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1 Hermann Wohlgschaft: Himmelsgedanken. Die visionÄre Symbolik Karl Mays Abgedruckt in: MUT. Forum fr Kultur, Politik und Geschichte Nr. 320, April 1994, S. 56-71. Dr. Hermann Wohlgschaft, Jahrgang 1944, war von 1970 bis 1973 wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Katho- lischen Akademie Augsburg. Gleichzeitig promovierte er bei Heinrich Fries in Mnchen zum Dr. theol., 1974 wurde er in Augsburg zum Priester geweiht. Von 1977 bis 1983 war er Domvikar und Studentenpfarrer in Augs- burg, 1983 bis 1993 Stadtpfarrer in Kempten. Im „Sabbatjahr“ (1993/94) wirkt er als Pfarrer einer kleinen Dorf- gemeinde im Unterallgu. Seine Publikationen: Hoffnung angesichts des Todes. Das Todesproblem bei Karl Barth und in der zeitgenssischen Theologie des deutschen Sprachraums. Beitrge zur kumenischen Theolo- gie, Bd. 14., hrsg. von Heinrich Fries. Mnchen - Paderborn - Wien 1977. Heute an Gott glauben. Wege zur Gotteserfahrung. Aschaffenburg 1983. Theologische Interpretationen zum Sptwerk Karl Mays in den Jahrb- chern der Karl-May-Gesellschaft 1988-93. Groe Karl-May-Biographie. Paderborn 1994. Im gngigen Vorurteil wird Karl May als „Trivialliterat“ oder bestenfalls „Jugendbuchautor“ betrachtet. Wer sich als Erwachsener mit diesem Schriftsteller befat und ihn schtzt, wird belchelt. Den „kitschigen Karl May“ (Christ in der Gegenwart, Nr. 3, 16. 1. 1994, S. 1) straft Dr. Lieschen Mller mit grter Verachtung. Denn May gilt, so der Philosoph und May- Verehrer Ernst Bloch, „als anrchige Sache, hchstens als Ulknummer ohne literarischen Wert“ 1 . Ein Image brigens, das durch Filmproduktionen (die den tieferen Gehalt der Mayschen Erzhlungen nivellieren und Schie- und Prgelszenen umso einseitiger betonen) noch erheblich verstrkt wurde! 25 Jahre wissenschaftliche May-Forschung (im Rahmen der Karl-May-Gesellschaft: mit 1650 Mitgliedern – sehr verschiedener Geistesrichtung – eine der grten literarischen Gesell- schaften Deutschlands) konnten den Erfinder Winnetous und Old Shatterhands in Fachkrei- sen rehabilitieren. Im durchschnittlichen Bewutsein des normalen Gebildeten sind die Er- gebnisse der May-Forschung aber vollstndig unbekannt. Dies wird sich so rasch nicht ndern – auch nicht durch meine „Groe Karl-May-Biographie“ 2 , die den „wohl meistgelesenen deutschen Schriftsteller“ ernst nimmt und seine Alterswerke als „theologische Poesie“ von hohem Niveau bewertet. Vom MUT-Verlag wurde ich gebeten, das Resultat meiner Arbeit „im Blick auf Orientierungs- gewinnung bzw. sittliche Bildung in heutiger Zeit“ hier vorzustellen. Gerne komme ich dieser Aufforderung nach. Um die ethische Relevanz Karl Mays – des Menschen und seines Werkes – hervorheben zu knnen, mu ich zunchst aber die Vita des Dichters und die allgemeine literarische Bedeutung seiner Bcher skizzieren. Kindheit und Jugend Karl May wurde am 25. Februar 1842 als fnftes von 14 Kindern des Webergesellen Heinrich May und seiner Ehefrau Christiane unter rmlichsten, ja elenden Verhltnissen geboren: in Ernstthal, einer Kleinstadt am Rande des schsischen Erzgebirges. Kurz nach der Taufe verlor das Kind sein Augenlicht. Erst im 5. Lebensjahr konnte es sehen. Tief religis – im lutheri- schen Glauben – erzogen, verbrachte „Karle“ seine Kindheit und seine Jugendjahre unter uerst schwierigen, neurosefrdernden Umstnden. Hunger nach Liebe, religises Verlan- gen, Mrchenromantik, tagtrumerische Neigung, berreiche Phantasie und narzitische 1 Ernst Bloch: Die Silberbchse Winnetous (1929). Neufassung in: Ders.: Erbschaft dieser Zeit. Frankfurt a. M. 1962, S. 169 -173 2 Hermann Wohlgschaft: Groe Karl-May-Biographie. Paderborn (IGEL-Verlag Literatur) 1994; ca. 900 S. Vo- raussichtlicher Erscheinungstermin: Mai 1994

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Hermann Wohlgschaft: Himmelsgedanken. Die visionÄre Symbolik Karl Mays

Abgedruckt in: MUT. Forum f�r Kultur, Politik und Geschichte Nr. 320, April 1994, S. 56-71.

Dr. Hermann Wohlgschaft, Jahrgang 1944, war von 1970 bis 1973 wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Katho-lischen Akademie Augsburg. Gleichzeitig promovierte er bei Heinrich Fries in M�nchen zum Dr. theol., 1974 wurde er in Augsburg zum Priester geweiht. Von 1977 bis 1983 war er Domvikar und Studentenpfarrer in Augs-burg, 1983 bis 1993 Stadtpfarrer in Kempten. Im „Sabbatjahr“ (1993/94) wirkt er als Pfarrer einer kleinen Dorf-gemeinde im Unterallg�u. Seine Publikationen: Hoffnung angesichts des Todes. Das Todesproblem bei Karl Barth und in der zeitgen�ssischen Theologie des deutschen Sprachraums. Beitr�ge zur �kumenischen Theolo-gie, Bd. 14., hrsg. von Heinrich Fries. M�nchen - Paderborn - Wien 1977. Heute an Gott glauben. Wege zur Gotteserfahrung. Aschaffenburg 1983. Theologische Interpretationen zum Sp�twerk Karl Mays in den Jahrb�-chern der Karl-May-Gesellschaft 1988-93. Gro�e Karl-May-Biographie. Paderborn 1994.

Im g�ngigen Vorurteil wird Karl May als „Trivialliterat“ oder bestenfalls „Jugendbuchautor“betrachtet. Wer sich als Erwachsener mit diesem Schriftsteller befa�t und ihn sch�tzt, wird bel�chelt. Den „kitschigen Karl May“ (Christ in der Gegenwart, Nr. 3, 16. 1. 1994, S. 1) straft Dr. Lieschen M�ller mit gr��ter Verachtung. Denn May gilt, so der Philosoph und May-Verehrer Ernst Bloch, „als anr�chige Sache, h�chstens als Ulknummer ohne literarischen Wert“1. Ein Image �brigens, das durch Filmproduktionen (die den tieferen Gehalt der Mayschen Erz�hlungen nivellieren und Schie�- und Pr�gelszenen umso einseitiger betonen) noch erheblich verst�rkt wurde!

25 Jahre wissenschaftliche May-Forschung (im Rahmen der Karl-May-Gesellschaft: mit 1650 Mitgliedern – sehr verschiedener Geistesrichtung – eine der gr��ten literarischen Gesell-schaften Deutschlands) konnten den Erfinder Winnetous und Old Shatterhands in Fachkrei-sen rehabilitieren. Im durchschnittlichen Bewu�tsein des normalen Gebildeten sind die Er-gebnisse der May-Forschung aber vollst�ndig unbekannt.

Dies wird sich so rasch nicht �ndern – auch nicht durch meine „Gro�e Karl-May-Biographie“2, die den „wohl meistgelesenen deutschen Schriftsteller“ ernst nimmt und seine Alterswerke als „theologische Poesie“ von hohem Niveau bewertet.

Vom MUT-Verlag wurde ich gebeten, das Resultat meiner Arbeit „im Blick auf Orientierungs-gewinnung bzw. sittliche Bildung in heutiger Zeit“ hier vorzustellen. Gerne komme ich dieser Aufforderung nach. Um die ethische Relevanz Karl Mays – des Menschen und seines Werkes – hervorheben zu k�nnen, mu� ich zun�chst aber die Vita des Dichters und die allgemeine literarische Bedeutung seiner B�cher skizzieren.

