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    PuZAus Politik und Zeitgeschichte

    65. Jahrgang 4345/2015 19. Oktober 2015

    Hitlers Mein Kampf

    Neil GregorMein Kampf lesen, 70 Jahre spter

    Andreas WirschingHitler, Mein Kampf.

    Eine kritische Edition des Instituts fr Zeitgeschichte

    Barbara ZehnpfennigEin Buch mit Geschichte, ein Buch der Geschichte:

    Hitlers Mein Kampf

    Hermann GlaserZur Mentalittsgeschichte des Nationalsozialismus

    Ein Weg, um den Erfolg von Mein Kampf zu verstehen

    Gideon Botsch Christoph KopkeNS-Propaganda im bundesdeutschen Rechtsextremismus

    Thomas Sandkhler

    NS-Propaganda und historisches Lernen

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    EditorialNur ein kurzer Gang in ein Antiquariat, um eine gedruckteAusgabe in der Hand zu halten: Anders, als vielfach vermittelt,ist Hitlers Propagandaschrift Mein Kampf (1925/26) nichtverboten. Der bayerische Freistaat, nach 1945 Rechtsnachfol-

    ger des Eher-Verlages, verfgt ber die Urheberrechte und kannNeuauagen, den Abdruck von Auszgen, auch neue ber-setzungen untersagen. Doch schon heute ist der Volltext leichtim Internet aufndbar. Und Ende 2015, 70 Jahre nach dem To-desjahr des Autors, wird der Text gemeinfrei. Auf der Justiz-ministerkonferenz im Juni 2014 herrschte indes Einigkeit dar-ber, dass eine unkommentierte Verbreitung von Hitlers MeinKampf auch nach Ablauf der urheberrechtlichen Schutzfristzum 31. Dezember 2015 verhindert werden soll.

    Anfang 2016 wird eine kommentierte, umfngliche Editi-on des Buches vorliegen, die vom Institut fr Zeitgeschichte(IfZ) in einem gro angelegten Projekt verwirklicht wird undvon der berwiegenden Mehrheit der publizistischen, wissen-schaftlichen und politischen ffentlichkeit im Vorfeld begrtworden ist. Dieses Projekt, zunchst gefrdert vom FreistaatBayern, trifft aber auch auf Kritik. Einige argumentieren, dasBuch sei es nicht wert, in einem aufwndigen Verfahren ediertzu werden. Andere schrecken grundstzlich vor der Vorstellungeiner Neuverffentlichung der antisemitischen Hetzschrift inDeutschland zurck, ob unkommentiert oder kommentiert.

    Die ffentliche Diskussion ber den Umgang mit MeinKampf wird 2016 unter neuen Voraussetzungen gefhrt wer-den, wenn die Rechtslage, etwa in Hinblick auf ein Verbot we-gen Volksverhetzung, geklrt und die wissenschaftliche Editiondes IfZ verfgbar ist. Diese Ausgabe der APuZ zielt darauf ab,Grundlagenwissen zu vermitteln: zur Entstehungshistorie, zuForm und Inhalten, zur Rezeptionsgeschichte, zu Zielsetzun-gen und Zuschnitt der Edition des IfZ sowie zur Rolle des Bu-ches in so unterschiedlichen Kontexten wie Geschichtsunter-

    richt und Rechtsextremismus nach 1945.

    Anne Seibring

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    Neil Gregor

    Mein Kampf

    lesen, 70 JahrespterEssay

    Neil Gregor

    Ph. D., geb. 1969; Professorfr Modern European His-

    tory, Faculty of Humanities,University of Southampton,Avenue Campus, Highfield,

    Southampton, SO17 1BF/Vereinigtes Knigreich.

    [email protected]

    Wer sich mit der Frage nach einer Lekt-re von Mein Kampf beschftigt, siehtsich mit zwei hartnckigen Mythen konfron-

    tiert. Der eine Mythosbesagt, das Buch seiweithin ungelesen ge-blieben; der zweite, essei bis heute weit-gehend unlesbar. Waserstgenannten Mythosbetrifft, so ist inzwi-schen deutlich gewor-den, dass er die allge-meine Haltung eines

    Nicht-gelesen-haben-Wollens widerspiegelt,

    die wir als Nicht-den-Inhalt-kennen-Wol-len verstehen knnen: eine Haltung, die ihrenPlatz im Klima des Verschweigens, Vermeidensund Verleugnens in der unmittelbaren Nach-kriegszeit fand. Wenn man nicht wusste, wasin dem Buch stand so die implizite Logik ,dann konnte man auch nicht dafr verantwort-lich gemacht werden, was daraus folgte; httedie deutsche Gesellschaft es gewusst so eineebenso implizite Folgerung , htte sie vor 1933politisch eine andere Wahl getroffen.

