Henry van de Velde in Weimar 1902 bis 1917

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Schaukasten Folge 12 Henry van de Velde in Weimar 1902 bis 1917 Zwei Tage bevor der 1863 geborene belgische Architekt, Designer und Kunstreformer Henry van de Velde am 25. Oktober 1957 in Zürich verstarb, richtete er an die damali- ge Hochschule für Architektur und Bauwesen in Weimar, die ihn zuvor zu ihrem Ehrensenator ernannt hatte, einen Dankbrief, der sein Vermächtnis für Weimar enthält: „Möge der Wille der Vollkommenheit den Geist und die Orientie- rung der Weimarischen Hochschule stärken.“ Dabei dürften seine Gedanken weit zurückgegangen sein, denn 40 Jahre zuvor im Mai 1917 hatte er die großherzog- liche Residenzstadt in für ihn schwierigen Zeiten für immer verlassen, nachdem die von ihm gegründete Kunstgewer- beschule bereits 1915 geschlossen worden war und er im Weltkrieg als Angehöriger einer feindlichen Nation galt. Zum 1. April 1902 hatte ihn Großherzog Wilhelm Ernst zu seinem Berater für die künstlerische Hebung von Hand- werk und Gewerbe in Sachsen-Weimar-Eisenach berufen. Mit diesem Auftrag gründete der als „Jugendstilkünstler“ bekannt gewordene Architekt und Kunstgewerbler das „Kunstgewerbliche Seminar“ im „Prellerhaus“ neben dem alten Kunstschulgebäude und begann mit den Inspektions- fahrten zu den Handwerks- und Industrieunternehmungen in den sachsen-weimarischen Landorten Bad Berka, Blan- kenhain, Bürgel, Empfertshausen, Göschwitz, Ilmenau, Kaltennordheim, Münchenbernsdorf, Tannroda und Weida, über die er dem Großherzog berichtete. Der „amtliche van de Velde“ tritt uns in seinen Inpektionsberichten zwischen 1902 und 1904 kenntnisreich und klar denkend entgegen. Eine grundlegende Schlussfolgerung aus den vorgefunde- nen Verhältnissen war die Verbesserung der kunstgewerb- lichen Ausbildung. Bereits am 24. Dezember 1904 schlug er dem Großherzog die Schaffung einer „Schule für Hand- werkskunst“ vor, der er sich über die Einrichtung von (Lehr-)Werkstätten in seinem von ihm begründeten „Kunst- gewerblichen Institut“ seit 1906 näherte, bevor zum 1. April 1908 die Großherzogliche Kunstgewerbeschule unter sei- ner Leitung eröffnet wurde. Ihr Manko bestand darin, dass es bis zuletzt nicht gelang, sie in den Rang einer Staats- anstalt zu heben. Sie blieb bis zu ihrer Schließung am 30. September 1915 eine vom Großherzog und seiner Scha- tulle abhängige Privatanstalt. Der Blick auf die sein eigentliches Leben in Weimar ausfül- lende amtliche Tätigkeit Henry van de Veldes wird leider allzu oft durch die mehr im Vordergrund stehenden priva- ten Architekturleistungen – von der Umgestaltung des Nietzsche-Archivs über die Kunstschulbauten bis hin zu seinem Privathaus „Hohe Pappeln“ und den weiteren Villenbauten (Haus Henneberg, Palais Dürckheim) – und seine kunstschöpferischen Arbeiten als Formgestalter verstellt. Dass er darüber hinaus der eigentliche schöpferi- sche Geist der kunstreformerischen Aufbruchbewegung in der Residenzstadt nach der Jahrhundertwende war, ist noch zu wenig bekannt. Immerhin konnte man schon 1910 über sein Wirken lesen: „In Henry van de Velde hat Groß- herzog Wilhelm Ernst einen Organisator gewonnen, einen Neubeleber, dessen Beispiel reformatorisch wirkt, der durch seine Werke, seine Vorträge, seine Schriften die Geister in Bewegung setzt und neue Kultur schafft aus den Errungenschaften und dem Besitz seiner Zeit, der die Kräfte, die ihm unterstellt sind, schult und veredelt; wer nach Weimar kommt, wird sein Wirken spüren. Sein un- bändiger Kulturwille erscheint recht als die notwendige Ergänzung zu der Kulturarbeit der klassischen Zeit. Er hat das völlig darnieder liegende Handwerk in Weimar neu belebt, der Kunstschule ein neues Haus gebaut; er gab die Initiative zu einer der glücklichsten Gründungen, des Kunstgewerbe-Seminars, für das er ein eigenes schönes Atelierhaus gegenüber der Kunstschule bauen durfte.“ Henry van de Velde selbst hat Weimar in seinen Memoiren als wichtige Etappe seiner persönlichen Entwicklung ge- schildert. Dass 1919 hier das Bauhaus entstehen konnte, ist auch seinem Wirken zu verdanken. Er hat mit den von ihm gegründeten Instituten dafür konzeptionelle Voraus- setzungen geschaffen, so dass er sich 1923 „als Schöpfer dieser zwei Anstalten, der Kunstgewerbeschule und des Kunstgewerblichen Seminars, die beide im Staatlichen Bauhaus vereinigt wurden und davon nun einen integrie- renden Teil ausmachen“, gegenüber dem Landtag von Thüringen ausgeben konnte. So blieb er auch für die spätere Entwicklung nach der Abschaffung der Monarchie und der Gründung des Landes Thüringen wichtig, obwohl die Bemühungen, ihn in der Gründungsphase des Bau- hauses nach Weimar zurückzuholen, seinerzeit scheiter- ten. Aber bereits zu seinem 60. Geburtstag stand das Urteil fest, dem wir uns auch heute noch anschließen wollen: „Weimar wird den Namen Van de Velde so leicht nicht vergessen können; auch er gehört zu den wenigen, die den Ruhm der Goethestadt wirklich vermehrt haben…“ (Allg. Thür. Landeszeitung Deutschland, 3. April 1923)