Kindheit und Jugend

Karl May wurde am 25. Februar 1842 als f�nftes von 14 Kindern des Webergesellen Heinrich May und seiner Ehefrau Christiane unter �rmlichsten, ja elenden Verh�ltnissen geboren: in Ernstthal, einer Kleinstadt am Rande des s�chsischen Erzgebirges. Kurz nach der Taufe verlor das Kind sein Augenlicht. Erst im 5. Lebensjahr konnte es sehen. Tief religi�s – im lutheri-schen Glauben – erzogen, verbrachte „Karle“ seine Kindheit und seine Jugendjahre unter �u�erst schwierigen, neurosef�rdernden Umst�nden. Hunger nach Liebe, religi�ses Verlan-gen, M�rchenromantik, tagtr�umerische Neigung, �berreiche Phantasie und narzi�tische

1 Ernst Bloch: Die Silberb�chse Winnetous (1929). Neufassung in: Ders.: Erbschaft dieser Zeit. Frankfurt a. M. 1962, S. 169 -1732 Hermann Wohlgschaft: Gro�e Karl-May-Biographie. Paderborn (IGEL-Verlag Literatur) 1994; ca. 900 S. Vo-raussichtlicher Erscheinungstermin: Mai 1994

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Verletzungen pr�gten schon das Kind. Sein ganzes Leben wurde – ein Schrei nach Erl�sung, eine „Recherche nach der verlorenen Liebe“ (Hans Wollschl�ger).

Nach der Heilung von seiner Blindheit – dem ersten Rettungserlebnis! – besuchte Karl die Volksschule in Ernstthal. Der Sch�ler fiel auf durch besondere Begabung und (ihm zu Hause, durch harten Lern- und wahllosen Lesezwang, vom Vater eingebl�ute) Vielwisserei. In einer Leihbibliothek lernte er „Rinaldo Rinaldini“ und �hnliche R�uberromane kennen: ein will-kommener Ausgleich f�r das stupide Lernen! Noch lange blieb May von dieser Lekt�re beein-flu�t. In der Selbstbiographie (1910) erw�hnte er sie freilich, �bertreibend, mit Abscheu.

1856 bis 1860 besuchte er das Lehrerseminar zu Waldenburg. Besonders den Religionsunter-richt empfand Karl, der geborene homo religiosus, als phantasielos und kalt: Es gab keine Liebe. Es fehlte jede Spur von Poesie.3 Zu Weihnachten 1859 hatte sich May wegen Dieb-stahls von 6 Kerzen (die er f�r den Christbaum im armseligen Elternhaus verwenden wollte) zu verantworten. Der Schulleiter griff durch, so hart er nur konnte: Mit Schimpf und Schande mu�te May die Anstalt verlassen. Doch ein Gnadengesuch erm�glichte die Fortsetzung sei-ner Ausbildung in Plauen.

Sturm- und Drangzeit

1861 wurde May zun�chst Hilfslehrer in der Armenschule zu Glauchau, dann Fabrikschulleh-rer in Altchemnitz. Aber schon zu Weihnachten wurde er verhaftet: wegen angeblichen Diebstahls einer Taschenuhr. Trotz des unklaren Sachverhalts (ein wirklicher Diebstahl oder eine Diebstahlabsicht m�ssen nicht angenommen werden) wurde May zu sechs Wochen Haft verurteilt. Das hie� in der Folge: Berufsverbot als Lehrer! Dieses Schockerlebnis wurde zum Trauma, das May nie ganz �berwunden hat.

Von 1862 bis 1865 lebte er von k�rglichen Eink�nften als Privatlehrer und Dorfmusikant. Eigene – teils flotte, teils ernste und fromme – Liedkompositionen entstanden. Und 1864/65 begann er, vielleicht aufgrund einer psychischen Erkrankung, m�glicherweise mit Bewu�t-seinsst�rungen verbunden, eine kriminelle Karriere. Phantastisch-kuriose Eigentumsdelikte, die er pseudonym (unter anderem als „Dr. med. Heilig“ und „Hermes Kupferstecher“) beging, f�hrten zur steckbrieflichen Verfolgung, zur Festnahme durch die Polizei und zur Haft im Gef�ngnis zu Zwickau (1865-68).

Nach vorzeitiger Entlassung – wegen guter F�hrung – wurde May r�ckf�llig. Die (psychoti-sche?) „Ich-Spaltung“ trat wieder in Erscheinung. May beging, zum Beispiel als „Leutnant v. Wolframsdorf, eine Serie von skurrilen, von g�nzlich absurden Betr�gereien, die eine defekte Psyche verrieten, aber auch eine sch�pferische (sp�ter in Literatur umgesetzte) Phantasie bereits andeuteten.

1869 wurde May wieder verhaftet. Nach seiner Flucht – unter merkw�rdigen Umst�nden –wurde er 1870 endg�ltig festgenommen: in B�hmen. Im Untersuchungsgef�ngnis verfa�te er, zum Teil in franz�sischer Sprache, ein Fragment „Ange et Diable“, das einem Atheismus �la Feuerbach ziemlich nahestand – eine Tendenz, die in den k�nftigen Schriften Mays nie mehr zu finden ist.

3 Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg 1910 (Reprint-Ausgabe. Hrsg. von Hainer Plaul. Hildesheim-New York 21982), S. 95

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Die erste Verwandlung

Zu vier Jahren Zuchthaus wurde er schlie�lich verurteilt. Seinen psychischen Zustand lie� das Gericht auch diesmal au�er Betracht. May verb��te die Strafe in Waldheim (1870-74). Die Haftbedingungen waren sehr streng, ja man mu� es schon sagen: brutal und menschlich entw�rdigend. Aber das Wunder geschah: F�r May wurden diese Jahre zum Segen! Vor al-lem die Begegnung mit dem katholischen Anstaltskatecheten Johannes Kochta f�hrte zur religi�sen Umkehr und zur – weitgehenden – psychischen Gesundung des H�ftlings. Eine weitere Straftat beging er nie mehr, im Gegenteil: Er hat – vielfach und in jeglicher Hinsicht –wiedergutgemacht, was er „verbrochen“ hatte. Seine Pers�nlichkeitsstruktur blieb im Kern zwar dieselbe; aber seine Phantasie und seine pseudologische Neigung konnte er in Positives verwandeln: in zunehmend kunstvoller und ethisch bedeutsamer werdende Literatur.

Erzgebirgische Dorfgeschichten und prickelnde „Rei�erromane“

Nach seiner Entlassung aus dem Zuchthaus wurde May Schriftsteller. Er publizierte zun�chst in volkst�mlichen Journalen, vor allem des Dresdner Kolportageverlegers H. G. M�nchmeyer. Seine – der literarischen Gattung, dem k�nstlerischen Wert und der inhaltlichen Tiefe nach sehr verschiedenartigen – Schriften („Geographische Predigten“, Humoresken, exotische Abenteuer, heimatliche Dorfgeschichten u. a.) lie�en, schon damals, einen kenntnisreichen, gel�uterten und sittlich hochstehenden Autor erkennen. Seit 1879 schrieb er vorzugsweise im „Deutschen Hausschatz“, einem Unterhaltungsblatt des katholischen Pustet-Verlags in Regensburg. Finanziellen Erfolg hatte May aber noch nicht. Trotz seines enormen und nahe-zu beispiellosen Flei�es hatte er bis 1891 mit erheblichen Geldschwierigkeiten zu k�mpfen. Seine Eink�nfte sicherten ihm, bis 1882, gerade das Existenzminimum.

1880 heiratete May die k�rperlich attraktive, zwar nicht gerade dumme, ihm aber geistig doch weit unterlegene Emma Pollmer. Eine h�chst problematische, �berwiegend (wahr-scheinlich) recht ungl�cklich verlaufende Ehe begann. Mays Fluchtweg, seine seelische Ret-tung, aber auch seine „Droge“: das literarische Schaffen!

