Das elegischeIch wird selbst von einem Knaben zuruumlckgewiesen und gequaumllt66 Es wird klar dass daselegische Ich alle Ratschlaumlge doch zumindest zum Teil auch fuumlr sich erfragt hat selbst inder Knabenliebe wenig erfolgreich und somit auch nur wenig als Liebeslehrer geeignet istDurch das verzweifelte Flehen Parce puer quaeso (Verschone mich Junge bitte)67 wirddie Hilflosigkeit des elegischen Ichs deutlich Alle vorher gegebenen Ratschlaumlge sind in derLiebe voumlllig nutzlos

Tibull fuumlhrt seine Leser also wiederholt in die Irre indem er ganz bewusst Infor-mationen zuruumlckhaumllt oder die bisherigen Erwartungen des Lesers enttaumluscht Dadurchgelingt es ihm nicht nur den Leser zu unterhalten sondern auch ihn waumlhrend der gan-zen Elegie in einem Zustand der staumlndigen Spannung verharren zu lassen Auch koumlnnteman meinen dass durch diese staumlndigen Taumluschungen die Unberechenbarkeit und die Un-vorhersehbarkeit der Liebe unterstrichen werden Genauso wie der Leser im Verlauf derElegie nie wirklich sicher sein kann woran er ist ist auch der Liebende nie wirklich aufder sicheren Seite kann die Reaktion des anderen nie vorausplanen muss immer mit demUnvorstellbaren rechnen

Ein weiteres hellenistisches Merkmal das Tibull nachahmt ist die Ironie Kallima-chosrsquo bdquointelligenter Witzldquo68 und Theokrits bdquofelicitously ironic and grotesque effectsldquo69 dieoft durch das Versetzen von Elementen der staumldtischen Kultur zu einfachen Schafhirtenhervorgerufen werden70 koumlnnen durchaus als Vorbilder fuumlr die feine Ironie gedient habendie die gesamte Elegie durchzieht

Schon allein der Gedanke dass die unvorhersehbare Liebe die sich keinen Regeln un-terwirft durch eine bestimmte Technik oder durch das Einhalten bestimmter Ratschlaumlgeerlernt berechnet oder beherrscht werden kann ist amuumlsant71 Derselben Idee wird sichspaumlter auch Ovid in seiner Ars amatoria bedienen

Aber auch der Gott Priapus wird auf sehr ironische und belustigende Weise ein-

63 Vgl V 7364 V 7465 Vv 77ndash7866 Vgl V 8167 V 8368 Asper (2004) 5369 Giangrande (1986) 4970 Vgl ebd71 Vgl Littlewood (1983) 2152

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gefuumlhrt Zunaumlchst wird er dem Leser dem allgemeinem Bild von ihm entsprechend alswenig gepflegter Gott72 als rusticus und armatus curva falce73 vorgestellt Dann ist daszum Lehrvortrag uumlberleitende Distichon74 aber durch sehr poetische und ernste Spracheausgestaltet Es wird das archaische Wort proles75 verwendet das einen feierlichen undernsthaften Ton hat76 das sic ego77 erinnert an epischen Sprachgebrauch78 und die Haumlu-figkeit von Spondeen steigt deutlich an79 so dass die Ernsthaftigkeit und Bedeutung desDistichons deutlich gesteigert werden Somit dient das Distichon nicht nur als Uumlberleitungvon der Rede des elegischen Ichs zu der des Gottes sondern verwandelt auch vor den geis-tigen Augen des augusteischen Lesers den ihm als einfach ungebildet und ithyphallischbekannten Gartengott Priapus in eine ernstzunehmende fast schon heroische LehrpersonDiese Art Ironie durch den Gegensatz zwischen heroischer Uumlberhoumlhung und baumluerlicherEinfachheit zu erzeugen erinnert ein wenig an die von Giangrande beschriebene IronieTheokrits

Es folgt der Vortrag des Priapus selbst der von Maltby als bdquomock-didacticldquo80 be-schrieben wird Dieser Eindruck kommt durch den Gegensatz zwischen dem formell vor-getragenen und rhetorisch ausgearbeiteten Vortrag des Priapus und dem eher informellenThema und der Tatsache dass Priapusrsquo praecepta hauptsaumlchlich auf allgemeinen Banalitauml-ten fuszligen zustande Dies vermag schon die naumlhere Untersuchung des ersten praeceptum81

der Rede zu zeigen Der Rat nicht gleich aufzugeben sondern Geduld zu haben wird bei-spielsweise durch das Bild von Menschen die es im Laufe der Zeit schaffen sogar Loumlwenzu zaumlhmen von Wasser das mit der Zeit einen Stein aushoumlhlen kann von Trauben diein der Sonne reifen und von Sternen die sich auf ihren festgelegten Bahnen fortbewegenkunstvoll illustriert82 Die besondere Macht der Zeit wird durch die Anaphern von longadies83 und annus84 hervorgehoben Gleichzeitig ist es voumlllig offenbar dass der Rat ab-zuwarten und die Zeit fuumlr sich arbeiten zu lassen kein voumlllig neuer vorher unbekannterGeniestreich des Priapus ist Dennoch scheint er vom Liebesratgeber Priapus voumlllig ernstgenommen und fuumlr aumluszligerst wichtig gehalten zu werden Dadurch entsteht ein uumlberaus iro-nischer Eindruck Dieses Prinzip eine sorgfaumlltige Gliederung in praeceptum gefolgt vonBeispielen und stilistischen Figuren bei eigentlich trivialen Ratschlaumlgen ist auch bei allenfolgenden Abschnitten der Rede festzustellen

72Vgl V 473 Vgl Vv 7ndash874 Vv 7ndash875 V 776 Murgatroyd (1980) 13477 V 678 Vgl Maltby (2002) 21879 Vgl Littlewood (1983) 215380 Malbty (2002) 21581 Vv 15ndash2082 Vgl Vv 17-2083 Vv 171884 Vv 1920

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HELLENISTISCHE LEUCHTFEUER IN TIBULLS PRIAPUS-ELEGIE

In der finalen Wendung der Elegie kommt eine ganz neue Nuance von Ironie zumTragen Nachdem vorher Ironie auf Kosten des Priapus eingesetzt worden ist wird durchdas Eingestehen der eigenen Machtlosigkeit durch das elegische Ich85 nun noch der Aspektder Selbstironie hinzugefuumlgt Das elegische Ich das sich vorher noch ausgemalt hat dasseine Schar junger Maumlnner es deducat86 was ein Fachausdruck fuumlr das Ehrengeleit einerbedeutenden Persoumlnlichkeit oder eines Politikers darstellt87verliert so all seine Autoritaumltmuss gar befuumlrchten dass die Leser es auslachen werden88 Doch nicht nur das elegischeIch wird so ins Laumlcherliche gezogen die gesamte Elegie verliert durch die Erkenntnisdass alle Ratschlaumlge im Angesicht der Liebe nur vana magisteria (leere Lehren)89 sindihre Aussagekraft und Bedeutung Diese Bedeutungslosigkeit und die daraus resultieren-de Hilfslosigkeit werden durch die Positionierung dieses Ausdrucks am Schluss der Elegiehervorgehoben Zu der wirkungsvollen Stellung kommt die Besonderheit dass hier mitmagisteria ein fuumlnfsilbiges Wort am Ende des Pentameter steht was ansonsten von Ti-bull eher vermieden wird90 Die Elegie endet folglich mit der Feststellung dass sie ihrenvordergruumlndigen Sinn das Geben von Ratschlaumlgen fuumlr die Knabenliebe nicht erfuumlllenkonnte Diese Form der Ironie beschreibt Luck deshalb vielleicht nicht ganz zu Unrechtals bdquotouch of romantic ironyldquo91

Um die Funktion der Ironie besser verstehen zu koumlnnen ist Radickes Aufsatz uumlberdie Elegie 14 in dem er feststellt dass die Rede des Priapus durch bdquounzuverlaumlssige Redeldquogekennzeichnet ist aumluszligerst hilfreich92 Auf diese bdquounzuverlaumlssige Redeldquo werde schon vorder Schlusspointe hingewiesen indem Priapus schon waumlhrend seines Lehrvortrags mit zu-nehmender Deutlichkeit zwischen seiner vordergruumlndigen Rolle als Liebeslehrer und derRolle des verschmaumlhten Liebhabers die ja eigentlich dem elegischen Ich zukommt hinund her springe Dies werde dadurch deutlich dass einige Abschnitte der Rede wie zBdie Warnung vor der Liebe93 oder die Kritik an kaumluflicher Liebe94 eindeutig aus Sichteines ungluumlcklichen Liebhabers erfolgen waumlhrend andere durchaus zur Rolle als Liebes-lehrer passen95 Dadurch werde offenbar dass es sich bei dem durch das elegische Ichwiedergegebenen Dialog gar nicht um einen solchen handle sondern Priapus vielmehr dieFunktion einer bdquoMaske durch die das elegische Ich seine Gefuumlhle mitteilt oder bessergesagt seine Gefuumlhle zu verbergen suchtldquo96 erfuumlllt und der Lehrvortrag als letzter ver-zweifelter Versuch zu werten sei Marathus von sich zu uumlberzeugen Auch die Tatsache

85 Vgl Vv 81ndash8486 V 8087 Vgl Georges s V deduco II e ζ αα88 Vgl V 8489 V 8490 Vgl Maltby (2002) 23991 Luck (1959) 9992 Vgl Radicke (2006)93 Vv 8ndash1694 Vv 57ndash7295 Vv 15ndash20 21ndash26 39ndash5096 Ebd 202

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dass die Elegie von Beginn an von Ironie durchzogen wird die zum Ende hin immer staumlr-ker wird koumlnnte als Hinweis auf diese bdquounzuverlaumlssige Redeldquo gewertet werden Der Leserwird durch die ironische Einfuumlhrung des Priapus gleich darauf hingewiesen dass dieser alsLiebeslehrer nicht ganz ernst zu nehmen ist Der Gegensatz zwischen Ernsthaftigkeit undtrivialen Ratschlaumlgen in der Rede verweist zusaumltzlich zum Gegensatz zwischen der Rolledes Liebeslehrers und des Liebenden noch deutlicher auf die Maskenfunktion des Priapusbis schlieszliglich die letzte Wendung der Elegie keinen Zweifel mehr an der Tatsache laumlsstdass der Lehrvortrag des Priapus nur ein verzweifelter Versuch des elegischen Ichs ist dieeigene Hilfslosigkeit zu verbergen

Eine weitere Parallele zur hellenistischen Poesie ist die Ringkomposition in Tibulls Ele-gie 14 Die Ringkomposition bei der eine bestimmte Anzahl von Themen bis zu einemzentralen Punkt behandelt werden die dann nach diesem in der umgekehrten Reihen-folge wieder behandelt werden ist zwar schon seit Homer zu finden da sie anfaumlnglichwohl vor allem als Gedaumlchtnisstuumltze bei muumlndlicher Poesie diente97 Sie nimmt aber aucheinen wichtigen Platz in der hellenistischen Dichtung mit ihrer hohen Wertschaumltzung vonformalen Strukturen ein und laumlsst sich beispielsweise in Theokrits Idyll 28 wiederfinden98

Bei den Abschnitten in die sich die vierte Elegie gliedert faumlllt ein aumlhnliches Prinzipauf99 Die einleitende Anrede100 (A1) steht dem anschlieszligenden Kommentar des elegi-schen Ichs101 (A2) gegenuumlber die Warnung des Priapus vor der Knabenliebe102 (B1) derKritik an kaumluflicher Liebe und dem Lobpreis der Dichtung103 (B2) und die Passagen indenen Priapus zur Geduld und zu falschen Schwuumlren auffordert104 (C1) dem Aufruf da-zu den Wuumlnschen des Geliebten zu folgen105 (C2) Das Mittelstuumlck das als Spiegelachsedient bildet der Abschnitt (D) in dem auf die Vergaumlnglichkeit der Jungend aufmerksamgemacht wird106 (A2) kommentiert sein Gegenstuumlck ironisch indem es (A1) als voumllligsinnlos enthuumlllt und (B2) gibt einen moumlglichen Grund fuumlr die Warnung in (B1) an107

Auffaumlllig ist jedoch auch dass sich mit (B1) und (B2) zwei Abschnitte gegenuumlberstehenin denen Priapus seine ihm zugewiesene Rolle als Liebeslehrer verlaumlsst waumlhrend in (C1)und (C2) Priapus seine Rolle als Liebeslehrer erfuumlllt Der Abschnitt (D) nimmt zu Rechtdie wichtige Mittelstellung ein weil hier der verzweifelte Versuch des lyrischen Ichs Ma-rathus durch den vorgeschobenen Liebeslehrer Priapus doch noch fuumlr sich zu gewinnenbesonders deutlich durchschimmert Das Argument der Vergaumlnglichkeit der Jugend und

97 Vgl Cairns (1979) 195ndash19698 Vgl ebd 193ndash194 20299 Vgl ebd 207ndash208

100 Vv 1ndash8101 Vv 73-84102 Vv 9ndash14103 Vv 57ndash72104 V 15ndash26105 Vv 39ndash56106 Vv 27ndash38 Vgl ebd 207107 Vgl ebd

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HELLENISTISCHE LEUCHTFEUER IN TIBULLS PRIAPUS-ELEGIE

die daraus folgende Aufforderung die verbleibende Zeit zu nutzen wird naumlmlich vorrangigvon Liebenden verwendet um den Geliebten oder die Geliebte von einer Beziehung zuuumlberzeugen108 Tibull selbst verwendet diese Argumentation an anderer Stelle um seineDelia von sich zu uumlberzeugen109 Mit Abschnitt (D) steht folglich ein Abschnitt im Mit-telpunkt der unweigerlich die Doppelrolle des Priapus als Liebeslehrer einerseits und alsungluumlcklicher Liebender andererseits offenbart

Trotz der wiederholten Taumluschung des Lesers und der Ironie liegt der Elegie alsoauch eine klare Gliederung zu Grunde die dafuumlr sorgt dass der Leser nicht voumlllig die Ori-entierung verliert und ebenfalls die besondere Rolle des Priapus als Maske des elegischenIchs hervorhebt

5 Mit Hilfe der durch Genette gepraumlgten Begriffe der Inter- und der Hypertextualitaumltlassen sich folglich viele verschiedene Einwirkungen hellenistischer Poesie auf die vierteElegie ausmachen Auch wenn es nicht immer leicht ist beide Begriffe klar voneinanderabzugrenzen haben sie es doch ermoumlglicht die verschiedenen Arten der Einwirkung einesTextes auf einen anderen zu unterscheiden und so ein systematisches detaillierteres undvollstaumlndigeres Bild der Beziehungen zwischen hellenistischer Dichtung und Tibulls Elegieaufzuzeigen

Intertextuelle Beziehungen lassen sich besonders deutlich zwischen Tibull und Kal-limachosrsquo Aitien Iamben und Epigrammen ausmachen Diese werden sinnvoll und pro-duktiv in die Elegie eingebunden und stets verwendet um den Inhalt der Elegie deut-licher hervorzuheben Gleichzeitig lassen sie sich auch poetologisch deuten Die groszligenAumlhnlichkeiten zu Kallimachos besonders im letzten Teil der Elegie110 sind auf eine Wie-dererkennung durch den Leser ausgelegt und verdeutlichen ihm dass sich in der Elegienoch weitere nicht so direkte und woumlrtliche Bezuumlge zu Kallimachos im Besonderen undzur hellenistischen Dichtung im Allgemeinen finden lassen Sie bewirken dass der Lesernach weiteren indirekteren Parallelen sucht und bereits nach der typischen hellenistischenIronie und Unberechenbarkeit oder aumlhnlichen Merkmalen der hellenistischen DichtungAusschau haumllt

Diese indirekteren von Genette als hypertextuell bezeichneten Beziehungen lassensich in der Tat ebenfalls in groszliger Zahl in der Elegie wiederfinden Die Elegie wurdewohl nach dem Vorbild von Kallimachosrsquo neuntem Iambus gestaltet Auszligerdem werdenauch sie konsequent verwendet um den Inhalt kunstvoll zu unterstreichen und dem Le-ser das Verstaumlndnis der gesamten Elegie zu erleichtern Die Ironie weist eindeutig auf dieMaskenfunktion des Priapus hin die haumlufigen Uumlberraschungen fuumlr den Leser auf die Unbe-staumlndigkeit der Liebe Durch die Ringkomposition bietet Tibull dem Leser aber dennochnoch einige Orientierungshilfen durch die sich die Elegie leichter verstehen laumlsst