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Schaukasten Folge 12

Henry van de Velde in Weimar 1902 bis 1917

Zwei Tage bevor der 1863 geborene belgische Architekt,Designer und Kunstreformer Henry van de Velde am 25.Oktober 1957 in Zürich verstarb, richtete er an die damali-ge Hochschule für Architektur und Bauwesen in Weimar,die ihn zuvor zu ihrem Ehrensenator ernannt hatte, einenDankbrief, der sein Vermächtnis für Weimar enthält: „Mögeder Wille der Vollkommenheit den Geist und die Orientie-rung der Weimarischen Hochschule stärken.“

Dabei dürften seine Gedanken weit zurückgegangen sein,denn 40 Jahre zuvor im Mai 1917 hatte er die großherzog-liche Residenzstadt in für ihn schwierigen Zeiten für immerverlassen, nachdem die von ihm gegründete Kunstgewer-beschule bereits 1915 geschlossen worden war und er imWeltkrieg als Angehöriger einer feindlichen Nation galt.Zum 1. April 1902 hatte ihn Großherzog Wilhelm Ernst zuseinem Berater für die künstlerische Hebung von Hand-werk und Gewerbe in Sachsen-Weimar-Eisenach berufen.Mit diesem Auftrag gründete der als „Jugendstilkünstler“bekannt gewordene Architekt und Kunstgewerbler das„Kunstgewerbliche Seminar“ im „Prellerhaus“ neben demalten Kunstschulgebäude und begann mit den Inspektions-fahrten zu den Handwerks- und Industrieunternehmungenin den sachsen-weimarischen Landorten Bad Berka, Blan-kenhain, Bürgel, Empfertshausen, Göschwitz, Ilmenau,Kaltennordheim, Münchenbernsdorf, Tannroda und Weida,über die er dem Großherzog berichtete. Der „amtliche vande Velde“ tritt uns in seinen Inpektionsberichten zwischen1902 und 1904 kenntnisreich und klar denkend entgegen.