In den Jahren 1882 bis 1887 band sich May, aus wirtschaftlicher Not, erneut an den (etwas anr�chigen) Kolportageverleger M�nchmeyer, den er 1877 schon verlassen hatte. F�nf riesi-ge – f�r die unteren Volksschichten verfa�te, stellenweise recht kitschige, in vielen Partien aber interessante und, metaphysisch betrachtet, durchaus bedenkenswerte – „Hintertrep-penromane“ entstanden. Ohne Mays Verschulden wurden diese Lieferungshefte („Der verlo-rene Sohn“ u. a.) nach 1900 f�r ihn zum Verh�ngnis.

May als Bestseller-Autor

1887 trennte sich May f�r immer von M�nchmeyer. Er schrieb in der Folgezeit parallel f�r das Stuttgarter Gymnasiasten-Journal „Der Gute Kamerad“ und, wie fr�her, f�r den katholi-schen Pustet-Verlag. Was May jetzt produzierte – bekannte Erz�hlungen wie „Die Sklavenka-rawane“ –, ist (�sthetisch gewertet) zwar noch lange nicht „Hochliteratur“, aber doch seri�-se, in souver�ner Fabulierkunst geschriebene, dem christlichen Glauben verpflichtete, ethisch am Neuen Testament orientierte Volks- und Jugendp�dagogik im Gewande der spannenden und deshalb gerne gelesenen Abenteuerliteratur.

Ab 1892 gelangte May, durch die Verbindung mit dem Freiburger Verleger Fehsenfeld (der die „klassisch“ gewordenen gr�nen B�nde mit farbigen Deckelbildern herausbrachte), zu Weltruhm und materiellem Wohlstand. In dieser Zeit – 1893 – stellte er die „Winnetou“-Trilogie (zum Teil aus �lteren, sehr heterogenen Einzelgeschichten) zusammen. Diese B�cher

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wurden zum gro�en Erfolg und lie�en den Verfasser ganz anderer, viel weniger bekannter, literarisch den „Winnetou“-B�nden aber zumindest ebenb�rtiger Erz�hlungen beinahe ver-gessen. Sie fixierten Mays Image, als Wildwest-Autor, f�r viele Jahrzehnte. „Winnetou I - III“, auch „Old Surehand I - III“ oder „Weihnacht!“ sind zwar keineswegs zu verachten; diese B�-cher enthalten, gerade auch ethisch gesehen, sehr wertvolle Passagen. Aber da� May, ab 1898, viel anspruchsvollere, theologisch subtile, ja (wenn nur diese Worte nicht so abgegrif-fen w�ren!) prophetische und vision�re Symbolik geschaffen hat, wird durch die Verkaufs-schlager der 1890er Jahre noch immer zugedeckt!

Narzi�tische Neurose

Gerade die 1890er Jahre lassen die Vita Karl Mays als sehr vielschichtig, um nicht zu sagen: widerspr�chlich erscheinen. Einerseits forcierte der Dichter in seinen Geschichten das religi-�se F�hlen und die Demut des wirklichen Gottvertrauens. Andererseits paktierte er, in kras-ser Selbst�berhebung, mit der Masse seiner Verehrer. Wie in der Straft�terzeit – freilich nicht in krimineller Manier – erlag er den Versuchungen seiner (traumatisch gekr�nkten) Psyche. Seine Biographie hatte er l�ngst schon „umgeschrieben“: Aus dem armseligen Weberssohn, dem gescheiterten Schulmeister, dem geduckten H�ftling ist (im literarischen „Ich“) der strahlende Held, der Befreier aus allen N�ten geworden. Und jetzt, 1894 bis 1898, bekr�ftigte May in Briefen und �ffentlichen Auftritten, er selbst – Dr. Karl May (den falschen Titel f�hrte er seit den 1880er Jahren) – sei wirklich Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi! Er lie� sich fotografieren im Trapper-Kost�m, mit Lasso und „B�rent�ter“! Alle L�nder, die er beschrieben hatte, wollte er pers�nlich bereist und alle Gro�taten seines fiktiven „Ich“ woll-te er pers�nlich vollbracht haben!

Zum Teil sind Mays Eskapaden – so in M�nchen und Wien, sogar vor Prinzessinnen und kai-serlichen Hoheiten – als Public Relations oder auch, ganz schlicht, als Scherz zu verstehen. May hatte Sinn f�r Komik und auch f�r Selbstironie; die „Belastbarkeit“ seiner Fans wollte er auf die Probe stellen! Aber zum anderen Teil entsprang die „Shatterhand-Legende“ patholo-gischer Geltungssucht: einer „narzi�tischen Neurose“ (Wollschl�ger), einem krankhaften Liebesverlangen. Gleichzeitig betrieb May, vielleicht nicht einmal unbewu�t, seine eigene Demaskierung. Er selbst rief, dies freilich ungewollt, die Journalisten auf den Plan! Nur eineRettung konnte es geben f�r ihn: Er mu�te ein anderer Mensch werden. Und er mu�te –ganz anders schreiben als bisher.

Die zweite Verwandlung

1898 fand May, zum ersten Mal, einen ernstzunehmenden Kritiker: in Carl Muth, dem Be-gr�nder der „fortschrittlichen katholischen Literaturbewegung“ und sp�teren Herausgeber des „Hochland“. Muths, allerdings nur teilweise berechtigte, Kritik an den „religi�sen Phra-sen“ des Mayschen Schrifttums nahm der Gescholtene sich zu Herzen. Er legte, fortan, mehr Wert auf seinen Stil und – vor allem – das Niveau seiner „Verk�ndigung“. Seine l�ngst schon vorbereitete Abkehr von der Unterhaltungsliteratur wurde endg�ltig. 1898/99 verfa�te er „Am Jenseits“: ein faszinierendes Buch, das viele – aufs blo�e Abenteuer erpichte – Konsu-menten freilich entt�uschen mu�te. F�r s�chtige Schnell-Leser ist dieser in jeder Hinsicht gewichtige Roman v�llig ungeeignet. Denn die Schwelle zur „Hochliteratur“ hat May nun erreicht. Zudem ging er, in „Jenseits“, mit sich selbst (seiner pers�nlichen Eitelkeit und der Qualit�t seines Christseins) ins Gericht: schonungslos und radikal. Auf dem Weg zur Selbst-findung ist May einen gro�en Schritt weitergekommen!

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Im M�rz 1899 trat er eine gigantische Orientreise an, von der er – nach 16 Monaten – als ein Verwandelter zur�ckkehren sollte. Die Reise ging nach �gypten, Pal�stina, Aden (wo May den fr�heren Karl, den „alten Adam“, die eigene Renommiersucht ins rothe Meer ver-senkte4), Sumatra – wo der „Pilger“ einen schweren Nervenzusammenbruch erlitt –, Kon-stantinopel, Griechenland und Italien. Konfrontiert mit der Realit�t des Orients, den er zum ersten Mal sah, und mit heftigen Presseangriffen gegen „Old Shatterhand“ (deutsche Zeitun-gen las er, geschockt, im Heiligen Land), wurde die Fahrt f�r May eine „Reise ins Innere“, die ihn – von Grund auf – ersch�tterte und die „Neugeburt“ des Menschen und des Autors Karl May besiegelte.

Das Resultat der Reise: ein – freilich von R�ckschl�gen begleiteter – menschlicher Reifungs-proze�, eine vertiefte Hinwendung des Schriftstellers zu Gott (dokumentiert in den „Him-melsgedanken“, einer im Orient entstandenen Gedicht-Sammlung), eine betr�chtliche Hori-zonterweiterung des theologischen Dichters und Gesellschaftskritikers May. Er verwendete, nach 1900, viel Zeit f�r die eigene Weiterbildung. Er besch�ftigte sich, intensiver als fr�her, mit Werken der Weltliteratur. Er wurde zum regelm��igen Konzert- und Theaterbesucher (fast 50 Theaterbesuche allein im ersten Halbjahr 1902). Er h�rte wissenschaftliche Vortr�ge, interessierte sich f�r bildende Kunst, besuchte Ausstellungen und f�rderte junge K�nstler. Seine Bibliothek baute er aus: Zu v�lkerkundlichen, belletristischen und philologischen Wer-ken kamen literatur- und kunsttheoretische, aber auch psychologische, philosophische und theologische Schriften hinzu. May hat diese B�cher wirklich studiert; mit Nietzsche zum Bei-spiel hat er sich, in durchaus kluger Weise, auseinandergesetzt. Auch die eigene Schreibart �nderte sich: Aus dem manischen Vielschreiber wurde ein zunehmend auf Qualit�t bedach-ter poetischer Vision�r.