    Heute ist diese Behauptung mangelnderVertrautheit mit dem Text nicht lnger glaub-wrdig: Othmar Plckingers sorgfltige Un-tersuchung hat gezeigt, dass gewhnliche Br-gerinnen und Brger zahlreiche Gelegenheitenhatten, sich mit den Inhalten des Buches ver-traut zu machen. Vielleicht haben sie es nichtvon der ersten bis zur letzten Seite gelesen; invielen Abschnitten nden sich allerdings die-selben Strukturen, Argumente und rhetori-schen Schlsselguren wie in Hitlers Redenseit Mitte der 1920er Jahre; gleichzeitig warenseine Ideen in den verffentlichten Kommen-taren zahlreicher Zeitgenossen (Journalisten,

    politische Gegner, Kirchenvertreter und Ge-werkschafter) zugnglich, die vor den Gefah-ren, die das Buch in sich barg, warnten.1

    Ein unlesbares Buch?

    bersetzung aus dem Englischen: Kirsten E. Leh-mann, Kln.

    Schwieriger ist es, den Tropus der Unlesbar-keit des Textes zu vertreiben. Doch selbstwenn wir fr einen Moment der weit ver-breiteten Behauptung folgen, die meisten Le-ser und Leserinnen htten das Buch zu Todegelangweilt nach wenigen Seiten beiseitege-legt, erkennen wir, dass dies fr die angeb-liche Unkenntnis der Inhalte nicht ausreicht.Denn wie eine selbst oberchliche Lektreder Eingangsseite zeigt, nden sich bereitsin den ersten 200 Worten smtliche Kernele-

    mente von Hitlers politischer Philosophie:

    Als glckliche Bestimmung gilt es mirheute, da das Schicksal mir zum Geburts-ort gerade Braunau am Inn zuwies. Liegt dochdieses Stdtchen an der Grenze jener zweideutschen Staaten, deren Wiedervereinigungmindestens uns Jngeren als eine mit allenMitteln durchzufhrende Lebensaufgabe er-scheint! Deutschsterreich mu wieder zu-rck zum groen deutschen Mutterlande, undzwar nicht aus Grnden irgendwelcher wirt-

    schaftlichen Erwgungen heraus. Nein, nein:Auch wenn diese Vereinigung, wirtschaftlichgedacht, gleichgltig, ja selbst wenn sie schd-lich wre, sie mte dennoch stattnden.Gleiches Blut gehrt in ein gemeinsames Reich.Das deutsche Volk besitzt solange kein mora-lisches Recht zu kolonialpolitischer Ttigkeit,solange es nicht einmal seine eigenen Shnein einen gemeinsamen Staat zu fassen vermag.Erst wenn des Reiches Grenze auch den letz-ten Deutschen umschliet, ohne mehr die Si-cherheit seiner Ernhrung bieten zu knnen,

    ersteht aus der Not des eigenen Volkes das mo-ralische Recht zur Erwerbung fremden Grundund Bodens. Der Pug ist dann das Schwert,und aus den Trnen des Krieges erwchst frdie Nachwelt das tgliche Brot. So scheint mirdieses kleine Grenzstdtchen das Symbol ei-ner groen Aufgabe zu sein.2

    1 Vgl. Othmar Plckinger, Geschichte eines Buches:Adolf Hitlers Mein Kampf 19221945, Mnchen

    2006.2 Adolf Hitler, Mein Kampf, Mnchen 193214, S. 1.Herv. i. O.

    mailto:[email protected]:[email protected]
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    Wie lsst sich dies als grundlegende Aussa-ge einer politischen Philosophie verstehen?3Zunchst und ganz offensichtlich artiku-liert sich hier eine Obsession mit dem The-ma Rasse: Auenpolitik msse aus rassi-schen Notwendigkeiten erfolgen und nicht

    etwa aus wirtschaftlichen berlegungen;die Zugehrigkeit zu einer Nation werdedurch Blutsbande verliehen; die Grenzen ei-nes Staates sollten smtliche Angehrige derRasse einschlieen. Der Staat, so die deutli-che Schlussfolgerung, habe nicht den Interes-sen einer herrschenden Dynastie (dem Kaiseroder Knig) zu dienen, sondern den Bedrf-nissen einer Nation als Ganzes. Mit anderenWorten: Was hier eingefhrt wird, ist einepopulistische (im Gegensatz zu einer patri-zischen) Sicht auf Politik; Hitlers Politik, so

    verstehen wir sofort, ist neu.

    Die Aufgabe des Staates sei es darber hi-naus, die Angehrigen der Rasse zu ernh-ren und ist dies nicht lnger mglich, sohabe der Staat das Recht, eine Politik der Ex-pansion anzustrengen. Diese Expansion sollenicht etwa durch den Erwerb von Kolonienin bersee realisiert werden, sondern da-durch, Nachbarterritorien des Vaterlands zuerobern. Eine solche Expansion knne undmsse mit militrischen Mitteln erfolgen und

    werde die Basis fr die Lebensnotwendigkei-ten des Volkes sichern.

    Die Kernelemente aus Hitlers Philoso-phie werden also in den ersten zwei Abst-zen deutlich formuliert mit Ausnahme ei-ner ausdrcklichen Erwhnung von Juden.Im Verlauf nur weniger Seiten tauchen jedochauch erkennbar antisemitische Formulierun-gen auf, die fr jeden zeitgenssischen Leserunmittelbar als solche verstndlich waren.Das Buch enthlt also alles andere als den un-

    lesbaren Text, den gewhnliche Deutsche wieviele Historiker im Nachhinein behaupteten,darin zu sehen. Jeder, der nur wenige Seitendarin las, konnte deutlich erkennen, wofrdas Buch und sein Autor standen.

