(Hg.) Formen der Aneignung des emdenrF · 2020. 3. 23. · Boris Zizek und Anna Kircher untersuchen...

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boris zizek hanna n. piepenbring (Hg.) Formen der Aneignung des Fremden I NTERCULTURAL S TUDIES 10

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    zizek · piepenbring (Hg.)Formen der Aneignung des Fremden

    Formen der Aneignung des Frem

    den

    remdsein ist eine Eigenschaft, die vom Subjekt erlebt und defi niert wird und kulturell eingebettet ist. Bei Konfrontation mit dem Fremden befi ndet sich das Subjekt in einem Spannungsfeld – zwischen dem bisher Erfahrenen und Gelernten und einem neuen Eindruck, der noch unerklärt bzw. fremd scheint und erst angeeignet werden muss. Hierbei geht es sowohl um die Aspekte der eigen-tätigen Konstruktion als auch der Rekonstruktion der physischen wie der sozialen Realität, in die das Subjekt immer schon eingebettet ist.

    Der interdisziplinäre Band fragt aus sozial- und erziehungs-wissenschaftlicher, psychologischer, linguistischer und historischer Perspektive, wie sich verschiedene Ausgangs-lagen der Subjekte, ihre Interessen und ihre Kompetenzen auf die Aneignung des Fremden auswirken, wie die Subjekte diese Prozesse gestalten und ihnen Bedeutung geben. In theoretischen Auseinandersetzungen sowie durch empirische Fallbeispiele wird die enorme Komplexität des gesellschaftlich eingebetteten Aneignungsprozesses deutlich. Die internationalen Beiträge sind auf Deutsch und Englisch verfasst.

    boris zizekhanna n. piepenbring (Hg.)

    Formen der Aneignung des Fremden

    10 I N T E R C U LT U R A L ST U D I E S 10

    creo

  • Schriftenreihe des Zentrums

    für Interkulturelle Studien (ZIS)

    Band 10

    Herausgegeben von

    dilek dizdar · anton escher alfred hornung · dieter lampingZentrum für Interkulturelle Studien (ZIS)

    Interdisziplinäre Forschungsplattform

    der Johannes Gutenberg-Universität Mainz

    I N T ERCU LT UR A L ST U D I ES

  • Universitätsverlag winterHeidelberg

    Formen der Aneignung des Fremden

    Herausgegeben vonboris zizekhanna n. p iepenbring

  • Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internetüber http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    isbn 978-3-8253-4687-4

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    © 2o20 Universitätsverlag Winter GmbH Heidelberg

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    Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtemund alterungsbeständigem Papier

    Den Verlag erreichen Sie im Internet unter:www.winter-verlag.de

  • Inhaltsverzeichnis

    Formen der Aneignung des Fremden aus interdisziplinärer Perspektive: Historische, sozial- und erziehungswissenschaftliche Zugänge (Eine Einleitung)

    Boris Zizek und Hanna N. Piepenbring ....................................................................... 7

    ZUR (UN-)MÖGLICHKEIT DER ANEIGNUNG DES FREMDEN

    Zwischen Akkulturation und Vernichtung: Europas Begegnung mit dem Fremden (14. bis 16. Jahrhundert)

    Thomas Ertl und Markus Mayer ................................................................................ 27

    Soziologie des Vernichtungslagers: Zu einer Form der Nichtverarbeitbarkeit des Fremden

    Ferdinand Zehentreiter .............................................................................................. 43

    From Fear and Hostility to Awakening and Hospitality: Learning to Encounter the Strange with an Open Heart

    Heesoon Bai, Avraham Cohen and Sean Park ........................................................... 59

    Künstlerische Aneignung des Fremden am Beispiel von Eugène Delacroixʼ Marokko-Reise

    Boris Zizek und Anna Katharina Kirchner ................................................................ 71

    SOZIALWISSENSCHAFTLICHE PERSPEKTIVEN AUF KULTUR, INDIVIDUUM UND GRUPPE

    Moral Psychology and the Cultural Outgroup

    Kellen Mrkva and Darcia Narvaez ............................................................................ 97

    Forschen in der Fremde: Zur Kulturabhängigkeit der Narrationsanalyse

    Hanna N. Piepenbring ............................................................................................. 113

  • Appropriate Meaning: Discursive Struggle and Polyphonic Semiosis in Indian Hip Hop

    Jaspal Naveel Singh ................................................................................................. 129

    MIGRATION UND ANEIGNUNG

    Migration und Habitus: Subjekttheoretische Bemerkungen zur Assimilation von Migranten

    Stefan Kutzner .......................................................................................................... 145

    Fremd bleibt fremd: „Die Heimat verloren zu haben, ist die Tragik unseres Lebens“ – Das Beispiel der koreanischen Migration nach Deutschland und das Zurückgehen nach Korea

    Detlef Garz ............................................................................................................... 159

    Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ................................................................ 177

  • Formen der Aneignung des Fremden aus interdisziplinärer Perspektive Historische, sozial- und erziehungswissenschaftliche Zugänge (Eine Einleitung) Boris Zizek und Hanna N. Piepenbring

    Der vorliegende Band geht auf das gleichnamige zweiteilige, internationale und betont interdisziplinäre Symposium zu Formen und Strategien der Aneignung des Fremden zurück, das 2012 und 2013 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz stattfand. Die Veranstaltung ging von einem Begriff der Aneignung aus, der sowohl die Aspekte der eigentätigen Konstruktion als auch der Rekonstruktion der physischen wie der sozialen Realität, in die das Subjekt immer schon eingebettet ist, erfassen soll (B. ZIZEK 2012; RITTER/B. ZIZEK 2014; GARZ/B. ZIZEK/L. ZIZEK 2014). Weder wird die Realität bloß konstruiert, noch wird sie bloß abbildmäßig aufgenommen. Der Begriff der Aneignung hebt vielmehr hervor, dass sich das Subjekt etwas bereits Vorhandenes zu eigen macht.

    Der unvermeidbare Eigenanteil des Aneignungsprozesses bringt es nun aber mit sich, dass die Aneignung des Fremden von der besonderen Konstitution des Subjekts abhängig ist, von seiner kognitiven und moralischen Kompetenz und erweitert von seiner biogra-phischen Lage. Das Subjekt befindet sich also in einem Spannungsfeld – zwischen dem bisher Erfahrenen und Gelernten und einer neuen Erfahrung, einem neuen Eindruck, der noch unerklärt bzw. fremd scheint und erst angeeignet werden muss. Das Symposium ging diesem Umstand mit der Frage nach, wie sich unterschiedliche Ausgangslagen der Subjekte, ihre Interessen und ihre Kompetenzen auf die Aneignung des Fremden auswir-ken, wie die Subjekte diese Prozesse gestalten und ihnen Bedeutung geben.

