Hermann Hesse: Weisheitssuche oder Lebensflucht? · Da sind aber noch andere Reisemotive. Ich hatte...

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Hermann Hesse: Weisheitssuche oder Lebensflucht? Wir haben erfahren, daß der Mensch seinen Intellekt bis zu erstaunlichen Leistungen kultivieren kann, ohne dadurch der eigenen Seele Herr zu werden. Hesse: ›Aus Indien‹ 1 Genua, 7. September 1911. Bei hoch stehender Mittagssonne legt der Dampfer Prinz Eitel Friedrich des Norddeutschen Lloyd vom Pier des Passagier- hafens ab und dreht den Bug seewärts. Die Schiffs- musik spielt. Hermann Hesse und der befreundete Maler Hans Sturzenegger stehen an der Reling und sehen zu, wie Häusermeer und Hafengewühl langsam zurückweichen. Hesse empfindet es als feierlichen Moment. Er denkt an daheim, an seine Frau Maria, die er Mia nennt, an die drei Kinder, an seine Bedrü- ckung und Sorgen. Das Schiff passiert den Leucht- turm und erreicht das freie Meer. Hermann Hesse 99 Aus: Werner Huber: Mit Dichtern auf Reisen, 1. Auflage 2011 © Alfred Kröner Verlag, Stuttgart Alfred Kröner Verlag

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Hermann Hesse:Weisheitssuche oder Lebensflucht?

Wir haben erfahren, daß der Mensch seinen Intellektbis zu erstaunlichen Leistungen kultivieren kann,

ohne dadurch der eigenen SeeleHerr zu werden.

Hesse: ›Aus Indien‹1

Genua, 7. September 1911. Bei hoch stehenderMittagssonne legt der Dampfer Prinz Eitel Friedrichdes Norddeutschen Lloyd vom Pier des Passagier-hafens ab und dreht den Bug seewärts. Die Schiffs-musik spielt. Hermann Hesse und der befreundeteMaler Hans Sturzenegger stehen an der Reling undsehen zu, wie Häusermeer und Hafengewühl langsamzurückweichen. Hesse empfindet es als feierlichenMoment. Er denkt an daheim, an seine Frau Maria,die er Mia nennt, an die drei Kinder, an seine Bedrü-ckung und Sorgen. Das Schiff passiert den Leucht-turm und erreicht das freie Meer.

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Das Ziel ist Indien mit Ceylon und weit darüberhinaus Malaya, Singapur und Sumatra bis an denRand der Java-See. Was treibt den vierunddreißig-jährigen Familienvater und schon arrivierten Autorauf die monatelange Reise in solche Fernen? Erstkürzlich wurde sein dritter Sohn geboren, und ne-ben der Familie gab es Weiteres, was ihn zu Hausehätte festhalten können: das Leben im selbst entworfe-nen Landhaus am Bodensee, die Freundschaften mitgleichgesinnten Künstlern, die üblichen Verpflich-tungen eines erfolgreichen Schriftstellers. Was konnteihn gegen solche Bindungen dazu bringen, ein Billetnach Singapore zu lösen?

Ja, Hesse war ein ewig Suchender nach Geist undzeitlosen Werten. Ich bin seit vielen Jahren davon über-zeugt, schrieb er über sich, daß der europäische Geist imNiedergang steht und der Heimkehr zu seinen asiatischenQuellen bedarf. Ich habe jahrelang Buddha verehrt und in-dische Literatur schon seit meiner frühesten Jugend gelesen.Später kamen mir Lao Tse und die andern Chinesen näher.2

Hesse entstammte einer protestantischen Missionars-familie; Großvater, Vater und Mutter hatten alle dreilange in Indien gelebt und eine enge Beziehung zumLand entwickelt. Sie sprachen indische Sprachen, hat-ten im Haus viele indische Sachen und erinnerten sichoft und gern an die Zeit in der Ferne. Unbewußt sogich so viel Indisches ein, so Hesse über seine Kindheit.Besonders erinnere ich mich an schöne, lebhafte Erzählun-gen meiner Mutter aus ihrer indischen Zeit.3 So hatteIndien für Hesse nicht nur einen Klang als Mutterlandöstlicher Weisheit, sondern auch als zweite Heimatseiner Großeltern und Eltern.