Der literarischen Hochleistung, die bald schon einsetzte, entsprach eine menschliche Um-kehr, die nach dem „Jenseits“-Band freilich nicht mehr verwundert. Der Shatterhand-Nimbus trat im pers�nlichen Lebensstil v�llig zur�ck. Die Abenteuer-Requisiten der „Villa Shatter-hand“ in Radebeul (wo May seit 1896 wohnte) wurden verr�umt in den Schuppen. Und vor allem: Der alt gewordene May war – trotz bleibender Schw�chen (die er durchschaute und literarisch bek�mpfte) und trotz privater Entscheidungen, �ber die man sich streiten kann (1903 lie� sich May von seiner Ehefrau Emma scheiden und heiratete Klara Pl�hn, eine Wit-we, deren Charakter ebenfalls problematisch war, die May aber jene emotionale Geborgen-heit schenkte, die er bitter n�tig hatte) – ein sympathischer, zu echter Begegnung, zu Freundschaft und Liebe f�higer Mensch.

Das eigentliche Werk

Doch gerade jetzt holte May die Vergangenheit ein. Seine l�ngst verb��ten Jugenddelikte, der falsche Doktortitel, die M�nchmeyer-Romane (denen, besonders von katholischer Seite, eine „abgrundtief unsittliche“ Tendenz unterstellt wurde: ein aus heutiger Sicht geradezu irrsinniger Vorwurf!), die Old-Shatterhand-Manier der 1890er Jahre, aber auch die Eheschei-dung und die Wiederverheiratung Mays wurden f�r verst�ndnislose, auf Sensation und Ent-h�llung versessene Journalisten ein gefundenes Fressen.

May lief ins offene Messer. Aber – er fiel nicht. Er war, als Mensch und als K�nstler, zutiefst verletzt. Aber er war nicht verbittert. Er behielt den Humor. Und er verteidigte, nicht immer geschickt, aber immer zu Recht, seine W�rde. Eine schier endlose Pressekampagne (1899-1911) und, mit dieser Kampagne verkn�pft, eine Flut von Gerichtsprozessen (es ging um die

4 Aus Mays Brief vom 16. 9. 1899 an das Ehepaar Pl�hn

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M�nchmeyer-Romane und um Beleidigungsklagen gegen diverse Publizisten) konnten es nicht verhindern: Als prophetischer Dichter, als gl�ubiger Christ, als religi�ser und politischer „Tr�umer“ schuf May sein eigentliches Werk: �sthetisch wertvolle und literaturtheologisch bedeutsame symbolisch-allegorische – partienweise surrealistische – Poesie.

Mays sp�te Dichtung ist nicht jedermanns Sache. Von den Zeitgenossen wurden Mays Al-terswerke ignoriert oder mi�verstanden. Zum Massenerfolg werden diese B�cher, aufgrund ihrer komplexen Struktur, auch in Zukunft nicht werden. Aber nach Claus Roxin, dem M�nchner Strafrechts-Professor und Vorsitzenden der Karl-May-Gesellschaft, werden sich mit „Ardistan und Dschinnistan“ – und den anderen Sp�twerken Mays – noch viele Germa-nistengenerationen besch�ftigen: „Das ist keine an banale Esoterik vergeudete M�he, son-dern eine lohnende Arbeit, wenngleich sich dies noch nicht weit genug herumgesprochen hat.“5

Ecce homo

Der Dichter starb, im Alter von 70 Jahren, am 30. M�rz 1912 in Radebeul. Bertha v. Suttner, die mit May befreundete Friedensnobelpreis-Tr�gerin in Wien, meinte in ihrem Nachruf: „In dieser Seele lodert das Feuer der G�te.“ Und Rechtsanwalt Dr. Gerlach, einer der erbitterts-ten Gegner Karl Mays, schrieb nach dessen Tode: „Stets rein aus Pflicht war ich dein Wider-sach / Denn krankhaft falsch war all dein Prozessieren – / Doch schlug mein Herz dir heimlich hundertfach: / Auf Wiedersehn in himmlischen Revieren!“

„Krankhaft falsch“ war Mays „Prozessieren“ zwar kaum; denn es blieb ihm, angesichts der B�swilligkeit vieler Gegner, nichts anderes �brig, als den Rechtsweg zu beschreiten. Aber nat�rlich hatte auch May seine Fehler, die zu vertuschen oder zu besch�nigen ein schlechter Dienst an ihm w�re. Mays gro�e Schw�che: Er war – aufgrund seiner weithin tragischen Le-bensgeschichte – s�chtig nach Erfolg und nach Anerkennung. Er neigte zur Selbst�berhebung und hatte zur Realit�t ein getr�btes Verh�ltnis. Aber er wu�te um seine Schw�chen! Und er k�mpfte, nicht ohne Ergebnis, dagegen an! Er fand, schlie�lich, doch zur echten Bescheiden-heit und zur wirklichen Demut im Sinne des Evangeliums.6

May war ein Mensch, und nichts Menschliches war ihm fremd. Er ist – menschlich, allzu menschlich – so manchen Irrweg gegangen. Aber er hat aus Fehlern gelernt. Er war gewi� ein „Neurotiker“. Aber auch die Krankheit (und irgendwie „krank“ sind wir alle) kann Gott in seine Heilspl�ne mit einbeziehen. Ein Wort S�ren Kierkegaards �ber Martin Luther wandte Ernst Seybold, mein evangelischer Kollege in der Karl-May-Gesellschaft, auf unseren Dichter an: May war Patient, aber er war „ein f�r die ganze Christenheit �u�erst interessanter Pati-ent Gottes“7.

Zur literarischen Bedeutung der Karl-May-B�cher

Was von May in dieser Welt bleibt, sind seine B�cher, seine „unsterblichen Werke“. Wie sind sie zu beurteilen?

5 Claus Roxin im Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1976 (Hamburg 1976), S. 2256 Am 20.1. 1905 antwortete May seiner jungen Verehrerin Marie Luise Fritsch: Was Sie mir schreiben, ... macht mir gro�e Freude ... Aber Eins hat mich betr�bt, tief betr�bt, n�mlich Ihr „Gloria Carolus Majus“... wissen Sie denn nicht, da� es nur eine einzige irdische Gr��e giebt, die wirklich gro� ist? Die Demuth! – Mein liebes, gutes Kind, ich bitte Sie dringend, streichen Sie diese drei Worte aus, vollst�ndig aus! ...7 Zit. nach Ernst Seybold: Karl-May-Gratulationen. Geistliche und andere Texte zu und von Karl May III. Ergersheim 1990, S. 110

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May hat sehr Verschiedenartiges, im literarischen Wert sehr Unterschiedliches produziert. Die erzgebirgischen Dorfgeschichten (der 1870er Jahre) beispielsweise sind viel h�her zu bewerten als die gleichzeitig entstandenen Indianergeschichten. Die M�nchmeyer-Romane sind �berhaupt nach anderen Gesichtspunkten zu beurteilen als beispielsweise die Jugend-erz�hlungen im „Guten Kameraden“. Und vor allem das hochpoetische Sp�twerk ist mit v�l-lig anderen Kriterien zu messen als etwa die „Reiseerz�hlungen“ von 1881 bis 1897.

�sthetisch gesehen hat May erst im Sp�twerk zu seiner Bestform gefunden: in „Geld-m�nnle“ und andren Novellen, im – nie aufgef�hrten und von der Literaturwissenschaft zu Unrecht ignorierten – B�hnenst�ck „Babel und Bibel“, in den gro�en Romanen „Im Reiche des silbernen L�wen III/IV“, „Und Friede auf Erden!“, „Ardistan und Dschinnistan I/II“ und „Winnetou IV“. Wohl weisen auch diese Werke ihre besonderen Schwachpunkte auf: Die Sprache ist insgesamt zwar gehoben (partienweise rhythmisch) und diszipliniert, gelegentlich aber schw�lstig; und das Religi�se wirkt mitunter dick aufgetragen. Doch jetzt, im Alter, ge-lang es May, die verschiedenen Leseebenen (die f�r die fr�heren Werke auch schon be-zeichnend sind) zur Deckung zu bringen. Und erst im Sp�twerk schuf er die einzigartige Bild-symbolik, die ihm – nach dem Urteil von Kennern – seinen Platz in der „Hochliteratur“ (Arno Schmidt) sichern wird. Und ebenfalls erst im Sp�twerk wurde May – durchg�ngig und nicht nur in einzelnen S�tzen – zum „Prediger“ gegen den Krieg und jede Gewalt, zum Vision�r des umfassenden (sozialen und politischen) Friedens, des Friedens mit Gott und der Sch�pfung.