    Zugleich frustriert das Lesen Zeile frZeile, Abschnitt fr Abschnitt und Kapitelfr Kapitel. Das zusammenhanglose Prosa-werk ein Produkt der fragmentierten Ent-stehungsgeschichte des Textes, wie Othmar

    3 Die folgenden Gedanken nden sich ausfhrlichin: Neil Gregor, How to Read Hitler, London 2014.

    Plckinger ebenfalls zeigen konnte wirdnoch verschlimmert durch einen zweifellosuerst hlzernen Stil; in den Augen einerLeserschaft, die sich dem Text aus einer l ibe-ralen, demokratischen Perspektive widmet,verbindet sich dieser ein ums andere Mal mit

    extrem abstoenden und widerwrtigen Ide-en und macht die konventionelle Lektre desBuches von der ersten bis zur letzten Seite zueiner wahrhaft harten Arbeit.

    Die Schwierigkeit von Historikern, ausdem Buch schlau zu werden und sein zen-trales Argument zu dem in Beziehung zusetzen, was ab 1933 folgte, ist aber auch einProdukt der in der Profession selbst tief ver-wurzelten Lesegewohnheiten; diese ver-schrieb sich lange weitgehend einem positi-

    vistischen Ansatz mithilfe einer Textexegese,um den Text zu deuten. Wenn sie nur die Ge-duld aufbrchten, das Buch Zeile fr Zeileund Abschnitt fr Abschnitt zu lesen, so soll-te sich doch der Sinn offenbaren. Dieser istaber weitaus einfacher und auch um einigesdeutlicher zu erkennen, sobald man sich derAufgabe auf etwas andere Art nhert: nm-lich zuallererst, indem man dem Buch mitgrundlegenden Fragen begegnet, wie sie dieLiteraturwissenschaft (und weniger die tradi-tionelle Geschichtswissenschaft) stellt.

    Diese Fragen sind zahlreich, und sie betref-fen unter anderem die Sprache, die Metapho-rik und die Struktur eines Textes. Sprachlichgesehen liefert das extrem gewaltttige Voka-bular bereits einen Ausgangspunkt dafr, dietief greifenden Auswirkungen der Erfahrungdes Ersten Weltkrieges auf Hitlers politischeImagination zu verstehen und eine vlkermr-derische Mentalitt im Text zu entdecken. DieMetaphorik betreffend bietet das biologisch-medizinische Bild einer Nation als angegrif-

    fenem Krper die Basis, eine implizite vl-kermrderische Argumentation aufzudecken.Beides zusammen erffnet den Blick darauf,dass, auch wenn das Buch nicht unbedingt einbestimmtes Programm zum Genozid ankn-digt, es ihn als logische Mglichkeit enthlt.

    Mein Kampf als Geschichtsbuch

    Soll die Frage, wie viel sich allein auf derersten Seite des Buches erkennen lsst, wei-ter verfolgt werden, bietet sich vielleicht alsErstes die Frage nach dem Genre an: Was fr

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    ein Buch ist Mein Kampf? Welche Gen-re-Arten enthlt es? Zum einen wird MeinKampf auf der Eingangsseite, die gleichzei-tig die Hauptelemente von Hitlers politischerPhilosophie nennt, als Geschichtsbuch ange-kndigt. Wie lsst sich der zitierte Abschnitt

    als Auszug aus einem solchen Werk lesen?Auf der einen Seite enthlt der Abschnitt

    den Glauben an eine positive, mythische Ver-gangenheit. Indem er mit eindeutigen Wor-ten das Ziel ankndigt, die beiden deutschenStaaten (Deutschland und sterreich) wie-der zurck zu vereinen, spielen die erstenZeilen auf einen imaginierten historischenAugenblick nationaler oder ethnischer Ein-heit an, den Hitler so die eindeutige Im-plikation wiederherzustellen gedenkt. Der

    Autor bezieht sich permanent auf Bilder ei-ner positiven Vergangenheit seien es die ei-nes mittelalterlichen deutschen Reiches, derKriege Friedrichs des Groen oder der anti-franzsischen Begeisterung whrend der Na-poleonischen Kriege , um so den Kontrastzwischen der Strke und dem Zusammenhaltder deutschen Nation in der Vergangenheitund dem jngsten Niedergang und der ge-genwrtigen traurigen Lage herauszustellen.

    Der Anspruch auf eine Wiedervereinigung

    Deutschlands und sterreichs stellt eine deut-liche Zurckweisung des Versailler Vertragsdar, dessen Bestimmung, einen Zusammen-schluss der beiden Lnder zu untersagen, dieNationalisten nach 1919 aufhetzte. Zugleichmoniert Hitler indirekt die Art und Weise derdeutschen Reichsgrndung von 1871 mit sei-ner Forderung, alle Deutschen auf der Basisihrer Volkszugehrigkeit zu vereinen. Und inder Tat weisen ausfhrliche Passagen in Hit-lers Buch den Charakter einer ausgedehntenKritik des spten 19. Jahrhunderts auf an

    dem, was er als Deutschlands falsche Bnd-nispolitik und unrechtmiges Streben nachKolonien in bersee betrachtete.