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Da sind aber noch andere Reisemotive. Ich hatteGaienhofen erschöpft, schreibt Hesse später über seinLeben in der Bodensee-Idylle, es war dort kein Lebenmehr für mich, und er spricht von verschwiegenen innerenGründen seiner Unzufriedenheit in der Ehe mit Mia,die wesentlich zu seiner Unrast beigetragen hätten. Sowar die Indienreise auch ein Ausbruch aus Lebens-problemen, ein Versuch, Distanz und Überblick zu ge-winnen.4 Man kann sich vorstellen, was ihn bei derAbfahrt bewegte, wenn er darüber ins Reisetagebuchnotierte: Gedanke an daheim und alle meine Sorgen …5

Mit dem Verschwinden Genuas am Horizont ver-liert sich auch Hesses Bedrückung; das unbeküm-merte Bordleben beginnt, in Erwartung kommenderAbenteuer. Bei sinkender Sonne erscheinen die stei-len Silhouetten Elbas und umliegender Inseln. Abendsherrscht bei vollem Mond beste Stimmung auf Deck,Hesse kommt dank seiner Italienisch-Kenntnisse miteinem älteren Italiener aus Padua ins Gespräch, dervon seiner zwanzigjährigen Zeit in Malaya und Singa-

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Hermann Hessean Bord der›Prinz EitelFriedrich‹; linksvon ihm HansSturzeneggerund die FamilieDelbrück

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pur erzählt. Er habe zwei Frauen gehabt, Schwestern,die eine sei in Padua gestorben, die andere in Singa-pur. Beiden habe er den gleichen Marmorengel aufsGrab gesetzt, und er rühmt nun den malayischen Mar-mor dafür, dass der Engel in Singapur ebenso schönund haltbar sei wie der italienische. In der Kabine –beängstigend eng, obwohl Hesse erster Klasse reist,entgegen sonstiger Gewohnheit – surrt der Ventilatorgegen die Wärme an. Er findet keinen Schlaf.

Anderntags geht es auf den Golf von Neapel zu. EinPanorama schönster Bilder: Ischia samt Nachbarin-seln, am Festland eine kühn in den Fels gebaute Berg-stadt, dann Neapel und der Vesuv. Das Schiff legtzum Kohlefassen an: Gegen den Staub wird das Pro-menadedeck verhängt; der Lärm der Lademaschinengeht bis Mitternacht. Einen elenden Eindruck ma-chen Hesse die schwarz verschmierten Kohleträger,Italiener und Chinesen, darunter hübsche nackte Kulis.Ein Auswandererschiff legt ab, man winkt sich zu.Abends kommt zur Unterhaltung eine Barke mitVolkssängern. Sie übte gegen Soldi die übliche musika-lisch-ethnographische Prostitution, notiert Hesse, dessenStimmung durch Hitze und Schlafmangel ramponiertist. Um drei Uhr nachts sticht der Dampfer wieder inSee. Wieder findet Hesse keinen Schlaf.

Am nächsten Morgen versuchen er und Sturzeneg-ger durch gemeinsame Englisch-Lektüre ihre Sprach-kenntnisse zu verbessern. Sturzenegger, zwei Jahreälter als Hesse, ist ein Hüne mit mächtigem Wal-ross-Schnauzer und dichten Brauen, gegen den Hes-se zerbrechlich wirkt. Er entstammt einer begüter-ten Schaffhausener Kaufmannsfamilie; das väterliche

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Handelsunternehmen mit Sitz in Malaya wird nunvon seinem Bruder Robert geleitet, und der Be-such dort ist der eigentliche Reiseanlass. Sturzeneg-ger, anerkannter Landschaftsmaler und Porträtist, fährtauch in der Absicht, die östliche Welt und ihre Men-schen auf der Leinwand festzuhalten.