    Das Symposium, das den Vortragenden und TeilnehmerInnen aus den wissenschaft-lichen Feldern der Gesellschaft, der Erziehung und Sozialisation, und der Geschichte viel Raum für ihre Präsentationen und die anschließenden Diskussionen einräumte und von allen Seiten als sehr fruchtbar empfunden wurde, ist vom Zentrum für interkulturelle Studien veranstaltet worden.1 Zu den Beiträgen des Symposiums kamen mit der Zeit noch Autorinnen und Autoren hinzu, die an vielversprechenden Beiträgen zu dem Thema ar-beiteten und von uns eingeladen wurden. Wir bedauern sehr, dass Ulrich Oevermann seinen sehr interessanten Beitrag zu touristischen Zeichnungen des marokkanischen Ur-laubsortes Essaouira nicht ausarbeiten konnte. Im Folgenden möchten wir Ihnen die hier versammelten Beiträge kurz vorstellen und ein wenig thematisch und theoretisch ein-betten.

    1 Wir möchten dem ZIS und seinem damaligen Sprecher Prof. Dr. Anton Escher für diese aus der damaligen ZIS-AG Interkulturalität hervorgegangene Initiative, an der wir beteiligt waren, an dieser Stelle unseren tief empfundenen Dank aussprechen. Auch danken wir den Reihenheraus-gebern für die Aufnahme in die Publikationsreihe Intercultural Studies und Heike C. Spickermann für ihr intensives Lektorat des Bandes sowie ihre wertvollen Hinweise für die Beiträge.

  • 8 Boris Zizek und Hanna N. Piepenbring Der vorliegende Band ist in drei Sektionen gegliedert. Im ersten Teil beginnen wir mit Beiträgen „Zur (Un-)Möglichkeit der Aneignung des Fremden“. Im ersten Artikel in dieser Sektion betrachten Thomas Ertl und Markus Meyer Europas Begegnung mit dem Fremden im Mittelalter. In ihrem Beitrag „Zwischen Akkulturation und Vernichtung“ gehen sie der Frage nach, ob es eine spezifisch europäische Art der Aneignung des Frem-den gab, und ob diese auch nach 1500 weiterwirkte. Für diese Fragestellung haben sie exemplarisch drei Städte in Randgebieten ausgewählt, die im späten Mittelalter Schau-plätze interkultureller Begegnungen waren: Kaffa – aus zentraleuropäischer Sicht im Südosten, Ceuta im Südwesten und Dublin im Nordwesten.

    Ferdinand Zehentreiters Beitrag beschäftigt sich mit den Grenzen von Aneignung. In seiner „Soziologie des Vernichtungslagers“ fokussiert er eine Form der Nichtverarbeit-barkeit des Fremden. Mithilfe von literarischen Beispielen thematisiert er einerseits die lebenspraktische Verarbeitbarkeit der Situation im nationalsozialistischen Konzentra-tionslager, andererseits auch die soziologische Deutung dieser Situation. Es geht ihm hierbei nicht um die Nichtverarbeitbarkeit im Sinne eines Traumas, sondern den struktu-rellen Sinn: Das Konzentrationslager schränkte existenzvernichtend die Autonomie des Subjekts ein – bis hin zum Mord. Das Fremde deutet er in diesem Zusammenhang als soziale Exterritorialität.

    Heesoon Bai, Avraham Cohen und Sean Park befassen sich mit der möglichen Entmenschlichung des Fremden und zeigen in ihrem Beitrag „From Fear and Hostility to Awakening and Hospitality“ die Hürden für einen offeneren Umgang in der Begegnung mit dem Fremden auch in Alltagssituationen auf. Sie gehen davon aus, dass das Fremde an sich ein kulturelles und erlerntes Konstrukt ist. Im Vorgehen konzentrieren sie sich auf das Verständnis der psychologischen Konstruktion des Anderen und suchen nach Wegen, diese Konstruktion nicht nur theoretisch, sondern durch Formen der Verkörperung, mit Elementen der Martial Arts, überwinden zu können.

    Boris Zizek und Anna Kircher untersuchen in ihrem Beitrag „Künstlerische Aneig-nung des Fremden am Beispiel Eugène Delacroixʼ Marokko-Reise“ die Auseinanderset-zung mit Marokko mithilfe Delacroixʼ Reisetagebuches und einer Bildanalyse. Eugène Delacroix bereiste 1832 Marokko; dies stellte damals einen Sonderfall dar, da eher Reisen nach Italien üblich waren. Zizek und Kirchner verstehen das künstlerische Handeln als eine gesteigerte Form der Aneignung. Sie wollen durch eine exemplarische Analyse künstlerischer Aneignung zu einer Differenzierung der Formen der Aneignung des Frem-den beitragen. Aufbauend auf Helmuth Plessner und Jean Piaget beziehen sie bei der Darstellung des Aneignungsprozesses die Verfasstheit und (biographische) Situation des Subjektes mit ein. Sie rekonstruieren in den Werken Delacroixʼ schließlich wesentliche Momente der Aneignung wie bspw. eine entsicherte Akkommodation und Abstinenz gegenüber einer Exotisierung des Fremden in der Darstellung fremder Erscheinungen.

    Im zweiten Teil des Bandes präsentieren wir „Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf Kultur, Individuum und Gruppe“. Kellen Mrkva and Darcia Narvaez beschäftigen sich in „Moral Psychology and the Cultural Outgroup“ mit einer moralischen Perspektive in der Begegnung mit dem Fremden. Vorurteile sind weit verbreitet und banal, manifes-tieren sich in der Regel in subtilen Formen. In der Geschichte der Menschheit zeigte sich immer wieder drastische Inhumanität, bspw. in Genoziden und Versklavung. Es gibt aber auch Menschen, die Empathie und Offenheit zeigen, was unterscheidet diese? Mrkva und

  • Einleitung 9 Darcia analysieren, wie ein offener Zugang möglich ist. Sie bringen hierfür eine ontoge-netische Dimension der Aneignung ein und untersuchen den Einfluss frühkindlicher Er-fahrung auf den Umgang mit dem Fremden.