    Die Eingangspassage beschrnkt sich je-doch in ihren Kommentaren nicht allein aufeine Ablehnung des handelsorientierten Ko-lonialismus, wie er vor dem Ersten Weltkriegpraktiziert wurde. Vielmehr drckt Hitlerhier die Ablehnung der generellen Auffas-sung aus, Staatspolitik msse sich an wirt-schaftlichen Erwgungen orientieren under hlt ausdrcklich fest, der Staat msse ge-willt sein, auch wirtschaftlichen Notwen-

    digkeiten zuwiderlaufende Entscheidungenzu treffen. Vieles in seinen Ausfhrungenist eine Kritik an den negativen historischenAuswirkungen der Industriellen Revolutionauf die politische Kultur in Deutschland undan der Entstehung einer kommerzialisierten

    Welt der Moderne. Zwar sind sie nicht auf derersten Seite genannt, doch Leserinnen undLeser mssen nicht lange warten, bis sie aufdiejenigen stoen, die Hitler fr diese Ent-wicklung verantwortlich macht: die Juden.

    Mein Kampf als Autobiograeund Bildungsroman

    Das Buch ist also nicht nur ein politisches,sondern auch ein Geschichtswerk. Noch

    wichtiger als dies ist jedoch die Tatsache,dass es sich selbst als Autobiograe ankn-digt und auch als solche aufgebaut ist wieder Titel und der erste Satz deutlich zeigen.Als (konventionell verstandene) Autobiogra-e oder Bericht der frhen Jahre der NSDAPist Mein Kampf notorisch unzuverls-sig. Grundlegende Fakten und Daten sindschlichtweg falsch. Aber wir sollten es auchnicht als Autobiograe im blichen Sinne le-sen; das Autobiograsche des Textes lsstsich nur verstehen, wenn wir einen Moment

    innehalten und die politischen Umstnde be-trachten, unter denen er geschrieben wurde sowie den Augenblick in Hitlers politischerKarriere zu dieser Zeit.

    Das rechtsextreme nationalistische Mili-eu, in dem Hitler und die Nazi-Bewegungzu Beginn der 1920er Jahre emporwuchsen,war zersplittert und von Konkurrenzkmp-fen um die Fhrung beherrscht. Nach demMnchner Putsch 1923 setzte sich die Zer-splitterung des rechten Randes der Gesell-

    schaft fort. Und noch im Anschluss an seinevorzeitige Haftentlassung Ende 1924 kmpf-te Hitler geraume Zeit um die Kontrolle berdie Mitglieder rivalisierender Fraktionen(mit eigenen Programmen und Zielen) inner-halb der Nazi-Bewegung. Zu der Zeit, als erMein Kampf schrieb, war Hitler also allesandere als der unangefochtene Fhrer der u-ersten Rechten, der er spter werden sollte.

    Mit diesem Wissen lsst sich erkennen, dassder autobiograsche Bericht mit seiner Be-tonung der Vorsehung und Bestimmung so-wie des Schicksals (letztere werden bereits im

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    ersten Satz genannt) einem eindeutig poli-tischen Ziel dient. Weit davon entfernt, einleidenschaftsloser Bericht ber Hitlers frheJahre zu sein, zeichnet er das Bild eines u-erst dynamischen, kompromisslosen undradikalen Charakters der extremen Rechten,

    um seinen Anspruch auf die Fhrerschaftin der Szene zu untermauern. Dies war ge-nau die Zeit, in der Hitlers Mythos als vor-bestimmter Fhrer Deutschlands Gestalt an-nahm; in diesem Licht besehen, erweist sichdie Umdeutung eines historischen Zufalls nmlich Hitlers Geburt in Braunau am Inn als das Symbol einer groen Aufgabe nichtblo als oberchliche poetische Ausschm-ckung, sondern als Beginn einer bewusst ge-stalteten Lebensdarstellung des Autors, beider alles auf die bernahme der Fhrungs-

    rolle im deutschen rechtsextremen Milieuund damit indirekt auch in der Nation hin-ausluft.

    Was das Lesen von Mein Kampf alsAutobiograe anspruchsvoll und zugleichberaus interessant macht, ist indes die Tat-sache, dass in diesem Text das Autobiogra-sche mit den Konventionen eines weiterenliterarischen Genres durchzogen ist, nm-lich denen des Bildungsromans. So unpas-send es erscheinen mag, den giftigen Text in

    einem Atemzug mit einer literarischen Tra-dition zu nennen, die zum Kanon der groendeutschen Literatur gehrt: Hitlers Berichtber zentrale Augenblicke seiner Einsichten,ber Offenbarungen, bedeutsame Entschei-dungen oder persnliche Wendepunkte lsstunmissverstndlich Charakteristika diesesGenres erkennen. Die berchtigte Darstel-lung seines ersten bewussten Kontakts miteinem Juden ist ein solcher Moment eben-so wie die Beschreibung des Augenblicks sei-ner Entscheidung, in die Politik zu gehen, als

    er 1918 vom Zusammenbruch der deutschenArmee erfuhr.