Gegen Mittag taucht die Vulkaninsel Stromboli auf,dann die Küste von Kalabrien und Sizilien. Man pas-siert die Straße von Messina, in dunstiger Ferne derÄtna. Das Schiff läuft längs der Felsküste, schroffe Sze-nerien in gleißendem Licht. Man sieht vom Erdbebenzerstörte Städtchen, keine drei Jahre ist die Katas-trophe her. Die nächsten tausend Meilen bis Suezkommt kein Land mehr in Sicht.

Neben den deutschsprachigen Passagieren der ers-ten Klasse kennt Hesse mittlerweile auch etliche derzweiten Klasse, darunter Liebenzeller Missionsleute.Überhaupt sieht er in der zweiten und dritten Klassemehr Leben als in der ersten, wo trotz netter Menschender Ton ohne Frische und ohne Gemeinschaftlichkeit ist.Auch mit Engländern versucht er anzuknüpfen, ver-steht sie aber nur schlecht. Häufig zusammen sind erund Sturzenegger mit einer Familie Delbrück; dieTochter geht als Braut eines Arztes nach Manila, dieEltern begleiten sie bis Suez. Dem an Bord geschosse-nen Foto nach sind es ernsthafte Leute, zudem in erns-ter Stimmung angesichts der nahen Trennung, dieTochter vielleicht Ende zwanzig, ihr Blick unverstelltund abschiedsschwer. Selbst Hesse und Sturzeneggerwirken bedrückt.

Die Tochter Delbrück ist nicht die einzige Braut anBord, insgesamt sind es sieben junge Frauen, die zu

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ihren künftigen Ehemännern nach Asien unterwegssind. Unter den Bräuten ist auch eine junge Franzö-sin, kokett und etwas füllig und auf Bequemlichkeitbedacht. Sie regt Hesse zu einer kleinen Erzählung an,in der etwas vom Leben dieser Überseebräute auf-scheint. Darin hat eine verwitwete italienische Dame,Signora Ricciotti, eine reizende Tochter namensMargherita, die eben erst dem Backfischalter ent-wachsen und ein entzückend schlankes, stilles, blasses We-sen mit dunkelblonden dichten Haaren6 ist. Die sie um-schwärmenden Männer werden von der Mutter, derfür Margherita nur das Beste genug ist, auf Abstandgehalten. Bei Ferien in einem Schweizer Hotel be-tritt nun ein junger Mann aus Deutschland die Sze-ne, der sich umgehend in Margherita verliebt undebenso umgehend seine festen Absichten kundtut, sorasch und entschieden, wie das nur Leute tun, diewenig Zeit haben. Herr Statenfoß ist Leiter einerTeeplantage auf Ceylon, wohin er in zwei Monatenwieder zurück muss; sein nächster Europa-Aufenthaltwird erst wieder in vier Jahren sein. Signora Ricciot-ti versucht ihn abzuwehren, aber Margherita gefälltdieser hagere, braungebrannte und energische jungeMann, der im Übrigen erst sechsundzwanzig Jahrezählt, aber die Mitbewerber an Sicherheit in denSchatten stellt. Kurz und gut, er ist sich bald mitdem Mädchen einig. Die Mutter muss die Zweck-losigkeit ihres Widerstands einsehen, kann aber dieAbsicht von Statenfoß verhindern, Margherita sofortzu heiraten und gleich nach Ceylon mitzunehmen. Sofindet zunächst nur die Verlobung statt. In längstensdrei Jahren komme ich zurück, und dann ist Hochzeit,

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ruft er in Genua von der Gangway herab den beidenFrauen zu.

Die Zurückgebliebenen reisen ins heimatliche Pa-dua zurück, um dort ihr gewohntes Leben wiederauf-zunehmen. Der Verlobte schreibt Briefe und schickthübsche indische Sachen. Margherita ist glücklichund blüht auf, ihre Bleichsucht und der schlechte Ap-petit schwinden. Dabei erweist sich, wie sehr sie dieTochter ihrer Mutter ist: Sie nimmt beständig zu underreicht zusehends deren Proportionen.

