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1 HINTERGRUND KULTUR UND POLITIK Reihe : Literatur Titel : Stiljunkies. Was ist Stil – Ernst oder Spiel, Charakter oder Maske? Autorin : Sieglinde Geisel Redakteur : Dr. Jörg Plath Sendetermin : 15.5.2016 Regie : Beatrix Ackers Besetzung : Hanns Zischler, Frank Arnold, Sieglinde Geisel Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig © Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0

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HINTERGRUND KULTUR UND POLITIK

Reihe : Literatur

Titel : Stiljunkies. Was ist Stil – Ernst oder Spiel, Charakter oder

Maske?

Autorin : Sieglinde Geisel

Redakteur : Dr. Jörg Plath

Sendetermin : 15.5.2016

Regie : Beatrix Ackers

Besetzung : Hanns Zischler, Frank Arnold, Sieglinde Geisel

Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten

Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45

bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig

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Musik

1) O-Ton Brumme:

(02:11): Es gibt Stil oder schlechten Stil

2) O-Ton Bärfuss:

23:31: Ich weiß nicht, was meinen Stil ausmacht, das könnte ich nicht sagen.

3) O-Ton Schmidt-Henkel:

25:26: Der Stil ist, ganz banal, die sprachliche Seite der Mitteilung.

4) O-Ton Bärfuss:

20:36: Stil ist ja der Griffel, ursprünglich, bedeutet das Schreibinstrument.

5) O-Ton Brumme:

12:07: Stil ist die Liebe zur Sprache.

Sprecher (Zitat Schopenhauer)

Der Stil ist die Physiognomie des Geistes.

6) O-Ton Krechel

10:15: Der Stil ist der Text selbst.

7) O-Ton Bärfuss:

22:05: Der Stil ist eigentlich immer der Stil der anderen.

8) O-Ton Hoppe:

10:27: Stil ist, wenn man’s nicht merkt.

Musik

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Lesung: Queneau

Notiert

Im S, zur Stoßzeit. Ein Typ, ungefähr sechsundzwanzig, weicher Hut mit Kordel statt Band, zu

langer Hals, als hätte jemand dran gezogen. Leute steigen aus. Besagter Typ regt sich über

einen der Nebenstehenden auf. Der remple ihn jedes Mal an, wenn einer vorbeiwolle,

beschwert er sich. Weinerlicher Ton, der aggressiv klingen soll. Er sieht einen freien Platz,

springt hin.

Zwei Stunden später sehe ich ihn auf der Cour de Rome vor der Gare Saint-Lazare. Er steht

mit einem Freund da, der zu ihm sagt: »Du solltest dir einen zusätzlichen Knopf an den

Mantel nähen lassen.« Er zeigt ihm wo (am Ausschnitt) und warum.

10) O-Ton Heinemann: (27‘‘)

Jemand, der etwas merkwürdig aussieht, merkwürdig gekleidet ist, einen merkwürdigen Hut

aufhat, sitzt in einem Bus, er gerät in irgendeinen Konflikt mit einem Mitfahrer, und

derjenige, der es beobachtet, sieht diesen merkwürdigen Mann später noch einmal vor der

Opéra in Paris stehen, im Gespräch mit einem anderen. Was ist daran - da ist nichts dran!

Diese Geschichte ist von der Aussage her null.

Autorin:

Und genau das ist der Witz. Nur weil diese Begebenheit ganz und gar gewöhnlich ist, taugt

sie als Vorlage für eines der berühmtesten Experimente der Literaturgeschichte.

Lesungen Queneau (3 Texte)

Überrascht

Was war das ein Gedränge auf dieser Autobus-Plattform! Und wie albern, ja lächerlich dieser

junge Mann aussah! Und was macht er? Wird der doch im Ernst einen Streit anfangen wollen

mit einem Mann, der – angeblich! fand dieser Geck! – ihn anrempelte! Und danach hat er

nichts Besseres zu tun, als sich schleunigst auf einen frei gewordenen Platz zu setzen! Statt

ihn einer Dame zu überlassen!

Und ahnt man, wen ich zwei Stunden später vor der Gare Saint-Lazare wiedersehe?

Denselben Vogel! Der sich gerade in Kleidungsfragen beraten lässt! Von einem Freund!

Du glaubst es nicht!

Musik

Anagramm

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Im S, zur Oißstetz, tupisdierte ein Pyt von ungefähr zwechs- undzangis Hanrej, der einen

gnalen nünden Sahl und einen drokel- statt dangbeschünckten Thu hatte, mit einem nerdena

Gratsfah, den er dchisbeglute, ihn bistachlich renzupalmen. Nach diesem Mallento rützst er

sich auf einen reifen Zalpt.

Eine Dentus persät erckilbe ich ihn auf der Cuor ed More, vor der Rage Tsian-Zalare. Er danst

mit einem Druenf da, der zu ihm gaste: »Du lostelst dir honc einen Pfonk an deinen Talmen

hänen salsen.« Er gietzte ihm wo (am Ausschnitt).

Musik

Haiku

’S ist der S

Langhals tritt Füße

Schreie und Rückzug

Bahnhof Knopf

Begegnung

11) O-Ton Heinemann: (13‘‘)

Ich halte die Stilübungen tatsächlich für eines der wichtigsten literarischen Bücher der Welt.

Autorin

Die Schriftstellerin Elke Heinemann.

11) O-Ton Heinemann ff.

Die Leistung besteht darin, dass er aus einer völlig banalen Geschichte aussagekräftige

literarische Texte macht.

Autorin

Mit der Arbeit an „Exercices de style“ hatte der französische Schriftsteller Raymond

Queneau Anfang der Vierzigerjahre begonnen, in Paris, während der deutschen Besatzung.

Auszüge der „Stilübungen“ erschienen damals in Zeitschriften, die der Résistance

nahestanden. 1947 wurde das Buch dann im Verlag Gallimard veröffentlicht, wo Queneau

als Lektor arbeitete. Die „Stilübungen“ sind, anders als der Titel vermuten lassen könnte,

kein Lehrwerk: Man lernt nicht, wie man einen bestimmten Stil herstellt, sondern man lernt,

dass es so etwas wie Stil gibt. Man übt keine Stilarten, diese werden vielmehr vorgeführt,

und Queneau schlägt dabei ständig über die Stränge.

Die Übersetzung ins Deutsche 1961 war eine Pioniertat von Eugen Helmlé und Ludwig Harig.

Ihre Ausgabe enthielt 99 Stilübungen. In der Neuübersetzung von Frank Heibert und Hinrich

Schmidt-Henkel sind es mehr als 120: Die beiden Übersetzer haben auch eigene Stilübungen

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verfasst, zu Titeln wie „Redensarten“, „Detektiv“ oder „Blind“. Solche Titel führt Queneau

unter „Mögliche Stilübungen“ auf, als Inspiration für alle, die selber schreiben wollen.