Im Mittelpunkt von „Ardistan und Dschinnistan“ (1909) beispielsweise finden wir Tempel und Kathedralen, Vulkane und Fl�sse, W�sten und Brunnenengel: Symbole, die alle mitei-nander in Beziehungen stehen, „die einerseits physikalischer Art sind, andrerseits aber auch eine g�ttliche Heilsbotschaft bergen, auf die Grundfragen von Leben und Tod (Wasser und W�ste) verweisen und ihre Beantwortung in den Gedanken von Friede, Liebe und Gewaltlo-sigkeit suchen“ (Roxin).

Der Ich-Erz�hler dieses Romans h�rt von einer Legende, die zum Leitmotiv des ganzen Ge-schehens wird. Die Legende berichtet: Hoch �ber Dschinnistan – dem Land der Verhei�ung, der Tr�ume, der Sehnsucht – liegt das verlorene Paradies. Alle hundert Jahre �ffnen sich sei-ne Tore, und eine F�lle des Lichts �berflutet die Erde. Da wird Alles, Alles offenbar, was je geschehen ist und was noch heut geschieht. Die Engel schauen herab, ob endlich Friede sei; aber stets ist Krieg und Streit. Unsichtbar steigen die Gebete der �rmsten zum Paradies em-por ... Sie helfen einander, heben einander �ber die Mauern hinweg ... und klammern sich an die Engel. Sie heften sich an die Fl�gel der Gnade und steigen zu Gott. „Gib Frieden!“ jam-merte es �ber die Erde ... „Gib Frieden!“ bittet es in Gottes eigener Seele. Der Herr sendet Mose, dann Jesus, dann Mohammed. Doch die Herzen der Menschen bleiben verschlossen. Da geht Gott selbst8 hinunter nach Ardistan (= Erde). Dort wird er – an Dostojewskis Legende vom Gro�inquisitor m�ssen wir denken – vor den Herrscher geschleppt und als Landesverr�-ter zum Tode verurteilt. Da predigt der Herrgott durch Taten: Ssul, der Flu� des Friedens, wird dem Reiche Ardistan genommen. Das lebenspendende Wasser flie�t aufw�rts, nach oben, woher es gekommen ist ... Das Bett des Flusses aber liegt leer, und die entsetzte Menschheit flieht aus der Stadt ...

So spricht die Sage. Und dies ist die Wirklichkeit, die „Realfiktion“ im Roman: Der wichtigste Flu� des Landes Ardistan ist verschwunden, und die Tr�mmer der alten Hauptstadt starren

8 Aus dieser Passage eine Leugnung der G�ttlichkeit Jesu Christi durch den Autor zu schlie�en, w�re verfehlt; denn die Sage wird ja von Leuten erz�hlt, denen die Lehre von Gottes Sohn, dem Erl�ser, noch fehlt.

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wasserlos in die Steppe. Doch Gottes Sorge hat das d�rstende Land nicht verlassen. Geheim-nisvoll, aber m�chtig, bleibt Gott noch in der W�ste pr�sent. Und weiterhin brennen, nach jedem Jahrhundert, die Vulkane von Dschinnistan. Ihre Flammen verl�schen nicht eher, als bis die Frage „Ist Friede auf Erden?“ beantwortet ist.

In einem unerh�rten Crescendo wird das Verhei�ungs-Potential der Legende in der „Utopie“des Romangeschehens vorangetrieben und verifiziert. Den Frieden zu schaffen ist, im Ver-st�ndnis Mays, zwar die Aufgabe des Menschen; zuletzt aber ist der Friede – als „Punkt Omega“ (Teilhard de Chardin) der Geschichte, als Vollendung der Welt: des Geistes wie der Materie – Gottes Geschenk. In „Ardistan und Dschinnistan“ bringt May, der prophetische Dichter, solche (christozentrisch zu deutenden) Endzeit-Visionen ins faszinierende Bild. Die Offenbarung eines gro�en Zusammenhangs, das Band, welches die irdische Natur mit dem himmlischen Sch�pfer vereint, beschreibt er in einer Vollendungs-Symbolik, deren poetische Bildkraft dem Vergleich mit der biblischen Prophetie (und Apokalyptik) ohne weiteres stand-h�lt und deren mystische Tiefe an Hildegard von Bingen, an den Sonnengesang des Franzis-kus, an Dichter und Seher wie Petrarca und Jakob B�hme erinnern.9

Eine Tempel-Priesterin und der Christ Kara Ben Nemsi f�hren im ersten Teil des Romans ein n�chtliches Glaubensgespr�ch. Sie betrachten den Dom des Firmaments, in dessen uner-gr�ndlicher Tiefe soeben das Herz der Erde brach, um ... in alle Well hinauszurufen, da� auch der scheinbar tote Stoff, die vielverkannte Materie noch Kraft, noch Leben und Seele hat! Die Priesterin sieht das ge�ffnete Paradies, die k�nftige Gotteswelt. Sie zeigt dem Effendi die Flammen, die Feuers�ulen der Vulkane von Dschinnistan: Diese Feuers�ulen bestanden aus strahlengef�rbter nach aufw�rts immer reiner werdender Flammenglut ..., bis sich zuletzt feste, unbewegliche Mauern bildeten ... Das Leuchten und Gl�hen, das Flackern und Flam-men ... war ein Gebet der Erde. Denn hinter den Naturerscheinungen sieht die Priesterin die Seele, das „Herz“ der Materie: „F�r den Gottesfeind hat sich da drau�en die Erde ge�ffnet ...; f�r uns aber, die wir von dem Aeu�eren auf das Innere ... schlie�en, werden die Tore des Pa-radieses aufspringen, damit ... die Engel sehen k�nnen, ob endlich, endlich Friede auf Erden sei oder leider immer noch nicht!“

Mays Epos ist eine – eschatologische – Erl�sungs-Vision. Der Roman hat, wie Dantes „Divina Commedia“ oder Bunyans „The pilgrim's progress“, die „neue Erde“ (Offb 21, 1) im Blick: das „himmlische Jerusalem“. Denn Kara Ben Nemsi und seine Begleiter haben, in surrealistisch geschilderten Handlungssequenzen, die R�ume und auch die Zeiten durchmessen. Zuletzt, an der Grenze zu Dschinnistan, bietet sich ihnen ein herrliches Panorama: die s�mtlichen Terrassen und Daseinsstufen des Erdentums bis hinauf zu dem Engelsgebilde – dem Christus-Symbol –, welches hoch in die Wolken ragt und das ersehnte Wasser ... spendet.

Die, in vollendeter Meisterschaft gestaltete, Bilderf�lle dieses Romans auch nur ann�hernd zu beschreiben, ist im Rahmen meiner Kurzdarstellung nicht m�glich. Ich kann nur zusam-menfassen: �ber viele Seiten hinweg berauschen den verst�ndigen Leser die sch�nsten Sze-nen und die hintersinnigsten Dialoge. Dieses „m�helose Parlando“ (Wollschl�ger), diese ge-gl�ckte Verbindung von utopischer Phantasie und innerer Wahrheit, von „Tausendundeiner Nacht“ und archetypischer Traumwelt, von farbiger Handlung und transzendentaler Natur-betrachtung, von mystischer Fr�mmigkeit und welthafter Leibfreude, von zeitlosen Mythen und teleologischer Geschichtsdeutung, von g�ttlichem Humor und politischer Satire (bzw. ethischem Ernst) ist ein – in dieser Form einmaliger – Versuch, den Himmel mit den irdischen

9 In meiner „Gro�en Karl-May-Biographie“ habe ich dies belegt und erl�utert.

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Erfahrungen zu ber�hren. Ich wage die These: Wenn von den geistesgeschichtlichen Ereig-nissen des 20. Jahrhunderts die Rede ist, darf „Ardistan und Dschinnistan“ nicht verschwie-gen werden.