Drei Jahre sind vergangen und der Verlobte schreibtverzweifelt, es sei ihm unmöglich, Urlaub zu bekom-men. Er fordert sein Mädchen auf, zu ihm zu kom-men, um als seine Ehefrau in das schöne Landhauseinzuziehen, das er eben erbaue. Signora Ricciottiüberwindet ihre Gefühle und legt Margherita keine

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Bordleben: Hesse (Mitte) mit Hans Sturzenegger (rechts)

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Steine in den Weg, zumal sie ansonsten das Lebens-glück der inzwischen ziemlich kolossalen Tochtergefährdet hätte. Und so tritt Margherita die Reisenach dem fernen Ceylon an. Auf dem Indischen Oze-an wird sie jämmerlich seekrank und liegt bis Colom-bo bleich und apathisch in ihrem Deckstuhl. Nochin der allgemeinen Aufregung der Ankunft, da dieSchiffsmusik schmettert und alles an Land strebt, liegtdie dicke Paduanerin teilnahmslos hingestreckt, übelaussehend und dämmrigen Blickes. Da drängt ge-gen die Aussteigenden ein junger Herr im weißenTropenanzug an Bord, die Augen über das Deck spä-hend, im Arm einen mächtigen Strauß großblütigerindischer Blumen. Energischen Schrittes eilt er überDeck. Der von ihm befragte Obersteward weist aufden Stuhl der Paduanerin. Statenfoß tritt näher, be-trachtet die ausgestreckte Figur. Er läuft wieder zumSteward, der bestätigend nickt, kehrt zurück, um er-neut einen Blick auf das dicke Mädchen zu werfen.Er lässt den Blumenstrauß sinken und wendet sichab. An der Reling verharrt er und starrt ins Wasser.Sachte lässt er die Blumen hinabgleiten und spuckthinterher.

Eine Weile starrt er in die Fluten. Dann stößt er sichvon der Reling ab, umkreist langsam das Vorderdeck,geht zum Hinterdeck, bis zum Platz der Paduanerin,die inzwischen aufgestanden ist und ängstlich umsich sieht. Statenfoß tritt näher, nimmt den Helmvom Kopf und gibt der Dicken die Hand. Auf-schluchzend fällt sie ihm um den Hals und liegt eineWeile so, während er über sie hinwegstarrt. Schließ-lich nimmt er wortlos ihren Arm, um sie vom Schiff

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zu geleiten. Wie es ihnen geht, weiß ich nicht, endetdie Geschichte. Aber daß die Hochzeit vollzogen wur-de, erfuhr ich bei meiner Rückreise auf dem Konsulat vonColombo.

Die Zeit an Bord vergeht mit Lektüre, Spiel undSport, wobei Hesse sich schmerzhaft den Fuß ver-renkt. Fotos zeigen ihn mit Sturzenegger im weißenTropenanzug schlapp im Deckchair liegen. Hessesmitgeführte Tropenanzüge haben eine Geschichte.Mia hatte den Gaienhofer Dorfschneider beauftragt:Sie habe da einen weißen Stoff für indische Sonnen-anzüge kommen lassen, er möge ein halbes oder gan-zes Dutzend daraus anfertigen. Der Schneider prüfteden Stoff. »Das ist nichts für Indien«, sagte er, »das istschlechtes Zeug, Ramschware, das reißt unterwegs.Dazu muß man die allerbeste Seide nehmen – ichkann’s Ihnen besorgen.« Mia: »Jetzt hab ich sie schon!Es wird zu teuer werden, und mein Mann braucht siebald.«

So schneiderte der Schneider die weißen Anzügezusammen und lieferte sie am verabredeten Tag ab.Hesse zog einen an und gärtnerte damit einen Taglang. Danach erschien er beim Schneider. »Do hänt SieIhr Zeug wieder«, knurrte er und warf’s auf den Tisch.»Das reißt ja beim ersten Mal, wo es kann!« »Hab’sIhrer Frau vorhergesagt«, wehrte sich der Schneider.»Der Stoff ist nicht zum Strapazieren, aber sie wolltenicht hören.« Erbost nahm Hesse den Anzug undwandte sich zum Gehen. »Und gleich ein ganzes Dut-zend«, hörte der Schneider ihn noch schimpfen, »daswird ein teurer Spaß!« »Jetzt wollt ich nicht Frau Hessesein«, meinte die Schneidersfrau.7