    Das fhrt uns zu der zentralen Frage, de-ren Antwort die Geschichtswissenschaft bisheute schuldig geblieben ist, deren sorgfl-tige berlegung aber im Hinblick auf dieverschiedenen Qualitten der Lesbarkeitdes Textes fr Zeitgenossen im Vergleich zuder fr uns heute zweifellos lohnt: Inwie-weit waren der Text und seine Argumenta-tion fr ein Publikum, das die Konventionensolcher literarischer Formen aufgrund ih-rer alltglichen Lesegewohnheiten erkannte

    und verstand, zugnglich und nachvollzieh-bar und zwar auf eine Weise, die uns, diewir nicht oder nur noch bedingt mit dieserArt Literatur vertraut sind, vielleicht nichtmehr mglich ist? Mit anderen Worten: Inwelcher Weise schufen die Ressourcen des

    kulturellen Kapitals (nicht notwendigerwei-se beziehungsweise nicht nur einer Elite) frHitlers Zeitgenossen ganz andere Bedingun-gen, sich mit dem Buch auseinanderzusetzenund seine Argumentation zu verstehen? Botder Text seinerzeit bedeutsame andere For-men der Lesbarkeit als die, die wir heute er-kennen? Indem wir versuchen, die beson-deren Perspektiven historischer Leser diemit den genannten spezischen Lesekultu-ren des ausgehenden 19. und beginnenden20. Jahrhunderts vertraut waren einzuneh-

    men, knnte sich eine ganz andere Sicht aufdie Rezeption und die historische Wirkungdes Textes ergeben als jene, nach der wir alsHistoriker bisher gesucht haben.

    Historisierung von Mein Kampf

    Wenngleich die wachsende historische Dis-tanz zur Lesekultur des frhen 20. Jahrhun-derts uns einerseits manche Aspekte des Tex-tes schwerer verstehen lsst, so ermglichst sie

    uns andererseits vielleicht auch, einiges klarerin den Blick zu nehmen. Betrachten wir daherals Beispiel den folgenden Satz:

    Bei der revolutionren und sittlichenDurchseuchung des ganzen Volkskrpersund bei der wirtschaftlichen Zerrttung desBauernstandes ist vorlug nicht abzusehen,aus welchen Elementen eine wiederbeleben-de Kraft emporwachsen soll, die zur Gesun-dung fhrt.

    Er enthlt alles, was uns an der Sprachevon Mein Kampf auffllt: eine schlechte,zusammengewrfelte Metaphorik, die unszwingt, uns auf den seltsamen Stil einzustel-len, den wir alle zu unserem Leidwesen ken-nen, und eine Mischung aus biologischenund medizinischen Bildern (die Durchseu-chung beziehungsweise Gesundung desVolkskrpers). Gleichzeitig wird hier pa-rallel mit den Sprachen der Biologie (Krper)und Politik (Revolution) gearbeitet sowie miteinem konservativen Moraldiskurs; hier of-fenbart sich die Fhigkeit, nicht nur von Satzzu Satz verschiedene linguistische Register

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    zu ziehen, sondern selbst innerhalb eines Sat-zes. Nicht zuletzt ist da die restaurative Spra-che, die als Ausdruck einer Sprache der Palin-genese oder Wiedergeburt betrachtet werdenkann.4

    So weit, so bekannt mit dem bedeutsamenUnterschied, dass dieser Satz nicht aus MeinKampf stammt, sondern aus Friedrich vonBernhardis Deutschland und der nchsteKrieg aus dem Jahr 1911.5 Betrachtet mandie sprachliche Nhe von Mein Kampf zuTexten wie diesem und damit die Einbet-tung von Hitlers Buch in einen, an der Wendevom 19. zum 20. Jahrhundert vorherrschen-den Diskurs und dazu die groe Anzahlintertextueller Referenzen zu anderen Wer-ken der Jahrzehnte vor seinem Erscheinen, so

    lsst sich ermessen, wie weitgehend sich un-ser Ansatz beim Nachdenken ber die Rol-le des Buches in der Geschichte Nazideutsch-lands im Laufe einer Generation vernderthat.

    Vor rund 30 Jahren auf dem Gipfel derDebatte zwischen Intentionalisten undStrukturalisten bestand das Problem in derFrage, inwieweit dieses Buch als eines, dasGeschichte schrieb, gelten kann. Einerseitsgab es diejenigen, die darin eine Reihe ein-

    deutiger Rezepte fr Krieg und Vlkermorderblickten; auf der anderen Seite gab es jene,die in der Unbestimmtheit des Textes in sei-nen offensichtlichen Widersprchen, seinerweitschweigen Inkohrenz ein Indiz da-fr sahen, dass er als alles andere als das zu le-sen war. Ich mchte an dieser Stelle die Thesewagen, dass die gewachsene zeitliche Distanzuns heute erlaubt zu sehen, dass beide Argu-mentationslinien auer Acht lassen, was denText vor allem interessant macht.