108 Vgl ebd Radicke (2006) 199109 Vgl Tib 1168ndash78110 Vv 57ndash84

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Die Funktion der transtextuellen Beziehungen ist es daher die Aussage hervorzuhe-ben dass Liebe nicht gelehrt nicht erlernt und nicht beherrscht werden kann Sie werdennicht einfach um ihrer selbst willen uumlbernommen sondern veraumlndert neu angeordnetund zu etwas voumlllig Neuem zu einer subjektiven Liebesgeschichte zusammengefuumlgt Zu-gleich werden sie jedoch nicht so verfremdet dass der Leser sie nicht wiedererkennen kannDurch die Beziehungen zur hellenistischen Dichtung schafft Tibull deutlich hervorstechen-de Orientierungspunkte fuumlr den Leser und hebt dabei zugleich die Botschaft der absolutenHilfslosigkeit in der Liebe gekonnt auszligergewoumlhnlich und aumluszligerst unterhaltsam hervor jabildet sie sogar ganz konkret durch die Gestaltung der Elegie ab ohne dabei die Leserorientierungslos oder gar bdquoill-preparedldquo im Dunkeln zuruumlckzulassen

Uumlber die Autorin Helen E Neutzler ist seit dem Wintersemester 20132014 BA-Studentin der Faumlcher klassische Philologie und Archaumlologische Wissenschaften an derRuhr-Universitaumlt Bochum Schwerpunkte legt sie in diesen beiden Faumlchern auf Latein unddie klassische Archaumlologie Im Oktober 2014 wurde ihr ein Stipendium des Bildungsfondsder RUB im Rahmen des Deutschlandstipendiums verliehen

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2004Maltby (2002) Robert Maltby Tibullus Elegies Text Introduction and Commentary

Cambridge 2002Murgatroyd (1980) Paul Murgatroyd Tibullus I A Commentary on the First Book of

Albius Tibullus Bristol 1980Smith (1913) Kirby F Smith The Elegies of Albius Tibullus The Corpus Tibullianum

Edited With Introduction and Notes on Books I II and IV 2ndash14 Darmstadt 31964(1913)

Monographien und Aufsaumltze

Bright (1978) David F Bright Haec mihi fingebam Tibullus in his World Leiden 1978Bulloch (1973) Anthony W Bulloch bdquoTibullus and the Alexandriansldquo PCPhS 19 1973

71ndash89Cairns (1979) Francis Cairns Tibullus A Hellenistic Poet at Rome Cambridge 1979Dawson (1946) Christopher M Dawson bdquoAn Alexandrian Prototype of Marathusldquo AJPh

67 1946 1ndash15

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HELLENISTISCHE LEUCHTFEUER IN TIBULLS PRIAPUS-ELEGIE

Genette (1993) Geacuterard Genette Palimpseste Die Literatur auf zweiter Stufe Frankfurta M 1993

Giangrande (1986) Giusepppe Giangrande bdquoTheocritusrsquo Twelfth and Fourth Idylls AStudy in Hellenistic Ironyldquo in Bernd Effe (Hg) Theokrit und die griechische BukolikDarmstadt 1986 37ndash55

Grimal (1962) Pierre Grimal bdquoTibulle et Heacutesiodeldquo Entretiens 7 1962 271ndash301Jacoby (1910) Felix Jacoby bdquoTibulls erste Elegie Ein Beitrag zum Verstaumlndnis der Ti-

bullischen Kunstldquo RhM 65 1910 22ndash87Lee-Stecum (1998) Parshia Lee-Stecum Powerplay in Tibullus Reading Elegies Book

One Cambridge 1998Lehnus (2011) Luigi Lehnus bdquoCallimachus Rediscovered in Papyrildquo in Benjamin Acosta-

Hughes Luigi Lehnus ua (Hgg) Brills Companion to Callimachus Leiden 2011 23ndash38

Littlewood (1983) R Joy Littlewood bdquoHumour in Tibullusldquo ANRW II 303 1983 2128ndash2158

Luck (1959) Georg Luck The Latin Love Elegy London 21969 (1959)Radicke (2006) Jan Radicke bdquoPriapus ein raumltselhafter Liebeslehrer Zur Interpretation

von Tibulls Elegie I 4ldquo Hermes 1342 2006 195ndash210Solmsen (1962) Friedrich Solmsen bdquoTibullus as an Augustan Poetldquo Hermes 90 1962

259ndash325Wilhelm (1896) Friedrich Wilhelm bdquoZu Tibullus (I 4)ldquo in Satura Viadrina Festschrift

zum fuumlnfundzwangzigjaumlhrigen Bestehen des philologischen Vereins zu Breslau Bres-lau 1896 48ndash58

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Page 11: Hellenistische Leuchtfeuer in Tibulls Priapus-Elegie · Hellenistische Leuchtfeuer in Tibulls Priapus-Elegie Transtextuelle Bezüge zur hellenistischen Dichtung und ihre Funktion

HELEN E NEUTZLER

hellenistischer Dichtung auffallen

Neben dieser Transformation ist aber auch die Nachahmung von einigen Eigenheitender hellenistischen Poesie nachweisbar Eines der Merkmale der hellenistischen Poesie istdas Taumluschen des Lesers52 Diese Tendenz bezeichnet Asper in Bezug auf Kallimachosauch als bdquoEindruck der Unberechenbarkeitldquo53 Als Beispiel fuumlr diese Unberechenbarkeitkann der oben vorgestellte neunte Iambus von Kallimachos dienen Auch Theokrits vier-tes Epigramm waumlre ein Beispiel in dem ein Liebender einem Hirten zunaumlchst auftraumlgtPriapus zu bitten ihn von seiner Liebe zu erloumlsen dann aber deutlich macht dass er sichin Wahrheit eine gluumlckliche Liebesbeziehung wuumlnscht54

Die Tendenz den Leser bestaumlndig in die Irre zu fuumlhren ist in Tibulls vierter Elegiesehr deutlich Schon zu Beginn spielt Tibull mit den Lesererwartungen Nach dem erstenVers Sic umbrosa tibi contingant tecta Priape (So moumlgen dir Priapus schattenspendendeDaumlcher zuteilwerden)55 koumlnnte der Leser wohl vor allem durch das an ein rituelles Gebeterinnernde einleitende sic56 noch annehmen dass nun ein Gebet zu Priapus folgt Wenigspaumlter wird jedoch die eigentliche Absicht des elegischen Ichs deutlich Quae tua formo-sos cepit sollertia (Welche dir eigene Faumlhigkeit haumllt die schoumlnen Juumlnglinge gefangen)57

Der Gott wird als Ratgeber in der Knabenliebe angerufen Der anfaumlngliche Eindruck ei-nes unmittelbaren Dialogs wird jedoch durch den erzaumlhlenden Einschub in den Versen7ndash8 aufgeloumlst58 Erst jetzt erfaumlhrt der Leser dass es sich gar nicht um einen unmittelbarstattfindenden sondern um einen durch das elegische Ich wiedergegebenen Dialog han-delt Durch die Einfuumlhrung des Priapus als jemanden ohne gepflegtes Aumluszligeres59 und diespottende Beschreibung des Priapus als Bacchi rustica proles armatus curva falcedeus (Der baumluerliche Nachkomme des Bacchus der Gott bewaffnet mit einer gekruumlmm-ten Sichel)60 werden beim Leser keine groszligen Erwartungen bezuumlglich des nun folgendenVortrages geweckt Es schlieszligt sich jedoch ein rhetorisch ausgefeilter wohl gegliederter61

Lehrvortrag an Im abschlieszligenden Monolog des elegischen Ichs wird dann das deutlichwas Cairns als bdquoTibullan trick endingldquo62 bezeichnet Hier haumlufen sich die den Leser uumlberra-schenden Wendungen im Handlungsverlauf Bisher wurde der Leser im Glauben gelassendas elegische Ich erfrage alle Ratschlaumlge fuumlr sich selbst Nun erfaumlhrt er aber dass es diese

52 Vgl Cairns (1979) 166ndash19153 Asper (2004) 5154 Vgl Theoc Ep 455 V 156 Vgl Maltby (2002) 216ndash21757 V 358 Vgl Radicke (2006) 20559 Vgl V 460 Vv 6ndash761 In seiner Rede bedient sich Priapus vieler rhetorischer Stilfiguren Besonders haumlufig werden Ana-

phern verwendet (Vgl Vv 111213 Vv 1718 Vv 1920 Vv 28293031 Vv 4143) Sein Vortrag istdaruumlber hinaus noch kunstvoll in sich verlaumlngernde Abschnitte gegliedert von denen die ersten drei aus jedrei Distichen bestehen auf die dann Abschnitte aus sechs neun und acht Distichen folgen Vgl Radicke(2006) 197 Murgatroyd (1980) 128

62 Cairns (1979) 173

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HELLENISTISCHE LEUCHTFEUER IN TIBULLS PRIAPUS-ELEGIE

nur fuumlr einen gewissen Titius in Erfahrung gebracht habe63 Doch damit nicht genug SedTitium coniunx haec meminisse vetat (Aber seine Frau verbietet Titius sich daran zuerinnern)64 Da Titius nun aber gar keinen Gebrauch von seinen Lehren machen kanngibt sich das elegische Ich im Folgenden einer Vision von sich selbst als Liebeslehrer hinMe qui spernuntur amantes consultent (Moumlgen mich die Liebenden die zuruumlckgewie-sen werden um Rat fragen)65 Doch auch diese vom Leser nach zweimaliger Irrefuumlhrunggerade erst gewonnene Information wird sofort wieder fuumlr unguumlltig erklaumlrt Das elegischeIch wird selbst von einem Knaben zuruumlckgewiesen und gequaumllt66 Es wird klar dass daselegische Ich alle Ratschlaumlge doch zumindest zum Teil auch fuumlr sich erfragt hat selbst inder Knabenliebe wenig erfolgreich und somit auch nur wenig als Liebeslehrer geeignet istDurch das verzweifelte Flehen Parce puer quaeso (Verschone mich Junge bitte)67 wirddie Hilflosigkeit des elegischen Ichs deutlich Alle vorher gegebenen Ratschlaumlge sind in derLiebe voumlllig nutzlos

Tibull fuumlhrt seine Leser also wiederholt in die Irre indem er ganz bewusst Infor-mationen zuruumlckhaumllt oder die bisherigen Erwartungen des Lesers enttaumluscht Dadurchgelingt es ihm nicht nur den Leser zu unterhalten sondern auch ihn waumlhrend der gan-zen Elegie in einem Zustand der staumlndigen Spannung verharren zu lassen Auch koumlnnteman meinen dass durch diese staumlndigen Taumluschungen die Unberechenbarkeit und die Un-vorhersehbarkeit der Liebe unterstrichen werden Genauso wie der Leser im Verlauf derElegie nie wirklich sicher sein kann woran er ist ist auch der Liebende nie wirklich aufder sicheren Seite kann die Reaktion des anderen nie vorausplanen muss immer mit demUnvorstellbaren rechnen

Ein weiteres hellenistisches Merkmal das Tibull nachahmt ist die Ironie Kallima-chosrsquo bdquointelligenter Witzldquo68 und Theokrits bdquofelicitously ironic and grotesque effectsldquo69 dieoft durch das Versetzen von Elementen der staumldtischen Kultur zu einfachen Schafhirtenhervorgerufen werden70 koumlnnen durchaus als Vorbilder fuumlr die feine Ironie gedient habendie die gesamte Elegie durchzieht

Schon allein der Gedanke dass die unvorhersehbare Liebe die sich keinen Regeln un-terwirft durch eine bestimmte Technik oder durch das Einhalten bestimmter Ratschlaumlgeerlernt berechnet oder beherrscht werden kann ist amuumlsant71 Derselben Idee wird sichspaumlter auch Ovid in seiner Ars amatoria bedienen

Aber auch der Gott Priapus wird auf sehr ironische und belustigende Weise ein-

63 Vgl V 7364 V 7465 Vv 77ndash7866 Vgl V 8167 V 8368 Asper (2004) 5369 Giangrande (1986) 4970 Vgl ebd71 Vgl Littlewood (1983) 2152

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gefuumlhrt Zunaumlchst wird er dem Leser dem allgemeinem Bild von ihm entsprechend alswenig gepflegter Gott72 als rusticus und armatus curva falce73 vorgestellt Dann ist daszum Lehrvortrag uumlberleitende Distichon74 aber durch sehr poetische und ernste Spracheausgestaltet Es wird das archaische Wort proles75 verwendet das einen feierlichen undernsthaften Ton hat76 das sic ego77 erinnert an epischen Sprachgebrauch78 und die Haumlu-figkeit von Spondeen steigt deutlich an79 so dass die Ernsthaftigkeit und Bedeutung desDistichons deutlich gesteigert werden Somit dient das Distichon nicht nur als Uumlberleitungvon der Rede des elegischen Ichs zu der des Gottes sondern verwandelt auch vor den geis-tigen Augen des augusteischen Lesers den ihm als einfach ungebildet und ithyphallischbekannten Gartengott Priapus in eine ernstzunehmende fast schon heroische LehrpersonDiese Art Ironie durch den Gegensatz zwischen heroischer Uumlberhoumlhung und baumluerlicherEinfachheit zu erzeugen erinnert ein wenig an die von Giangrande beschriebene IronieTheokrits

Es folgt der Vortrag des Priapus selbst der von Maltby als bdquomock-didacticldquo80 be-schrieben wird Dieser Eindruck kommt durch den Gegensatz zwischen dem formell vor-getragenen und rhetorisch ausgearbeiteten Vortrag des Priapus und dem eher informellenThema und der Tatsache dass Priapusrsquo praecepta hauptsaumlchlich auf allgemeinen Banalitauml-ten fuszligen zustande Dies vermag schon die naumlhere Untersuchung des ersten praeceptum81

der Rede zu zeigen Der Rat nicht gleich aufzugeben sondern Geduld zu haben wird bei-spielsweise durch das Bild von Menschen die es im Laufe der Zeit schaffen sogar Loumlwenzu zaumlhmen von Wasser das mit der Zeit einen Stein aushoumlhlen kann von Trauben diein der Sonne reifen und von Sternen die sich auf ihren festgelegten Bahnen fortbewegenkunstvoll illustriert82 Die besondere Macht der Zeit wird durch die Anaphern von longadies83 und annus84 hervorgehoben Gleichzeitig ist es voumlllig offenbar dass der Rat ab-zuwarten und die Zeit fuumlr sich arbeiten zu lassen kein voumlllig neuer vorher unbekannterGeniestreich des Priapus ist Dennoch scheint er vom Liebesratgeber Priapus voumlllig ernstgenommen und fuumlr aumluszligerst wichtig gehalten zu werden Dadurch entsteht ein uumlberaus iro-nischer Eindruck Dieses Prinzip eine sorgfaumlltige Gliederung in praeceptum gefolgt vonBeispielen und stilistischen Figuren bei eigentlich trivialen Ratschlaumlgen ist auch bei allenfolgenden Abschnitten der Rede festzustellen

72Vgl V 473 Vgl Vv 7ndash874 Vv 7ndash875 V 776 Murgatroyd (1980) 13477 V 678 Vgl Maltby (2002) 21879 Vgl Littlewood (1983) 215380 Malbty (2002) 21581 Vv 15ndash2082 Vgl Vv 17-2083 Vv 171884 Vv 1920

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HELLENISTISCHE LEUCHTFEUER IN TIBULLS PRIAPUS-ELEGIE

In der finalen Wendung der Elegie kommt eine ganz neue Nuance von Ironie zumTragen Nachdem vorher Ironie auf Kosten des Priapus eingesetzt worden ist wird durchdas Eingestehen der eigenen Machtlosigkeit durch das elegische Ich85 nun noch der Aspektder Selbstironie hinzugefuumlgt Das elegische Ich das sich vorher noch ausgemalt hat dasseine Schar junger Maumlnner es deducat86 was ein Fachausdruck fuumlr das Ehrengeleit einerbedeutenden Persoumlnlichkeit oder eines Politikers darstellt87verliert so all seine Autoritaumltmuss gar befuumlrchten dass die Leser es auslachen werden88 Doch nicht nur das elegischeIch wird so ins Laumlcherliche gezogen die gesamte Elegie verliert durch die Erkenntnisdass alle Ratschlaumlge im Angesicht der Liebe nur vana magisteria (leere Lehren)89 sindihre Aussagekraft und Bedeutung Diese Bedeutungslosigkeit und die daraus resultieren-de Hilfslosigkeit werden durch die Positionierung dieses Ausdrucks am Schluss der Elegiehervorgehoben Zu der wirkungsvollen Stellung kommt die Besonderheit dass hier mitmagisteria ein fuumlnfsilbiges Wort am Ende des Pentameter steht was ansonsten von Ti-bull eher vermieden wird90 Die Elegie endet folglich mit der Feststellung dass sie ihrenvordergruumlndigen Sinn das Geben von Ratschlaumlgen fuumlr die Knabenliebe nicht erfuumlllenkonnte Diese Form der Ironie beschreibt Luck deshalb vielleicht nicht ganz zu Unrechtals bdquotouch of romantic ironyldquo91