    Hanna N. Piepenbring beschäftigt sich in ihrer methodologischen Auseinanderset-zung „Forschen in der Fremde“ mit den Grenzen der Methoden der Biographieforschung aus dem deutschsprachigen Raum. Sie stellt die Frage nach der Kulturabhängigkeit der Narrationsanalyse (Fritz Schütze), ob diese universell angewendet werden kann oder in manchen nichtwestlichen Ländern auf Grenzen stößt. Dafür charakterisiert sie zunächst autobiographisches Erzählen aufbauend auf den Merkmalen der Linearität und Ich-Iden-tität. Anschließend veranschaulicht sie mögliche Probleme anhand eines Forschungsbei-spiels und diskutiert Interviews mit südkoreanischen Akademikerinnen, die auf Englisch interviewt wurden. Sie stellt ihre eigene Vorgehensweise in Frage und zeigt gleichzeitig eine Lücke im deutschen Forschungsdiskurs zur Kulturabhängigkeit der Biographiefor-schung auf. Eine mögliche Lösung könnten offenere Zugänge entsprechend angloameri-kanischer Herangehensweisen der Narrative Inquiry bieten.

    Jaspal Naveel Singh ergänzt die bisherigen Beiträge um eine poststrukturalistische, diskursanalytische Perspektive auf den Begriff der Aneignung. Er diskutiert in dem Arti-kel „Appropriate Meaning“, wie sich das handelnde Subjekt Bedeutung aneignet. Um die Aneignung von Bedeutung zu verstehen, schlägt Singh vor, dass der Angemessenheit (‚appropriateness‘) der Bedeutung eine entscheidende Rolle zugewiesen wird. Er geht davon aus, dass Aneignung dann stattfindet, wenn der geeignete Sinn geändert oder neu skaliert wird. Der Begriff ‚appropriate‘ muss daher im doppelten Sinn gelesen werden: als Verb (‚aneignen‘) und als Adjektiv (‚geeignet‘). Exemplarisch hierfür analysiert er ein Beispiel aus seiner eigenen Feldforschung in der subkulturellen indischen HipHop-Szene, die in urbanen Zentren Südasiens im letzten Jahrzehnt entstanden ist.

    Im dritten Teil wird das Thema „Migration und Aneignung“ näher betrachtet. Stefan Kutzner beleuchtet in seinem Beitrag „Migration und Habitus“ das Assimilationspara-digma aus subjekttheoretischer Sicht. Er stellt die Fragen, wie Migranten ein neues soziales Milieu erkunden, sich das Fremde aneignen und es verändern, und wie sich die Subjekte selbst in diesem Prozess verändern. Er geht davon aus, dass zumindest eine partielle Form der Assimilation notwendig ist, um im fremden Milieu zu bestehen, dies insbesondere auf einer strukturellen Ebene im Bildungs- und Beschäftigungssystem. Darauf aufbauend benennt Stefan Kutzner die Staatlichkeit als ein notwendiges Kernelement: Migranten aus Ländern mit keiner ausgebildeten Staatlichkeit werden besonders Probleme haben, sich zu integrieren. Schließlich zeigt er anhand von zwei Bei-spielen, wie Mischformen und identitäre Unterschiede auf verschiedenen Handlungs-ebenen auftreten.

    Detlef Garz kommt am Beispiel von koreanischen Remigranten zu dem Fazit „Fremd bleibt fremd“ und stellt die Spezifizität koreanischen Umgangs mit dem Fremden dar. „Die Heimat verloren zu haben, ist die Tragik unseres Lebens“ (so eine Interviewpart-nerin aus Garzʼ Datenkorpus). In den 60er und 70er Jahren wurden von der BRD südkore-anische Krankenschwestern und Bergarbeiter als Gastarbeiter angeworben. Garz sieht bei den koreanischen MigrantInnen vor allem eine Überanpassung an die deutsche Verhal-tenswelt und gleichzeitig eine Überanpassung an die koreanische Kultur der Zeit der Auswanderung. Nach Garz erfolge die Aneignung des Fremden „additiv, d.h. das neu

  • 10 Boris Zizek und Hanna N. Piepenbring Erworbene wird neben das alte gestellt, d.h. die aus Korea mitgebrachten Überzeugungen, also die ‚lebenspraktische Perspektive eines Erfahrungssubjekts‘ (OEVERMANN), verlie-ren nicht ihre Kraft im Sinne einer leitenden Lebensstilorientierung, vielmehr wird das Neue in gewissem Sinn lediglich an die alten Überzeugungen ‚angeklebt‘“ (GARZ in diesem Band). Die Remigranten erfahren im neuen, zwischenzeitlich veränderten, gewan-delten Südkorea wieder ein Fremdsein. Alte und neue Werte können hierbei auch über-nommen und beibehalten werden, ohne dass es eine versöhnende Verschmelzung dieser gibt.

    Wir wollen einleitend für diesen Band, in dem vielfältige Aspekte der Aneignung des Fremden diskutiert werden, die Begriffe der Aneignung und des Fremden genauer defi-nieren und historisch aufarbeiten.

    1. Was ist das Fremde? – Eine sensibilisierende Reflexion zur Einführung anhand einiger klassischer Positionen

    Der Begriff des Fremden ist aktueller denn je und doch auf eine vielfältige Art und Weise ungenau. Das Fremde ist etwas, wonach man sich sehnen oder was man fürchten kann. Es ist unbekannt, aber wird dennoch in der Regel schnell kategorisiert und bewertet. Es ist weit weg, aber nicht unerreichbar. Da das Fremde ein Gegenpol zu dem mir Vertrauten zu sein scheint, gibt es viele negative Definitionen des Fremden: Es ist nicht die Heimat, nicht die eigene Gruppe, nicht das eigene Land, – und wenn es um Selbstentfremdung geht – nicht das eigene Selbst.

    Zunächst ist das Fremde weder gut noch schlecht, es ist zunächst nur anders. Etwas schwer Definierbares, das weit entfernt und noch unklar erscheint. Man kann es noch nicht ganz (be)greifen, obwohl man es doch vielleicht gerne verstehen würde. Das Frem-de ist mir als Person nicht eigen, es ist mir fern. Ein fremdes Land kann ich dennoch bereisen, ich kann eine fremde Sprache lernen, und so nach und nach, kann ich mir etwas, das fremd scheint, aneignen. Allerdings reicht das bloße Bereisen eines Landes nicht für die subjektive Aneignung. Diese beschreibt einen Prozess, den wir noch näher darstellen werden.