    Wenn die seit der genannten Debatte ver-gangenen drei Jahrzehnte zu einer zentra-len Verlagerung in der Sensibilitt gegen-ber dem Text gefhrt haben, dann zu der,dass wir bei der Hervorhebung der Einzig-artigkeit des Dritten Reiches weitaus um-sichtiger geworden und heute viel eher bereitsind, darber nachzudenken, inwieweit derText nicht erkenntnisbringender als Teil einer

    4 Vgl. Roger Grifn, The Nature of Fascism, London

    1991.5 Friedrich von Bernhardi, Deutschland und dernchste Krieg, StuttgartBerlin 19176, S. 101 f.

    breiteren Geschichte der Gewaltherrschaft,die das 19. und 20. Jahrhundert bestimmte,verstanden werden sollte.6 Eine bis dahinstillschweigend als auerhalb der Geschich-te angesiedelt betrachtete Epoche wrde da-mit in vielerlei Hinsicht in ihren historischen

    Kontext gestellt. So gibt es heute vergleichen-de Studien zum Vlkermord wie auch An-stze, die den Holocaust in einen weiter ge-fassten Kontext kolonialer Gewaltherrschaftstellen;7 es gibt Zusammenhnge, die berbiopolitische Technologien in der Modernenachdenken; wir haben die Mglichkeit, dasSystem der Konzentrationslager im Kontexteiner tiefer greifenden Geschichte von Stra-fe, Arbeit, Disziplin und Ordnung zu verste-hen und Weiteres mehr.

    Die Entstehung dieser verschiedenen Be-zugsrahmen, die selbstverstndlich keines-wegs alle im selben Mae von allen Histo-rikern akzeptiert werden, bildet den Kerneiner lautlosen Historisierung des DrittenReiches einer Historisierung, die im Ge-genzug nach einer Historisierung von MeinKampf ruft. Sie wiederum erfolgt am ehes-ten nicht etwa dadurch, dass untersucht wird,inwieweit der Text selbst Geschichte be-wirkthaben knnte, sondern vielmehr, dassber die zahlreichen geschichtlichen Aspek-

    te nachgedacht wird, die durch den Text hin-durch wirken.

    Jedes Mal, wenn man den Text liest, lassensich neue intertextuelle Bezge erkennen: zuShakespeare, zu Clausewitz, zu Goethe. ObHitler diese Autoren tatschlich gelesen hat,ist dabei weit weniger interessant als die Tat-sache, dass solche Bezge uns fr den Ge-danken sensibilisieren, dass eine Vielfalt ver-schiedener Diskurse das Buch durchzieht.Mit Blick auf das Thema Antisemitismus n-

    den wir zunchst neben der rassistisch-biolo-gischen Rhetorik, die wir mit dem Holocaustverbinden, sowohl eine starke sprachlichePrsenz des christlichen Antijudaismus alsauch die historisch geerbte Sprache eines

    6 Jngste und interessante berlegungen dazu n-den sich bei Richard J. Evans, The Third Reich inHistory and Memory, London 2015.7 Vgl. Jrgen Zimmerer (Hrsg.), Von Windhuk nachAuschwitz? Beitrge zum Verhltnis von Kolonialis-mus und Holocaust, Berlin u. a. 2011; zuletzt und kri-

    tisch gegenber der These einer Kontinuittslinie JonasKreienbaum, Ein trauriges Fiasko. Koloniale Konzen-trationslager im sdlichen Afrika, Hamburg 2015.

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    konomischen Ressentiments; hinzu kommteine antisemitische Sprache, die zumindesteine britische Leserschaft an Neurosen desviktorianischen und edwardianischen Zeit-alters hinsichtlich Prostitution und morali-schen Verfall erinnert.

    Desgleichen sind die Sprachen des Na-tionalismus, die Hitler einbezieht, durch-aus vielfltiger Natur: Da gibt es etwa denAntislavismus an der Wende vom 19. zum20. Jahrhundert, der in Teilen die antibol-schewistische Rhetorik untermauert, sichbisweilen aber auch unabhngig davon ar-tikuliert. Sodann ist ein Element des gro-deutschen Nationalismus zu vernehmen,der sich auf Vorstellungen aus der Mitte des19. Jahrhunderts bezieht, aber auch auf einen

    unverhohlenen Pangermanismus der Jahr-hundertwende. Und was einen beim wieder-holten Lesen von Mal zu Mal strker auffllt,ist der abgrundtiefe antifranzsische Natio-nalismus, der sich nahezu vollkommen ausder blichen antifranzsischen Sprache des19. Jahrhunderts speist. Da sind die Wach-rufe der napoleonischen Kriege und die Be-schwrungen der Wacht am Rhein wie desKrieges von 1870 und selbst die Berichteber den Ersten Weltkrieg folgen dieser ArtRhetorik. Und wieder offenbaren sich auch

    diese Bezge nahezu sofort: Die beiden na-tionalistischen Mrtyrer der napoleonischenKriege beziehungsweise der franzsischenBesatzung des Ruhrgebiets, Johannes Palmund Leo Schlageter, werden gleich auf Seite 2genannt.