Um die Funktion der Ironie besser verstehen zu koumlnnen ist Radickes Aufsatz uumlberdie Elegie 14 in dem er feststellt dass die Rede des Priapus durch bdquounzuverlaumlssige Redeldquogekennzeichnet ist aumluszligerst hilfreich92 Auf diese bdquounzuverlaumlssige Redeldquo werde schon vorder Schlusspointe hingewiesen indem Priapus schon waumlhrend seines Lehrvortrags mit zu-nehmender Deutlichkeit zwischen seiner vordergruumlndigen Rolle als Liebeslehrer und derRolle des verschmaumlhten Liebhabers die ja eigentlich dem elegischen Ich zukommt hinund her springe Dies werde dadurch deutlich dass einige Abschnitte der Rede wie zBdie Warnung vor der Liebe93 oder die Kritik an kaumluflicher Liebe94 eindeutig aus Sichteines ungluumlcklichen Liebhabers erfolgen waumlhrend andere durchaus zur Rolle als Liebes-lehrer passen95 Dadurch werde offenbar dass es sich bei dem durch das elegische Ichwiedergegebenen Dialog gar nicht um einen solchen handle sondern Priapus vielmehr dieFunktion einer bdquoMaske durch die das elegische Ich seine Gefuumlhle mitteilt oder bessergesagt seine Gefuumlhle zu verbergen suchtldquo96 erfuumlllt und der Lehrvortrag als letzter ver-zweifelter Versuch zu werten sei Marathus von sich zu uumlberzeugen Auch die Tatsache

85 Vgl Vv 81ndash8486 V 8087 Vgl Georges s V deduco II e ζ αα88 Vgl V 8489 V 8490 Vgl Maltby (2002) 23991 Luck (1959) 9992 Vgl Radicke (2006)93 Vv 8ndash1694 Vv 57ndash7295 Vv 15ndash20 21ndash26 39ndash5096 Ebd 202

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dass die Elegie von Beginn an von Ironie durchzogen wird die zum Ende hin immer staumlr-ker wird koumlnnte als Hinweis auf diese bdquounzuverlaumlssige Redeldquo gewertet werden Der Leserwird durch die ironische Einfuumlhrung des Priapus gleich darauf hingewiesen dass dieser alsLiebeslehrer nicht ganz ernst zu nehmen ist Der Gegensatz zwischen Ernsthaftigkeit undtrivialen Ratschlaumlgen in der Rede verweist zusaumltzlich zum Gegensatz zwischen der Rolledes Liebeslehrers und des Liebenden noch deutlicher auf die Maskenfunktion des Priapusbis schlieszliglich die letzte Wendung der Elegie keinen Zweifel mehr an der Tatsache laumlsstdass der Lehrvortrag des Priapus nur ein verzweifelter Versuch des elegischen Ichs ist dieeigene Hilfslosigkeit zu verbergen

Eine weitere Parallele zur hellenistischen Poesie ist die Ringkomposition in Tibulls Ele-gie 14 Die Ringkomposition bei der eine bestimmte Anzahl von Themen bis zu einemzentralen Punkt behandelt werden die dann nach diesem in der umgekehrten Reihen-folge wieder behandelt werden ist zwar schon seit Homer zu finden da sie anfaumlnglichwohl vor allem als Gedaumlchtnisstuumltze bei muumlndlicher Poesie diente97 Sie nimmt aber aucheinen wichtigen Platz in der hellenistischen Dichtung mit ihrer hohen Wertschaumltzung vonformalen Strukturen ein und laumlsst sich beispielsweise in Theokrits Idyll 28 wiederfinden98

Bei den Abschnitten in die sich die vierte Elegie gliedert faumlllt ein aumlhnliches Prinzipauf99 Die einleitende Anrede100 (A1) steht dem anschlieszligenden Kommentar des elegi-schen Ichs101 (A2) gegenuumlber die Warnung des Priapus vor der Knabenliebe102 (B1) derKritik an kaumluflicher Liebe und dem Lobpreis der Dichtung103 (B2) und die Passagen indenen Priapus zur Geduld und zu falschen Schwuumlren auffordert104 (C1) dem Aufruf da-zu den Wuumlnschen des Geliebten zu folgen105 (C2) Das Mittelstuumlck das als Spiegelachsedient bildet der Abschnitt (D) in dem auf die Vergaumlnglichkeit der Jungend aufmerksamgemacht wird106 (A2) kommentiert sein Gegenstuumlck ironisch indem es (A1) als voumllligsinnlos enthuumlllt und (B2) gibt einen moumlglichen Grund fuumlr die Warnung in (B1) an107

Auffaumlllig ist jedoch auch dass sich mit (B1) und (B2) zwei Abschnitte gegenuumlberstehenin denen Priapus seine ihm zugewiesene Rolle als Liebeslehrer verlaumlsst waumlhrend in (C1)und (C2) Priapus seine Rolle als Liebeslehrer erfuumlllt Der Abschnitt (D) nimmt zu Rechtdie wichtige Mittelstellung ein weil hier der verzweifelte Versuch des lyrischen Ichs Ma-rathus durch den vorgeschobenen Liebeslehrer Priapus doch noch fuumlr sich zu gewinnenbesonders deutlich durchschimmert Das Argument der Vergaumlnglichkeit der Jugend und

97 Vgl Cairns (1979) 195ndash19698 Vgl ebd 193ndash194 20299 Vgl ebd 207ndash208

100 Vv 1ndash8101 Vv 73-84102 Vv 9ndash14103 Vv 57ndash72104 V 15ndash26105 Vv 39ndash56106 Vv 27ndash38 Vgl ebd 207107 Vgl ebd

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HELLENISTISCHE LEUCHTFEUER IN TIBULLS PRIAPUS-ELEGIE

die daraus folgende Aufforderung die verbleibende Zeit zu nutzen wird naumlmlich vorrangigvon Liebenden verwendet um den Geliebten oder die Geliebte von einer Beziehung zuuumlberzeugen108 Tibull selbst verwendet diese Argumentation an anderer Stelle um seineDelia von sich zu uumlberzeugen109 Mit Abschnitt (D) steht folglich ein Abschnitt im Mit-telpunkt der unweigerlich die Doppelrolle des Priapus als Liebeslehrer einerseits und alsungluumlcklicher Liebender andererseits offenbart

Trotz der wiederholten Taumluschung des Lesers und der Ironie liegt der Elegie alsoauch eine klare Gliederung zu Grunde die dafuumlr sorgt dass der Leser nicht voumlllig die Ori-entierung verliert und ebenfalls die besondere Rolle des Priapus als Maske des elegischenIchs hervorhebt

5 Mit Hilfe der durch Genette gepraumlgten Begriffe der Inter- und der Hypertextualitaumltlassen sich folglich viele verschiedene Einwirkungen hellenistischer Poesie auf die vierteElegie ausmachen Auch wenn es nicht immer leicht ist beide Begriffe klar voneinanderabzugrenzen haben sie es doch ermoumlglicht die verschiedenen Arten der Einwirkung einesTextes auf einen anderen zu unterscheiden und so ein systematisches detaillierteres undvollstaumlndigeres Bild der Beziehungen zwischen hellenistischer Dichtung und Tibulls Elegieaufzuzeigen

Intertextuelle Beziehungen lassen sich besonders deutlich zwischen Tibull und Kal-limachosrsquo Aitien Iamben und Epigrammen ausmachen Diese werden sinnvoll und pro-duktiv in die Elegie eingebunden und stets verwendet um den Inhalt der Elegie deut-licher hervorzuheben Gleichzeitig lassen sie sich auch poetologisch deuten Die groszligenAumlhnlichkeiten zu Kallimachos besonders im letzten Teil der Elegie110 sind auf eine Wie-dererkennung durch den Leser ausgelegt und verdeutlichen ihm dass sich in der Elegienoch weitere nicht so direkte und woumlrtliche Bezuumlge zu Kallimachos im Besonderen undzur hellenistischen Dichtung im Allgemeinen finden lassen Sie bewirken dass der Lesernach weiteren indirekteren Parallelen sucht und bereits nach der typischen hellenistischenIronie und Unberechenbarkeit oder aumlhnlichen Merkmalen der hellenistischen DichtungAusschau haumllt

Diese indirekteren von Genette als hypertextuell bezeichneten Beziehungen lassensich in der Tat ebenfalls in groszliger Zahl in der Elegie wiederfinden Die Elegie wurdewohl nach dem Vorbild von Kallimachosrsquo neuntem Iambus gestaltet Auszligerdem werdenauch sie konsequent verwendet um den Inhalt kunstvoll zu unterstreichen und dem Le-ser das Verstaumlndnis der gesamten Elegie zu erleichtern Die Ironie weist eindeutig auf dieMaskenfunktion des Priapus hin die haumlufigen Uumlberraschungen fuumlr den Leser auf die Unbe-staumlndigkeit der Liebe Durch die Ringkomposition bietet Tibull dem Leser aber dennochnoch einige Orientierungshilfen durch die sich die Elegie leichter verstehen laumlsst

108 Vgl ebd Radicke (2006) 199109 Vgl Tib 1168ndash78110 Vv 57ndash84

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HELEN E NEUTZLER

Die Funktion der transtextuellen Beziehungen ist es daher die Aussage hervorzuhe-ben dass Liebe nicht gelehrt nicht erlernt und nicht beherrscht werden kann Sie werdennicht einfach um ihrer selbst willen uumlbernommen sondern veraumlndert neu angeordnetund zu etwas voumlllig Neuem zu einer subjektiven Liebesgeschichte zusammengefuumlgt Zu-gleich werden sie jedoch nicht so verfremdet dass der Leser sie nicht wiedererkennen kannDurch die Beziehungen zur hellenistischen Dichtung schafft Tibull deutlich hervorstechen-de Orientierungspunkte fuumlr den Leser und hebt dabei zugleich die Botschaft der absolutenHilfslosigkeit in der Liebe gekonnt auszligergewoumlhnlich und aumluszligerst unterhaltsam hervor jabildet sie sogar ganz konkret durch die Gestaltung der Elegie ab ohne dabei die Leserorientierungslos oder gar bdquoill-preparedldquo im Dunkeln zuruumlckzulassen

Uumlber die Autorin Helen E Neutzler ist seit dem Wintersemester 20132014 BA-Studentin der Faumlcher klassische Philologie und Archaumlologische Wissenschaften an derRuhr-Universitaumlt Bochum Schwerpunkte legt sie in diesen beiden Faumlchern auf Latein unddie klassische Archaumlologie Im Oktober 2014 wurde ihr ein Stipendium des Bildungsfondsder RUB im Rahmen des Deutschlandstipendiums verliehen

Bibliography

Textausgaben und Kommentare

Albius Tibullus aliorumque Carmina Edidit Georg Luck Stuttgart 1988Callimachus Volumen I Fragmenta Edidit Rudolfus Pfeiffer Oxford 1949Callimachus Volumen II Hymni et Epigrammata Edidit Rudolfus Pfeiffer Oxford 1953Asper (2004) Markus Asper Kallimachos Werke Griechisch und Deutsch Darmstadt

2004Maltby (2002) Robert Maltby Tibullus Elegies Text Introduction and Commentary

Cambridge 2002Murgatroyd (1980) Paul Murgatroyd Tibullus I A Commentary on the First Book of

Albius Tibullus Bristol 1980Smith (1913) Kirby F Smith The Elegies of Albius Tibullus The Corpus Tibullianum

Edited With Introduction and Notes on Books I II and IV 2ndash14 Darmstadt 31964(1913)

Monographien und Aufsaumltze

Bright (1978) David F Bright Haec mihi fingebam Tibullus in his World Leiden 1978Bulloch (1973) Anthony W Bulloch bdquoTibullus and the Alexandriansldquo PCPhS 19 1973

71ndash89Cairns (1979) Francis Cairns Tibullus A Hellenistic Poet at Rome Cambridge 1979Dawson (1946) Christopher M Dawson bdquoAn Alexandrian Prototype of Marathusldquo AJPh

67 1946 1ndash15

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HELLENISTISCHE LEUCHTFEUER IN TIBULLS PRIAPUS-ELEGIE

Genette (1993) Geacuterard Genette Palimpseste Die Literatur auf zweiter Stufe Frankfurta M 1993

Giangrande (1986) Giusepppe Giangrande bdquoTheocritusrsquo Twelfth and Fourth Idylls AStudy in Hellenistic Ironyldquo in Bernd Effe (Hg) Theokrit und die griechische BukolikDarmstadt 1986 37ndash55

Grimal (1962) Pierre Grimal bdquoTibulle et Heacutesiodeldquo Entretiens 7 1962 271ndash301Jacoby (1910) Felix Jacoby bdquoTibulls erste Elegie Ein Beitrag zum Verstaumlndnis der Ti-

bullischen Kunstldquo RhM 65 1910 22ndash87Lee-Stecum (1998) Parshia Lee-Stecum Powerplay in Tibullus Reading Elegies Book

One Cambridge 1998Lehnus (2011) Luigi Lehnus bdquoCallimachus Rediscovered in Papyrildquo in Benjamin Acosta-

Hughes Luigi Lehnus ua (Hgg) Brills Companion to Callimachus Leiden 2011 23ndash38

Littlewood (1983) R Joy Littlewood bdquoHumour in Tibullusldquo ANRW II 303 1983 2128ndash2158

Luck (1959) Georg Luck The Latin Love Elegy London 21969 (1959)Radicke (2006) Jan Radicke bdquoPriapus ein raumltselhafter Liebeslehrer Zur Interpretation

von Tibulls Elegie I 4ldquo Hermes 1342 2006 195ndash210Solmsen (1962) Friedrich Solmsen bdquoTibullus as an Augustan Poetldquo Hermes 90 1962

259ndash325Wilhelm (1896) Friedrich Wilhelm bdquoZu Tibullus (I 4)ldquo in Satura Viadrina Festschrift

zum fuumlnfundzwangzigjaumlhrigen Bestehen des philologischen Vereins zu Breslau Bres-lau 1896 48ndash58

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nur fuumlr einen gewissen Titius in Erfahrung gebracht habe63 Doch damit nicht genug SedTitium coniunx haec meminisse vetat (Aber seine Frau verbietet Titius sich daran zuerinnern)64 Da Titius nun aber gar keinen Gebrauch von seinen Lehren machen kanngibt sich das elegische Ich im Folgenden einer Vision von sich selbst als Liebeslehrer hinMe qui spernuntur amantes consultent (Moumlgen mich die Liebenden die zuruumlckgewie-sen werden um Rat fragen)65 Doch auch diese vom Leser nach zweimaliger Irrefuumlhrunggerade erst gewonnene Information wird sofort wieder fuumlr unguumlltig erklaumlrt Das elegischeIch wird selbst von einem Knaben zuruumlckgewiesen und gequaumllt66 Es wird klar dass daselegische Ich alle Ratschlaumlge doch zumindest zum Teil auch fuumlr sich erfragt hat selbst inder Knabenliebe wenig erfolgreich und somit auch nur wenig als Liebeslehrer geeignet istDurch das verzweifelte Flehen Parce puer quaeso (Verschone mich Junge bitte)67 wirddie Hilflosigkeit des elegischen Ichs deutlich Alle vorher gegebenen Ratschlaumlge sind in derLiebe voumlllig nutzlos

Tibull fuumlhrt seine Leser also wiederholt in die Irre indem er ganz bewusst Infor-mationen zuruumlckhaumllt oder die bisherigen Erwartungen des Lesers enttaumluscht Dadurchgelingt es ihm nicht nur den Leser zu unterhalten sondern auch ihn waumlhrend der gan-zen Elegie in einem Zustand der staumlndigen Spannung verharren zu lassen Auch koumlnnteman meinen dass durch diese staumlndigen Taumluschungen die Unberechenbarkeit und die Un-vorhersehbarkeit der Liebe unterstrichen werden Genauso wie der Leser im Verlauf derElegie nie wirklich sicher sein kann woran er ist ist auch der Liebende nie wirklich aufder sicheren Seite kann die Reaktion des anderen nie vorausplanen muss immer mit demUnvorstellbaren rechnen

Ein weiteres hellenistisches Merkmal das Tibull nachahmt ist die Ironie Kallima-chosrsquo bdquointelligenter Witzldquo68 und Theokrits bdquofelicitously ironic and grotesque effectsldquo69 dieoft durch das Versetzen von Elementen der staumldtischen Kultur zu einfachen Schafhirtenhervorgerufen werden70 koumlnnen durchaus als Vorbilder fuumlr die feine Ironie gedient habendie die gesamte Elegie durchzieht