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Jeden Tag geht die Sonne etwas früher auf: DasSchiff macht ordentlich Fahrt Richtung Osten. Amsechsten Tag wird das dunkelblaue Meer hellgrün,dann lehmtrüb – die Nilmündung. Die flache Küstevon Damiette kommt in Sicht, ein grellgelber StreifenLandes mit einzelnen Palmen, die verloren zwischenMeer und Himmel stehen. Segelbarken sind unter-wegs. Port Said, grell und kahl in der Sonne, mit we-nigen kümmerlichen Bäumen, der Hafen voller Bar-ken, Araber wie aus dem Bilderbuch, Schwärme vonKohleträgern. Einfahrt in den Suezkanal. Ein schma-les, endloses Wasserband, rechts der Bahndamm, da-hinter die Sümpfe des Nildeltas, links Sandwüste undin der Ferne die Sinaiberge. Im Sonnenuntergangglüht alles farbig auf. Gegen den Himmel die Sil-houetten regloser Kamele. Backofenwärme. Die hei-tere Mittelmeerstimmung ist verflogen, vielen graut esvor der berüchtigten Hitze auf dem Roten Meer. Mitder Dämmerung kommen die Moskitos. Auch denLetzten überfällt das Gefühl der Fremde. Die meis-ten ziehen sich still in die Kabinen zurück, nur derägyptische Quarantänebeamte marschiert verdrossenauf und ab.

Eine gespenstische Nachtfahrt beginnt. GrellesScheinwerferlicht streicht über den Kanal; die Britenhaben ein scharfes Auge auf ihn, den Dreh- undAngelpunkt ihres Empire. Hesse kann nicht ahnen,dass drei Jahre später, nach Beginn des Weltkriegs,der deutsche Generalstab tatsächlich eine geheimeKommandoaktion zur Sprengung des Kanals erwägen– und wieder verwerfen wird.8 In seiner winzigen Ka-bine versucht er zu schlafen. Vergeblich surrt der Ven-

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tilator gegen die Hitze an, im Bullauge steht die heißeNacht, Stechmücken schwirren. Das plötzliche Ver-stummen der Maschine schreckt Hesse auf. Das Schiffliegt still. Er zieht sich an, geht an Deck. Völlige Stille,die Sinaiwüste im Mondlicht, tastende Lichtfinger, aufdem schwarzen Wasserband zuckende Reflexe. AmDamm taucht ein dürrer, weißer Hund auf, blicktscheu und stumm herüber und schnürt wieder davon.Auf dem Hinterdeck trifft Hesse auf einen Chine-sen aus Shanghai. Er kann das ›Shi-King‹ auswendig,das altchinesische Weisheitsbuch, spricht lobend überEuropa, macht Komplimente über die schönen Land-schaften Deutschlands und der Schweiz. Hesse isttief beeindruckt von seiner Feinheit und Bildung.Aus dem Dunkel tauchen Schiffslichter auf, zwei hin-tereinander fahrende Dampfer nähern sich, fahrenunendlich behutsam vorüber. Der Kanal ist eine Kost-barkeit und wird gehütet wie ein Schatz. Ein britischerKolonialbeamter aus Ceylon tritt zu den Beiden. ImGespräch zwischen ihm und dem Chinesen hört Hesseoft das Wort ›rubber‹, das er vor Tagen noch nichtkannte. Er wird es jetzt immer öfter hören: Gummiund Kautschuk – das Gold des Ostens.