    So ndet sich in dem Text ein Konglomerataus einer Vielzahl nationalistischer, rassisti-scher, militaristischer und kolonialistischerDiskurse, die whrend des 19. und frhen20. Jahrhunderts in der deutschen Gesell-

    schaft kursierten. Als allumfassende rhetori-sche Struktur knnen wir dann die Geschich-te als Aufstieg und Fall von Zivilisationenausmachen. Sie erinnert nicht nur an denPangermanisten und Antisemiten HoustonStuart Chamberlain,8 sondern an die allge-mein verbreitete Denkweise des 19. Jahrhun-derts ber den historischen Wandel (ei-nem, der nicht nur dem Erhalt verschiedenerStrnge der Rechten diente); die Geschichteals Kampf zwischen verschiedenen Arten

    8 Vgl. u. a. Houston Stuart Chamberlain, Grundla-gen des 19. Jahrhunderts, Mnchen 1899.

    der an Darwin und die gesamte Traditionnaturwissenschaftlichen Denkens erinnert;und nicht zuletzt bekrftigt die Sicht auf dieRolle des Staates und der relativen Vorzgekonomischer und militrischer Expansions-bestrebungen das Denken eines Heinrich von

    Treitschke.So wie in dem Text moderne Diskurse der

    Eugenik widerhallen, durchzieht ihn sprach-lich eine uerst romantische Note diehoffnungslos unbeholfenen und rhrseligenPersonikationen des Schicksals, des Todesund der Geschichte selbst erinnern nicht nuran die Sprache schlechter Amateurdichtung,sondern auch an die personizierenden Bil-der vom Schicksal, die Musen (was immer siesein mgen), die Hitler auf den riesigen Lein-

    wnden in der Alten und Neuen Pinakothekin Mnchen gesehen haben wird. Gewiss ent-hlt der Text einige auffallende Bilder, die ei-nen dazu verleiten, strker ber die Aspektein Hitlers Sozialisation und Alltagserfahrun-gen nachzudenken, die ihm solche Bilder mitauf den Weg gaben.

    Kurz: Mein Kampf ist ein uerst viel-stimmiger Text. Und nun? Frher wurdeeine solche Vielstimmigkeit schlicht als Zei-chen der Inkohrenz, als Schwche gewer-

    tet und als solche gewiss, wenn es darumgeht, in dem Buch einen Schlssel fr denVerlauf des Holocaust zu sehen. Vielleicht istes aber heute mglich, diese Vielstimmigkeitzum Ausgangspunkt fr ein Nachdenkenber das Gegenteil zu nehmen: ber die um-fangreichen Mobilisierungskapazitten desNationalsozialismus insgesamt sowohl vorals auch nach 1933. Wenn die jngsten Studi-en ber regionale und lokale Erscheinungs-formen des Nationalsozialismus und seineFhigkeit, Gemeinschaften zu bilden, eines

    gezeigt haben, dann dies: Whrend der ge-samten Zeit zirkulierte eine groe Bandbrei-te nationalistischer, imperialistischer, ras-sistischer, militaristischer und autoritrerSprachmuster, die zwar im Einzelnen biswei-len in Konikt miteinander gerieten, dochebenso oft einfach nebeneinander existierten.Und ebendiese Vielfalt, diese endlose, lokaleund situative Sprachbeugung die Fhigkeit,sich in verschiedenen Momenten ganz unter-schiedlich zu prsentieren fhrte ihm unterden gesellschaftlich so verschiedenen Wahl-kreisen in Deutschland zu Beginn der 1930erJahre derart viele Stimmen zu.

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    Schluss

    Wie wir allmhlich verstehen, war der Na-tionalsozialismus in seinen lokalen Erschei-nungsformen offener, vielfltiger und di-verser als berkommene Denkmuster uns

    unterschwellig noch immer suggerieren. Ichmchte an dieser Stelle nur hervorheben, dasssich dies, diese Offenheit, Vielfalt und Diver-sitt, auch im Text Mein Kampf widerspie-gelt und dass uns dies ermglicht, auf etwasandere Art und Weise und so mglicherwei-se produktiver darber nachzudenken, wieIdeologie in diesem historischen Kontextwirkt. Schlielich hat man es sich nur allzuleicht damit gemacht, Mein Kampf als ei-nen Text zu konstruieren, der seine Quellenjenseits der deutschen Geschichte gefunden

    haben soll; Arbeiten ber Hitlers intellektu-elle Einsse wie seitens eines Jrg Lanz vonLiebesfels9und anderer Randguren schei-nen mir in dieser Hinsicht an einer solchenKonstruktion mitzuwirken.10

    Wenn wir stattdessen Hitlers Text als ei-nen betrachten, der von im 19. Jahrhundertweit verbreiteten Diskursen hervorgerufenwurde, dann bedarf auch die Frage nach demUmgang mit der Schrift nach Ablauf des Ur-heberrechtsschutzes einer vernderten Dis-

    kussion. Die Antwort kann durchaus darinliegen, dass wehrhafte Demokratien in ei-ner symbolischen Geste solche Texte ban-nen sollten; symbolische Gesten haben ihrenSinn. Andererseits scheint das Verbot des Bu-ches mittels eines gesonderten, symbolischenGesetzes, einem lex Mein Kampf sozusa-gen, fragwrdig insofern, als dieser Akt desideologischen othering die Vorstellung be-strken wrde, die abscheuliche Sprache lieesich einfach unter Quarantne stellen. Dieserberuhigende Gedanke wird jedoch brchig,

    wenn wir uns die vielen Diskursstrnge inMein Kampf vergegenwrtigen und erken-nen, dass uns diese bekannter und etabliertervorkommen, als wir gerne htten.

    9 Vgl. Wilfried Daim, Der Mann, der Hitler die Ide-en gab. Jrg Lanz von Liebenfels, Mnchen 1958.10 Vgl. Brigitte Hamann, Hitlers Wien. Lehrjahre ei-

    nes Diktators, Mnchen 1996.