Schon allein der Gedanke dass die unvorhersehbare Liebe die sich keinen Regeln un-terwirft durch eine bestimmte Technik oder durch das Einhalten bestimmter Ratschlaumlgeerlernt berechnet oder beherrscht werden kann ist amuumlsant71 Derselben Idee wird sichspaumlter auch Ovid in seiner Ars amatoria bedienen

Aber auch der Gott Priapus wird auf sehr ironische und belustigende Weise ein-

63 Vgl V 7364 V 7465 Vv 77ndash7866 Vgl V 8167 V 8368 Asper (2004) 5369 Giangrande (1986) 4970 Vgl ebd71 Vgl Littlewood (1983) 2152

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HELEN E NEUTZLER

gefuumlhrt Zunaumlchst wird er dem Leser dem allgemeinem Bild von ihm entsprechend alswenig gepflegter Gott72 als rusticus und armatus curva falce73 vorgestellt Dann ist daszum Lehrvortrag uumlberleitende Distichon74 aber durch sehr poetische und ernste Spracheausgestaltet Es wird das archaische Wort proles75 verwendet das einen feierlichen undernsthaften Ton hat76 das sic ego77 erinnert an epischen Sprachgebrauch78 und die Haumlu-figkeit von Spondeen steigt deutlich an79 so dass die Ernsthaftigkeit und Bedeutung desDistichons deutlich gesteigert werden Somit dient das Distichon nicht nur als Uumlberleitungvon der Rede des elegischen Ichs zu der des Gottes sondern verwandelt auch vor den geis-tigen Augen des augusteischen Lesers den ihm als einfach ungebildet und ithyphallischbekannten Gartengott Priapus in eine ernstzunehmende fast schon heroische LehrpersonDiese Art Ironie durch den Gegensatz zwischen heroischer Uumlberhoumlhung und baumluerlicherEinfachheit zu erzeugen erinnert ein wenig an die von Giangrande beschriebene IronieTheokrits

Es folgt der Vortrag des Priapus selbst der von Maltby als bdquomock-didacticldquo80 be-schrieben wird Dieser Eindruck kommt durch den Gegensatz zwischen dem formell vor-getragenen und rhetorisch ausgearbeiteten Vortrag des Priapus und dem eher informellenThema und der Tatsache dass Priapusrsquo praecepta hauptsaumlchlich auf allgemeinen Banalitauml-ten fuszligen zustande Dies vermag schon die naumlhere Untersuchung des ersten praeceptum81

der Rede zu zeigen Der Rat nicht gleich aufzugeben sondern Geduld zu haben wird bei-spielsweise durch das Bild von Menschen die es im Laufe der Zeit schaffen sogar Loumlwenzu zaumlhmen von Wasser das mit der Zeit einen Stein aushoumlhlen kann von Trauben diein der Sonne reifen und von Sternen die sich auf ihren festgelegten Bahnen fortbewegenkunstvoll illustriert82 Die besondere Macht der Zeit wird durch die Anaphern von longadies83 und annus84 hervorgehoben Gleichzeitig ist es voumlllig offenbar dass der Rat ab-zuwarten und die Zeit fuumlr sich arbeiten zu lassen kein voumlllig neuer vorher unbekannterGeniestreich des Priapus ist Dennoch scheint er vom Liebesratgeber Priapus voumlllig ernstgenommen und fuumlr aumluszligerst wichtig gehalten zu werden Dadurch entsteht ein uumlberaus iro-nischer Eindruck Dieses Prinzip eine sorgfaumlltige Gliederung in praeceptum gefolgt vonBeispielen und stilistischen Figuren bei eigentlich trivialen Ratschlaumlgen ist auch bei allenfolgenden Abschnitten der Rede festzustellen

72Vgl V 473 Vgl Vv 7ndash874 Vv 7ndash875 V 776 Murgatroyd (1980) 13477 V 678 Vgl Maltby (2002) 21879 Vgl Littlewood (1983) 215380 Malbty (2002) 21581 Vv 15ndash2082 Vgl Vv 17-2083 Vv 171884 Vv 1920

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HELLENISTISCHE LEUCHTFEUER IN TIBULLS PRIAPUS-ELEGIE

In der finalen Wendung der Elegie kommt eine ganz neue Nuance von Ironie zumTragen Nachdem vorher Ironie auf Kosten des Priapus eingesetzt worden ist wird durchdas Eingestehen der eigenen Machtlosigkeit durch das elegische Ich85 nun noch der Aspektder Selbstironie hinzugefuumlgt Das elegische Ich das sich vorher noch ausgemalt hat dasseine Schar junger Maumlnner es deducat86 was ein Fachausdruck fuumlr das Ehrengeleit einerbedeutenden Persoumlnlichkeit oder eines Politikers darstellt87verliert so all seine Autoritaumltmuss gar befuumlrchten dass die Leser es auslachen werden88 Doch nicht nur das elegischeIch wird so ins Laumlcherliche gezogen die gesamte Elegie verliert durch die Erkenntnisdass alle Ratschlaumlge im Angesicht der Liebe nur vana magisteria (leere Lehren)89 sindihre Aussagekraft und Bedeutung Diese Bedeutungslosigkeit und die daraus resultieren-de Hilfslosigkeit werden durch die Positionierung dieses Ausdrucks am Schluss der Elegiehervorgehoben Zu der wirkungsvollen Stellung kommt die Besonderheit dass hier mitmagisteria ein fuumlnfsilbiges Wort am Ende des Pentameter steht was ansonsten von Ti-bull eher vermieden wird90 Die Elegie endet folglich mit der Feststellung dass sie ihrenvordergruumlndigen Sinn das Geben von Ratschlaumlgen fuumlr die Knabenliebe nicht erfuumlllenkonnte Diese Form der Ironie beschreibt Luck deshalb vielleicht nicht ganz zu Unrechtals bdquotouch of romantic ironyldquo91

Um die Funktion der Ironie besser verstehen zu koumlnnen ist Radickes Aufsatz uumlberdie Elegie 14 in dem er feststellt dass die Rede des Priapus durch bdquounzuverlaumlssige Redeldquogekennzeichnet ist aumluszligerst hilfreich92 Auf diese bdquounzuverlaumlssige Redeldquo werde schon vorder Schlusspointe hingewiesen indem Priapus schon waumlhrend seines Lehrvortrags mit zu-nehmender Deutlichkeit zwischen seiner vordergruumlndigen Rolle als Liebeslehrer und derRolle des verschmaumlhten Liebhabers die ja eigentlich dem elegischen Ich zukommt hinund her springe Dies werde dadurch deutlich dass einige Abschnitte der Rede wie zBdie Warnung vor der Liebe93 oder die Kritik an kaumluflicher Liebe94 eindeutig aus Sichteines ungluumlcklichen Liebhabers erfolgen waumlhrend andere durchaus zur Rolle als Liebes-lehrer passen95 Dadurch werde offenbar dass es sich bei dem durch das elegische Ichwiedergegebenen Dialog gar nicht um einen solchen handle sondern Priapus vielmehr dieFunktion einer bdquoMaske durch die das elegische Ich seine Gefuumlhle mitteilt oder bessergesagt seine Gefuumlhle zu verbergen suchtldquo96 erfuumlllt und der Lehrvortrag als letzter ver-zweifelter Versuch zu werten sei Marathus von sich zu uumlberzeugen Auch die Tatsache

85 Vgl Vv 81ndash8486 V 8087 Vgl Georges s V deduco II e ζ αα88 Vgl V 8489 V 8490 Vgl Maltby (2002) 23991 Luck (1959) 9992 Vgl Radicke (2006)93 Vv 8ndash1694 Vv 57ndash7295 Vv 15ndash20 21ndash26 39ndash5096 Ebd 202

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HELEN E NEUTZLER

dass die Elegie von Beginn an von Ironie durchzogen wird die zum Ende hin immer staumlr-ker wird koumlnnte als Hinweis auf diese bdquounzuverlaumlssige Redeldquo gewertet werden Der Leserwird durch die ironische Einfuumlhrung des Priapus gleich darauf hingewiesen dass dieser alsLiebeslehrer nicht ganz ernst zu nehmen ist Der Gegensatz zwischen Ernsthaftigkeit undtrivialen Ratschlaumlgen in der Rede verweist zusaumltzlich zum Gegensatz zwischen der Rolledes Liebeslehrers und des Liebenden noch deutlicher auf die Maskenfunktion des Priapusbis schlieszliglich die letzte Wendung der Elegie keinen Zweifel mehr an der Tatsache laumlsstdass der Lehrvortrag des Priapus nur ein verzweifelter Versuch des elegischen Ichs ist dieeigene Hilfslosigkeit zu verbergen

Eine weitere Parallele zur hellenistischen Poesie ist die Ringkomposition in Tibulls Ele-gie 14 Die Ringkomposition bei der eine bestimmte Anzahl von Themen bis zu einemzentralen Punkt behandelt werden die dann nach diesem in der umgekehrten Reihen-folge wieder behandelt werden ist zwar schon seit Homer zu finden da sie anfaumlnglichwohl vor allem als Gedaumlchtnisstuumltze bei muumlndlicher Poesie diente97 Sie nimmt aber aucheinen wichtigen Platz in der hellenistischen Dichtung mit ihrer hohen Wertschaumltzung vonformalen Strukturen ein und laumlsst sich beispielsweise in Theokrits Idyll 28 wiederfinden98

Bei den Abschnitten in die sich die vierte Elegie gliedert faumlllt ein aumlhnliches Prinzipauf99 Die einleitende Anrede100 (A1) steht dem anschlieszligenden Kommentar des elegi-schen Ichs101 (A2) gegenuumlber die Warnung des Priapus vor der Knabenliebe102 (B1) derKritik an kaumluflicher Liebe und dem Lobpreis der Dichtung103 (B2) und die Passagen indenen Priapus zur Geduld und zu falschen Schwuumlren auffordert104 (C1) dem Aufruf da-zu den Wuumlnschen des Geliebten zu folgen105 (C2) Das Mittelstuumlck das als Spiegelachsedient bildet der Abschnitt (D) in dem auf die Vergaumlnglichkeit der Jungend aufmerksamgemacht wird106 (A2) kommentiert sein Gegenstuumlck ironisch indem es (A1) als voumllligsinnlos enthuumlllt und (B2) gibt einen moumlglichen Grund fuumlr die Warnung in (B1) an107

Auffaumlllig ist jedoch auch dass sich mit (B1) und (B2) zwei Abschnitte gegenuumlberstehenin denen Priapus seine ihm zugewiesene Rolle als Liebeslehrer verlaumlsst waumlhrend in (C1)und (C2) Priapus seine Rolle als Liebeslehrer erfuumlllt Der Abschnitt (D) nimmt zu Rechtdie wichtige Mittelstellung ein weil hier der verzweifelte Versuch des lyrischen Ichs Ma-rathus durch den vorgeschobenen Liebeslehrer Priapus doch noch fuumlr sich zu gewinnenbesonders deutlich durchschimmert Das Argument der Vergaumlnglichkeit der Jugend und

97 Vgl Cairns (1979) 195ndash19698 Vgl ebd 193ndash194 20299 Vgl ebd 207ndash208

100 Vv 1ndash8101 Vv 73-84102 Vv 9ndash14103 Vv 57ndash72104 V 15ndash26105 Vv 39ndash56106 Vv 27ndash38 Vgl ebd 207107 Vgl ebd

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die daraus folgende Aufforderung die verbleibende Zeit zu nutzen wird naumlmlich vorrangigvon Liebenden verwendet um den Geliebten oder die Geliebte von einer Beziehung zuuumlberzeugen108 Tibull selbst verwendet diese Argumentation an anderer Stelle um seineDelia von sich zu uumlberzeugen109 Mit Abschnitt (D) steht folglich ein Abschnitt im Mit-telpunkt der unweigerlich die Doppelrolle des Priapus als Liebeslehrer einerseits und alsungluumlcklicher Liebender andererseits offenbart

Trotz der wiederholten Taumluschung des Lesers und der Ironie liegt der Elegie alsoauch eine klare Gliederung zu Grunde die dafuumlr sorgt dass der Leser nicht voumlllig die Ori-entierung verliert und ebenfalls die besondere Rolle des Priapus als Maske des elegischenIchs hervorhebt

5 Mit Hilfe der durch Genette gepraumlgten Begriffe der Inter- und der Hypertextualitaumltlassen sich folglich viele verschiedene Einwirkungen hellenistischer Poesie auf die vierteElegie ausmachen Auch wenn es nicht immer leicht ist beide Begriffe klar voneinanderabzugrenzen haben sie es doch ermoumlglicht die verschiedenen Arten der Einwirkung einesTextes auf einen anderen zu unterscheiden und so ein systematisches detaillierteres undvollstaumlndigeres Bild der Beziehungen zwischen hellenistischer Dichtung und Tibulls Elegieaufzuzeigen

Intertextuelle Beziehungen lassen sich besonders deutlich zwischen Tibull und Kal-limachosrsquo Aitien Iamben und Epigrammen ausmachen Diese werden sinnvoll und pro-duktiv in die Elegie eingebunden und stets verwendet um den Inhalt der Elegie deut-licher hervorzuheben Gleichzeitig lassen sie sich auch poetologisch deuten Die groszligenAumlhnlichkeiten zu Kallimachos besonders im letzten Teil der Elegie110 sind auf eine Wie-dererkennung durch den Leser ausgelegt und verdeutlichen ihm dass sich in der Elegienoch weitere nicht so direkte und woumlrtliche Bezuumlge zu Kallimachos im Besonderen undzur hellenistischen Dichtung im Allgemeinen finden lassen Sie bewirken dass der Lesernach weiteren indirekteren Parallelen sucht und bereits nach der typischen hellenistischenIronie und Unberechenbarkeit oder aumlhnlichen Merkmalen der hellenistischen DichtungAusschau haumllt

Diese indirekteren von Genette als hypertextuell bezeichneten Beziehungen lassensich in der Tat ebenfalls in groszliger Zahl in der Elegie wiederfinden Die Elegie wurdewohl nach dem Vorbild von Kallimachosrsquo neuntem Iambus gestaltet Auszligerdem werdenauch sie konsequent verwendet um den Inhalt kunstvoll zu unterstreichen und dem Le-ser das Verstaumlndnis der gesamten Elegie zu erleichtern Die Ironie weist eindeutig auf dieMaskenfunktion des Priapus hin die haumlufigen Uumlberraschungen fuumlr den Leser auf die Unbe-staumlndigkeit der Liebe Durch die Ringkomposition bietet Tibull dem Leser aber dennochnoch einige Orientierungshilfen durch die sich die Elegie leichter verstehen laumlsst

108 Vgl ebd Radicke (2006) 199109 Vgl Tib 1168ndash78110 Vv 57ndash84

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HELEN E NEUTZLER

Die Funktion der transtextuellen Beziehungen ist es daher die Aussage hervorzuhe-ben dass Liebe nicht gelehrt nicht erlernt und nicht beherrscht werden kann Sie werdennicht einfach um ihrer selbst willen uumlbernommen sondern veraumlndert neu angeordnetund zu etwas voumlllig Neuem zu einer subjektiven Liebesgeschichte zusammengefuumlgt Zu-gleich werden sie jedoch nicht so verfremdet dass der Leser sie nicht wiedererkennen kannDurch die Beziehungen zur hellenistischen Dichtung schafft Tibull deutlich hervorstechen-de Orientierungspunkte fuumlr den Leser und hebt dabei zugleich die Botschaft der absolutenHilfslosigkeit in der Liebe gekonnt auszligergewoumlhnlich und aumluszligerst unterhaltsam hervor jabildet sie sogar ganz konkret durch die Gestaltung der Elegie ab ohne dabei die Leserorientierungslos oder gar bdquoill-preparedldquo im Dunkeln zuruumlckzulassen

Uumlber die Autorin Helen E Neutzler ist seit dem Wintersemester 20132014 BA-Studentin der Faumlcher klassische Philologie und Archaumlologische Wissenschaften an derRuhr-Universitaumlt Bochum Schwerpunkte legt sie in diesen beiden Faumlchern auf Latein unddie klassische Archaumlologie Im Oktober 2014 wurde ihr ein Stipendium des Bildungsfondsder RUB im Rahmen des Deutschlandstipendiums verliehen