    Ein gedankenexperimentelles Beispiel – Sarah

    Das Erlernen einer fremden Sprache soll an dieser Stelle als vereinfachtes Beispiel zum Einstieg in die Betrachtung dienen: Sarah lebt in Deutschland und lernt Englisch zunächst in der Schule. Da ihre deutschen Eltern in den USA arbeiten, lebt sie die letzten Schul-jahre bis zu ihrem Abschluss in den Staaten. Nach ihrem High-School-Abschluss kann sie sich wie ein Native Speaker ausdrücken und versteht jedes Wort. Es ist Teil von Sarahs Identität, dass sie Englisch auf muttersprachlichem Niveau spricht. Die englische Sprache klingt für sie nicht fremd, und Sarah erscheint nicht fremd für andere, wenn sie amerikani-sches Englisch spricht, da sie keinen Akzent hat. Sie kann leicht eine Beziehung zu Men-schen aufbauen, die auch Englisch sprechen. Dass sie eigentlich Deutsche ist, offenbart sich durch Details in der Unterhaltung oder wenn Außenstehende mitbekommen, dass sie mit ihren Eltern Deutsch spricht.

  • Einleitung 11 Das Beispiel legt nahe, dass das Eigene, also das mir Nicht-Fremde, immer auch Teil meiner Identität ist und bietet hier einen wirklich sehr vereinfachten und scheinbar kon-fliktfreien Aneignungsprozess einer Sprache, die Sarah aktiv und selbstverständlich nut-zen kann. Da das Fremde also folgend in der Auseinandersetzung zukünftig auch Teil meiner Identität werden kann, kann es deshalb sowohl als Bedrohung als auch als Berei-cherung gesehen werden. Angst vor dem Fremden kann sich daraus speisen, dass das Subjekt eine Veränderung befürchtet, die invasiv die eigene Identität bedrohen könnte. Dabei ist es ebenso möglich, sich durch eine Abgrenzung zum Fremden zu definieren. In allgemeiner Panik des Fremdenhasses kann dies schon voreilig ohne eine Auseinander-setzung mit dem Andersartigen geschehen. In der Regel wird das Fremde dann abgewer-tet, mit negativen Eigenschaften belegt und schon ausgegrenzt, bevor ein verstehender Zugang gesucht wurde. Die Ablehnung gegenüber dem Fremden kann sich auch schon in kleinen Details, in der alltäglichen Interaktion zeigen, wenn etwas als seltsam abgetan wird. Allein das Bewusstsein über etwas Befremdliches kann Ängste hervorrufen, da die logische Konsequenz ist, die eigene Weltkonstruktion in Frage zu stellen (vgl. dazu BAI, COHEN & PARK in diesem Band).

    Das andere Extrem zur voreiligen Bewertung des Fremden wäre eine einseitige Form der Romantisierung des Fremden (siehe auch in diesem Band ZIZEK & KIRCHNER zur Exotisierung des Fremden). Hier erwartet der getriebene Romantiker eine persönliche Bereicherung durch die Auseinandersetzung mit dem Fremden. Das Fremde in der Ferne kann in diesem Fall eine positive Projektionsfläche bieten. Wie Janoschs Kinderge-schichte Oh, wie schön ist Panama, ist in einem fernen Land vielleicht alles besser, schöner, befriedigender. Das Reisen in der Ferne kann aber auch als Bewährungsprüfung gesehen werden. Das Paradebeispiel wäre an dieser Stelle das Reisen durch ferne Länder (siehe klassisch dazu z.B. Robinson Crusoe, ZIZEK & KIRCHNER in diesem Band; ZIZEK 2012). Ein junger Mensch kann durch Erfahrungen in der Fremde reifen und sich seiner selbst bewusst werden, mehr Eigensinn entwickeln. Solange Menschen bewusst und aktiv die persönliche Auseinandersetzung mit dem Fremden suchen, wird dieses aktive Han-deln also in der Regel als positives Narrativ gestrickt. Wenn das Fremde ungewollt auf einen trifft und das Subjekt zunächst passiv ist, wird das Fremde hingegen häufig als Bedrohung wahrgenommen. Die eigene Identität kann in dieser von Angst geprägten Form der Aneignung nur schwer gestärkt, aber schnell als geschwächt empfunden wer-den.

    Kann nun alles fremd sein? Man muss vermuten, dass das nicht der Fall sein kann bzw. nicht verarbeitet werden könnte. Immer scheinen wir uns von einem mehr oder weniger gefestigten und starren subjektiven Gebiet von vertrauten Überzeugungen aus dem Fremden zu nähern. Es ist wohl auch entsprechend nicht möglich, alles Vertraute auf einmal infrage zu stellen.

    Fremdsein ist in wesentlicher Hinsicht eine Eigenschaft, die vom Subjekt erlebt und definiert wird und kulturell eingebettet ist. Der Zugang zu einer Definition des Fremden ist aus heutiger Sicht vor allem intersubjektiv zu konzipieren.

    To think, as many of us do unconsciously and habitually in everyday life, that the universe comes to us with a ready-made catalogue of what is ‘strange’ and what is ‘not strange’ is, again, to show little understanding of human psychology and how culture plays a defining and constructing role in the former. The strange is an end product of a long and complex

  • 12 Boris Zizek und Hanna N. Piepenbring

    learning process, in the sense of enculturation (Walker 2005), wherein certain kinds and possibilities of experiences are not imagined, allowed or validated, are denied and dis-couraged, or at least not invited in the individual, again consciously or unconsciously, systemically or idiosyncratically, and thus are not given the opportunity to take root and become part of the person’s self-identity. (BAI, COHEN & PARK in diesem Band)

    Im Folgenden wollen wir die Konstruktion des Fremden aus einer kulturhistorischen Perspektive betrachten, um den Hintergrund unserer heutigen wissenschaftlichen Ausei-nandersetzung wie auch des alltäglichen Gebrauchs transparent zu machen und sie klarer zu definieren.

    1.1. Die Begegnung mit dem Fremden als Schlüsselmoment der Moderne

    Das Fremde ist keine bloße Erscheinung der Moderne, dennoch führte die Beschleu-nigung einer stetigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung im 18. und 19. Jahrhundert dazu, dass Neues, Unbekanntes und kulturell Fremdes direkt oder über Erzählungen, Zeichnungen und andere Dokumente immer omnipräsenter in der westli-chen Welt wurde.