Lesung Queneau

Blind

Die Sonne brannte ganz schön, na ja, kein Wunder, es war Mittag. Offenbar hatte ich die

schwarze Jeans erwischt, der reinste Bratenschlauch. Als ich endlich im Bus war, dem 84er –

wieder mal hat mir einer ungefragt beim Einsteigen helfen müssen, grässlich, so gut es

gemeint ist –, kam zu der Hitze noch das Gedränge. Ziemlich aggressive Grundstimmung. Ein

Mitfahrer machte sich über einen anderen lustig, er habe einen viel zu langen Hals, und dann

dieser Hut, so eine komische geflochtene Borte statt Hutband. Die haben Sorgen. Der

Angesprochene, Spätpubertist, noch nicht mal ganz aus dem Stimmbruch und roch auch so,

moserte zurück, der andere würde ihm absichtlich jedes Mal auf die Füße treten, wenn

Fahrgäste zu- oder ausstiegen. Aber dann meinte er:

»Was soll’s, ich setz mich hin, da ist ein Platz freigeworden.« Diese Stimme …

Und komisch, zwei Stunden später höre ich ihn wieder, vor der Gare Saint-Lazare,

unverkennbar. Ist das ein Freund, mit dem er da spricht? Vertraulicher Tonfall. Egal, der

andere sagt jedenfalls, der mit der Stimme solle sich einen Mantelknopf höher setzen lassen,

der Ausschnitt sei zu groß. Die haben Sorgen. Und dann: »Das sieht doch ein Blinder mit

Krückstock.« Ha ha.

12) O-Ton Ü: (41‘)

Bei Übungen denkt man, ich übe etwas, um hinterher etwas zu können. Und ich glaube, das

ist ein bisschen etwas anderes.

Autorin

Hinrich Schmidt-Henkel. Er hat die „Stilübungen“ mit Frank Heibert neu übersetzt.

12) O-Ton Schmidt-Henkel ff.

Das sind Übungen von Queneau, die eher im Sinne von Anwendungen funktionieren.

Natürlich geht man da ein bisschen klüger und gewandter raus, auch als Leser, wenn man

sich dem überlassen und das nachvollzogen hat, lesend, aber ich glaube, exercise heißt in

diesem Fall Übungen im Sinn von Anwendungen. Also es wird etwas durchexerziert – schau

an! Danach ist man dann vielleicht gewandter, aber die Sache als solche liegt erstmal in dem

Durchexerzieren.

(Frank Heibert) Es führt nicht zu etwas hin, was man dann besser kann, sondern es ist

Selbstzweck, in dem Sinn, dass es in sich dann auch geschlossen ist.

Autorin:

Mit „Stilübungen“ hat Raymond Queneau eine Laborsituation geschaffen: Er isoliert

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Stilmittel, die man in der herkömmlichen Literatur kaum je in Reinform antrifft. Die

ursprüngliche Geschichte dient nur als Bühne, auf der die Sprache ihren Auftritt hat, in

immer neuen Rollen. Im Labor der Stilübungen tüftelt nicht nur der Autor, es tüfteln auch die

Übersetzer.

13) O-Ton Ü

(H) Man macht immer dasselbe, aber man macht es immer anders. Das ist das Irre.

Autorin

Hinrich Schmidt-Henkel.

13) O-Ton Ü ff.

Wie Queneau das vormacht und mit was für einem Spaß man das dann nachmacht! Aber

dieses immer-dasselbe-immer-anders-Machen, das ist natürlich eine verschärfte Bedingung.

Das Was bleibt sich ja weitgehend ähnlich, und das Wie ändert sich von Übung zu Übung.

Und das ist das Witzige und Schwierige aber auch Herrliche, was einem Mordslaune macht,

bei jedem Mal neue Instrumente hervorzuziehen und sie daran zu erproben.

Lesung Queneau

Homoioteleuton

Der Tag ist trist, ich frist ihn fast wie ein Tourist in einer öffentlichen Rappelkist. Da ist ein

Langhals-Egoist, mit Hutband aus Batist, recht angepisst, ein andrer nämlich, Terrorist!,

trample ihm ständig auf den Rist. Doch dann vergisst er seinen Zwist, es ist wohl List, und

schießt mit einem Twist auf einen freien Sits.

Ich hab ihn nicht vermisst, doch wisst, nur kurz darist erblist ich ihn vor der Gist Saint-Lazist,

wo ihm ein Freund den Mantelknist vermisst.

Autorin:

Das Klangspiel mit echten und erfundenen Endreimen ist da noch harmlos. Queneau macht

sich auch an den Buchstaben zu schaffen. Die Stilübung mit dem Titel „Lipogramm“ ist eine

Reverenz an seinen Freund Georges Perec. Perecs Roman „La Disparition“ ist legendär

geworden, denn er kommt ohne E aus. Natürlich ist E der meistgebrauchte Buchstabe des

Alphabets, sowohl im Französischen als auch im Deutschen.

Lesung Queneau:

Lipogramm (S.87)

Da.

S-Autobus hält am Stoppschild. Kommt n Zazou dazu, Hals zu lang, aufm Kopf n Hut mit

Schnur statt Band. Wird ausfällig zu Na chbarn und kommt in Wut: Absatz latscht mit

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Absicht auf Plattfuß, autsch! Tut nicht gut. Dann springt Zazou zu Klappsitz, wo Platz ist, und

hockt sich hin.

Danach, vis-à-vis vom Bahnhof, wars Saint-Dings, wars Saint-Bums, sprach so n Kumpan: »Da

am Raglan sitzt n Knopf zu hoch.«

So.

15) O-Ton Ü. (1‘22‘‘)

(H) ich weiß noch, hab mich da rangesetzt, wie absichtslos, in einem Moment, wo ich dachte,

ich kann ja schon mal ein paar Kernbegriffe sammeln, dann hat man einen Grundstock, auf

dem man aufbauen kann, also Gare Saint Lazare, was macht Queneau da, Saint truc oder so

was ähnliches, jedenfalls ohne e's, dann saint dings, saint bums, ergab sich da relativ schnell,

und so ein paar Kernbegriffe, und auf einmal waren ganze Sätze fertig ohne e, und auf

einmal kam Frank dazu, und wir haben das uns so hin und her geworden, die Sätze, und das

hat nur zack zack, bum bum, flitz flitz gemacht und innerhalb von zehn Minuten war das Ding

fertig.

Autorin:

Raymond Queneau war von Mathematik fasziniert. Sie stand für ihn nicht im Widerspruch

zur Literatur – im Gegenteil:

Lesung Queneau:

Aufgabe

Es sei

a ein Verkehrsmittel namens Autobus, das im Weiteren mit der Kurzform S bezeichnet wird; b die hintere Plattform besagten Autobusses;

c eine bestimmte Anzahl von Vertretern der Gattung homo sapiens, in diesem Bus befördert.

Unter ihnen bestimme man als

c‘ ein Exemplar α der Art Zazouus, maximale Halslänge; c‘‘ ein Exemplar der Art Tepidus, maximale Halshöhe; d die Tresse um die Kopfbedeckung von α; e ein freier Platz zum Zeitpunkt Z. Berechne die Minimaldistanz α – β, so dass β, nach Äußerung der Bemerkungen B, in der Folge auf γ katapultiert wird.

II – Angenommen, die vorhergehende Aufgabe sei gelöst, aus dem Zeitpunkt Z sei Z‘

geworden und das Verkehrsmittel bewege sich an der Gare Saint-Lazare vorbei: Ermittle die

Bemerkungen B‘ über Mantelknöpfe zwischen dem homo Zazouus A und einem weiteren

Exemplar derselben Art, C.