Bibliography

Textausgaben und Kommentare

Albius Tibullus aliorumque Carmina Edidit Georg Luck Stuttgart 1988Callimachus Volumen I Fragmenta Edidit Rudolfus Pfeiffer Oxford 1949Callimachus Volumen II Hymni et Epigrammata Edidit Rudolfus Pfeiffer Oxford 1953Asper (2004) Markus Asper Kallimachos Werke Griechisch und Deutsch Darmstadt

2004Maltby (2002) Robert Maltby Tibullus Elegies Text Introduction and Commentary

Cambridge 2002Murgatroyd (1980) Paul Murgatroyd Tibullus I A Commentary on the First Book of

Albius Tibullus Bristol 1980Smith (1913) Kirby F Smith The Elegies of Albius Tibullus The Corpus Tibullianum

Edited With Introduction and Notes on Books I II and IV 2ndash14 Darmstadt 31964(1913)

Monographien und Aufsaumltze

Bright (1978) David F Bright Haec mihi fingebam Tibullus in his World Leiden 1978Bulloch (1973) Anthony W Bulloch bdquoTibullus and the Alexandriansldquo PCPhS 19 1973

71ndash89Cairns (1979) Francis Cairns Tibullus A Hellenistic Poet at Rome Cambridge 1979Dawson (1946) Christopher M Dawson bdquoAn Alexandrian Prototype of Marathusldquo AJPh

67 1946 1ndash15

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HELLENISTISCHE LEUCHTFEUER IN TIBULLS PRIAPUS-ELEGIE

Genette (1993) Geacuterard Genette Palimpseste Die Literatur auf zweiter Stufe Frankfurta M 1993

Giangrande (1986) Giusepppe Giangrande bdquoTheocritusrsquo Twelfth and Fourth Idylls AStudy in Hellenistic Ironyldquo in Bernd Effe (Hg) Theokrit und die griechische BukolikDarmstadt 1986 37ndash55

Grimal (1962) Pierre Grimal bdquoTibulle et Heacutesiodeldquo Entretiens 7 1962 271ndash301Jacoby (1910) Felix Jacoby bdquoTibulls erste Elegie Ein Beitrag zum Verstaumlndnis der Ti-

bullischen Kunstldquo RhM 65 1910 22ndash87Lee-Stecum (1998) Parshia Lee-Stecum Powerplay in Tibullus Reading Elegies Book

One Cambridge 1998Lehnus (2011) Luigi Lehnus bdquoCallimachus Rediscovered in Papyrildquo in Benjamin Acosta-

Hughes Luigi Lehnus ua (Hgg) Brills Companion to Callimachus Leiden 2011 23ndash38

Littlewood (1983) R Joy Littlewood bdquoHumour in Tibullusldquo ANRW II 303 1983 2128ndash2158

Luck (1959) Georg Luck The Latin Love Elegy London 21969 (1959)Radicke (2006) Jan Radicke bdquoPriapus ein raumltselhafter Liebeslehrer Zur Interpretation

von Tibulls Elegie I 4ldquo Hermes 1342 2006 195ndash210Solmsen (1962) Friedrich Solmsen bdquoTibullus as an Augustan Poetldquo Hermes 90 1962

259ndash325Wilhelm (1896) Friedrich Wilhelm bdquoZu Tibullus (I 4)ldquo in Satura Viadrina Festschrift

zum fuumlnfundzwangzigjaumlhrigen Bestehen des philologischen Vereins zu Breslau Bres-lau 1896 48ndash58

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Page 13: Hellenistische Leuchtfeuer in Tibulls Priapus-Elegie · Hellenistische Leuchtfeuer in Tibulls Priapus-Elegie Transtextuelle Bezüge zur hellenistischen Dichtung und ihre Funktion

HELEN E NEUTZLER

gefuumlhrt Zunaumlchst wird er dem Leser dem allgemeinem Bild von ihm entsprechend alswenig gepflegter Gott72 als rusticus und armatus curva falce73 vorgestellt Dann ist daszum Lehrvortrag uumlberleitende Distichon74 aber durch sehr poetische und ernste Spracheausgestaltet Es wird das archaische Wort proles75 verwendet das einen feierlichen undernsthaften Ton hat76 das sic ego77 erinnert an epischen Sprachgebrauch78 und die Haumlu-figkeit von Spondeen steigt deutlich an79 so dass die Ernsthaftigkeit und Bedeutung desDistichons deutlich gesteigert werden Somit dient das Distichon nicht nur als Uumlberleitungvon der Rede des elegischen Ichs zu der des Gottes sondern verwandelt auch vor den geis-tigen Augen des augusteischen Lesers den ihm als einfach ungebildet und ithyphallischbekannten Gartengott Priapus in eine ernstzunehmende fast schon heroische LehrpersonDiese Art Ironie durch den Gegensatz zwischen heroischer Uumlberhoumlhung und baumluerlicherEinfachheit zu erzeugen erinnert ein wenig an die von Giangrande beschriebene IronieTheokrits

Es folgt der Vortrag des Priapus selbst der von Maltby als bdquomock-didacticldquo80 be-schrieben wird Dieser Eindruck kommt durch den Gegensatz zwischen dem formell vor-getragenen und rhetorisch ausgearbeiteten Vortrag des Priapus und dem eher informellenThema und der Tatsache dass Priapusrsquo praecepta hauptsaumlchlich auf allgemeinen Banalitauml-ten fuszligen zustande Dies vermag schon die naumlhere Untersuchung des ersten praeceptum81

der Rede zu zeigen Der Rat nicht gleich aufzugeben sondern Geduld zu haben wird bei-spielsweise durch das Bild von Menschen die es im Laufe der Zeit schaffen sogar Loumlwenzu zaumlhmen von Wasser das mit der Zeit einen Stein aushoumlhlen kann von Trauben diein der Sonne reifen und von Sternen die sich auf ihren festgelegten Bahnen fortbewegenkunstvoll illustriert82 Die besondere Macht der Zeit wird durch die Anaphern von longadies83 und annus84 hervorgehoben Gleichzeitig ist es voumlllig offenbar dass der Rat ab-zuwarten und die Zeit fuumlr sich arbeiten zu lassen kein voumlllig neuer vorher unbekannterGeniestreich des Priapus ist Dennoch scheint er vom Liebesratgeber Priapus voumlllig ernstgenommen und fuumlr aumluszligerst wichtig gehalten zu werden Dadurch entsteht ein uumlberaus iro-nischer Eindruck Dieses Prinzip eine sorgfaumlltige Gliederung in praeceptum gefolgt vonBeispielen und stilistischen Figuren bei eigentlich trivialen Ratschlaumlgen ist auch bei allenfolgenden Abschnitten der Rede festzustellen

72Vgl V 473 Vgl Vv 7ndash874 Vv 7ndash875 V 776 Murgatroyd (1980) 13477 V 678 Vgl Maltby (2002) 21879 Vgl Littlewood (1983) 215380 Malbty (2002) 21581 Vv 15ndash2082 Vgl Vv 17-2083 Vv 171884 Vv 1920

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HELLENISTISCHE LEUCHTFEUER IN TIBULLS PRIAPUS-ELEGIE

In der finalen Wendung der Elegie kommt eine ganz neue Nuance von Ironie zumTragen Nachdem vorher Ironie auf Kosten des Priapus eingesetzt worden ist wird durchdas Eingestehen der eigenen Machtlosigkeit durch das elegische Ich85 nun noch der Aspektder Selbstironie hinzugefuumlgt Das elegische Ich das sich vorher noch ausgemalt hat dasseine Schar junger Maumlnner es deducat86 was ein Fachausdruck fuumlr das Ehrengeleit einerbedeutenden Persoumlnlichkeit oder eines Politikers darstellt87verliert so all seine Autoritaumltmuss gar befuumlrchten dass die Leser es auslachen werden88 Doch nicht nur das elegischeIch wird so ins Laumlcherliche gezogen die gesamte Elegie verliert durch die Erkenntnisdass alle Ratschlaumlge im Angesicht der Liebe nur vana magisteria (leere Lehren)89 sindihre Aussagekraft und Bedeutung Diese Bedeutungslosigkeit und die daraus resultieren-de Hilfslosigkeit werden durch die Positionierung dieses Ausdrucks am Schluss der Elegiehervorgehoben Zu der wirkungsvollen Stellung kommt die Besonderheit dass hier mitmagisteria ein fuumlnfsilbiges Wort am Ende des Pentameter steht was ansonsten von Ti-bull eher vermieden wird90 Die Elegie endet folglich mit der Feststellung dass sie ihrenvordergruumlndigen Sinn das Geben von Ratschlaumlgen fuumlr die Knabenliebe nicht erfuumlllenkonnte Diese Form der Ironie beschreibt Luck deshalb vielleicht nicht ganz zu Unrechtals bdquotouch of romantic ironyldquo91

Um die Funktion der Ironie besser verstehen zu koumlnnen ist Radickes Aufsatz uumlberdie Elegie 14 in dem er feststellt dass die Rede des Priapus durch bdquounzuverlaumlssige Redeldquogekennzeichnet ist aumluszligerst hilfreich92 Auf diese bdquounzuverlaumlssige Redeldquo werde schon vorder Schlusspointe hingewiesen indem Priapus schon waumlhrend seines Lehrvortrags mit zu-nehmender Deutlichkeit zwischen seiner vordergruumlndigen Rolle als Liebeslehrer und derRolle des verschmaumlhten Liebhabers die ja eigentlich dem elegischen Ich zukommt hinund her springe Dies werde dadurch deutlich dass einige Abschnitte der Rede wie zBdie Warnung vor der Liebe93 oder die Kritik an kaumluflicher Liebe94 eindeutig aus Sichteines ungluumlcklichen Liebhabers erfolgen waumlhrend andere durchaus zur Rolle als Liebes-lehrer passen95 Dadurch werde offenbar dass es sich bei dem durch das elegische Ichwiedergegebenen Dialog gar nicht um einen solchen handle sondern Priapus vielmehr dieFunktion einer bdquoMaske durch die das elegische Ich seine Gefuumlhle mitteilt oder bessergesagt seine Gefuumlhle zu verbergen suchtldquo96 erfuumlllt und der Lehrvortrag als letzter ver-zweifelter Versuch zu werten sei Marathus von sich zu uumlberzeugen Auch die Tatsache

85 Vgl Vv 81ndash8486 V 8087 Vgl Georges s V deduco II e ζ αα88 Vgl V 8489 V 8490 Vgl Maltby (2002) 23991 Luck (1959) 9992 Vgl Radicke (2006)93 Vv 8ndash1694 Vv 57ndash7295 Vv 15ndash20 21ndash26 39ndash5096 Ebd 202

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dass die Elegie von Beginn an von Ironie durchzogen wird die zum Ende hin immer staumlr-ker wird koumlnnte als Hinweis auf diese bdquounzuverlaumlssige Redeldquo gewertet werden Der Leserwird durch die ironische Einfuumlhrung des Priapus gleich darauf hingewiesen dass dieser alsLiebeslehrer nicht ganz ernst zu nehmen ist Der Gegensatz zwischen Ernsthaftigkeit undtrivialen Ratschlaumlgen in der Rede verweist zusaumltzlich zum Gegensatz zwischen der Rolledes Liebeslehrers und des Liebenden noch deutlicher auf die Maskenfunktion des Priapusbis schlieszliglich die letzte Wendung der Elegie keinen Zweifel mehr an der Tatsache laumlsstdass der Lehrvortrag des Priapus nur ein verzweifelter Versuch des elegischen Ichs ist dieeigene Hilfslosigkeit zu verbergen

Eine weitere Parallele zur hellenistischen Poesie ist die Ringkomposition in Tibulls Ele-gie 14 Die Ringkomposition bei der eine bestimmte Anzahl von Themen bis zu einemzentralen Punkt behandelt werden die dann nach diesem in der umgekehrten Reihen-folge wieder behandelt werden ist zwar schon seit Homer zu finden da sie anfaumlnglichwohl vor allem als Gedaumlchtnisstuumltze bei muumlndlicher Poesie diente97 Sie nimmt aber aucheinen wichtigen Platz in der hellenistischen Dichtung mit ihrer hohen Wertschaumltzung vonformalen Strukturen ein und laumlsst sich beispielsweise in Theokrits Idyll 28 wiederfinden98

Bei den Abschnitten in die sich die vierte Elegie gliedert faumlllt ein aumlhnliches Prinzipauf99 Die einleitende Anrede100 (A1) steht dem anschlieszligenden Kommentar des elegi-schen Ichs101 (A2) gegenuumlber die Warnung des Priapus vor der Knabenliebe102 (B1) derKritik an kaumluflicher Liebe und dem Lobpreis der Dichtung103 (B2) und die Passagen indenen Priapus zur Geduld und zu falschen Schwuumlren auffordert104 (C1) dem Aufruf da-zu den Wuumlnschen des Geliebten zu folgen105 (C2) Das Mittelstuumlck das als Spiegelachsedient bildet der Abschnitt (D) in dem auf die Vergaumlnglichkeit der Jungend aufmerksamgemacht wird106 (A2) kommentiert sein Gegenstuumlck ironisch indem es (A1) als voumllligsinnlos enthuumlllt und (B2) gibt einen moumlglichen Grund fuumlr die Warnung in (B1) an107

Auffaumlllig ist jedoch auch dass sich mit (B1) und (B2) zwei Abschnitte gegenuumlberstehenin denen Priapus seine ihm zugewiesene Rolle als Liebeslehrer verlaumlsst waumlhrend in (C1)und (C2) Priapus seine Rolle als Liebeslehrer erfuumlllt Der Abschnitt (D) nimmt zu Rechtdie wichtige Mittelstellung ein weil hier der verzweifelte Versuch des lyrischen Ichs Ma-rathus durch den vorgeschobenen Liebeslehrer Priapus doch noch fuumlr sich zu gewinnenbesonders deutlich durchschimmert Das Argument der Vergaumlnglichkeit der Jugend und

97 Vgl Cairns (1979) 195ndash19698 Vgl ebd 193ndash194 20299 Vgl ebd 207ndash208

100 Vv 1ndash8101 Vv 73-84102 Vv 9ndash14103 Vv 57ndash72104 V 15ndash26105 Vv 39ndash56106 Vv 27ndash38 Vgl ebd 207107 Vgl ebd

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die daraus folgende Aufforderung die verbleibende Zeit zu nutzen wird naumlmlich vorrangigvon Liebenden verwendet um den Geliebten oder die Geliebte von einer Beziehung zuuumlberzeugen108 Tibull selbst verwendet diese Argumentation an anderer Stelle um seineDelia von sich zu uumlberzeugen109 Mit Abschnitt (D) steht folglich ein Abschnitt im Mit-telpunkt der unweigerlich die Doppelrolle des Priapus als Liebeslehrer einerseits und alsungluumlcklicher Liebender andererseits offenbart

Trotz der wiederholten Taumluschung des Lesers und der Ironie liegt der Elegie alsoauch eine klare Gliederung zu Grunde die dafuumlr sorgt dass der Leser nicht voumlllig die Ori-entierung verliert und ebenfalls die besondere Rolle des Priapus als Maske des elegischenIchs hervorhebt

5 Mit Hilfe der durch Genette gepraumlgten Begriffe der Inter- und der Hypertextualitaumltlassen sich folglich viele verschiedene Einwirkungen hellenistischer Poesie auf die vierteElegie ausmachen Auch wenn es nicht immer leicht ist beide Begriffe klar voneinanderabzugrenzen haben sie es doch ermoumlglicht die verschiedenen Arten der Einwirkung einesTextes auf einen anderen zu unterscheiden und so ein systematisches detaillierteres undvollstaumlndigeres Bild der Beziehungen zwischen hellenistischer Dichtung und Tibulls Elegieaufzuzeigen

Intertextuelle Beziehungen lassen sich besonders deutlich zwischen Tibull und Kal-limachosrsquo Aitien Iamben und Epigrammen ausmachen Diese werden sinnvoll und pro-duktiv in die Elegie eingebunden und stets verwendet um den Inhalt der Elegie deut-licher hervorzuheben Gleichzeitig lassen sie sich auch poetologisch deuten Die groszligenAumlhnlichkeiten zu Kallimachos besonders im letzten Teil der Elegie110 sind auf eine Wie-dererkennung durch den Leser ausgelegt und verdeutlichen ihm dass sich in der Elegienoch weitere nicht so direkte und woumlrtliche Bezuumlge zu Kallimachos im Besonderen undzur hellenistischen Dichtung im Allgemeinen finden lassen Sie bewirken dass der Lesernach weiteren indirekteren Parallelen sucht und bereits nach der typischen hellenistischenIronie und Unberechenbarkeit oder aumlhnlichen Merkmalen der hellenistischen DichtungAusschau haumllt