Ein farbenprächtiger nächster Morgen. Die nord-afrikanische Sandlandschaft glänzt rotgelb in der Son-ne, dahinter, den Blicken verborgen, liegt der Nil undKairo. Selbst im Kanal wird es bunt – Quallen. SeinEnde ist nah. Schließlich Suez. Schmerzliches Ab-schiednehmen, Vater und Mutter Delbrück werdenmit anderen im Boot weggefahren. Um zwei UhrWeiterfahrt. Der Golf von Suez begrüßt sie mit Flie-genden Fischen, wie Reihen von Talern aufspringend,

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notiert Hesse.9 Rechter Hand Felswüste, links das im-mer schroffere Sinai-Gebirge. Anderntags erwachensie auf dem Roten Meer. Es wahrt seinen Ruf; eswird glühend heiß. Hesse zeigt Wirkung: Durchfall.Er geht mit einer abendlichen Rotweinkneiperei dage-gen an; im Smoking unerträglich heiß (dass der Quer-denker Hesse sich trotz Hitze und Darmgrimmen derKleideretikette fügt, zeigt, wie unerschüttert die Ge-sellschaftsnormen damals noch stehen). Danach sitzter bis tief in die Nacht mit der jungen Delbrück aufdem Hinterdeck und bewundert den Sternenhimmel.Eine mitternächtliche Whisky-Runde mit Sturzeneg-ger und einem viel herumgekommenen Petroleum-bohrer beschließt den Abend. Letzterer erzählt vonIndien und seinen Affen; als er im Übermut einenschoss, schrie der, sich mit der Hand im Baum fest-klammernd, wie ein Mensch, ehe er herunterfiel.

Die nächsten Tage sind kein Vergnügen: Wenn dieAlkoholkur vielleicht die Gedärme etwas beruhigthat, hat sie dafür den Magen ramponiert. Hesse musszum Schiffsarzt. Ab sofort gilt für ihn ein verkürz-ter Menüplan: Schleim. Die notorische Schlaflosigkeitmacht seinen Zustand noch schlimmer; sie ist umsoschwerer zu ertragen, als ihn dabei innere Dämonenverfolgen, wovon auch die letzten Zeilen des Ge-dichts ›Nachts in der Kabine‹ sprechen:

Und alles sieht ihn wild und teuflisch an,Weil er den Feind im eignen Busen trägtUnd nie entrinnen kann.10

Hesses Hang ins Depressive prägt sein Leben undSchreiben, worauf noch zurückzukommen sein wird.

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Jetzt ist er so apathisch, dass er nicht registriert, wiedas Schiff Dschidda und Mekka, die heiligsten Stättendes Islam, passiert. Aber nicht nur Hesse ist wie tot,11

auch der robuste Sturzenegger ist von der glühendenSchwüle erledigt. Man schwitzt pausenlos. Einzig eineSchar Delphine, die rings um das Schiff ihre Spring-künste vorführen, sorgt für kurzzeitige Belebung.

Am dritten Tag auf dem Roten Meer künden Mö-wen von dessen baldigem Ende. In der Tat durchfährtman nachts die Meerenge Bab el Mandeb, die in denGolf von Aden führt. Die Hafenstadt Aden präsen-tiert sich nur kurz, in Gestalt einer von kahlen Ber-gen überragten Barackensiedlung samt Karawansereiund arabischen Händlern, deren buntes Angebot vonSchlangenhäuten bis Sarongs ein Vorgeschmack aufdie Welt des Ostens ist. Umgekehrt wird es hier beider Rückfahrt eine Verabschiedung vom Osten geben– durch einen das Schiff begleitenden Haischwarm.Im Golf weht eine leichte Brise, das Meer ist belebtvon Wellen und Scharen springender Fische. Hessegeht es besser, er spielt und tollt mit Kindern von Mit-reisenden.