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Autorin:

Die Sprache ist für Queneau kein bloßes Vehikel für einen Inhalt, sondern Spielmaterial:

Indem er Buchstaben vertauscht und Wörter zerhackt, treibt er der Sprache bisweilen das

Erzählen aus. Etwa in jenen Stilübungen, deren „contrainte“ – Spielanweisung – in

mathematischen Permutationen besteht.

16) O-Ton Ü. (7‘‘)

F #00:09:08-8# Man kann auch diese Abzählübungen mit dem Gestus des Sinns erfüllen,

auch wenn das, was da auf der Seite steht, gar keinen Sinn hat. Das ist das Schöne.

Lesung Queneau:

Prosthesen:

Seines Stages agegen Omittag sbemerkte rich gunweit udes Aparc Dmonceau rauf oder

chinteren Iplattform reines Tautobusses meinen kjungen Omann tmit azu ilangem Nhals, lder

reinen sauffälligen Thut kmit leiner fgeflochtenen Kborte istatt beinem Aband ßtrug.

Fplötzlich gherrschte ner jeinen Pnebenstehenden ran kund abehauptete, edieser strete wihm

pabsichtlich tjedes Omal lauf adie Tfüße, kwenn Rfahrgäste izu- roder tausstiegen. Idann

rbrach fer sdie Bauseinandersetzung tschnell rab, bum tsich rauf reinen afrei lgewordenen

Üplatz izu nstürzen.

Reinige Istunden lspäterasah rich mihn tvor öder Sgare Gsaint-Élazare xwieder, bins

Rgespräch kmit peinem Tfreund kvertieft, yder hihm tmodischen Zrat vgab, qund äzwar

vbezüglich heines Bknopfes man iseinem Mmmmmmmmmmmmmmann nnntel.

17) O-Ton Ü: (37‘‘)

(FH) Und da haben wir auch darauf geachtet, dass das sowohl klanglich als auch rhythmisch

noch lesbar ist. Denn sonst entfernt man es wirklich komplett weg von dieser

Gratwanderung, die Queneau damit wollte, also die Geschichte immer noch durchaus zu

erzählen, aber durch diesen komischen Sprachfilter, der eben manchmal klingt wie eine

Sprachbehinderung oder ein komischer Dialekt oder sonst was.

Musik

Autorin

In „Stilübungen“ tut Queneau so, als könne man den Stil vom Inhalt trennen. Das

Erstaunliche: Es geht. Es geht sogar sehr gut. In der Kunst jedoch ist das ein Tabubruch.

18) O-Ton Heinemann:

Kann man Stil und Inhalt trennen? Ja – aber. Wenn die Konzentration zu sehr der Form gilt,

geht das meistens zu Lasten des Inhalts bzw. der Aussage.

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Autorin

Die Schriftstellerin Elke Heinemann.

18) O-Ton Heinemann: ff.

Meiner Ansicht nach wird umgekehrt ein Schuh draus. Wenn ich für eine bestimmte

Aussage, die ich treffen will, einen Stil suche, also nicht einfach ohne literarische Sprache

erkläre, was ich sagen will, sondern durch die Darstellung die Aussage inszeniere, dann habe

ich meinetwegen sowas wie diese banale Geschichte von Queneau: Das ist mein Inhalt. Ich

wähle meinetwegen ein Vokabular des Traums: Das ist mein Stil. Und indem ich diesen Inhalt

mit dem Traumvokabular inszeniere, habe ich eine Aussage.

Lesung Queneau:

Traum

Alles um mich her erschien mir dunstig und schimmernd, voll verschwommener Wesen, unter

denen sich einzig die Gestalt eines jungen Mannes recht deutlich abzeichnete, mit einem all-

zu langen Hals, der schon für sich genommen seinen zugleich feigen und querulantischen

Charakter erahnen ließ. Sein Hutband war durch eine geflochtene Schnur ersetzt. Im

Weiteren legte er sich mit einer Person an, die ich nicht sehen konnte, dann stürzte er sich,

wie in jäher Angst, ins Halbdunkel eines Ganges.

In einem anderen Teil des Traums geht er vor der Gare Saint-Lazare durch die pralle Sonne. Er

wird von jemandem begleitet, der zu ihm sagt: »Du solltest dir noch einen Knopf an den

Mantel nähen lassen.«

Da bin ich aufgewacht.

19) O-Ton Heinemann: (57‘‘)

Ich werde gelegentlich gebeten, Schreib-Seminare zu geben, und ich habe immer wieder die

Erfahrung gemacht, dass die Leute, die an diesen Seminaren teilnehmen, keine literarische

Sprache finden. Was sie stattdessen machen: anstatt dass sie einen Text formen, erklären

sie, was sie zum Ausdruck bringen wollen. Und die Erklärung sollte ganz am Ende aller

stilistischen Möglichkeiten stehen, wenn es um literarische Texte geht. Die Aussage soll ja

durch den Stil in Erscheinung treten, die soll ja inszeniert werden durch die Form und nicht

erklärt werden. Erklären sollen es dann später die anderen, die Interpreten. D.h. ich habe

dann beschlossen, nachdem ich diese Erfahrung mehrfach gemacht habe, dass die

Voraussetzung zur Teilnahme an meinen Schreibseminaren die ist: Man muss die Exercises

de style von Queneau gelesen haben.

Musik

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20) O-Ton Brumme (36‘)

Ich kann mich noch an die Zeit erinnern, als ich Anfang zwanzig war und mir zehn Jahre Zeit

gegeben habe, um mein erstes Buch zu schreiben.

Autorin:

Der Schriftsteller Christoph Brumme.

21) O-Ton Brumme ff.

Die ersten zwei, drei Jahre habe ich fast ausschließlich Stilübungen gemacht. D.h. ich habe

versucht herauszufinden, ob ich Talent habe. Ich habe mich hingesetzt, habe mir vorgestellt,

ich schreibe einen Roman. Aber ich habe nur fünf Sätze geschrieben, an den Sätzen

gearbeitet, gebastelt, umgestellt, neue Worte versucht hinzuzufügen, versucht

herauszufinden, ob die Sätze klingen, ob ich Talent habe. Habe ich das Vermögen, einen

literarischen Satz zu gestalten?

22) O-Ton Bärfuss: (38‘)

2:00: Ich hab mal bei Ezra Pound diesen Tipp an junge Schriftsteller gelesen, man solle jeden

Tag ein Sonett schreiben. Und da ich nicht so viel Ahnung von Sonetten hatte, habe ich mir

natürlich zuerst die berühmten angeguckt, die von Verlaine vor allem, und ja, habe dann

tatsächlich versucht, Sonette in der Manier Verlaines zu schreiben …

Autorin:

Der Schriftsteller und Dramatiker Lukas Bärfuss.

22) O-Ton Bärfuss: ff

Und wenn man sich eine gewisse Form gibt, gewisse Regeln auch, Dinge, die möglich sind,

andere, die man auslässt, wird dann etwas anderes möglich: das Üben, das Üben mit dem

Wortschatz, mit der fremden Form.

23) O-Ton Hoppe:

Früher zum Beispiel, in meiner Tübinger Studienzeit, hab ich immer damit geprahlt, dass ich

– ich kann's auch immer noch, aber nicht mehr so gut – dass ich aus dem Stegreif Sonette

schreiben kann.