Diese indirekteren von Genette als hypertextuell bezeichneten Beziehungen lassensich in der Tat ebenfalls in groszliger Zahl in der Elegie wiederfinden Die Elegie wurdewohl nach dem Vorbild von Kallimachosrsquo neuntem Iambus gestaltet Auszligerdem werdenauch sie konsequent verwendet um den Inhalt kunstvoll zu unterstreichen und dem Le-ser das Verstaumlndnis der gesamten Elegie zu erleichtern Die Ironie weist eindeutig auf dieMaskenfunktion des Priapus hin die haumlufigen Uumlberraschungen fuumlr den Leser auf die Unbe-staumlndigkeit der Liebe Durch die Ringkomposition bietet Tibull dem Leser aber dennochnoch einige Orientierungshilfen durch die sich die Elegie leichter verstehen laumlsst

108 Vgl ebd Radicke (2006) 199109 Vgl Tib 1168ndash78110 Vv 57ndash84

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Die Funktion der transtextuellen Beziehungen ist es daher die Aussage hervorzuhe-ben dass Liebe nicht gelehrt nicht erlernt und nicht beherrscht werden kann Sie werdennicht einfach um ihrer selbst willen uumlbernommen sondern veraumlndert neu angeordnetund zu etwas voumlllig Neuem zu einer subjektiven Liebesgeschichte zusammengefuumlgt Zu-gleich werden sie jedoch nicht so verfremdet dass der Leser sie nicht wiedererkennen kannDurch die Beziehungen zur hellenistischen Dichtung schafft Tibull deutlich hervorstechen-de Orientierungspunkte fuumlr den Leser und hebt dabei zugleich die Botschaft der absolutenHilfslosigkeit in der Liebe gekonnt auszligergewoumlhnlich und aumluszligerst unterhaltsam hervor jabildet sie sogar ganz konkret durch die Gestaltung der Elegie ab ohne dabei die Leserorientierungslos oder gar bdquoill-preparedldquo im Dunkeln zuruumlckzulassen

Uumlber die Autorin Helen E Neutzler ist seit dem Wintersemester 20132014 BA-Studentin der Faumlcher klassische Philologie und Archaumlologische Wissenschaften an derRuhr-Universitaumlt Bochum Schwerpunkte legt sie in diesen beiden Faumlchern auf Latein unddie klassische Archaumlologie Im Oktober 2014 wurde ihr ein Stipendium des Bildungsfondsder RUB im Rahmen des Deutschlandstipendiums verliehen

Bibliography

Textausgaben und Kommentare

Albius Tibullus aliorumque Carmina Edidit Georg Luck Stuttgart 1988Callimachus Volumen I Fragmenta Edidit Rudolfus Pfeiffer Oxford 1949Callimachus Volumen II Hymni et Epigrammata Edidit Rudolfus Pfeiffer Oxford 1953Asper (2004) Markus Asper Kallimachos Werke Griechisch und Deutsch Darmstadt

2004Maltby (2002) Robert Maltby Tibullus Elegies Text Introduction and Commentary

Cambridge 2002Murgatroyd (1980) Paul Murgatroyd Tibullus I A Commentary on the First Book of

Albius Tibullus Bristol 1980Smith (1913) Kirby F Smith The Elegies of Albius Tibullus The Corpus Tibullianum

Edited With Introduction and Notes on Books I II and IV 2ndash14 Darmstadt 31964(1913)

Monographien und Aufsaumltze

Bright (1978) David F Bright Haec mihi fingebam Tibullus in his World Leiden 1978Bulloch (1973) Anthony W Bulloch bdquoTibullus and the Alexandriansldquo PCPhS 19 1973

71ndash89Cairns (1979) Francis Cairns Tibullus A Hellenistic Poet at Rome Cambridge 1979Dawson (1946) Christopher M Dawson bdquoAn Alexandrian Prototype of Marathusldquo AJPh

67 1946 1ndash15

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HELLENISTISCHE LEUCHTFEUER IN TIBULLS PRIAPUS-ELEGIE

Genette (1993) Geacuterard Genette Palimpseste Die Literatur auf zweiter Stufe Frankfurta M 1993

Giangrande (1986) Giusepppe Giangrande bdquoTheocritusrsquo Twelfth and Fourth Idylls AStudy in Hellenistic Ironyldquo in Bernd Effe (Hg) Theokrit und die griechische BukolikDarmstadt 1986 37ndash55

Grimal (1962) Pierre Grimal bdquoTibulle et Heacutesiodeldquo Entretiens 7 1962 271ndash301Jacoby (1910) Felix Jacoby bdquoTibulls erste Elegie Ein Beitrag zum Verstaumlndnis der Ti-

bullischen Kunstldquo RhM 65 1910 22ndash87Lee-Stecum (1998) Parshia Lee-Stecum Powerplay in Tibullus Reading Elegies Book

One Cambridge 1998Lehnus (2011) Luigi Lehnus bdquoCallimachus Rediscovered in Papyrildquo in Benjamin Acosta-

Hughes Luigi Lehnus ua (Hgg) Brills Companion to Callimachus Leiden 2011 23ndash38

Littlewood (1983) R Joy Littlewood bdquoHumour in Tibullusldquo ANRW II 303 1983 2128ndash2158

Luck (1959) Georg Luck The Latin Love Elegy London 21969 (1959)Radicke (2006) Jan Radicke bdquoPriapus ein raumltselhafter Liebeslehrer Zur Interpretation

von Tibulls Elegie I 4ldquo Hermes 1342 2006 195ndash210Solmsen (1962) Friedrich Solmsen bdquoTibullus as an Augustan Poetldquo Hermes 90 1962

259ndash325Wilhelm (1896) Friedrich Wilhelm bdquoZu Tibullus (I 4)ldquo in Satura Viadrina Festschrift

zum fuumlnfundzwangzigjaumlhrigen Bestehen des philologischen Vereins zu Breslau Bres-lau 1896 48ndash58

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Page 14: Hellenistische Leuchtfeuer in Tibulls Priapus-Elegie · Hellenistische Leuchtfeuer in Tibulls Priapus-Elegie Transtextuelle Bezüge zur hellenistischen Dichtung und ihre Funktion

HELLENISTISCHE LEUCHTFEUER IN TIBULLS PRIAPUS-ELEGIE

In der finalen Wendung der Elegie kommt eine ganz neue Nuance von Ironie zumTragen Nachdem vorher Ironie auf Kosten des Priapus eingesetzt worden ist wird durchdas Eingestehen der eigenen Machtlosigkeit durch das elegische Ich85 nun noch der Aspektder Selbstironie hinzugefuumlgt Das elegische Ich das sich vorher noch ausgemalt hat dasseine Schar junger Maumlnner es deducat86 was ein Fachausdruck fuumlr das Ehrengeleit einerbedeutenden Persoumlnlichkeit oder eines Politikers darstellt87verliert so all seine Autoritaumltmuss gar befuumlrchten dass die Leser es auslachen werden88 Doch nicht nur das elegischeIch wird so ins Laumlcherliche gezogen die gesamte Elegie verliert durch die Erkenntnisdass alle Ratschlaumlge im Angesicht der Liebe nur vana magisteria (leere Lehren)89 sindihre Aussagekraft und Bedeutung Diese Bedeutungslosigkeit und die daraus resultieren-de Hilfslosigkeit werden durch die Positionierung dieses Ausdrucks am Schluss der Elegiehervorgehoben Zu der wirkungsvollen Stellung kommt die Besonderheit dass hier mitmagisteria ein fuumlnfsilbiges Wort am Ende des Pentameter steht was ansonsten von Ti-bull eher vermieden wird90 Die Elegie endet folglich mit der Feststellung dass sie ihrenvordergruumlndigen Sinn das Geben von Ratschlaumlgen fuumlr die Knabenliebe nicht erfuumlllenkonnte Diese Form der Ironie beschreibt Luck deshalb vielleicht nicht ganz zu Unrechtals bdquotouch of romantic ironyldquo91

Um die Funktion der Ironie besser verstehen zu koumlnnen ist Radickes Aufsatz uumlberdie Elegie 14 in dem er feststellt dass die Rede des Priapus durch bdquounzuverlaumlssige Redeldquogekennzeichnet ist aumluszligerst hilfreich92 Auf diese bdquounzuverlaumlssige Redeldquo werde schon vorder Schlusspointe hingewiesen indem Priapus schon waumlhrend seines Lehrvortrags mit zu-nehmender Deutlichkeit zwischen seiner vordergruumlndigen Rolle als Liebeslehrer und derRolle des verschmaumlhten Liebhabers die ja eigentlich dem elegischen Ich zukommt hinund her springe Dies werde dadurch deutlich dass einige Abschnitte der Rede wie zBdie Warnung vor der Liebe93 oder die Kritik an kaumluflicher Liebe94 eindeutig aus Sichteines ungluumlcklichen Liebhabers erfolgen waumlhrend andere durchaus zur Rolle als Liebes-lehrer passen95 Dadurch werde offenbar dass es sich bei dem durch das elegische Ichwiedergegebenen Dialog gar nicht um einen solchen handle sondern Priapus vielmehr dieFunktion einer bdquoMaske durch die das elegische Ich seine Gefuumlhle mitteilt oder bessergesagt seine Gefuumlhle zu verbergen suchtldquo96 erfuumlllt und der Lehrvortrag als letzter ver-zweifelter Versuch zu werten sei Marathus von sich zu uumlberzeugen Auch die Tatsache

85 Vgl Vv 81ndash8486 V 8087 Vgl Georges s V deduco II e ζ αα88 Vgl V 8489 V 8490 Vgl Maltby (2002) 23991 Luck (1959) 9992 Vgl Radicke (2006)93 Vv 8ndash1694 Vv 57ndash7295 Vv 15ndash20 21ndash26 39ndash5096 Ebd 202

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HELEN E NEUTZLER

dass die Elegie von Beginn an von Ironie durchzogen wird die zum Ende hin immer staumlr-ker wird koumlnnte als Hinweis auf diese bdquounzuverlaumlssige Redeldquo gewertet werden Der Leserwird durch die ironische Einfuumlhrung des Priapus gleich darauf hingewiesen dass dieser alsLiebeslehrer nicht ganz ernst zu nehmen ist Der Gegensatz zwischen Ernsthaftigkeit undtrivialen Ratschlaumlgen in der Rede verweist zusaumltzlich zum Gegensatz zwischen der Rolledes Liebeslehrers und des Liebenden noch deutlicher auf die Maskenfunktion des Priapusbis schlieszliglich die letzte Wendung der Elegie keinen Zweifel mehr an der Tatsache laumlsstdass der Lehrvortrag des Priapus nur ein verzweifelter Versuch des elegischen Ichs ist dieeigene Hilfslosigkeit zu verbergen

Eine weitere Parallele zur hellenistischen Poesie ist die Ringkomposition in Tibulls Ele-gie 14 Die Ringkomposition bei der eine bestimmte Anzahl von Themen bis zu einemzentralen Punkt behandelt werden die dann nach diesem in der umgekehrten Reihen-folge wieder behandelt werden ist zwar schon seit Homer zu finden da sie anfaumlnglichwohl vor allem als Gedaumlchtnisstuumltze bei muumlndlicher Poesie diente97 Sie nimmt aber aucheinen wichtigen Platz in der hellenistischen Dichtung mit ihrer hohen Wertschaumltzung vonformalen Strukturen ein und laumlsst sich beispielsweise in Theokrits Idyll 28 wiederfinden98

Bei den Abschnitten in die sich die vierte Elegie gliedert faumlllt ein aumlhnliches Prinzipauf99 Die einleitende Anrede100 (A1) steht dem anschlieszligenden Kommentar des elegi-schen Ichs101 (A2) gegenuumlber die Warnung des Priapus vor der Knabenliebe102 (B1) derKritik an kaumluflicher Liebe und dem Lobpreis der Dichtung103 (B2) und die Passagen indenen Priapus zur Geduld und zu falschen Schwuumlren auffordert104 (C1) dem Aufruf da-zu den Wuumlnschen des Geliebten zu folgen105 (C2) Das Mittelstuumlck das als Spiegelachsedient bildet der Abschnitt (D) in dem auf die Vergaumlnglichkeit der Jungend aufmerksamgemacht wird106 (A2) kommentiert sein Gegenstuumlck ironisch indem es (A1) als voumllligsinnlos enthuumlllt und (B2) gibt einen moumlglichen Grund fuumlr die Warnung in (B1) an107

Auffaumlllig ist jedoch auch dass sich mit (B1) und (B2) zwei Abschnitte gegenuumlberstehenin denen Priapus seine ihm zugewiesene Rolle als Liebeslehrer verlaumlsst waumlhrend in (C1)und (C2) Priapus seine Rolle als Liebeslehrer erfuumlllt Der Abschnitt (D) nimmt zu Rechtdie wichtige Mittelstellung ein weil hier der verzweifelte Versuch des lyrischen Ichs Ma-rathus durch den vorgeschobenen Liebeslehrer Priapus doch noch fuumlr sich zu gewinnenbesonders deutlich durchschimmert Das Argument der Vergaumlnglichkeit der Jugend und

97 Vgl Cairns (1979) 195ndash19698 Vgl ebd 193ndash194 20299 Vgl ebd 207ndash208

100 Vv 1ndash8101 Vv 73-84102 Vv 9ndash14103 Vv 57ndash72104 V 15ndash26105 Vv 39ndash56106 Vv 27ndash38 Vgl ebd 207107 Vgl ebd

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HELLENISTISCHE LEUCHTFEUER IN TIBULLS PRIAPUS-ELEGIE

die daraus folgende Aufforderung die verbleibende Zeit zu nutzen wird naumlmlich vorrangigvon Liebenden verwendet um den Geliebten oder die Geliebte von einer Beziehung zuuumlberzeugen108 Tibull selbst verwendet diese Argumentation an anderer Stelle um seineDelia von sich zu uumlberzeugen109 Mit Abschnitt (D) steht folglich ein Abschnitt im Mit-telpunkt der unweigerlich die Doppelrolle des Priapus als Liebeslehrer einerseits und alsungluumlcklicher Liebender andererseits offenbart

Trotz der wiederholten Taumluschung des Lesers und der Ironie liegt der Elegie alsoauch eine klare Gliederung zu Grunde die dafuumlr sorgt dass der Leser nicht voumlllig die Ori-entierung verliert und ebenfalls die besondere Rolle des Priapus als Maske des elegischenIchs hervorhebt

5 Mit Hilfe der durch Genette gepraumlgten Begriffe der Inter- und der Hypertextualitaumltlassen sich folglich viele verschiedene Einwirkungen hellenistischer Poesie auf die vierteElegie ausmachen Auch wenn es nicht immer leicht ist beide Begriffe klar voneinanderabzugrenzen haben sie es doch ermoumlglicht die verschiedenen Arten der Einwirkung einesTextes auf einen anderen zu unterscheiden und so ein systematisches detaillierteres undvollstaumlndigeres Bild der Beziehungen zwischen hellenistischer Dichtung und Tibulls Elegieaufzuzeigen

Intertextuelle Beziehungen lassen sich besonders deutlich zwischen Tibull und Kal-limachosrsquo Aitien Iamben und Epigrammen ausmachen Diese werden sinnvoll und pro-duktiv in die Elegie eingebunden und stets verwendet um den Inhalt der Elegie deut-licher hervorzuheben Gleichzeitig lassen sie sich auch poetologisch deuten Die groszligenAumlhnlichkeiten zu Kallimachos besonders im letzten Teil der Elegie110 sind auf eine Wie-dererkennung durch den Leser ausgelegt und verdeutlichen ihm dass sich in der Elegienoch weitere nicht so direkte und woumlrtliche Bezuumlge zu Kallimachos im Besonderen undzur hellenistischen Dichtung im Allgemeinen finden lassen Sie bewirken dass der Lesernach weiteren indirekteren Parallelen sucht und bereits nach der typischen hellenistischenIronie und Unberechenbarkeit oder aumlhnlichen Merkmalen der hellenistischen DichtungAusschau haumllt

Diese indirekteren von Genette als hypertextuell bezeichneten Beziehungen lassensich in der Tat ebenfalls in groszliger Zahl in der Elegie wiederfinden Die Elegie wurdewohl nach dem Vorbild von Kallimachosrsquo neuntem Iambus gestaltet Auszligerdem werdenauch sie konsequent verwendet um den Inhalt kunstvoll zu unterstreichen und dem Le-ser das Verstaumlndnis der gesamten Elegie zu erleichtern Die Ironie weist eindeutig auf dieMaskenfunktion des Priapus hin die haumlufigen Uumlberraschungen fuumlr den Leser auf die Unbe-staumlndigkeit der Liebe Durch die Ringkomposition bietet Tibull dem Leser aber dennochnoch einige Orientierungshilfen durch die sich die Elegie leichter verstehen laumlsst