    Im 19. Jahrhundert, in der Zeit des meist positivistischen, naturwissenschaftlich ge-prägten Denkens, steckte die Wissenschaft über das kulturell Fremde – die Ethnologie – in ihren Kinderschuhen. In der Sicht auf das Fremde begann man von den Idealisierungen der Aufklärung wieder abzurücken (KOLOß 1986: 1 f.). Geprägt vom Fortschrittsgedan-ken der Zeit, gingen die frühen Vertreter des ethnologischen Evolutionismus von einer kulturellen Stufenentwicklung der Menschen aus. Durch theoretische Vorannahmen wur-den fremde Gesellschaften in vorgefertigte Stufen eingeordnet, um eine universale und lineare Entwicklung des Menschen aufzeigen zu können: Die Zivilisation mit der christlichen, patriarchalen Kleinfamilie, also das westliche Ideal-Bild, stellte die höchste menschliche Entwicklungsstufe dar, während andere indigene Völker in unteren Entwick-lungsstufen eingeordnet wurden. Hierfür wurden fragwürdige Stufenmodelle wie bei-spielsweise bei Lewis Henry Morgan in Ancient Society (1877) entwickelt.

    Dadurch, dass ‚Wilde‘ als frühere Stufe der Menschheitsgeschichte gesehen wurden, bezeichnete man sie auch als ‚Primitive‘ (BROWN 2006: 221–230). Das lateinische Wort ‚primitivus‘ steht für ‚der erste seiner Art‘. Auch, wenn wir heute unter dem Begriff primitiv eine Abwertung für unzivilisiertes Verhalten verstehen, wurzelt dieses Verständ-nis in den Annahmen der Evolutionisten. Die Wortbedeutung allein würde noch nicht eine Simplizität oder Unzivilisiertheit widerspiegeln, die Semantik entstand also durch den Kontext.

    Dieses evolutionistische Bild wirkt bis heute nach. Ebenso wird in der Ethnologie bis heute immer wieder versucht zu erklären, warum Gesellschaften in manchen grundsätz-lichen Mustern und Eigenschaften übereinstimmen (KOHL 2000: 94 f.). Es wird also versucht, aus der Auseinandersetzung mit dem kulturell Fremden zu lernen, um Allge-meingültiges festzustellen. Problematisch werden Auseinandersetzungen, die Gemein-samkeiten und Differenzen betrachten, wenn die Vorannahmen, wie etwa bei den Evoluti-onisten, dabei aber einzig dem Zweck dienen, die eigene Identität als höhere zu recht-fertigen. Hierbei handelte es sich in der Wertung um eine monologische Bezogenheit zu

  • Einleitung 13 dem Fremden, es gab keine wirkliche Auseinandersetzung und damit auch keine Aneignung wie wir sie für diesen Band definieren. In individuellen Handlungen von einzelnen Wissenschaftlern fernab der Stufenmodelle gab es dies vermutlich schon. Obwohl Lewis H. Morgan selbst ein Stufenmodell aufstellte, forschte er zum Beispiel paradoxerweise auch im Feld bei den Irokesen (STERN 1928: 348 f.), was ihn trotzdem nicht dazu brachte, seine evolutionistischen Annahmen in Frage zu stellen. Edward B. Tylor zählte hingegen wirklich zu den ‚Lehnstuhl‘-Ethnologen der Zeit, da er nicht selbst in die Ferne reiste (BROWN/COOTE/GOSDEN 2000).

    Die Ethnologie wurzelt zwar auf diesem Kolonialherren-Denken, im Laufe der Ge-schichte dieser Disziplin setzten sich EthnologInnen allerdings immer wieder kritisch mit Machtverhältnissen und einer eurozentristischen Sicht auseinander, wie bspw. Franz Boas und seine Schülerin Ruth Benedict (LEWIS 2001). Forschung ohne Felderforschung war schließlich verpönt und Teilnehmende Beobachtung geprägt durch Bronisław Mali-nowski wurde das Hauptinstrument der EthnographInnen (KÖPPING 1980: 21). Einer der bekanntesten Ethnologen überhaupt und Vertreter der Interpretativen Ethnologie – Clifford Geertz – kam zunächst aus einer analytischen, neoevolutionistischen Richtung. Die Neoevolutionisten hatten nicht mehr viel mit den früheren Evolutionisten zu tun, sie vertraten dennoch die Grundhaltung eines Fortschrittsgedankens, dass kulturelle Weiter-entwicklungen einen (ökonomischen) Nutzen mit sich bringen (ANTWEILER 1990). Geertz wandte sich in Kontrast zu seinen neoevolutionistischen Wurzeln der interpretati-ven Richtung zu, argumentierte stark gegen Talcott Parsons’ Strukturfunktionalismus sowie allgemeine theoretische Vorannahmen und war schließlich derjenige, der 1973 mit seiner Dichten Beschreibung (Thick Description) die Hermeneutik in die Ethnologie brachte. Die Hermeneutik bot ihm als Forscher einen reflektierenden Zugang und eine kunstvolle – nichtmonologische – Art der Aneignung des kulturell Fremden. Doch auch Geertz machte Fehler, er missinterpretierte in seinem Hahnenkampf-Essay sogar einzelne Begriffe, da er nicht in der Muttersprache der Balinesen, sondern auf Indonesisch mit den Natives sprach (GOTTOWIK 2004: 212 f.). Später versuchten EthnologInnen noch darüber hinaus, Einheimische – auch WissenschaftlerInnen – direkt in die Forschung miteinzube-ziehen, sodass sie auf Augenhöhe dialogisch vorgehen konnten (vgl. dazu GOTTOWIK 2004; BIERSCHENK/KRINGS/LENTZ 2013).

    Entgegen dem Eindruck, dass die Moderne eine rein einseitige Aneignung des Frem-den begünstigt habe, wollen wir auch hervorheben, dass die Moderne grundsätzlich eine beginnende explizite Auseinandersetzung überhaupt erst in Gang gebracht hat. Im Fol-genden diskutieren wir die theoretische Auseinandersetzung mit dem Fremden im 20. Jahrhundert.

    1.2. ‚Der Fremde‘ bei Georg Simmel, Robert Ezra Park und Alfred Schütz

    Außer der Faszination und Auseinandersetzung mit dem Fremden aus meist westlicher Perspektive, entstand zu Zeiten der Moderne auch eine neue Vorstellung über den Fremden als fremdes Individuum. Der Ethnologe oder die Ethnologin, sind selbst natür-lich auch fremd, wenn sie in die Fremde ziehen, allerdings hing das Bild des Fremden eher mit wachsenden Städten und einer wachsenden Infrastruktur zusammen. Oder anders

  • 14 Boris Zizek und Hanna N. Piepenbring ausgedrückt: Fremde wurden öfter gesehen. Georg Simmel etwa machte sich um die Jahrhundertwende nicht nur Gedanken über den Großstadtmenschen (Die Großstädte und das Geistesleben, 1903), er beschrieb auch seine soziologischen Grundthesen über die Figur des Fremden im Exkurs über den Fremden (1908). Der Fremde wird hier über die Grundhaltung des Wanderns sowie seine Position und Funktion definiert.