Autorin:

Die Schriftstellerin Felicitas Hoppe.

23) O-Ton Hoppe: ff.

Also die klassischen Sonette: zwei Quartette, zwei Terzette und auch richtig in dem schönen

Reimschema ABBA und unten CDCDCD und so weiter. Ich habe gesagt: Gebt mir ein Thema,

was weiß ich, Leben und Tod oder der Untergang oder Geburt, ist völlig egal was, ich habe

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eine Viertelstunde und ich schreib euch nach diesem Schema jetzt das Sonett. Und wenn ich

das schaffe, dann muss der Auftraggeber eine Runde ausgeben für alle, und wenn ich

verliere, muss ich. Ich hab nie verloren.

Lesung Queneau

Sonett

Mit haarloser Schüssel, umflochtenem Hut

und langem bekümmertem Hals harrte stur

ein schmächtiger Flegel, o Alltagstortur,

des Busses, zumeist eine menschliche Flut.

23) O-Ton Hoppe ff.

Wenn ich das Sonett ernst nehme, von seinem Herkommen, also aus der Barockzeit, also vor

welchem historischen Hintergrund diese Form entstanden ist und warum – diese Formen

entstehen ja nicht zufällig in dieser Zeit, und deshalb ist es heute so befremdlich, ich meine,

Günter Grass und andere, Yaak Karsunke, die haben ja alle irgendwann mal Sonette

geschrieben, und man merkt, dass sie das sie das irgendwie toll finden, die alte Form zu

können, dass aber die Notwendigkeit für diese Form verschwunden ist, weil dahinter eine

Weltauffassung steht, die wir heute nicht mehr haben. Und deshalb würde ich jetzt auch

nicht sagen: Weiß nicht recht, was ich schreiben soll, ich hab ja da noch 100 Sonette, die

könnte ich ja endlich mal in einem Sammelband - ich würde mich in Grund und Boden

schämen, weil es betrügerisch ist. Es wäre eben nur ein Spiel. Aber wenn ich mit einer Form

umgehe, dann muss ich sie eigentlich ernst nehmen. So wie ich auch glaube, dass Spiel ernst

ist.

Lesung Queneau

Sonett

Dann kam einer, war es ein 10er, ein S?,

die Plattform hing wie eine Rassel daran,

ein kleines Geviert, rappelvoller Altan,

mit Reichen in krassem Zigarren-Exzess.

Der junge Girafferich der ersten Strophe

tadelte einen, der neben ihm stand,

sein Benehmen, befand er, sei schlicht Katastrophe,

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erschielte als Fluchtziel ein Sitzplätzchen, auch klug,

und hin. Zeit verging. Später prüfte ein Fant

auf Grund eines Knöpfungsproblems seinen Aufzug.

Musik

Autorin:

Geht doch. Kann man machen. Macht sogar Spaß, mehr als manches, was ernst gemeint ist.

Viele der Stilübungen sind parodistisch. Mit der Lust an der Parodie ist Queneau in der

Literaturgeschichte nicht allein.

Sprecher (Zitat Bartsch)

felt futsch

Nach Ernst Jandl

fom fleck feg

fald und fiese

feltuntergang

feltuntergang

fen ferd ich

fohl fiedersehn

feltuntergang

feltuntergang

for fier fochen

far feltuntergang

wortsetzung folgt

Autorin:

Kurt Bartsch parodiert in seinem Band „Die Hölderlinie“, erschienen 1983, alles, was in der

deutschen Literatur damals Rang und Namen hatte. Er ist damit nicht der Erste: In den

Zwanzigerjahren erschien Robert Neumanns Parodien-Band „Mit fremder Feder“, später der

Band „Unter falscher Flagge“, weitere folgten.

Sprecher (Zitat Neumann):

Parodie schießt auf einen Mann mit der Waffe seiner eigenen Form. Das ist ihr besonderes

Mittel der Aggression.

Autorin:

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… erklärt Neumann in einem Essay. Diese Parodien allerdings haben keinen langen Atem:

Hat man sie gelesen und den Gemeinten erkannt, ist die Wirkung verpufft. Parodien dieser

Art zielen auf das Wiedererkennen eines persönlichen Stils. Queneaus zielt auf die Sprache.

Daher trennt er den Stil dann eben doch nicht vom Inhalt: Vielmehr verschmelzen Inhalt und

Stil in jeder Miniatur aufs Neue.

24) O-Ton Bärfuss:

Man kann ein Sonett über fast alles schreiben, natürlich, da passt fast alles hinein in diese

Form.

Autorin:

Lukas Bärfuss.

24) O-Ton Bärfuss: ff.

Ich glaube aber, dass es dann letzten Endes trotzdem nicht zutrifft. Die Art und Weise, wie

etwas gesagt wird, definiert sehr stark, was gesagt werden kann und umgekehrt.

25) O-Ton Brumme: (26‘)

Man kann es oft sehr klar unterscheiden. Wenn ich den Inhalt eines Shakespeare-Stückes

nacherzähle und den Inhalt eines Kriminalromans, dann können diese Handlungen sehr

ähnlich sein.

Autorin:

Christoph Brumme.

25) O-Ton Brumme: ff.

Aber die Art und Weise, wie Shakespeare geschrieben hat, ist derart bannend, verführerisch,

abwechslungsreich, dass natürlich der wesentliche Unterschied im Stil liegt zwischen

Trivialliteratur und Hochliteratur.

26) O-Ton Hoppe (29‘‘)

… ich habe das Gefühl oft auf völlig verlorenem Posten zu sein. Und bin ja dazu

übergegangen, dass ich sage: Ich übersetze Ihnen das jetzt mal. Ich übersetze live, auf

Lesungen, meine Texte in Normaltexte.

Autorin:

Felicitas Hoppe.

26) O-Ton Hoppe ff.

Dann verstehen die das, dann kommen diese Erklärungssätze dazu: Ich fühlte mich schlecht,

wachte schweißgebadet auf, das war eben alles nur ein Traum. Dadurch relativiere ich dann

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den Text, dadurch verstehen die Leute das, aber sie verstehen auch sofort, dass der

poetische Mehrwert weg ist.

Lesung Queneau:

Zögernd

Ich weiß nicht genau, wo es geschah … in einer Kirche, einem Mülleimer, einem Massengrab?

Einem Autobus vielleicht? Da gab es … ja, was gab es denn da? Eier, Teppiche, Pfifferlinge?

Skelette? Ja, genau, aber noch mit Fleisch dran und lebendig. Ich glaube, so war’s. Leute in

einem Autobus. Aber einer darunter fiel auf (oder zwei?), ich weiß nicht mehr so recht wo-

durch. Durch seinen Größenwahn? Seine Fettleibigkeit? Seine Melancholie? Besser gesagt …

genauer … durch seine Jugend, die etwas Langes zierte … Nase? Kinn? Daumen? Nein: der

Hals, und ein komischer, komischer, komischer Hut. Er geriet mit jemandem in Streit, richtig,

wahrscheinlich mit einem anderen Fahrgast (Mann oder Frau? Kind oder Greis?). Das Ganze

endete, es muss ja irgendwie geendet sein, vermutlich durch den Rückzug eines der beiden

Kontrahenten.