108 Vgl ebd Radicke (2006) 199109 Vgl Tib 1168ndash78110 Vv 57ndash84

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HELEN E NEUTZLER

Die Funktion der transtextuellen Beziehungen ist es daher die Aussage hervorzuhe-ben dass Liebe nicht gelehrt nicht erlernt und nicht beherrscht werden kann Sie werdennicht einfach um ihrer selbst willen uumlbernommen sondern veraumlndert neu angeordnetund zu etwas voumlllig Neuem zu einer subjektiven Liebesgeschichte zusammengefuumlgt Zu-gleich werden sie jedoch nicht so verfremdet dass der Leser sie nicht wiedererkennen kannDurch die Beziehungen zur hellenistischen Dichtung schafft Tibull deutlich hervorstechen-de Orientierungspunkte fuumlr den Leser und hebt dabei zugleich die Botschaft der absolutenHilfslosigkeit in der Liebe gekonnt auszligergewoumlhnlich und aumluszligerst unterhaltsam hervor jabildet sie sogar ganz konkret durch die Gestaltung der Elegie ab ohne dabei die Leserorientierungslos oder gar bdquoill-preparedldquo im Dunkeln zuruumlckzulassen

Uumlber die Autorin Helen E Neutzler ist seit dem Wintersemester 20132014 BA-Studentin der Faumlcher klassische Philologie und Archaumlologische Wissenschaften an derRuhr-Universitaumlt Bochum Schwerpunkte legt sie in diesen beiden Faumlchern auf Latein unddie klassische Archaumlologie Im Oktober 2014 wurde ihr ein Stipendium des Bildungsfondsder RUB im Rahmen des Deutschlandstipendiums verliehen

Bibliography

Textausgaben und Kommentare

Albius Tibullus aliorumque Carmina Edidit Georg Luck Stuttgart 1988Callimachus Volumen I Fragmenta Edidit Rudolfus Pfeiffer Oxford 1949Callimachus Volumen II Hymni et Epigrammata Edidit Rudolfus Pfeiffer Oxford 1953Asper (2004) Markus Asper Kallimachos Werke Griechisch und Deutsch Darmstadt

2004Maltby (2002) Robert Maltby Tibullus Elegies Text Introduction and Commentary

Cambridge 2002Murgatroyd (1980) Paul Murgatroyd Tibullus I A Commentary on the First Book of

Albius Tibullus Bristol 1980Smith (1913) Kirby F Smith The Elegies of Albius Tibullus The Corpus Tibullianum

Edited With Introduction and Notes on Books I II and IV 2ndash14 Darmstadt 31964(1913)

Monographien und Aufsaumltze

Bright (1978) David F Bright Haec mihi fingebam Tibullus in his World Leiden 1978Bulloch (1973) Anthony W Bulloch bdquoTibullus and the Alexandriansldquo PCPhS 19 1973

71ndash89Cairns (1979) Francis Cairns Tibullus A Hellenistic Poet at Rome Cambridge 1979Dawson (1946) Christopher M Dawson bdquoAn Alexandrian Prototype of Marathusldquo AJPh

67 1946 1ndash15

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HELLENISTISCHE LEUCHTFEUER IN TIBULLS PRIAPUS-ELEGIE

Genette (1993) Geacuterard Genette Palimpseste Die Literatur auf zweiter Stufe Frankfurta M 1993

Giangrande (1986) Giusepppe Giangrande bdquoTheocritusrsquo Twelfth and Fourth Idylls AStudy in Hellenistic Ironyldquo in Bernd Effe (Hg) Theokrit und die griechische BukolikDarmstadt 1986 37ndash55

Grimal (1962) Pierre Grimal bdquoTibulle et Heacutesiodeldquo Entretiens 7 1962 271ndash301Jacoby (1910) Felix Jacoby bdquoTibulls erste Elegie Ein Beitrag zum Verstaumlndnis der Ti-

bullischen Kunstldquo RhM 65 1910 22ndash87Lee-Stecum (1998) Parshia Lee-Stecum Powerplay in Tibullus Reading Elegies Book

One Cambridge 1998Lehnus (2011) Luigi Lehnus bdquoCallimachus Rediscovered in Papyrildquo in Benjamin Acosta-

Hughes Luigi Lehnus ua (Hgg) Brills Companion to Callimachus Leiden 2011 23ndash38

Littlewood (1983) R Joy Littlewood bdquoHumour in Tibullusldquo ANRW II 303 1983 2128ndash2158

Luck (1959) Georg Luck The Latin Love Elegy London 21969 (1959)Radicke (2006) Jan Radicke bdquoPriapus ein raumltselhafter Liebeslehrer Zur Interpretation

von Tibulls Elegie I 4ldquo Hermes 1342 2006 195ndash210Solmsen (1962) Friedrich Solmsen bdquoTibullus as an Augustan Poetldquo Hermes 90 1962

259ndash325Wilhelm (1896) Friedrich Wilhelm bdquoZu Tibullus (I 4)ldquo in Satura Viadrina Festschrift

zum fuumlnfundzwangzigjaumlhrigen Bestehen des philologischen Vereins zu Breslau Bres-lau 1896 48ndash58

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Page 15: Hellenistische Leuchtfeuer in Tibulls Priapus-Elegie · Hellenistische Leuchtfeuer in Tibulls Priapus-Elegie Transtextuelle Bezüge zur hellenistischen Dichtung und ihre Funktion

HELEN E NEUTZLER

dass die Elegie von Beginn an von Ironie durchzogen wird die zum Ende hin immer staumlr-ker wird koumlnnte als Hinweis auf diese bdquounzuverlaumlssige Redeldquo gewertet werden Der Leserwird durch die ironische Einfuumlhrung des Priapus gleich darauf hingewiesen dass dieser alsLiebeslehrer nicht ganz ernst zu nehmen ist Der Gegensatz zwischen Ernsthaftigkeit undtrivialen Ratschlaumlgen in der Rede verweist zusaumltzlich zum Gegensatz zwischen der Rolledes Liebeslehrers und des Liebenden noch deutlicher auf die Maskenfunktion des Priapusbis schlieszliglich die letzte Wendung der Elegie keinen Zweifel mehr an der Tatsache laumlsstdass der Lehrvortrag des Priapus nur ein verzweifelter Versuch des elegischen Ichs ist dieeigene Hilfslosigkeit zu verbergen

Eine weitere Parallele zur hellenistischen Poesie ist die Ringkomposition in Tibulls Ele-gie 14 Die Ringkomposition bei der eine bestimmte Anzahl von Themen bis zu einemzentralen Punkt behandelt werden die dann nach diesem in der umgekehrten Reihen-folge wieder behandelt werden ist zwar schon seit Homer zu finden da sie anfaumlnglichwohl vor allem als Gedaumlchtnisstuumltze bei muumlndlicher Poesie diente97 Sie nimmt aber aucheinen wichtigen Platz in der hellenistischen Dichtung mit ihrer hohen Wertschaumltzung vonformalen Strukturen ein und laumlsst sich beispielsweise in Theokrits Idyll 28 wiederfinden98

Bei den Abschnitten in die sich die vierte Elegie gliedert faumlllt ein aumlhnliches Prinzipauf99 Die einleitende Anrede100 (A1) steht dem anschlieszligenden Kommentar des elegi-schen Ichs101 (A2) gegenuumlber die Warnung des Priapus vor der Knabenliebe102 (B1) derKritik an kaumluflicher Liebe und dem Lobpreis der Dichtung103 (B2) und die Passagen indenen Priapus zur Geduld und zu falschen Schwuumlren auffordert104 (C1) dem Aufruf da-zu den Wuumlnschen des Geliebten zu folgen105 (C2) Das Mittelstuumlck das als Spiegelachsedient bildet der Abschnitt (D) in dem auf die Vergaumlnglichkeit der Jungend aufmerksamgemacht wird106 (A2) kommentiert sein Gegenstuumlck ironisch indem es (A1) als voumllligsinnlos enthuumlllt und (B2) gibt einen moumlglichen Grund fuumlr die Warnung in (B1) an107

Auffaumlllig ist jedoch auch dass sich mit (B1) und (B2) zwei Abschnitte gegenuumlberstehenin denen Priapus seine ihm zugewiesene Rolle als Liebeslehrer verlaumlsst waumlhrend in (C1)und (C2) Priapus seine Rolle als Liebeslehrer erfuumlllt Der Abschnitt (D) nimmt zu Rechtdie wichtige Mittelstellung ein weil hier der verzweifelte Versuch des lyrischen Ichs Ma-rathus durch den vorgeschobenen Liebeslehrer Priapus doch noch fuumlr sich zu gewinnenbesonders deutlich durchschimmert Das Argument der Vergaumlnglichkeit der Jugend und

97 Vgl Cairns (1979) 195ndash19698 Vgl ebd 193ndash194 20299 Vgl ebd 207ndash208

100 Vv 1ndash8101 Vv 73-84102 Vv 9ndash14103 Vv 57ndash72104 V 15ndash26105 Vv 39ndash56106 Vv 27ndash38 Vgl ebd 207107 Vgl ebd

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HELLENISTISCHE LEUCHTFEUER IN TIBULLS PRIAPUS-ELEGIE

die daraus folgende Aufforderung die verbleibende Zeit zu nutzen wird naumlmlich vorrangigvon Liebenden verwendet um den Geliebten oder die Geliebte von einer Beziehung zuuumlberzeugen108 Tibull selbst verwendet diese Argumentation an anderer Stelle um seineDelia von sich zu uumlberzeugen109 Mit Abschnitt (D) steht folglich ein Abschnitt im Mit-telpunkt der unweigerlich die Doppelrolle des Priapus als Liebeslehrer einerseits und alsungluumlcklicher Liebender andererseits offenbart

Trotz der wiederholten Taumluschung des Lesers und der Ironie liegt der Elegie alsoauch eine klare Gliederung zu Grunde die dafuumlr sorgt dass der Leser nicht voumlllig die Ori-entierung verliert und ebenfalls die besondere Rolle des Priapus als Maske des elegischenIchs hervorhebt

5 Mit Hilfe der durch Genette gepraumlgten Begriffe der Inter- und der Hypertextualitaumltlassen sich folglich viele verschiedene Einwirkungen hellenistischer Poesie auf die vierteElegie ausmachen Auch wenn es nicht immer leicht ist beide Begriffe klar voneinanderabzugrenzen haben sie es doch ermoumlglicht die verschiedenen Arten der Einwirkung einesTextes auf einen anderen zu unterscheiden und so ein systematisches detaillierteres undvollstaumlndigeres Bild der Beziehungen zwischen hellenistischer Dichtung und Tibulls Elegieaufzuzeigen

Intertextuelle Beziehungen lassen sich besonders deutlich zwischen Tibull und Kal-limachosrsquo Aitien Iamben und Epigrammen ausmachen Diese werden sinnvoll und pro-duktiv in die Elegie eingebunden und stets verwendet um den Inhalt der Elegie deut-licher hervorzuheben Gleichzeitig lassen sie sich auch poetologisch deuten Die groszligenAumlhnlichkeiten zu Kallimachos besonders im letzten Teil der Elegie110 sind auf eine Wie-dererkennung durch den Leser ausgelegt und verdeutlichen ihm dass sich in der Elegienoch weitere nicht so direkte und woumlrtliche Bezuumlge zu Kallimachos im Besonderen undzur hellenistischen Dichtung im Allgemeinen finden lassen Sie bewirken dass der Lesernach weiteren indirekteren Parallelen sucht und bereits nach der typischen hellenistischenIronie und Unberechenbarkeit oder aumlhnlichen Merkmalen der hellenistischen DichtungAusschau haumllt

Diese indirekteren von Genette als hypertextuell bezeichneten Beziehungen lassensich in der Tat ebenfalls in groszliger Zahl in der Elegie wiederfinden Die Elegie wurdewohl nach dem Vorbild von Kallimachosrsquo neuntem Iambus gestaltet Auszligerdem werdenauch sie konsequent verwendet um den Inhalt kunstvoll zu unterstreichen und dem Le-ser das Verstaumlndnis der gesamten Elegie zu erleichtern Die Ironie weist eindeutig auf dieMaskenfunktion des Priapus hin die haumlufigen Uumlberraschungen fuumlr den Leser auf die Unbe-staumlndigkeit der Liebe Durch die Ringkomposition bietet Tibull dem Leser aber dennochnoch einige Orientierungshilfen durch die sich die Elegie leichter verstehen laumlsst

108 Vgl ebd Radicke (2006) 199109 Vgl Tib 1168ndash78110 Vv 57ndash84

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Die Funktion der transtextuellen Beziehungen ist es daher die Aussage hervorzuhe-ben dass Liebe nicht gelehrt nicht erlernt und nicht beherrscht werden kann Sie werdennicht einfach um ihrer selbst willen uumlbernommen sondern veraumlndert neu angeordnetund zu etwas voumlllig Neuem zu einer subjektiven Liebesgeschichte zusammengefuumlgt Zu-gleich werden sie jedoch nicht so verfremdet dass der Leser sie nicht wiedererkennen kannDurch die Beziehungen zur hellenistischen Dichtung schafft Tibull deutlich hervorstechen-de Orientierungspunkte fuumlr den Leser und hebt dabei zugleich die Botschaft der absolutenHilfslosigkeit in der Liebe gekonnt auszligergewoumlhnlich und aumluszligerst unterhaltsam hervor jabildet sie sogar ganz konkret durch die Gestaltung der Elegie ab ohne dabei die Leserorientierungslos oder gar bdquoill-preparedldquo im Dunkeln zuruumlckzulassen

Uumlber die Autorin Helen E Neutzler ist seit dem Wintersemester 20132014 BA-Studentin der Faumlcher klassische Philologie und Archaumlologische Wissenschaften an derRuhr-Universitaumlt Bochum Schwerpunkte legt sie in diesen beiden Faumlchern auf Latein unddie klassische Archaumlologie Im Oktober 2014 wurde ihr ein Stipendium des Bildungsfondsder RUB im Rahmen des Deutschlandstipendiums verliehen

Bibliography

Textausgaben und Kommentare

Albius Tibullus aliorumque Carmina Edidit Georg Luck Stuttgart 1988Callimachus Volumen I Fragmenta Edidit Rudolfus Pfeiffer Oxford 1949Callimachus Volumen II Hymni et Epigrammata Edidit Rudolfus Pfeiffer Oxford 1953Asper (2004) Markus Asper Kallimachos Werke Griechisch und Deutsch Darmstadt

2004Maltby (2002) Robert Maltby Tibullus Elegies Text Introduction and Commentary

Cambridge 2002Murgatroyd (1980) Paul Murgatroyd Tibullus I A Commentary on the First Book of

Albius Tibullus Bristol 1980Smith (1913) Kirby F Smith The Elegies of Albius Tibullus The Corpus Tibullianum

Edited With Introduction and Notes on Books I II and IV 2ndash14 Darmstadt 31964(1913)

Monographien und Aufsaumltze

Bright (1978) David F Bright Haec mihi fingebam Tibullus in his World Leiden 1978Bulloch (1973) Anthony W Bulloch bdquoTibullus and the Alexandriansldquo PCPhS 19 1973

71ndash89Cairns (1979) Francis Cairns Tibullus A Hellenistic Poet at Rome Cambridge 1979Dawson (1946) Christopher M Dawson bdquoAn Alexandrian Prototype of Marathusldquo AJPh

67 1946 1ndash15

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HELLENISTISCHE LEUCHTFEUER IN TIBULLS PRIAPUS-ELEGIE

Genette (1993) Geacuterard Genette Palimpseste Die Literatur auf zweiter Stufe Frankfurta M 1993

Giangrande (1986) Giusepppe Giangrande bdquoTheocritusrsquo Twelfth and Fourth Idylls AStudy in Hellenistic Ironyldquo in Bernd Effe (Hg) Theokrit und die griechische BukolikDarmstadt 1986 37ndash55

Grimal (1962) Pierre Grimal bdquoTibulle et Heacutesiodeldquo Entretiens 7 1962 271ndash301Jacoby (1910) Felix Jacoby bdquoTibulls erste Elegie Ein Beitrag zum Verstaumlndnis der Ti-

bullischen Kunstldquo RhM 65 1910 22ndash87Lee-Stecum (1998) Parshia Lee-Stecum Powerplay in Tibullus Reading Elegies Book

One Cambridge 1998Lehnus (2011) Luigi Lehnus bdquoCallimachus Rediscovered in Papyrildquo in Benjamin Acosta-

Hughes Luigi Lehnus ua (Hgg) Brills Companion to Callimachus Leiden 2011 23ndash38