    Es ist hier also der Fremde nicht in dem bisher vielfach berührten Sinn gemeint, als der Wandernde, der heute kommt und morgen geht, sondern als der, der heute kommt und morgen bleibt – sozusagen der potenziell Wandernde, der, obgleich er nicht weitergezogen ist, die Gelöstheit des Kommens und Gehens nicht ganz überwunden hat. Er ist innerhalb eines bestimmten räumlichen Umkreises – oder eines, dessen Grenzbestimmtheit der räumlichen analog ist – fixiert, aber seine Position in diesem ist dadurch wesentlich bestimmt, daß er nicht von vornherein in ihn gehört, daß er Qualitäten, die aus ihm nicht stammen und stammen können, in ihn hineinträgt. Die Einheit von Nähe und Entferntheit, die jegliches Verhältnis zwischen Menschen enthält, ist hier zu einer, am kürzesten so zu formulierenden Konstellation gelangt: die Distanz innerhalb des Verhältnisses bedeutet, daß der Nahe fern ist, das Fremdsein aber, daß der Ferne nah ist. (SIMMEL 1908, 685)

    Simmel positioniert nicht nur den Fremden in diesem Spannungsverhältnis zwischen Nah und Fern, er sieht in seinem Exkurs die Begegnung mit dem Fremden, der Qualitäten mit sich bringt, als etwas Positives. Er weist außerdem darauf hin, dass der Fremde in der Geschichte der Wirtschaft zunächst als Händler erscheint, – also in gewisser Weise auch ein Wanderer, der wieder geht. Ihm geht es aber um den Fremden, der bleibt und dessen Position sich verschärft. Trotzdem ist der Fremde in der Regel kein Bodenbesitzer und damit auf Zwischenhandel angewiesen. In diesem Zusammenhang nennt er – sicherlich auch aufgrund seines eigenen familiären Hintergrundes – die Geschichte der europä-ischen Juden als Beispiel.

    Simmel charakterisiert den Fremden als einen Menschen, der eine besondere Beweg-lichkeit besitzt, da er nicht an Traditionen gebunden ist. Der Fremde genießt deshalb auch eine gewisse Freiheit, nicht nur in wirtschaftlicher, sondern auch in allgemeiner kultureller Hinsicht. Er steht der „Gruppe“ mit einer Haltung der „Objektivität“ entgegen, die ein „Gebilde aus Ferne und Nähe, Gleichgültigkeit und Engagiertheit ist“ (SIMMEL 1908: 687). Die Fremdheit des Subjekts kann das Erlebnis in der Nähe gleichzeitig wie aus einer Vogelperspektive wirken lassen. Das Wechselspiel zwischen Nah und Fern be-zieht Simmel auch auf die sozialen Beziehungen. Dort, wo wir Gleichheiten, sozialer oder auch bspw. beruflicher Art, wahrnehmen, empfinden wir Nähe, wobei zu Allgemeingül-tiges nicht verbinden kann. Simmel nennt hier auch schon die allgemeine Möglichkeit des Fremdfühlens in allen sozialen Beziehungen. Bei den Griechen und deren Entwertung der Barbaren erkennt er negative Seiten einer Nicht-Beziehung zu den Fremden. Die Griechen würden den Barbaren alles Menschliche absprechen, dadurch wäre der Fremde kein Teil der Gruppe, sondern vollkommen außenstehend und habe keinen „positiven Sinn“ mehr (SIMMEL 1908: 689 f.). Grundsätzlich bestimmt Simmel die Figur des Fremden vor allem durch seine soziale Position, erkennt aber auch schon tieferliegende Eigenheiten, wie die der „Objektivität“, die später bei Alfred Schütz weiter ausformuliert wird.

    Der Fremde als diskussionswürdige Figur findet sich 20 Jahre später auch bei Robert Ezra Park in Human Migration and the Marginal Man (1928). Der Marginal Man kann

  • Einleitung 15 an dieser Stelle als Grenzgänger übersetzt werden. Damit ist ein Mensch gemeint, der in zwei antagonistischen Kulturen zu Hause ist. Sein Geist ist wie ein Schmelztiegel, der eine Synthese herstellen muss (PARK 1928).

    Park bettet die Theorie des Marginal Man bereits in das Phänomen von Massenmi-gration ein, der Fremde ist hier ganz klar einer, der länger bleibt, und ein Migrant unter vielen. Im Weiteren bezieht er sich auf Simmel und zitiert dessen Definition des poten-tiellen Wanderers, der sich mit mehr Freiheiten und einer objektiveren Weltsicht in einem Spanungsfeld aus Nah und Fern bewegt. Gleichzeitig sieht Park Probleme im sozialen Zusammenleben. Vermutlich auch historisch bedingt, verwendet er dabei häufig den Rassenbegriff und allgemein eine ‚altbackene‘ Sprache von Kategorisierungen wie bspw. ‚die‘ Japaner. Allerdings erkennt er hierbei auch gesteigerte Hürden für Menschen mit anderen Hautfarben. „It happens, however, that the process of acculturation and assimila-tion and the accompanying amalgamation of racial stocks does not proceed with the same ease and the same speed in all cases“ (PARK 1928: 890). Park geht davon aus, dass deut-lich anderes Aussehen zu Ausgrenzung führt. Den Marginal Man beschreibt er als jeman-den, der permanent zwischen zwei Kulturen lebt, ein Kosmopolit und gleichzeitig kultu-reller Hybrid. Wie Simmel nimmt auch er die Geschichte der europäischen Juden als Beispiel:

    When, however, the walls of the medieval ghetto were torn down and the Jew was permitted to participate in the cultural life of the peoples among whom he lived, there appeared a new type of personality, namely, a cultural hybrid, a man living and sharing intimately in the cultural life and traditions of two distinct peoples; never quite willing to break, even if he were permitted to do so, with his past and his traditions, and not quite accepted, because of racial prejudice, in the new society in which he now sought to find a place. He was a man on the margin of two cultures and two societies, which never completely interpenetrated and fused. The emancipated Jew was, and is, historically and typically the marginal man, the first cosmopolite and citizen of the world. He is, par excellence, the “stranger,” whom Simmel, himself a Jew, has described with such profound insight and understanding in his Sociologie. (PARK 1928, 891 f.)