Es war, das glaube ich schon, dieselbe Person, auf die ich später traf, aber wo? Vor einer

Kirche? Vor einem Massengrab? Vor einem Mülleimer? Mit einem Freund, der ihm wohl

etwas erzählte, aber was? Was? Was?

27) O-Ton Hoppe

Ich glaube, der poetische Mehrwert - ist ja auch ein merkwürdiger Begriff -, der bildet einen

Raum aus, der nicht auflösbar ist. Und das ist deshalb so angreifbar, weil das immer in den

Raum einer Ahnung, einer anderen Information und eines Offenen verwiesen wird. Und das

ist der Raum, in dem man sich eben jenseits der Information aufhält. Das ist ein Raum der

Ahnungen, ein Raum der Gefühle, das ist ein Raum, in dem Empfindungen entstehen.

Lesung Queneau: (aus „Zögernd“, Wiederholung)

Es war, das glaube ich schon, dieselbe Person, auf die ich später traf, aber wo? Vor einer

Kirche? Vor einem Massengrab? Vor einem Mülleimer? Mit einem Freund, der ihm wohl

etwas erzählte, aber was? Was? Was?

27) O-Ton Hoppe ff.

…im Sinne, dass ich sage, ich ging die Treppe hoch, das waren zehn Stufen, dann ertönte der

Gong und der Schaffner sagte: Bitte einsteigen – das ist das eine, das sind die Informationen,

aber es gibt ja etwas, was man landläufig als Atmosphäre bezeichnet, also eine Empfindung,

die man in einer Situation hat oder die eine Figur in einer Situation bekommt, ... unabhängig

von Zeit und Raum im faktischen Sinn. Darauf muss ich hören, und das ist ja das, was das

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Leben interessant macht und das Erzählen interessant macht, das ist ja nicht interessant zu

sagen: Herr X ging von A nach B.

Lesung Queneau:

Beleidigend

Nach einer scheußlichen Wartezeit unter einer fiesen Sonne stieg ich schließlich in einen

widerwärtigen Autobus, wo ein Haufen Idioten zusammengepfercht war. Der größte Idiot

von all diesen Idioten war eine Pickelfresse mit überdimensionierter Birne, auf der ein

grotesker Deckel thronte, mit einem Kordelchen statt Band. Dieser Angeber fing an

herumzupöbeln, weil ihm ein alter Idiot mit seniler Beharrlichkeit auf den Latschen

herumtrampelte; aber nicht lange, und er ließ wieder Luft ab und verduftete zu einem leeren

Platz, der noch feucht vom Arschschweiß des Vorgängers war.

Zwei Stunden später stolpere ich über denselben Idioten, echt Pech heute, der schwadroniert

mit einem anderen Idioten vor der Gare Saint-Lazare herum, diesem ekelhaften Kasten. Sie

kauten sich wegen einem Knopf das Ohr ab. Ich denk mir: Der kann sich sein Furunkel höher

oder tiefer setzen lassen, ganz egal, nachher sieht er immer noch genauso scheiße aus, der

Vollidiot.

27) O-Ton Hoppe: (Wiederholung)

Das ist ein Raum der Ahnungen, das ist ein Raum der Gefühle, das ist ein Raum, in dem

Empfindungen entstehen…

28) O-Ton Hoppe (23‘‘)

…, und die sind uns natürlich nicht immer geheuer. Das heißt, denen muss man sich

überlassen wollen, denen muss man folgen wollen. Wie oft hört man diese Fragen: Was

wollen Sie denn damit? Anstatt zu fragen: Warum sagen Sie das so?

Musik

30) O-Ton Brumme: (27‘)

Stil ist ja nicht nur etwas Schönes, ein schöner Ausdruck, sondern es ist vor allem ein

Instrument…

Autorin:

Christoph Brumme.

30) O-Ton Brumme: ff.

… wie ein feines Skalpell versucht man mit gutem Stil ja, zu Erkenntnissen zu gelangen. Je

genauer ich etwas sage, desto mehr Substanz hat das Gesagte, desto mehr kann ich sehen

und erkennen.

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Autorin:

Raymond Queneau hat Vorläufer, den gewitzten Philosophen Georg Christoph Lichtenberg

etwa aus dem 18. Jahrhundert. Lichtenberg empfiehlt, ganz gewöhnliche Prosa „ins

Unbeschreibliche“ übersetzen zu lassen – durch die Anwendung neuer Stilarten.

Lesung Lichtenberg

Da es vernünftigen Leuten schwer wird, sich einen neuen Stil zu schaffen, worin hingegen die

Narren eine ganz eigne Gabe haben, so hat man an die hundert und funfzig teils noch nicht

gebrauchte, teils aber von einigen Gelehrten bereits erstandene Stil-Arten verfertigen lassen,

die die größte Satisfaktion geben werden. Es liegen noch gegen 140 Proben da, darunter

einige bis zum Entzücken artig und andere zum Krepieren drolligt sind. Man hat ihnen der

Verständlichkeit wegen Namen gegeben, die zwar zum Teil von Salatsamen hergenommen,

aber allemal so gewählt worden sind, daß sie die Natur des Stils besser ausdrucken, als in

einer dreimal so langen Definition möglich gewesen wäre. Wir haben sie in Klassen von

sieben abgeteilt, darunter die pretiöseste folgende ist.

1) Groß-Shakespearisch Nonpareille

2) Englisch geschachter Hanswurst à la surprise

3) Saxenhäuser Steinkopf, bunt.

4) dito schlicht.

5) bunter Prahler mit und ohne Yorick.

6) großer Mogul

7) gesprengter Prinzenkopf.

Musik (CPE Bach, kurz)

Lesung: Schopenhauer

Der Stil ist die Physiognomie des Geistes. (…) Fremden Stil nachahmen heißt eine Maske

tragen. (…) Affektation im Stil ist dem Gesichterschneiden zu vergleichen (…)

Autorin:

Narren mögen Stile erfinden, alle anderen haben den ihren, so der Philosoph und Stilist

Arthur Schopenhauer.

Lesung Schopenhauer

Um über den Werth der Geistesprodukte eines Schriftstellers eine vorläufige Schätzung

anzustellen, ist es nicht gerade nothwendig, zu wissen, worüber, oder was er gedacht habe,

(…) sondern zunächst ist es hinreichend zu wissen, wie er gedacht habe. Von diesem Wie des

Denkens nun, von dieser wesentlichen Beschaffenheit und durchgängigen Qualität desselben,

ist ein genauer Abdruck sein Stil. … Man hat daran gleichsam den Teig, aus dem er alle seine

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Gestalten knetet, so verschieden sie auch seyn mögen.

Autorin:

Schopenhauers Teig ist für Jean Cocteau die Seele dessen, was gesagt wird. Karl Kraus

wiederum denkt an den Körper:

Sprecher (Zitat Kraus):

Nichts wäre törichter, als von Formtiftelei zu sprechen, wo Form nicht das Kleid des

Gedankens ist, sondern sein Fleisch. Diese Jagd nach den letzten Ausdrucksmöglichkeiten

führt bis ins Eingeweide der Sprache.

Autorin:

Doch gerade die Kleidermetapher, die Kraus so vehement ablehnt, hatte damals Konjunktur.