Littlewood (1983) R Joy Littlewood bdquoHumour in Tibullusldquo ANRW II 303 1983 2128ndash2158

Luck (1959) Georg Luck The Latin Love Elegy London 21969 (1959)Radicke (2006) Jan Radicke bdquoPriapus ein raumltselhafter Liebeslehrer Zur Interpretation

von Tibulls Elegie I 4ldquo Hermes 1342 2006 195ndash210Solmsen (1962) Friedrich Solmsen bdquoTibullus as an Augustan Poetldquo Hermes 90 1962

259ndash325Wilhelm (1896) Friedrich Wilhelm bdquoZu Tibullus (I 4)ldquo in Satura Viadrina Festschrift

zum fuumlnfundzwangzigjaumlhrigen Bestehen des philologischen Vereins zu Breslau Bres-lau 1896 48ndash58

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HELLENISTISCHE LEUCHTFEUER IN TIBULLS PRIAPUS-ELEGIE

die daraus folgende Aufforderung die verbleibende Zeit zu nutzen wird naumlmlich vorrangigvon Liebenden verwendet um den Geliebten oder die Geliebte von einer Beziehung zuuumlberzeugen108 Tibull selbst verwendet diese Argumentation an anderer Stelle um seineDelia von sich zu uumlberzeugen109 Mit Abschnitt (D) steht folglich ein Abschnitt im Mit-telpunkt der unweigerlich die Doppelrolle des Priapus als Liebeslehrer einerseits und alsungluumlcklicher Liebender andererseits offenbart

Trotz der wiederholten Taumluschung des Lesers und der Ironie liegt der Elegie alsoauch eine klare Gliederung zu Grunde die dafuumlr sorgt dass der Leser nicht voumlllig die Ori-entierung verliert und ebenfalls die besondere Rolle des Priapus als Maske des elegischenIchs hervorhebt

5 Mit Hilfe der durch Genette gepraumlgten Begriffe der Inter- und der Hypertextualitaumltlassen sich folglich viele verschiedene Einwirkungen hellenistischer Poesie auf die vierteElegie ausmachen Auch wenn es nicht immer leicht ist beide Begriffe klar voneinanderabzugrenzen haben sie es doch ermoumlglicht die verschiedenen Arten der Einwirkung einesTextes auf einen anderen zu unterscheiden und so ein systematisches detaillierteres undvollstaumlndigeres Bild der Beziehungen zwischen hellenistischer Dichtung und Tibulls Elegieaufzuzeigen

Intertextuelle Beziehungen lassen sich besonders deutlich zwischen Tibull und Kal-limachosrsquo Aitien Iamben und Epigrammen ausmachen Diese werden sinnvoll und pro-duktiv in die Elegie eingebunden und stets verwendet um den Inhalt der Elegie deut-licher hervorzuheben Gleichzeitig lassen sie sich auch poetologisch deuten Die groszligenAumlhnlichkeiten zu Kallimachos besonders im letzten Teil der Elegie110 sind auf eine Wie-dererkennung durch den Leser ausgelegt und verdeutlichen ihm dass sich in der Elegienoch weitere nicht so direkte und woumlrtliche Bezuumlge zu Kallimachos im Besonderen undzur hellenistischen Dichtung im Allgemeinen finden lassen Sie bewirken dass der Lesernach weiteren indirekteren Parallelen sucht und bereits nach der typischen hellenistischenIronie und Unberechenbarkeit oder aumlhnlichen Merkmalen der hellenistischen DichtungAusschau haumllt

Diese indirekteren von Genette als hypertextuell bezeichneten Beziehungen lassensich in der Tat ebenfalls in groszliger Zahl in der Elegie wiederfinden Die Elegie wurdewohl nach dem Vorbild von Kallimachosrsquo neuntem Iambus gestaltet Auszligerdem werdenauch sie konsequent verwendet um den Inhalt kunstvoll zu unterstreichen und dem Le-ser das Verstaumlndnis der gesamten Elegie zu erleichtern Die Ironie weist eindeutig auf dieMaskenfunktion des Priapus hin die haumlufigen Uumlberraschungen fuumlr den Leser auf die Unbe-staumlndigkeit der Liebe Durch die Ringkomposition bietet Tibull dem Leser aber dennochnoch einige Orientierungshilfen durch die sich die Elegie leichter verstehen laumlsst

108 Vgl ebd Radicke (2006) 199109 Vgl Tib 1168ndash78110 Vv 57ndash84

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Die Funktion der transtextuellen Beziehungen ist es daher die Aussage hervorzuhe-ben dass Liebe nicht gelehrt nicht erlernt und nicht beherrscht werden kann Sie werdennicht einfach um ihrer selbst willen uumlbernommen sondern veraumlndert neu angeordnetund zu etwas voumlllig Neuem zu einer subjektiven Liebesgeschichte zusammengefuumlgt Zu-gleich werden sie jedoch nicht so verfremdet dass der Leser sie nicht wiedererkennen kannDurch die Beziehungen zur hellenistischen Dichtung schafft Tibull deutlich hervorstechen-de Orientierungspunkte fuumlr den Leser und hebt dabei zugleich die Botschaft der absolutenHilfslosigkeit in der Liebe gekonnt auszligergewoumlhnlich und aumluszligerst unterhaltsam hervor jabildet sie sogar ganz konkret durch die Gestaltung der Elegie ab ohne dabei die Leserorientierungslos oder gar bdquoill-preparedldquo im Dunkeln zuruumlckzulassen

Uumlber die Autorin Helen E Neutzler ist seit dem Wintersemester 20132014 BA-Studentin der Faumlcher klassische Philologie und Archaumlologische Wissenschaften an derRuhr-Universitaumlt Bochum Schwerpunkte legt sie in diesen beiden Faumlchern auf Latein unddie klassische Archaumlologie Im Oktober 2014 wurde ihr ein Stipendium des Bildungsfondsder RUB im Rahmen des Deutschlandstipendiums verliehen

Bibliography

Textausgaben und Kommentare

Albius Tibullus aliorumque Carmina Edidit Georg Luck Stuttgart 1988Callimachus Volumen I Fragmenta Edidit Rudolfus Pfeiffer Oxford 1949Callimachus Volumen II Hymni et Epigrammata Edidit Rudolfus Pfeiffer Oxford 1953Asper (2004) Markus Asper Kallimachos Werke Griechisch und Deutsch Darmstadt

2004Maltby (2002) Robert Maltby Tibullus Elegies Text Introduction and Commentary

Cambridge 2002Murgatroyd (1980) Paul Murgatroyd Tibullus I A Commentary on the First Book of

Albius Tibullus Bristol 1980Smith (1913) Kirby F Smith The Elegies of Albius Tibullus The Corpus Tibullianum

Edited With Introduction and Notes on Books I II and IV 2ndash14 Darmstadt 31964(1913)

Monographien und Aufsaumltze

Bright (1978) David F Bright Haec mihi fingebam Tibullus in his World Leiden 1978Bulloch (1973) Anthony W Bulloch bdquoTibullus and the Alexandriansldquo PCPhS 19 1973

71ndash89Cairns (1979) Francis Cairns Tibullus A Hellenistic Poet at Rome Cambridge 1979Dawson (1946) Christopher M Dawson bdquoAn Alexandrian Prototype of Marathusldquo AJPh

67 1946 1ndash15

18

HELLENISTISCHE LEUCHTFEUER IN TIBULLS PRIAPUS-ELEGIE

Genette (1993) Geacuterard Genette Palimpseste Die Literatur auf zweiter Stufe Frankfurta M 1993

Giangrande (1986) Giusepppe Giangrande bdquoTheocritusrsquo Twelfth and Fourth Idylls AStudy in Hellenistic Ironyldquo in Bernd Effe (Hg) Theokrit und die griechische BukolikDarmstadt 1986 37ndash55

Grimal (1962) Pierre Grimal bdquoTibulle et Heacutesiodeldquo Entretiens 7 1962 271ndash301Jacoby (1910) Felix Jacoby bdquoTibulls erste Elegie Ein Beitrag zum Verstaumlndnis der Ti-

bullischen Kunstldquo RhM 65 1910 22ndash87Lee-Stecum (1998) Parshia Lee-Stecum Powerplay in Tibullus Reading Elegies Book

One Cambridge 1998Lehnus (2011) Luigi Lehnus bdquoCallimachus Rediscovered in Papyrildquo in Benjamin Acosta-

Hughes Luigi Lehnus ua (Hgg) Brills Companion to Callimachus Leiden 2011 23ndash38

Littlewood (1983) R Joy Littlewood bdquoHumour in Tibullusldquo ANRW II 303 1983 2128ndash2158

Luck (1959) Georg Luck The Latin Love Elegy London 21969 (1959)Radicke (2006) Jan Radicke bdquoPriapus ein raumltselhafter Liebeslehrer Zur Interpretation

von Tibulls Elegie I 4ldquo Hermes 1342 2006 195ndash210Solmsen (1962) Friedrich Solmsen bdquoTibullus as an Augustan Poetldquo Hermes 90 1962

259ndash325Wilhelm (1896) Friedrich Wilhelm bdquoZu Tibullus (I 4)ldquo in Satura Viadrina Festschrift

zum fuumlnfundzwangzigjaumlhrigen Bestehen des philologischen Vereins zu Breslau Bres-lau 1896 48ndash58

19

Page 17: Hellenistische Leuchtfeuer in Tibulls Priapus-Elegie · Hellenistische Leuchtfeuer in Tibulls Priapus-Elegie Transtextuelle Bezüge zur hellenistischen Dichtung und ihre Funktion

HELEN E NEUTZLER

Die Funktion der transtextuellen Beziehungen ist es daher die Aussage hervorzuhe-ben dass Liebe nicht gelehrt nicht erlernt und nicht beherrscht werden kann Sie werdennicht einfach um ihrer selbst willen uumlbernommen sondern veraumlndert neu angeordnetund zu etwas voumlllig Neuem zu einer subjektiven Liebesgeschichte zusammengefuumlgt Zu-gleich werden sie jedoch nicht so verfremdet dass der Leser sie nicht wiedererkennen kannDurch die Beziehungen zur hellenistischen Dichtung schafft Tibull deutlich hervorstechen-de Orientierungspunkte fuumlr den Leser und hebt dabei zugleich die Botschaft der absolutenHilfslosigkeit in der Liebe gekonnt auszligergewoumlhnlich und aumluszligerst unterhaltsam hervor jabildet sie sogar ganz konkret durch die Gestaltung der Elegie ab ohne dabei die Leserorientierungslos oder gar bdquoill-preparedldquo im Dunkeln zuruumlckzulassen

Uumlber die Autorin Helen E Neutzler ist seit dem Wintersemester 20132014 BA-Studentin der Faumlcher klassische Philologie und Archaumlologische Wissenschaften an derRuhr-Universitaumlt Bochum Schwerpunkte legt sie in diesen beiden Faumlchern auf Latein unddie klassische Archaumlologie Im Oktober 2014 wurde ihr ein Stipendium des Bildungsfondsder RUB im Rahmen des Deutschlandstipendiums verliehen

Bibliography

Textausgaben und Kommentare

Albius Tibullus aliorumque Carmina Edidit Georg Luck Stuttgart 1988Callimachus Volumen I Fragmenta Edidit Rudolfus Pfeiffer Oxford 1949Callimachus Volumen II Hymni et Epigrammata Edidit Rudolfus Pfeiffer Oxford 1953Asper (2004) Markus Asper Kallimachos Werke Griechisch und Deutsch Darmstadt

2004Maltby (2002) Robert Maltby Tibullus Elegies Text Introduction and Commentary

Cambridge 2002Murgatroyd (1980) Paul Murgatroyd Tibullus I A Commentary on the First Book of

Albius Tibullus Bristol 1980Smith (1913) Kirby F Smith The Elegies of Albius Tibullus The Corpus Tibullianum

Edited With Introduction and Notes on Books I II and IV 2ndash14 Darmstadt 31964(1913)

Monographien und Aufsaumltze

Bright (1978) David F Bright Haec mihi fingebam Tibullus in his World Leiden 1978Bulloch (1973) Anthony W Bulloch bdquoTibullus and the Alexandriansldquo PCPhS 19 1973

71ndash89Cairns (1979) Francis Cairns Tibullus A Hellenistic Poet at Rome Cambridge 1979Dawson (1946) Christopher M Dawson bdquoAn Alexandrian Prototype of Marathusldquo AJPh

67 1946 1ndash15

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HELLENISTISCHE LEUCHTFEUER IN TIBULLS PRIAPUS-ELEGIE

Genette (1993) Geacuterard Genette Palimpseste Die Literatur auf zweiter Stufe Frankfurta M 1993

Giangrande (1986) Giusepppe Giangrande bdquoTheocritusrsquo Twelfth and Fourth Idylls AStudy in Hellenistic Ironyldquo in Bernd Effe (Hg) Theokrit und die griechische BukolikDarmstadt 1986 37ndash55

Grimal (1962) Pierre Grimal bdquoTibulle et Heacutesiodeldquo Entretiens 7 1962 271ndash301Jacoby (1910) Felix Jacoby bdquoTibulls erste Elegie Ein Beitrag zum Verstaumlndnis der Ti-

bullischen Kunstldquo RhM 65 1910 22ndash87Lee-Stecum (1998) Parshia Lee-Stecum Powerplay in Tibullus Reading Elegies Book

One Cambridge 1998Lehnus (2011) Luigi Lehnus bdquoCallimachus Rediscovered in Papyrildquo in Benjamin Acosta-

Hughes Luigi Lehnus ua (Hgg) Brills Companion to Callimachus Leiden 2011 23ndash38

Littlewood (1983) R Joy Littlewood bdquoHumour in Tibullusldquo ANRW II 303 1983 2128ndash2158

Luck (1959) Georg Luck The Latin Love Elegy London 21969 (1959)Radicke (2006) Jan Radicke bdquoPriapus ein raumltselhafter Liebeslehrer Zur Interpretation

von Tibulls Elegie I 4ldquo Hermes 1342 2006 195ndash210Solmsen (1962) Friedrich Solmsen bdquoTibullus as an Augustan Poetldquo Hermes 90 1962

259ndash325Wilhelm (1896) Friedrich Wilhelm bdquoZu Tibullus (I 4)ldquo in Satura Viadrina Festschrift

zum fuumlnfundzwangzigjaumlhrigen Bestehen des philologischen Vereins zu Breslau Bres-lau 1896 48ndash58

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Page 18: Hellenistische Leuchtfeuer in Tibulls Priapus-Elegie · Hellenistische Leuchtfeuer in Tibulls Priapus-Elegie Transtextuelle Bezüge zur hellenistischen Dichtung und ihre Funktion

HELLENISTISCHE LEUCHTFEUER IN TIBULLS PRIAPUS-ELEGIE

Genette (1993) Geacuterard Genette Palimpseste Die Literatur auf zweiter Stufe Frankfurta M 1993

Giangrande (1986) Giusepppe Giangrande bdquoTheocritusrsquo Twelfth and Fourth Idylls AStudy in Hellenistic Ironyldquo in Bernd Effe (Hg) Theokrit und die griechische BukolikDarmstadt 1986 37ndash55

Grimal (1962) Pierre Grimal bdquoTibulle et Heacutesiodeldquo Entretiens 7 1962 271ndash301Jacoby (1910) Felix Jacoby bdquoTibulls erste Elegie Ein Beitrag zum Verstaumlndnis der Ti-

bullischen Kunstldquo RhM 65 1910 22ndash87Lee-Stecum (1998) Parshia Lee-Stecum Powerplay in Tibullus Reading Elegies Book

One Cambridge 1998Lehnus (2011) Luigi Lehnus bdquoCallimachus Rediscovered in Papyrildquo in Benjamin Acosta-

Hughes Luigi Lehnus ua (Hgg) Brills Companion to Callimachus Leiden 2011 23ndash38

Littlewood (1983) R Joy Littlewood bdquoHumour in Tibullusldquo ANRW II 303 1983 2128ndash2158

Luck (1959) Georg Luck The Latin Love Elegy London 21969 (1959)Radicke (2006) Jan Radicke bdquoPriapus ein raumltselhafter Liebeslehrer Zur Interpretation

von Tibulls Elegie I 4ldquo Hermes 1342 2006 195ndash210Solmsen (1962) Friedrich Solmsen bdquoTibullus as an Augustan Poetldquo Hermes 90 1962

259ndash325Wilhelm (1896) Friedrich Wilhelm bdquoZu Tibullus (I 4)ldquo in Satura Viadrina Festschrift

zum fuumlnfundzwangzigjaumlhrigen Bestehen des philologischen Vereins zu Breslau Bres-lau 1896 48ndash58

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