    Insofern er Simmel in diesem Zusammenhang als ‚den‘ Juden kategorisiert, muss man annehmen, dass er hier in einer verallgemeinernden, historisch konstellierten Strukturpo-sition denkt. Sein Aufsatz resümiert schließlich in einer entscheidenden These, die eine Geisteshaltung der modernen Welt widerspiegelt: „It is in the mind of the marginal man – where the changes and fusions of culture are going on – that we can best study the processes of civilization and of progress“ (PARK 1928: 893). 1944 führt Alfred Schütz diese Betrachtung in The Stranger: An Essay in Social Psychology (1972 posthum in deutscher Übersetzung erschienen: Der Fremde – Ein sozialpsychologischer Versuch) weiter.

    Bei Alfred Schütz ist der Fremde auch ein Immigrant, zumindest dient dieser ihm als Paradebeispiel für den Fremden, auch wenn er darauf hinweist, dass man in vielfältigen Situationen einer Gruppe gegenüber fremd sein kann. In seinem Aufsatz charakterisiert er zunächst das Zusammenleben einer Gruppe vor allem durch ihr erlerntes nichtkohären-tes Wissen, obwohl dieses Wissen für Menschen im Alltag kohärent erscheint. Der Handelnde selektiert hierbei das Wissen nach Handlungsrelevanz. Der Fremde, der der

  • 16 Boris Zizek und Hanna N. Piepenbring Gruppe nicht zugehörig ist, aber ihr auf längere Sicht zugehörig sein möchte, teilt dieses Wissen zunächst nicht.

    Für ihn [den Fremden] haben die Zivilisations- und Kulturmuster der Gruppe, welcher er sich annähert, nicht die Autorität eines erprobten Systems von Rezepten, und nur deshalb, und sonst aus keinem anderen Grund, weil er nicht an der lebendigen geschichtlichen Tradition teilnimmt, durch die diese Muster gebildet wurden. (SCHÜTZ [1944] 1972, 59)

    Gleichzeitig ist der Fremde selbst ein unbeschriebenes Blatt, der Neuankömmling, dessen Geschichte völlig unklar ist: „Vom Standpunkt der Gruppe aus, welcher er sich nähert, ist er ein Mensch ohne Geschichte“ (SCHÜTZ [1944] 1972: 60). Der Fremde erfährt eine Krise, da er seine eigenen Denk- und Verhaltensmuster in Frage stellen muss; ihm wird klar, dass diese keine universelle Gültigkeit haben. Bei Alfred Schütz stößt der Fremde im Alltag auf Grenzen, die seine Krise erst auslösen, er muss sich erst zurechtfinden. Die Verhaltensweisen, die für die Gruppe selbstverständlich sind, sind für ihn wiederum fremd, er kann sie zwar wie ein Spiel erlernen, er wird sie aber nie verinnerlichen, wie er die Verhaltensweisen seiner eigenen direkten Vorfahren verinnerlicht hat (SCHÜTZ [1944] 1972: 59 f.).

    Schütz kehrt noch zwei Merkmale der Einstellung des Fremden gegenüber der Grup-pe, zu welcher er dazugehören mag, heraus: seine Objektivität (wie auch bei Simmel und Park) und seine zweifelhafte Loyalität. Vor allem durch seine erfahrene Grenze des „Denkens-wie-üblich“ gelangt der Fremde zu einer Klarsicht bzw. gar einer analytischen Herangehensweise, um Denk- und Handlungsmuster der anderen zu verstehen. Er erkennt dadurch, dass der eigene „Status“, die „Rolle“ und sogar die eigene „Geschichte“ verloren gehen können (SCHÜTZ [1944] 1972: 68 f.).

    Deshalb bemerkt der Fremde häufig mit einer schmerzlichen Klarsichtigkeit das Herauf-kommen einer Krise, welche den ganzen Grund der „relativ natürlichen Weltanschauung“ bedroht, während alle Symptome von den Mitgliedern der in-group, die sich auf die Konti-nuität ihres üblichen Lebensstils verlassen, unbemerkt bleiben. (SCHÜTZ [1944] 1972, 68)

    Wenn es dem Fremden nicht gelingt, die Zivilisationsmuster vollständig an die der Hei-matgruppe anzupassen, bleibt er nach Schütz ein Marginal Man, wie ihn auch schon Park beschrieben hat, ein „kultureller Bastard“, an der Grenze zwei verschiedener Lebenswei-sen (SCHÜTZ [1944] 1972: 68). Diese Beschreibung von Schütz klingt hart, und ignoriert mit Sicherheit eine gewisse Komplexität an Identitätskonstruktionen, aber beschreibt die innere wie äußere soziale Spannung mancher (Re-)Migranten, wie sie auch von Garz in diesem Band beschrieben wird.

    Diese benannte Randexistenz kann nach Schütz ein Grund für die zweifelhafte Loyali-tät des Fremden sein, allerdings entsteht der Eindruck der zweifelhaften Loyalität auch oft in der Übergangsphase, wenn die Gruppe irritiert ist, dass der Fremde nicht selbstver-ständlich gängige Handlungsmuster übernimmt und diese auch nicht positiv wertet. Was für die Gruppe „Obdach und Schutz“ bietet, erscheint für den fremdelnden Immigranten als sinnloses „Labyrinth“ von Verhaltensmustern (SCHÜTZ [1944] 1972: 69). Schütz geht also ganz klar davon aus, dass es das Ziel des Fremden ist, die für ihn zunächst fremden Muster zu erwerben, bis sie selbstverständlich sind, und sich zu assimilieren. Er bettet am

  • Einleitung 17 Ende seines Aufsatzes trotzdem noch seine bisherigen Ausführungen in seine methodo-logische Grundannahme der intersubjektiv sinnhaften Welt ein und formuliert in diesem Zusammenhang bereits einen intersubjektiven Aneignungsprozess:

    Fremdheit und Vertrautheit sind nicht auf das soziale Feld beschränkt, sondern sind allge-meine Kategorien unserer Auslegung der Welt. Wenn wir in unserer Erfahrung etwas zuvor Unbekanntes entdecken, das deshalb aus der gebräuchlichen Wissensordnung herausragt, beginnen wir mit einem Prozeß der Untersuchung. Zuerst definieren wir die neue Tatsache; wir versuchen ihren Sinn zu erfassen; wir verwandeln dann Schritt für Schritt unser allgemeines Auslegungsschema der Welt auf solche Weise, daß die fremde Tatsache und ihr Sinn mit all den anderen Tatsachen unserer Erfahrung und mit deren Sinnbedeutungen verträglich werden und zusammengehören können. Wenn wir dabei erfolgreich sind, dann wird die früher fremde Tatsache und das unser Bewußtsein aufreizende Problem in ein neues Element unseres gesicherten Wissens verwandelt werden. Wir haben unseren Erfah-rungsvorrat erweitert. (SCHÜTZ [1944] 1972, 69)

    Im Gegensatz zu Simmel und Park formuliert Schütz die Intersubjektivität in Bezug auf die eigenen Definitionen von Fremdheit und Vertrautheit. Simmel benennt vor allem die Position des Fremden – die Spannung zwischen Nah und Fern als Struktur. Er erkennt, dass Menschen auch in alltäglichen Situationen Fremdheit erleben können, aber formu-liert daraus keine Konsequenz. Sowohl Simmel als auch Park erkennen allerdings Eigen-heiten des Fremden oder des Grenzgängers: Seine Objektivität und seine Freiheit gegen-über Traditionen.

    Schütz spezifiziert diese Eigenschaften, doch sieht er auch die negativen Seiten, z.B. der scheinbaren Geschichtslosigkeit des Fremden. Während bei Park dem Marginal Man noch als Kosmopoliten eine gewisse Stärke zugeschrieben wird, erscheint der Fremde bei Schütz durch seine Krise unsicher und im Umbruch. Schütz sieht die komplexere Proble-matik des Fremden und bereitet den Weg für einen interpretativen Ansatz, sich der sub-jektiven Aneignung der fremden Umwelt verstehend zu nähern.

    Mit folgenden Struktureigenschaften, die wir aus der erneuten Auseinandersetzung mit den klassischen theoretischen Konzepten zur Position des Fremden vergegenwärtigt haben, können wir uns vorsensibilisiert den Beiträgen des vorliegenden Bandes zuwen-den:

    1) Es besteht eine soziale Distanz zur Gruppe,

    2) der Fremde durchlebt eine Krise durch fehlende Handlungsrezepte und ihre selbstverständliche Anwendung,

    3) der Fremde hat mehr Freiheiten und mehr Risiken, er spiegelt den modernen säkularisierten Menschen wider,

    4) der Fremde erschließt sich die Umwelt intersubjektiv, konstruierend, durch eine eigene Sinngebung.

  • 18 Boris Zizek und Hanna N. Piepenbring 2. Der Begriff der Aneignung

    Der Begriff der Aneignung wird in verschiedensten Kontexten verwendet. Er kann ein politischer, ein rechtlicher oder ein philosophischer Begriff sein. Auch in der Pädagogik wird von Aneignung in Bezug auf Bildungsprozesse gesprochen. Aneignen bezeichnet zunächst im allgemeinen Sprachgebrauch sich-etwas-zu-eigen-machen, ein Individuum, das sich etwas zu eigen macht. Etwas, das mir eigen ist, ist mir nicht fremd. Wenn das Individuum sich einen Gegenstand widerrechtlich aneignet, obwohl es Fremdeigentum ist, kann man den Aneignungsprozess allein durch die ausgeführte Handlung beschreiben. Auf die Geschichte des Aneignungsbegriffs kann an dieser Stelle nicht ausführlich einge-gangen werden und ein Exkurs hierzu würde auch zu weit führen, aber es sei kurz zusam-menfassend angemerkt:

    Das Aneignungskonzept (vgl. Keiler 1990) entstand gegen Ende des 18. Jh. und beschränk-te sich zunächst auf die juristische Frage der (un-)rechtmäßigen Aneignung von Gegenstän-den. Bei Kant (1724–1804) und Hegel (1770–1831) wurde es dann zu einer rechtsphilo-sophischen Frage von Legitimität und Subjektivität des Aneignungsprozesses. Daran schlossen in materialistischer Deutung Marx (1818–1883) und Engels (1820–1895) an, die den inneren Zusammenhang von gesellschaftlichen Eigentumsverhältnissen, politischen und kulturellen Prozessen und den Entfaltungsmöglichkeiten der Individuen erörterten […]. (BRAUN 2004, 19)

    Wenn es über die gegenständliche Aneignung hinaus um eine geistige und nicht materiel-le Aneignung geht, stellt sich zeitgleich die philosophische Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Welt, in dem ein Aneignungsprozess möglich ist.

    Nach Rahel Jaeggi ist Selbstaneignung mit der Aneignung der (Um-)Welt verbunden, d.h. die eigenen Wünsche und Handlungen sind immer auf die Welt gerichtet und die Definition des Selbst bildet sich in dieser Umfeld-Interaktion. Selbstentfremdung bedeu-tet in diesem Sinne immer auch die Entfremdung von der Welt. Weder die Aneignung noch die Entfremdung sind rein innerliche oder äußerliche Prozesse (JAEGGI [2005] 2016: 14). Zudem bedeutet Aneignen mehr als bloßes theoretisches Aufnehmen, man eignet sich nur etwas an, wenn man wirklich aktiv damit umgehen kann. So kann man sich auch eine Rolle aneignen, mit der man sich identifiziert. In jedem Fall wird das An-geeignete also auch zu einem Teil des Selbst, es ist mehr als eine „Inbesitznahme“ im Sinne des ursprünglichen Begriffes, denn das Selbst wandelt sich im Aneignungsprozess ebenso (JAEGGI 2002: 62 f.). „Der Aneignende konstituiert sich im Aneignungsprozess, umgekehrt gibt es auch das Angeeignete nicht ohne die Aneignung“ (JAEGGI 2002: 62).

    Bei der subjektiven Aneignung der Welt, des Fremden oder des Selbst, kommt es zu-sätzlich zur theoretischen Begründung des Aneignungsprozesses noch auf die Definitio-nen der sich anzueignenden Konzepte an. Es ist schließlich ein dialogischer Prozess der intersubjektiven Bedeutungsaushandlung wie Jaspal Naveel Singh ihn in diesem Band zusammenfasst:

    […] appropriation (Aneignung) is neither a process of direct mapping of the other onto the self, nor does appropriation merely construct social and physical reality for appropriators. Rather appropriation is always already imbued with subjectivity, which reconstructs and builds on existent material circulating in and across life-worlds. (SINGH in diesem Band)