Sie geht auf Schopenhauer zurück: Der Begriff solle sich „wie ein nasses Gewand“ an den

Gedanken anschmiegen. In seinen Sprachglossen kritisiert Kurt Tucholsky, dass diese intime

Beziehung oft gelöst wird, etwa bei Modewörtern:

Sprecher (Zitat Tucholsky):

Man trägt das jetzt so.

Autorin:

Für Walt Whitman, einen der innovativsten Dichter des 19. Jahrhunderts, ist diese Trennung

undenkbar. Poetisches Schreiben soll ganz nackt sein, purer Gegenstand.

Lesung Whitman:

Der größte Dichter zeichnet sich weniger durch einen ausgeprägten Stil aus als vielmehr

dadurch, dass er die freie Bahn seiner selbst ist. Er sagt zu seiner Kunst: Ich will mich nicht

einmischen, ich will nicht dulden, dass in meinem Werk Eleganz, Effekt oder Originalität wie

ein Vorhang zwischen mir und dem übrigen hängt. Ich will, dass nichts im Wege hängt, nicht

einmal die herrlichsten Vorhänge.

Autorin:

Gustave Flaubert dagegen „berauschte“ sich am Stil. Er hatte die umgekehrte Vision.

Sprecher (Zitat Flaubert):

Was mir schön erscheint und was ich machen möchte, ist ein Buch über nichts, ein Buch ohne

äußere Bindung, das sich selbst durch die Kraft seines Stils trägt, so wie die Erde sich in der

Luft hält, ohne gestützt zu werden, ein Buch, das fast kein Sujet hätte.

Musik

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31) O-Ton Krechel: (44‘‘)

Sie neigen dazu, Sprache und Inhalt, oder Inhalt und Form, wie man früher gesagt hätte,

voneinander zu trennen. Es ist für mich nicht zu trennen. Das hieße, ich habe einen Berg von

Inhalt und ich kann darüber diese oder jene Soße gießen. Das ist vielleicht beim Kochen so,

aber für den Schreibprozess ist es nicht von Belang.

Das Material gibt meistens vor, was der Stil sein wird. Stil ist für mich nichts Abstraktes, das

ich einem Stoff oder einer Textstruktur überlegen oder wegnehmen kann. Der Stil ist der

Text selbst. Er ist nur in dieser Textur möglich.

32) O-Ton Hoppe:

Nein. Das kann ich eindeutig sagen, …. das ist genau wie mit der Aussage, die durch die

Sprache entsteht.

Autorin:

Felicitas Hoppe.

32) O-Ton Hoppe:

Der Stil formt diesen Inhalt. Der Stil entscheidet ja darüber, ob etwas, was gesagt wird,

humorvoll ist, ob es bösartig ist, ob es herablassend ist, ob es denunzierend ist. Das heißt,

hier liegt alles, das ist der Schlüssel zu allem.

33) O-Ton Krechel:

… ex negativo ist das Stilproblem viel besser zu begreifen, als wenn es gelingt. Wenn es

gelingt, ist es etwas, was man im Grunde genommen gar nicht sieht.

34) O-Ton Hoppe:

Stil ist, wenn man's nicht merkt.

Lesung Queneau:

Also ich!

Also ich versteh das: Wenn dir ein Typ ständig auf die Treter

latscht,wirst du echt sauer. Aber dich dann einfach hinhocken

wie ein Weichei, nachdem du ne Ansage gemacht hast, also

das versteh ich nicht. Hab ich aber neulich im Bus gesehen,

auf der hinteren Plattform vom S. Ich fand ja, dass dieser junge

Mann den Hals bisschen zu lang hatte, und dann diese ulkige

Tresse um seinenHut rum. Also ichwürd nie im Leben mit so

nem Deckel unter die Leute gehen. Aber es war genau,wie ich

sag, erst schnauzt er den anderen Fahrgast an, der ihm auf

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die Füße getreten ist, und dann setzt der Typ sich einfach hin.

Also ich hätte dem Drecksack, der mir auf die Füße trampelt,

eine gescheuert.

Gibt ja nichts, was es nicht gibt, ich kann Ihnen sagen, man

sieht sich immer zweimal im Leben. Also zwei Stunden später,

da läuft mir der Knabe wieder über denWeg. Seh ich ihn doch

vor der Gare Saint-Lazare, jawohl. Steht der glatt mit einem

Kumpel von derselben Sorte da, der zu ihm sagt, ich hab’s gehört:

»Du solltest dir diesen Knopf höher setzen lassen.« Also

ich hab’s genau gesehen, auf den obersten Knopf hat er gezeigt.

Autorin (Zitat Sontag):

„Ein Kunstwerk, dem man als Kunstwerk begegnet, ist ein Erlebnis, nicht aber eine Aussage

oder eine Antwort auf eine Frage“, schreibt Susan Sontag in ihrem Essay „Über Stil“. Und

weiter: „Kunst handelt nicht nur von etwas, sie ist etwas. Ein Kunstwerk ist ein Teil der Welt,

nicht bloß ein Text oder Kommentar über die Welt.“

(Kurze Pause) Wenn ein Text von etwas handelt, gibt es einen Gegenstand, der auch

außerhalb des Textes existiert. Ist ein Text jedoch selbst etwas, dann existiert sein

Gegenstand nur in dieser Form, als Sprache. Das literarische Schreiben ist daher einer

Legierung vergleichbar: Nur wenn es dem Autor oder der Autorin gelingt, das Wie mit dem

Was zu verschmelzen, entsteht ein Kunstwerk. Walt Whitmans Gedichte sind Kunstwerke.

Und Queneaus „Stilübungen“? Sagen sie etwas, was man nicht anders sagen könnte? Stiften

sie Vergnügen?

35) O-Ton Ü.

(H) … weil es die Laborsituation ist, das Vergnügen, das man daran hat, diese Texte zu lesen

oder zu übersetzen, auch eben daran liegt, also das Labor als gesonderter Raum, wo auch

einzelne Merkmale betrachtet werden.

Autorin:

Hinrich Schmidt-Henkel, der Übersetzer der „Stilübungen“, zusammen mit Frank Heibert.

35) O-Ton Ü. ff.

Andrerseits sind wir, glaube ich, beide unendliche Stiljunkies: Ob ein Buch uns als Leser oder

Übersetzer anspricht, liegt ganz, ganz extrem am Stil. Ich kann mich erinnern, ich habe

Entscheidungen für oder gegen Übersetzungsaufträge getroffen nach zwei Seiten Lektüre, ob

ich das Gefühl hatte, da ist ein Stil drin, der zieht an mir, der will etwas von mir, oder ob ich

das Gefühl hatte, das ist nicht der Fall. Dann habe ich es halt nicht gemacht. Aber wenn das

da war, hatte ich sofort diesen, das musst du in den Mund nehmen, und das hat absolut mit

Stil zu tun. Ich würde nicht sagen, das ist absolut egal, was dann erzählt wird, aber wenn das

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erstmal da ist, dann ist die Liebe schon begründet.

Musik

36) O-Ton Brumme:

Stil ist die Liebe zur Sprache.

Autorin:

Christoph Brumme.

36) O-Ton Brumme: ff.

In einem guten Stil zeigt sich, ob der Autor oder die Autorin ein künstlerisches Gewissen hat

und den Mahnungen des Gewissens gefolgt ist. Wer liederlich schreibt, wer viele Substantive

mit der letzten Silbe -ung benutzt oder viele Plastikworte, viele Modeworte, wer

gedankenlos formuliert, das ist ein unmoralischer Mensch, ein liederlicher Mensch, ein

Mensch ohne Form.