Eine grundlegende Schlussfolgerung aus den vorgefunde-nen Verhältnissen war die Verbesserung der kunstgewerb-lichen Ausbildung. Bereits am 24. Dezember 1904 schluger dem Großherzog die Schaffung einer „Schule für Hand-werkskunst“ vor, der er sich über die Einrichtung von(Lehr-)Werkstätten in seinem von ihm begründeten „Kunst-gewerblichen Institut“ seit 1906 näherte, bevor zum 1. April

1908 die Großherzogliche Kunstgewerbeschule unter sei-ner Leitung eröffnet wurde. Ihr Manko bestand darin, dasses bis zuletzt nicht gelang, sie in den Rang einer Staats-anstalt zu heben. Sie blieb bis zu ihrer Schließung am 30.September 1915 eine vom Großherzog und seiner Scha-tulle abhängige Privatanstalt.

Der Blick auf die sein eigentliches Leben in Weimar ausfül-lende amtliche Tätigkeit Henry van de Veldes wird leiderallzu oft durch die mehr im Vordergrund stehenden priva-ten Architekturleistungen – von der Umgestaltung desNietzsche-Archivs über die Kunstschulbauten bis hin zuseinem Privathaus „Hohe Pappeln“ und den weiterenVillenbauten (Haus Henneberg, Palais Dürckheim) – undseine kunstschöpferischen Arbeiten als Formgestalterverstellt. Dass er darüber hinaus der eigentliche schöpferi-sche Geist der kunstreformerischen Aufbruchbewegung inder Residenzstadt nach der Jahrhundertwende war, istnoch zu wenig bekannt. Immerhin konnte man schon 1910über sein Wirken lesen: „In Henry van de Velde hat Groß-herzog Wilhelm Ernst einen Organisator gewonnen, einenNeubeleber, dessen Beispiel reformatorisch wirkt, derdurch seine Werke, seine Vorträge, seine Schriften dieGeister in Bewegung setzt und neue Kultur schafft aus denErrungenschaften und dem Besitz seiner Zeit, der dieKräfte, die ihm unterstellt sind, schult und veredelt; wernach Weimar kommt, wird sein Wirken spüren. Sein un-bändiger Kulturwille erscheint recht als die notwendigeErgänzung zu der Kulturarbeit der klassischen Zeit. Er hatdas völlig darnieder liegende Handwerk in Weimar neubelebt, der Kunstschule ein neues Haus gebaut; er gab dieInitiative zu einer der glücklichsten Gründungen, desKunstgewerbe-Seminars, für das er ein eigenes schönesAtelierhaus gegenüber der Kunstschule bauen durfte.“

Henry van de Velde selbst hat Weimar in seinen Memoirenals wichtige Etappe seiner persönlichen Entwicklung ge-schildert. Dass 1919 hier das Bauhaus entstehen konnte,ist auch seinem Wirken zu verdanken. Er hat mit den vonihm gegründeten Instituten dafür konzeptionelle Voraus-setzungen geschaffen, so dass er sich 1923 „als Schöpferdieser zwei Anstalten, der Kunstgewerbeschule und desKunstgewerblichen Seminars, die beide im StaatlichenBauhaus vereinigt wurden und davon nun einen integrie-renden Teil ausmachen“, gegenüber dem Landtag vonThüringen ausgeben konnte. So blieb er auch für diespätere Entwicklung nach der Abschaffung der Monarchieund der Gründung des Landes Thüringen wichtig, obwohldie Bemühungen, ihn in der Gründungsphase des Bau-hauses nach Weimar zurückzuholen, seinerzeit scheiter-ten. Aber bereits zu seinem 60. Geburtstag stand dasUrteil fest, dem wir uns auch heute noch anschließenwollen: „Weimar wird den Namen Van de Velde so leichtnicht vergessen können; auch er gehört zu den wenigen,die den Ruhm der Goethestadt wirklich vermehrt haben…“(Allg. Thür. Landeszeitung Deutschland, 3. April 1923)