Mehr als blo�e „Trivialliteratur“ sind freilich auch die Werke Karl Mays, die in den Jahren 1874 bis 1897 entstanden. Triviale und kitschige Elemente enthalten diese Geschichten, wie �brigens (minimiert) auch die Altersromane, zwar schon. Aber selbst Mays fr�hesten Anf�n-ger-Werken kommt ein k�nstlerischer Wert, ein (zum Teil sogar hoher) artifizieller Rang durchaus zu. Denn s�mtliche Erz�hlungen Mays sind – mehrb�dig. Hinter der vordergr�ndi-gen Fabel verbergen sich weitere Sinn-Schichten: die autobiographische Spiegelung, die „ar-chetypischen“ Hoffnungsbilder, die „mystagogische“ Intention und die ethische Botschaft.

Die autobiographische Spiegelung

Exotisch verfremdet und artifiziell verschl�sselt schildert May auf mehreren, einander durchdringenden Betrachtungsebenen seine innere Biographie, seine eigene Seelenwelt und (detailliert!) auch den �u�eren Verlauf seiner Vita. Insofern hatte er recht, wenn er be-hauptete, alle seine Geschichten seien „pers�nlich erlebt“! Denn seine Erz�hlungen hat er –selbsttherapeutisch – „als Instrument genutzt, sich die ... aus der Straft�terzeit herr�hrenden Qualen aus dem Inneren des Ich herauszuschreiben und auch die jeweils aktuellen, im Le-bensverlaufe neu hinzutretenden Problemlasten mit zu verarbeiten ... Insoweit sind etwa die Reise-Erz�hlungen der getreue Spiegel des Lebens ihres Autors.“10

Im literarischen „Ich“, aber auch in zahllosen anderen Protagonisten – oft auch in Randfigu-ren, nicht zuletzt auch in den B�sewichten, ganz besonders aber in den „gebrochenen“ (halb „guten“ und halb „b�sen“) Charakteren – stellt May sich selbst dar: wie er gerne gewesen w�re, wie er wirklich war und was aus ihm geworden w�re, wenn er seine kriminelle Karriere nicht beendet h�tte.

Archetypische Hoffnungsbilder

Mays Erz�hlungen sind nicht nur fesselnde Abenteuergeschichten, aber auch nicht nur ver-kappte Selbstbiographie und ich-bezogene Wunscherf�llung. May verstand sich, zumindest im Alter, als M�rchenerz�hler. Und er ist es, von Anfang an, auch wirklich gewesen. Seine „Reiseerz�hlungen“ spielen, geographisch, zwar meist im Orient oder im Wilden Westen; aber ihr „seelischer“ Schauplatz liegt – wie die „Berge“ und „Seen“, die „H�hlen“ und „W�l-der“ der M�rchen – in unserm tiefsten Innern (so May, 1906, an Prinzessin Wiltrud von Bay-ern). Der s�chsische Dichter war, wie Ernst Bloch sagte, aus dem Geschlecht Wilhelm Hauffs, „nur mit mehr Handlung“; er schrieb in den Bestseller-Romanen „keine blumigen Tr�ume, sondern Wildtr�ume, gleichsam rei�ende M�rchen“ (Bloch). Sp�testens um 1900 war May, der „mythologische Puppenspieler“ (H. D. Bach), sich des M�rchencharakters seiner Werke bewu�t. Als Hakawati, als verkannten M�rchenerz�hler hat er sich selbst nun bezeichnet: Das M�rchen und ich, wir werden von Tausenden gelesen, ohne verstanden zu werden, weil man nicht in die Tiefe dringt.11

Als M�rchen (im weitesten Sinne), als �berindividuelle Volksdichtung entspringen Mays Werke dem „kollektiven Unbewu�ten“ (C. G. Jung) der Menschheitsseele. Wie die M�rchen und Mythen steigen seine Geschichten aus Ur-Symbolen der Angst, der Hoffnung und der wunderbaren Errettung herauf: aus „archetypischen“ Tr�umen (zum Beispiel: von der gl�ck-

10 Walther Ilmer im Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1987 (Husum 1987), S. 10911 May in der Selbstbiographie „Mein Leben und Streben“, S. 141

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lichen Heimkehr nach gefahrvoller Wanderschaft), aus Grunderfahrungen der Seele, aus dem „Urgrund“, in dem das Menschliche – alles Menschliche – zuunterst verwurzelt ist. Mays Erz�hlungen, seine „M�rchen“ und „Mythen“, dringen in die Innenbezirke des Lesers hinein. Dies verleiht ihnen, �ber das den Autor nur pers�nlich Betreffende hinaus, eine zeit-lose G�ltigkeit. Mays „Tiefenwirkung“ ist das Geheimnis seines Erfolges: Denn jeder Leser kann die Mayschen „Reise-Erz�hlungen“ – „Durch die W�ste“ usw. – auf die eigene „Lebens-Reise“, auf die Widerfahrnisse, die �ngste und Hoffnungen der eigenen Seele beziehen.

Mystagogische Intention und religi�ser Appell

Das Abenteuer, aber auch die codierte Selbstdarstellung und die mythologische „Tiefenpsy-chologie“ werden von May �berschritten ins Metaphysische. Seine Geschichten verweisen auf die Transzendenzerfahrung des Menschen: seine Sehnsucht nach Heil und Erl�sung. Mays epische Dichtung ist streckenweise (und die Sp�twerke sind es – mit verfeinerten Stil-mitteln und in vielfacher Perspektive – durchg�ngig, in s�mtlichen Dialogen und Handlungs-ketten) erz�hlende Theologie! Denn das abenteuerliche Genre f�hrt May – als „Prediger“und „Katechet“ – aus seiner Profanit�t, seiner platten Verweltlichung heraus.

In der Jugenderz�hlung „Die Slavenkarawane“ tr�umen Lobo und Tolo, zwei schwarze Skla-ven, von Befreiung und Gl�ck. Tolo wei� vom gro�en Schech zu berichten, der �ber den Ster-nen wohnt und dessen Sohn f�r die Menschen gestorben sei. Lobo kann die Worte des Tolo zun�chst nicht verstehen. In Todesnot fragt er den Freund: „Bist du wirklich �berzeugt, da� es da oben bei den Sternen einen guten Schech gibt, der uns lieb hat und bei sich aufnehmen wird?“ „Ja, das ist wahr“, antwortete Tolo. „Man mu� es glauben.“ „Und wenn man gestor-ben ist, lebt man bei ihm?“ „Bei ihm und seinem Sohne, um niemals wieder zu sterben.“ In Lobos Seele f�llt der Same des g�ttlichen Wortes schlie�lich auf fruchtbaren Boden. Er nimmt das Evangelium w�rtlich. Er folgt dem Gottessohn nach und ist bereit, f�r Tolo, an dessen Stelle, zu sterben. Er hat es erkannt, und der May-Leser soll es bedenken in seinem Herzen: Das Kreuz Jesu Christi, die Liebe, die das Opfer nicht scheut, ist das einzige „Argu-ment“ – angesichts der Schuld und des Leids in der Welt.

Betrachtungen �ber die Vorsehung, �ber Reue und Vergebung, die g�ttliche Gnade, die Bergpredigt Jesu, die Macht des Gebetes, den Tod, die den Tod �berwindende Liebe und weitere – spirituell – bedeutsame Themen sind May mindestens ebenso wichtig wie die spannende Fabel in seinen B�chern. Religi�se Appelle und biblische Motive strukturieren die Handlung des Mayschen Erz�hlwerks (bis 1896) zwar keineswegs durchg�ngig. Aber s�mtli-che Erz�hlungen Karl Mays setzen die Ewigkeit Gottes voraus, die unsere Zeit umschlie�t12; sie f�hren einen Bogen von der Schuld zur S�hne; und sie beschw�ren die „Neue Ordnung“, die Ordnung der Liebe, die Vers�hnung der Gesellschaft, ja des ganzen Kosmos mit Gott.