Autorin:

Nicht nur in der Literatur, auch im Alltag ist mit dem Stil eine moralische Forderung

verbunden: „Das ist stillos!“ bedeutet: „Das macht man nicht!“ Wer es trotzdem tut, verrät

seinen Stil und damit sich selbst.

37) O-Ton Hoppe: (46‘‘)

Wie man das immer wieder hört, … dass es viele Leute gibt, die sagen, wenn ich aufhöre,

einen bestimmten Stil zu pflegen, das meint jetzt wieder eher den Alltag als das Schreiben,

dann verliere ich mein Verhältnis zur Welt und zu den anderen Menschen, so wie man

immer die Geschichten erzählt, wie auch bei uns in der Familie, Leute ,die in

Kriegsgefangenschaft waren: Ich habe mich bis zum letzten Tag jeden Morgen rasiert, und

wenn es mit einer Glasscherbe war! Eigentlich mag ich solche Geschichten überhaupt nicht,

aber ich glaube, dass da was dran ist, dass dieses Aus-der-Form-Gehen und von einem

bestimmten Stil abzurücken bedeutet, dass man eben selber seine Form verliert, man lässt

nach und im schlimmsten Fall verkommt man.

Musik (etwas länger)

LESUNG QUENEAU

Litotes

Wir, ein paar Leute, waren per Blechbüchse unterwegs. Ein nicht besonders intelligent

wirkender junger Mann sprach eine Weile mit einem Herrn neben ihm, dann setzte er sich

hin. Zwei Stunden später begegnete ich ihm erneut; er war in Begleitung eines Freundes, es

ging um Klamotten.

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38) O-Ton Bärfuss:

Es heißt auch immer, er sei Charakter, dass sich im Stil der Charakter, das Wesen eines

Schriftstellers zeige. Ich glaube bloß, der Stil ist eigentlich immer der Stil der anderen.

Autorin:

Lukas Bärfuss.

38) O-Ton Bärfuss ff.:

Sobald es um den Stil der anderen geht, ist es offensichtlich, und es ist so, dass es

Schriftsteller gibt, die man an einem Satz erkennt, an einem gewissen Duktus. Ich glaube

nicht, dass man darüber ein Bewusstsein entwickeln kann. Sobald man beginnt, seinen Stil zu

pflegen, ist man eigentlich verloren, ist es nur noch Imitation seiner selbst. Es muss ja darum

gehen, dass man sich in Bereiche wagt, wo man unsicher ist, die man nicht kennt, wo man

stillos wird, meinetwegen, wo man alles verliert, was einem noch irgendeine Sicherheit gibt.

...

39) O-Ton Hoppe: (39‘‘)

Man entwickelt Formen, die funktionieren oder von denen man glaubt, dass sie

funktionieren, man entwickelt Maschen und ist sich dessen nicht bewusst.

Autorin:

Felicitas Hoppe.

39) O-Ton Hoppe ff.:

Und das Schlimmste ist natürlich Selbstverliebtheit beim Schreiben, man findet das ja so toll,

was man da selber macht und kommt von dem Trip nicht runter.

Lesung Queneau:

Italianismen

Aine giorno ike staige inne Autobusse, war mezzogiorno, sì,

auffe piattaforma, unde wasse fur eine Manne ik sehe da? So

eine giovanuomo mit lange Halse, sì, und komische treccia,

so Dings, Schnur umme cappello. E questo giovane va attackare

eine arme Manne, wo da ßteht bei ihm, und meckert, weil

der ihmpestare auf die Fußen, aber der ihmuber’aupte nik pestare

auf die Fußen, sì, aber dann er ßiet eine fraie Platze und

presto presto lauft inne und setz sik.

Una ora ßpäter ik seh ihn di nuovo ßußammen mit so eine tipo,

bellimbusto, zerbinotto, so eine Dahndy, sì, Lackaffe, der ihm

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gibt grosse consiglio vonwegen seine mantello, vonwegen eine

Knopf.

40) O-Ton Hoppe: (43‘‘)

Mein Großvater, der Schneider, konnte auf seine alten Tage eigentlich nicht mehr das Haus

verlassen, weil er so fixiert war auf die Perfektion seines Auftretens, also durch diese

Maßschneiderei, dass er, wenn wir sonntags spazieren gehen wollten, vor dem Spiegel stand

und den Hut rückte, und wir da immer standen und sagten: Opa, wir wollen raus! Und es

ging gar nicht, Opa kam nicht mehr über die Schwelle, weil er wusste, sobald er hinaus geht,

würde es windig sein, und diese eine Locke würde in die andere Richtung wehen. Ich glaube,

das kann einem in der Kunst passieren, und das ist fürchterlich.

Autorin:

Ein Stil, der zur Vorschrift, zur Norm wird, ist eine Zwangsjacke, schnell wird es gekünstelt,

gewollt, „manieriert“. Der Begriff stammt aus dem Französischen: la manière, die Art und

Weise. Als Franzose hatte Queneau sozusagen von Haus aus ein geschärftes Bewusstsein für

Stil.

41) O-Ton Ü: (24‘‘)

(H) In Frankreich sind die stilistischen Erfordernisse, wie ein guter Text auszusehen hat, viel

präsenter noch als bei uns, also dasselbe Wort darf sich auf die Entfernung von zwanzig

Zeilen nicht wiederholen.

Autorin:

Hinrich Schmidt-Henkel.

41) O-Ton Ü ff.

Dass Queneau das macht, etwas, das so stark präskriptiv geprägt ist in seiner Kultur, dass er

das auf diese Weise anwendet und überanwendet, ist eben auch schon eine Form der

Befreiung aus Korsetten.

Lesung Queneau:

Gedoppelt

Um die Tagesmitte und mittags betrat und erstieg ich die Plattform und den hinteren Austritt

eines vollen und nahezu restlos besetzten Autobusses und Fahrzeugs des Öffentlichen Nah-

verkehrs der Linie S und der Verbindung zwischen Contres-carpe und Champerret. Ich sah und

bemerkte einen ziemlich lächerlichen und ganz schön grotesken jungen Mann und alten

Jugendlichen: hagerer Hals und magere Gurgel, Schnur und Kordel um Hut und

Kopfbedeckung. Nach einem Gedrängel und Durcheinander sagt und verkündet er mit

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larmoyanter und weinerlicher Stimme und Betonung, sein Nachbar und Mitreisender schubse

und belästige ihn jedes Mal mit Absicht und Nachdruck, wenn jemand aussteige und den Bus

verlasse. Als er dies geäußert und nachdem er den Mund aufgemacht hat, stürzt und begibt

er sich auf einen leeren und freien Platz und Sitz.

Zwei Stunden später und einhundertzwanzig Minuten danach treffe und sehe ich ihn auf der

Cour de Rome und vor der Gare Saint-Lazare wieder. Er ist und befindet sich dort mit einem

Freund und Kumpel, der ihm rät und nahelegt, zusätzlich einen Knopf und eine

Steinnussscheibe an seinen Überzieher und Mantel anfügen und annähen zu lassen.