Als man tags darauf, vorbei am somalischen Fels-gebirge, in den Indischen Ozean gelangt, wird die Seerau, und das Schiff beginnt zu rollen. Viele werdenseekrank. Den Kindern gefällt es, sie nutzen das Aufund Ab zu wilden Wagenrennen und geraten dabeiaußer Rand und Band. Hesse hält sich fürs Erste leid-lich, beobachtet die hochgehende See: Das Meer auf-regend schön und wild, und unterhält die Kranken mitHanswurstiaden. Fünf Tage lang durchpflügen sie denOzean, in wechselnden Zuständen, wie eine Tagesno-

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tiz Hesses zeigt: Krank. Fasten. Kopfweh. Arzt. AbendsMaskenball, Saal und Deck dekoriert. Gute Kostüme …Trotz Kater am Folgetag ist seine Wahrnehmung vollaktiv: … wunderbares Meeresleuchten, als sei die ganzeTiefe feurig und es bedürfe nur eines leichten Durchbrechensder Oberfläche, um das kühle grüne Feuer offenzulegen.

Endlich kommt Ceylon in Sicht; die gut vierhun-dert Kilometer lange Insel an der Südspitze Indiens iststark indisch geprägt. Gegen Mittag Ankunft in Co-lombo. Palmenstrand mit weißen Brandungswogen.Mit etlichen anderen durchstreift Hesse die Stadtundmacht eine mehrstündige Rikschafahrt. Die Neu-stadt findet er brutal europäisiert. Aber es bleibt vielUrsprüngliches: toller kleiner Tempel mit hundertfigurigerFassade, innen heilig goldene Dämmerung und nasale Du-delsackmusik … Von allen Seiten einstürmend bunter grel-ler Orient, köstlich und märchenhaft, schöne dunkelbrauneMenschen, die Frauen mit Goldplatten in den Nasenflügeln… Bettelnde Kinder berühren seine Hand, grellfarbi-ge Trachten, dunkelhäutige, gern lachende Singhale-sen, weiße, indische Soldaten mit Turban, schöneMänner, Gaukler mit Cobra und Mungo … Abendserreichen sie gerade noch das Schiff. Der kurze Auf-enthalt war nur ein Vorgeschmack auf den wesentlichlängeren bei der Rückreise.

Es folgen vier weitere Tage Indischer Ozean mitHitze und rauer See. Die Deckstühle werden an-gebunden. Hesse schlaflos, ewiges Rollen im Bett. Miteinem der Missionare führt er ein langes Gespräch: Jeweiter ich ihm entgegenkam, notiert er, desto mehr sah ichmich vom Kern des christlichen Glaubens getrennt. Er istabgestoßen von der Idee eines richtenden, strafen-

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den Gottes und einer Religionsauffassung, die demMenschenleben keinen anderen Wert zugesteht alsden eines Durchgangs zum Himmelreich. Das Elendseiner Knaben- und Jugendzeit – Konflikte mit Elternund Lehrern, Ausbruch aus dem Internat, Selbst-mordversuch, Einweisung in die Anstalt – rührte vonder Unterdrückung seines freiheitsdurstigen Wesensdurch die pietistische Doktrin, dass alles persönlicheWollen hinter Gottgefälligkeit zurückzustehen habe.Diese Lehre hat mein Leben zerstört.12 Den christlichenKern sieht Hesse in der Lehre Jesu, die dem eigenenLeben wie dem der anderen einen hohen Wert bei-misst. So misstraut er auch dem Missionswesen, dasAndersgläubige zu einem engen Kirchenchristentumbekehren will, zumal diese »Heidenmission« nur zuoft von der Minderwertigkeit der zu bekehrendenVölker ausgehe.

Am 27. September erscheinen am Horizont üppigbewachsene Koralleninseln, dann die bergig schöneKüste von Malaya, schließlich die Hafenstadt Penangauf einer Insel unmittelbar vor der Küste. Großer Ab-schied an Bord, auch von Frl. Delbrück, mit der Hesseso oft beisammensaß; bis Manila hat sie noch einmalüber dreitausend Kilometer vor sich. Ob sie dort mitihrem Arzt wohl glücklich wurde? Am Pier wartetRobert Sturzenegger, um den Bruder und Hesse ab-zuholen. Robert wird für die nächsten Wochen derReiseführer auf der Tour durch Malaya, Singapur undSumatra sein. Seine Landeskenntnis und Kontakte er-möglichen ein intensives Kennenlernen dieses TeilsSüdostasiens, der zu Hesses Zeit noch Hinterindienhieß.