Mays Romanheld Old Surehand, der nach schlimmen Erlebnissen den Glauben verloren hat (so wie der Autor, vermutlich, um 1870!), stellt gequ�lt, aber mit gr��tem Verlangen die Frage, ob Gott existiere. Gibt es das: ein Heil, eine Rettung, ein Leben nach dem Tode, ein Wiedersehen in der Ewigkeit? Old Shatterhand antwortet: „Ja.“ Mit welcher Berechtigung? Wer legitimiert seine Antwort? Wie begr�ndet er seinen Glauben? „Ich beweise es Euch, indem ich zwei Koryph�en vorf�hre, deren Kompetenz �ber allen Zweifel erhaben ist ... Eine sehr, sehr hochstehende und eine ganz gew�hnliche ... Gott selbst und ich.“

12 Karl May in einem Brief (1902) an Sophie v. Boynburg

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Ist Shatterhands Rede blasphemisch? Stellt er sich mit Gott auf dieselbe Stufe? Nein – der Abstand zwischen dem Sch�pfer und dem Gesch�pf wird ja deutlich unterstrichen. Aber Shatterhand – und in diesem Fall ist er identisch mit Karl May – argumentiert nicht, philoso-phierend, „von au�en“. Er bringt sich selbst, seine eigene Lebensgeschichte, ins Spiel. Erspricht bzw. schreibt mit dem Sachverstand eines „Armen“, dem die Nacht des Zweifels nicht fremd ist und dessen Glaube durch zahlreiche Pr�fungen ging. Er erz�hlt mit dem ganzen Gewicht eines Menschen, der Gott schon erfahren und – wie Hiob – an diesem Gott sehr zu leiden hatte. „Mystagogik“ im Sinne Karl Rahners ist solches Erz�hlen: Zeugnis eines schwa-chen und s�ndigen Menschen, der aber von Gott schon ber�hrt wurde (und sp�ter, um die Jahrhundertwende, von diesem Gott noch ganz anders ber�hrt werden soll).

Die theologische Relevanz

Die religi�se Tendenz, die mystagogische Intention auch der „klassischen“ Reiseerz�hlungen Mays (in den 1880er und 1890er Jahren) ist nicht in Frage zu stellen. Hinterfragbar ist aber die Qualit�t, die besondere Eigenart der Mayschen „Verk�ndigung“ in den Bestseller-Romanen. Es w�re zu fragen, wie fundiert oder allzu schlicht, wie �berzeugend oder allzu naiv, wie feinsinnig oder trivial, wie einladend oder wie penetrant sie ist. Dies m��te diffe-renziert, gesondert f�r jede Einzelerz�hlung Mays, untersucht werden.

Was das Sp�twerk betrifft, habe ich – in den Jahrb�chern der Karl-May-Gesellschaft 1988-93 und im 2. Teil meiner „Gro�en Karl-May-Biographie“ – den theologischen Gehalt dieser Werke sehr eingehend analysiert. Das Ergebnis: Was May intuitiv „sieht“ und bildhaft er-z�hlt, stimmt mit den wichtigsten Aussagen gerade der sensibelsten, die �blichen Denk-schablonen hinterfragenden Theologen der Gegenwart (ich denke an moderne Autoren wie Karl Rahner, Hans K�ng, Leonardo Boff, oder, in mancher Hinsicht, auch Eugen Drewermann) in verbl�ffender Weise �berein! Hinter dem „�berlieferten Klischee von Mays verschwom-men-eklektischem Mystizismus“ wird, so kommentierte Roxin meine Untersuchungen, „das ganz andere Bild eines theologisch klar und progressiv denkenden religi�sen Vision�rs sicht-bar. Damit wird eine der gr�bsten Fehleinsch�tzungen korrigiert, die einer angemessenen Beurteilung von Mays Sp�twerk bisher entgegengestanden hat.“13

Ich beschr�nke mich – hier, im Rahmen meiner Kurzdarstellung – auf das Beispiel „�kumeni-sche Theologie“. Die europ�ische �kumene hatte, zur Zeit Karl Mays, in der Regel nur die christlichen Konfessionen im Blick. Mays Roman „Und Friede auf Erden!“ geht aber viel wei-ter: Das Abendland, der selbsts�chtige Westen, soll mit dem Orient und das Christentum mit den �stlichen Religionen vers�hnt werden. Es geht – in religionspsychologisch interessanten und denkerisch durchaus bemerkenswerten Dialogen zwischen Christen und Moslems, Taoisten und malaiischen „Heiden“ – um den Frieden der V�lker, den Verzicht auf Gewalt (auf Milit�r- und Wirtschaftsgewalt in der politischen, auf geistige Gewalt in der weltan-schaulichen Dimension) und – in diesem Zusammenhang – um den Ausschlie�lichkeitsan-spruch des Christentums, um die Beziehung des christlichen Glaubens zu den anderen Reli-gionen.

In Mays Roman �ffnet sich der Osten, vertreten in der Chinesin Yin, den westlichen Einfl�s-sen. Aber auch umgekehrt mu�, wie May sehr betont, dies gelten: Die abendl�ndische Kultur und die christliche Religion d�rfen sich nicht weiterhin als die alleinigen Spender und die farbigen V�lker als die alleinigen Almosenempf�nger betrachten. So denken heute Hans

13 Claus Roxin im Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1991 (Husum 1991), S. 8 f.

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K�ng und seine chinesische Mitautorin Julia Ching14; aber so dachten im 19. und beginnen-den 20. Jahrhundert die wenigsten Europ�er!

In seiner Besprechung des Mayschen „Friede“-Romans (dem er zustimmt) und mit Bezug auf das Entmythologisierungsprogramm Rudolf Bultmanns (von dem er sich, teilweise, distan-ziert) hat der Religionswissenschaftler und evangelische Theologe Paul Schwarzenau die „letztlich selbstm�rderische Problematik unseres christlichen Exklusivit�tsdenkens“ kritisiert: „Hinter der Vermutung, da� uns aus den Weltreligionen doch eine Erweiterung der Gottes-erkenntnis zuwachsen k�nnte, erhebt sich als eine ... typische Reaktion die Angst vor dem sogenannten Synkretismus, der Religionsmengerei, wie man �bersetzt.“ Aber mu� denn, fragt Schwarzenau (ganz im Sinne Karl Mays), „aus einem lernbereiten Hinh�ren auf die Bot-schaft anderer Religionen ein Synkretismus entstehen, der mit dem Ident it�tsverlust un-serer eigenen �berlieferung einhergeht? ... So wie ein Mensch, der Begegnungen standh�lt, zu seiner gr��eren Tiefe, zu seinen noch ungehobenen M�glichkeiten herausgerufen wird, so d�rfte auch unserem Glauben ... aus dem wirklichen Dialog mit den Weltreligionen ein noch unvorhersehbares Wachstum aus ungehobener Tiefe, die in Christus gr�ndet, bevor-stehen.“15 Das herrliche, ... ewig unvergleichliche Christentum bleibt, auch in „Friede“, Mays geistliche Heimat. Aber kein verwerfendes oder gar verdammendes Wort soll Andersgl�ubige kr�nken; im Gegenteil, der Christ soll lernen von ihnen. Freilich – die letzte Antwort auf die Frage des Menschen nach Sinn und nach Heil (mit diesem Bekenntnis schlie�t Mays Ro-man) ist das Kreuz Jesu Christi, das Leben und Sterben des Gottessohnes, der Mensch wur-de.

�ber das christliche Menschenbild und �ber zentrale Inhalte des biblischen Glaubens hat May im Alterswerk nachgedacht: provozierend und innovativ. Er bekannte sich, glaubend und reflektierend, zur Offenbarung Gottes in Jesus Christus – in �kumenischer (konfessionel-le Grenzen �berschreitender) Weite allerdings und im Dialog mit nichtchristlichen Religio-nen, deren Sch�tze und Reicht�mer er w�rdigte. Der theologische Dichter Karl May war, gerade auch als „�kumeniker“, seiner Zeit weit voraus!