42) O-Ton Ü. (33‘‘)

(H) Er befreit die Sprache von starren stilistischen Konventionen, indem er einem zeigt, wie

Konventionen wirken. Und gleichzeitig ist es eine Metaaussage darüber, wie Regeln

ersetzbar sind, das macht er macht er ja von Textchen zu Textchen, was eben noch eisern

galt, ist jetzt weg, und es gilt was ganz anderes, also eine bestimmte Willkür, die auch im

Aufstellen und Anwenden von Regeln liegen kann, und dann zeigt er ja in einzelnen Texten,

wie die konsequent angewendete Regel sich selbst ad absurdum führt.

Lesung Queneau:

Metaphorisch

Im Zenit des Tages predigte in einem Käfer mit weißlichem Unterleib, der als Dose für

reisende Sardinen diente, ein Hähnchen mit gerupftem Langhals überfallartig einer

friedlichen unter ihnen, und seine Worte entfalteten sich klagefeucht in den Lüften. Dann

stürzte sich der Jungvogel in eine lockende Leere. Am selben Tage erblickte ich ihn in einer

trüben städtischen Wüstenei, als er sich gerade wegen irgendeines Knopfes auf die

Hühneraugen steigen ließ.

43) O-Ton Ü. (13‘‘)

(F) Wenn man also sagt, ich habe mal eine Metapher, dann ist das schön und hebt etwas

heraus. Aber wenn man in jedem Satz vier hat, dann ist es völlig klar, dass das an der Stelle

nicht mehr die Kostbarkeit einer Metapher abbilden kann, sondern durch Inflationierung es

entwertet.

Lesung Queneau:

Ex negativo

Es war weder ein Boot noch ein Flugzeug, sondern ein Landfahrzeug. Es war weder morgens

noch abends, sondern mittags. Es war weder ein Baby noch ein Greis, sondern ein junger

Mann. Es war weder ein Band noch eine Schnur, sondern eine geflochtene Borte. Es war

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weder eine Prozession noch eine Schlägerei, sondern ein Gedränge. Es war weder ein liebens-

würdiger noch ein bösartiger, sondern ein jähzorniger Mensch. Es war weder eine Wahrheit

noch eine Lüge, sondern ein Vorwand. Es war weder ein Stehender noch ein Liegender, son-

dern ein Sitzenwollender.

44) O-Ton Ü. (8‘‘)

(H)…da wird einfach auch vorgeführt, wie eine literarische Gattung, wie ein literarisches

Genre an sich selber zugrunde geht, wenn man so will.

Autorin:

Ein Spiel mit dem Exzess. „Durch fröhliche Übererfüllung“ dreht Queneau der Regel eine

lange Nase. Ein Spiel, bei dem einem unbehaglich werden kann.

Lesung Queneau:

Ex negativo ff.

… Es war weder am vorherigen noch am folgenden, sondern am selben Tag. Es war weder

die Gare du Nord noch die Gare de Lyon, sondern die Gare Saint-Lazare. Es war weder ein

Verwandter noch ein Unbekannter, sondern ein Freund. Es war weder eine Beleidigung noch

ein Spott, sondern ein Bekleidungsratschlag.

45) O-Ton Ü. (19‘‘)

(H) Andererseits zeigt es eben übergeordnet, über das Text-Genre hinaus, was mit uns

passiert, wenn Regeln durchexerziert werden, das kriegt eine unmenschliche und eine

widernatürliche Seite an sich, die hier leicht wahrzunehmen und auch leicht zu schlucken ist,

weil's komisch ist. Aber diese Komik sagt uns was.

46) O-Ton Krechel:

Eine Befreiung von der Engstirnigkeit eines konsekutiven Erzählens, von der Engstirnigkeit,

sich auf eine Form zu spezialisieren.

Autorin:

Ursula Krechel.

46) O-Ton Krechel ff.:

Die Stilübungen sind ja zunächst, in Teilen während der deutschen Besatzung in Frankreich

erschienen, und ich denke, dass jemand sich nicht auf die Not und auf die Beschämung

Frankreichs bezogen hat, sondern eine Offenheit im Kopf hergestellt hat, das ist sehr wichtig.

Autorin:

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Die Offenheit im Kopf gegen die Engstirnigkeit der Zeit. Als Queneau die Stilübungen schrieb,

waren seine jüdische Frau und der gemeinsame Sohn nach Vichy-Frankreich geflohen. Das

exzessive Sprachspiel kann man als einen Akt des Widerstands lesen, nicht direkt, sondern

subversiv.

47) O-Ton Ü.: (29‘‘)

(F) Ohne dass das inhaltlich aufscheinen muss, einfach nur durch die Art und Weise, durch

seinen Gestus des Spielens und des Wegräumens und des Freimachens und des

Freischüttelns sozusagen. Das ist auch so eine schöne Dialektik darin, dass es ihm damit sehr

sehr ernst ist mit diesem Sich Befreien, die Dinge befreien und Aufbrechen, dass aber dieser

Ernst nur durch das Spielerischste und Leichteste und Augenzwinkerndste letztlich zu

realisieren ist. Diese Dialektik, die sorgt für die Spannung dieses ganzen Buchs.

Autorin:

Und genau darin erweist sich „Exercices de style“ als Kunstwerk: Es sind keine Texte über

Stil, sondern sie sind aus Stil gemacht.

48) O-Ton Krechel: (34‘‘)

Ich bin eher aus dem Interesse am Noveau Roman, am Surrealismus auf Queneau gestoßen,

und die Stilübungen waren für mich dann ein Text, der bis zum Exzessiven Möglichkeiten des

Schreibens durchspielte, auf faszinierende Weise, ich habe aber nie darüber nachgedacht, in

dem Sinne, Übungen daraus zu wiederholen, ganz im Gegenteil, ich habe das Buch in seiner

Fremdheit, in seiner Vielstimmigkeit wahrgenommen als eine Vorstellung: Das ist alles

möglich…

Autorin:

Raymond Queneaus „Stilübungen“, und in ihrer Weise auch die Parodien von Bartsch und

Neumann, erzählen vom Erzählen – und dabei öffnen sich Türen. Denn wenn man eine

Geschichte immer wieder anders erzählen kann, dann kann auch im Leben alles anders sein.

9) O-Ton Heinemann:

Stil ist, wenn man trotzdem lacht.

Autorin:

Raymond Queneau war von Beruf Lektor – in „Stilübungen“ macht er sich auch über sein

eigenes Handwerk lustig. Vielleicht der übermütigste aller Befreiungsschläge.

Lesung Queneau:

Klappentext:

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In seinem neuen, wie immer brillant geschriebenen Roman

lässt der berühmte Schriftsteller X, dem wir schon viele Meisterwerke

verdanken, lauter gut gezeichnete Figuren in Situationen

auftreten, deren Atmosphäre für Groß und Klein nachvollziehbar

ist. Die Handlung dreht sich um die Begegnung

des Protagonisten dieser Geschichte mit einer rätselhaften Figur,

die mit dem Erstbesten Streit anfängt. In der Schlussszene

treffen wir erneut auf diesen mysteriösen Menschen, wie er mit

der größten Aufmerksamkeit den Ratschlägen eines Freundes

und Meisterdandys lauscht. Das Ganze hinterlässt einen bezaubernden,

vom Romancier X mit ausnehmend glücklicher

Hand scharf konturierten Eindruck.