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Per Rikscha geht es erst einmal zu einem ma-layischen Schneider, zum Maßnehmen für urwald-taugliche Tropenanzüge. Dann Fahrt ins Hotel. DasEastern and Oriental Hotel ist das schönste, das Hesseauf der ganzen Reise antreffen wird: Vor der Hotel-veranda alte Bäume, bewegtes hell braungrünes Meer mitschaukelnden Dschunken. Dahinter die Bucht mit win-zigen, dick bewaldeten Koralleninseln und am Hori-zont die malayischen Berge. Er genießt den Hotel-komfort – geräumiges Zimmer, ein Boy bringt Teeund Bananen, ein nobler Speisesalon mit Tafelmusik–, dann aber die kalte Dusche: übles Essen – Ein-stimmung auf die auf abgehärtete englische Mägenzugeschnittenen Speisen in den angloindischen Ho-tels. Ungleich angenehmer das anschließende Schlen-dern im nächtlichen Hotelgarten am Meer, umwehtvom lauen Wind und Schwirren und Zirpen tropi-scher Nachtlebewesen.

Obschon spät, macht Hesse sich in die Stadt auf. Erruft eine Rikscha herbei, steigt ein und spricht kalt-blütig seine ersten malayischen Worte. Der Kuli blicktverständnislos, um darauf das breiteste Asiatenlächelnaufzusetzen und einfach loszulaufen. Danach notiertHesse: überall brennendes Leben, Chinesen- und Malayen-und Hindustraßen. Läden, Handwerker, kleine Händler,vorwiegend Chinesen, Teehäuser, Spielhäuser, Dirnen allerRassen … Ein Leben rund um die Uhr – geduldigkauert der Straßenhändler vor seiner Bude, Schuh-macher klopfen und nähen, der Barbier arbeitet amStraßenrand, ein Tuchhändler breitet seine Ware aus,Köche sieden und braten auf der Gasse, man speist anlangen Brettertischen, über der Straße hocken in offe-

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nen Veranden Chinesen beim Spiel. Hesse betritt einchinesisches Theater: Zopf an Zopf sitzen rauchenddie Männer, Tee schlürfend die Frauen, vor ihnen derTeeschenk mit großem Kupferkessel. Auf der BühneMusikanten, die das Drama begleiten. In strengenKostümen wird ein altes Stück gespielt, mit zeremo-niellen Gebärden und Schritten, im rhythmischenGleichklang mit der Musik, die die Bewegungen derHelden durch weiche Trommelschläge betont. AlsKontrapunkt dazu hört er bei der Rückkehr ins Hoteleinen Engländer auf dem Grammophon bayerischeJodler spielen.

Anderntags besichtigen sie den Überseehandel vonRobert Sturzenegger: ein Kontor mit malayischen,indischen, chinesischen Händlern, die ihren Geschäf-ten nachgehen. Hesses wenig begeisterte Notiz: DerImport versaut den Osten mit Kleiderstoffen, üblen Tas-sen, Tellern, Schuhen, Whisky, Spielkarten etc. Soweitalso das Dichterwort zur beginnenden Globalisierung.Nachmittags unternehmen sie eine Busfahrt entlangder Küste: Dörfer aus Rohrhütten, Kokospalmen,grellblühende Büsche, Falter, üppige Farne, bewegtesgrünes Meer mit schaukelnden Dschunken.

Am nächsten Morgen frühes Aufstehen: mit denSturzeneggers per Rikscha zum Fuß des Penang Hill,dann Aufstieg. Unten heiß, oben kühl. Im Gipfel-hotel Bad und Kleiderwechsel, dann Lunch und einköstlicher Cocktail, sehr teuer. Ausblick auf grüne Täler,Meer und Inseln im Dunst. Abstieg auf verwuchertemWeg in die dampfende Ebene. Kokoshaine, Dörfer,Schweine im Bach, Muskatnüsse auf Tüchern trock-nend, ein chinesischer Tempel, neu und unedel; nett

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