Die ethische Botschaft

May glaubte an Gott. Aber die Kreatur wird nicht entm�ndigt in der Sichtweise des Schrift-stellers. Die Weltverantwortung des Menschen wird ernst genommen. Denn Mays Erz�hlun-gen setzen immer voraus: Erl�st wird durch Gott, aber nicht ohne den Menschen, nicht ge-gen ihn und nicht an seinem Wollen und Handeln vorbei.

Die ethischen und gesellschaftskritischen Implikationen seines religi�sen – und zugleich sehr „weltlichen“ – Denkansatzes hat der Dichter erkannt und artikuliert. In seinen Geschichten gibt es eine Vision von der besseren Welt, f�r die er sich einsetzt und die er, erz�hlend, anti-zipiert. Doch es soll nicht verschwiegen werden: Zwar weniger in den Sp�twerken, aber doch in den Bestseller-Romanen (und erst recht in den M�nchmeyer-Werken) gibt es auch man-che Inkonsequenzen. Helmut Schmiedt betont eine Ambivalenz und gewisse „Br�che“ im Weltbild Karl Mays; er verweist auf „die manifesten Widerspr�che, die der Autor selbst nicht wahrnimmt“16. Da es in Mays Erz�hlungen – was ethische und politische Zielvorstellungen betrifft – sehr „progressive“ und geradezu „revolution�re“, aber auch sehr „konservative“

14 Vgl. Hans K�ng – Julia Ching: Christentum und chinesische Religion. M�nchen 198815 Paul Schwarzenau: „Ich bin ja Christ!" In: Ders.: Der gr��ere Gott. Christentum und Weltreligionen. Stuttgart 1977, S. 33-4816 Helmut Schmiedt: Karl May. Studien zu Leben, Werk und Wirkung eines Erfolgsschriftstellers. Frankfurt a. M. 21987, S. 182

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Elemente gibt, irren – so Schmiedt – die „rechts“ stehenden oder gar faschistisch denkenden May-Freunde „kaum weniger als die, die in May nur den Pazifisten und Kosmopoliten se-hen“17.

Gegen diese Auffassung ist aber einzuwenden: In Mays Romanen (aber kaum mehr im Sp�t-werk!) gibt es zwar manche – �berwiegend recht harmlose, dem erz�hlerischen Effekt die-nende – Vorurteile, zum Beispiel gegen Armenier oder Chinesen; doch Mays „dominierende Haltung l��t sich durchaus bestimmen, ... der rote Faden humanit�rer Gesinnung ger�t bei abw�gender Deutung nie au�er Blickweite“18.

May tritt ein f�r die Rechte der Schwachen: der Indianer, der Kurden oder der Schwarzen vor allem. Er weckt �berhaupt die Sympathien des Lesers f�r fremde V�lker und fremde Kultu-ren. Von Nationalismus und „Deutscht�melei“ kann bei n�herem Hinsehen keine Rede sein. Zwar liebte der Dichter sein eigenes Volk; auch sind die Helden seiner Romane oft deutsch oder deutschst�mmig; dies ist jedoch, in der Hauptsache, „ein erz�hlerisches Mittel, dem heimischen Leser die Fremde vertraut zu machen, und zugleich ein erzieherischer Appell. Die deutschen Helden leben die Solidarit�t mit fremden V�lkern der Leserschaft vor.“19

Wichtige Ursachen f�r das Leid in der Welt sind die nationale und rassistische �berheblich-keit, die Unwissenheit, die menschliche Selbstsucht, die r�cksichtslose Profitgier, die weltan-schauliche und religi�se Intoleranz, die Bereitschaft zum Krieg, zur gewaltsamen Durchset-zung der eigenen Interessen. Gegen alle diese Str�mungen wendet sich May, wenn auch nicht so pointiert wie im Sp�twerk, in seinen bekannten Erz�hlungen. Der Mensch wird von May in s�mtlichen B�chern als „Ebenbild Gottes“ (vgl. Gen 1,26) betrachtet. Die absolute Ehrfurcht vor dem Leben (auch der Tiere, die ja ebenfalls Gottes Sch�pfung sind) und die Unantastbarkeit der menschlichen W�rde wird in Mays Schriften, mit immer gr��er wer-dender Deutlichkeit, aus dieser Betrachtungsweise gefolgert.

Konkret entspricht Mays Ethik den Seligpreisungen Jesu. Alle Themen der Bergpredigt finden sich zentral in den Sp�twerken, zumindest ansatzweise aber auch in den fr�heren Erz�hlun-gen: die „Armut“ des Menschen vor Gott, die getr�stete Trauer, die Gewaltlosigkeit, der Durst nach Gerechtigkeit, die Feindesliebe, die unbedingte Wahrhaftigkeit, die ideale Bezie-hung von Mann und Frau. Das „ganze Gesetz“ (Mt 7,12), die vielen Einzelgebote, werden von May – der Verk�ndigung Jesu entsprechend – „re-duziert“ (d. h. „zur�ckgef�hrt“) auf jene Liebe, die das Ganze der Sch�pfung im Blick hat, die die Erde bejaht und ihre letzte Bestim-mung, den Himmel, nicht vergi�t.

Die Welt und ihre Geschichte sieht May mit den Augen der Besiegten, der Opfer, und nicht mit den Augen der Sieger! �ber ungerechte „Strukturen“ wird in den Bestseller-Romanen zwar nicht reflektiert; aber die Tr�nen der Sklaven werden gesehen, und die Schmerzen der geschundenen Kinder (vgl. „Im Lande des Mahdi I“) werden, durch den Ich-Helden Kara Ben Nemsi, gelindert.

Parteipolitisch ist Karl May freilich nicht einzuordnen. Seine Romane als „Schule des aufs�s-sigen Denkens“ (Gert Ueding) zu interpretieren, ist eine, wohl neckische, �bertreibung. Denn die Autorit�t, die staatliche Ordnung werden von May, dem resozialisierten Strafge-fangenen, ja nicht grunds�tzlich abgelehnt; eine absolut „machtfreie“ Gesellschaftsstruktur (die illusion�r w�re und auch nicht w�nschenswert ist) wird von ihm nicht gefordert. Aber

17 Ebd., S. 26118 G�nter Scholdt im Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1984 (Husum 1984), S. 7819 Martin Lowsky: Karl May. Stuttgart 1987, S. 88

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kritisiert wird der Mi�brauch von Macht; blo�gestellt wird die rein formale, in Sachkompe-tenz und moralischer Integrit�t nicht begr�ndete „Autorit�t“ der Tyrannen.

In Mays Reiseerz�hlungen – wie auch schon geschehen – eine „systemstabilisierende“ Recht-fertigung des Wilhelminismus und eine r�ckw�rtsgewandte b�rgerliche Ideologie zu sehen, w�re grundverkehrt. Denn die Realit�t der europ�ischen Lebensverh�ltnisse hat May – in „Friede auf Erden!“ (1901/04), indirekt aber schon fr�her – sehr heftig getadelt.

„Prophetisch“ ist nicht zuletzt auch Mays Einstellung zu Technik und Wissenschaft, wie sie beispielsweise in „Winnetou I“ zum Ausdruck kommt. Kein „Zur�ck zur Natur“ im Sinne Rousseaus zwar! Denn der wissenschaftliche Fortschritt, die Zivilisation, die Technik werden nicht generell verurteilt, sondern grunds�tzlich bejaht. Zugleich aber wird die Gefahr doch gesehen: die Gefahr des Verlustes der „Seele“, der Trennung von Mensch und Natur, der L�sung des Gesch�pfes vom Sch�pfer.

Karl May – eine „ Ulknummer“ f�r unreife Buben?

War May ein Trivialliterat? Eine „Ulknummer“ ohne besonderen Wert? Die Verlegenheit, die May der Literaturwissenschaft bereitet, hat vor allem darin ihren Grund, da� dieser Autor –nicht im hochliterarischen Sp�twerk, um so mehr aber in den Bestseller-Romanen – sich „unterfing, die gr��ten Themen mit weithin trivialliterarischen Mitteln anzupacken. Gleich-wohl liegt in dieser au�enseiterischen Position Mays ein wesentliches Element seiner Origi-nalit�t und Wirkung.“20

20 Claus Roxin im Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1982 (Husum 1982), S. 8