    Andreas Wirsching

    Hitler, Mein Kampf.Eine kritische Editiondes Institutsfr Zeitgeschichte

    Andreas Wirsching

    Dr. phil., geb. 1959; Profes-sor fr Neuere und NeuesteGeschichte an der Ludwig-Maximilians-UniversittMnchen; Direktor des Institutsfr Zeitgeschichte, Leonrod-strae 46b, 80636 [email protected]

    Hitlers Schrift Mein Kampf, die er inzwei Teilen, 1924 in der Landsberger Fes-tungshaft und 1926 auf dem Obersalzberg, ver-fasste, ist seit jeher einReizthema. Die Schrift

    erschien im Eher-Verlag, dem Haus-verlag der NSDAP.1Nach Ende des Zwei-ten Weltkrieges ber-trug die amerikani-sche Besatzungsmachtdas Vermgen sowiedie Urheberrechte anden Publikationen des Verlages dem FreistaatBayern beziehungsweise dem Bayerischen Mi-nisterium der Finanzen. Mit dem Hinweis auf

    diese Rechtslage hat der Freistaat Bayern eineWiederverffentlichung von Mein Kampf inDeutschland bis heute unterbunden. Dies warsolange kein Problem, wie das Urheberrechtfortgalt, nmlich bis 70 Jahre nach dem Toddes Autors. Im Falle Hitlers luft diese FristEnde 2015 ab. Vom 1. Januar 2016 an ist MeinKampf gemeinfrei.

    Dass die Materie eine hochpolitische, auchauenpolitisch relevante Dimension besitzt,ist unstrittig und keineswegs eine neue Er-

    kenntnis. Klar ersichtlich wird sie zum Bei-spiel schon im Umgang mit Hitlers ZweitemBuch, in dem der sptere Diktator sein lang-

    1 Umfnglich zur Entstehungs- und Rezeptionsge-schichte: Othmar Plckinger, Geschichte eines Bu-ches: Adolf Hitlers Mein Kampf 19221945, Mn-chen 2006, sowie knftig die Einleitung zu: Hitler,Mein Kampf. Eine kritische Edition, hrsg. im Auf-trag des Instituts fr Zeitgeschichte von ChristianHartmann/Thomas Vordermayer/Othmar Plckin-ger/Roman Tppel, Mnchen 2016 (i. E.). Im Folgen-

    den wird Mein Kampf nach der originalen Pagi-nierung der Erstausgabe zitiert, die in dieser Editionwiedergegeben wird.

    mailto:[email protected]:[email protected]
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    fristiges Ziel der bewaffneten Eroberung vonLebensraum im Osten ausfhrlich begrn-det. Dieses von Hitler 1928 verfasste, damalsunverffentlichte Manuskript wurde 1958von dem Historiker Gerhard Weinberg inden USA wiederentdeckt. Mit dem ausdrck-

    lichen Einverstndnis des Freistaats Bayernpublizierte das Institut fr Zeitgeschichte dieSchrift, und zwar wesentlich von dem Ge-danken geleitet, durch eine wissenschaftlichekritische Edition einem ffentlichen Mi-brauch vorzubeugen.2 Als nun die Frageentstand, ob eine englische Lizenz- und da-mit deutscherseits autorisierte Ausgabe derSchrift opportun sei, uerte das AuswrtigeAmt Bedenken: Jeder Eindruck einer deut-schen amtlichen Mitwirkung an der Publi-kation in den USA sei zu vermeiden, denn es

    bestehe die Gefahr, da bei einem Teil deramerikanischen ffentlichkeit der Eindruckentsteht, die Verbreitung des HitlerschenManuskripts geschehe unter amtlicher deut-scher Frderung, was zu Mideutungen An-la bieten knnte.3Hitlers Zweites Bucherschien daher in den USA zunchst nur alsunautorisierte Ausgabe. 1995 gab der Frei-staat Bayern erneut die Zustimmung zu einerausfhrlich kommentierten deutschen Neu-verffentlichung im Rahmen der vom Institutfr Zeitgeschichte besorgten groen Edition

    von Hitlers Reden, Schriften, Anordnungen19251933. Allerdings wurde dieses Mal derTitel (Hitlers Zweites Buch) als politischproblematisch betrachtet und durfte dement-sprechend nicht verwendet werden.4

    Wie ein Vorgriff auf die aktuelle Diskus-sion um Mein Kampf wirkt diese Episo-de, allerdings mit dem Unterschied, dass das

    2 Martin Broszat an das Auswrtige Amt, 9. 11. 1961,in: Akten zur Auswrtigen Politik der Bundesrepu-blik Deutschland 1962, Bd. I (1. Januar bis 31. Mrz1962), hrsg. im Auftrag des Instituts fr Zeitge-schichte von Horst Mller/Klaus Hildebrand/GregorSchllgen, Mnchen 2010, Dok. 76, S. 399, Anm. 2.Das Buch erschien unter dem Titel: Gerhard L. Wein-berg (Hrsg.), Hitlers Zweites Buch. Ein Dokumentaus dem Jahr 1928, Stuttgart 1961.3 Ministerialdirektor von Haeften an das BayerischeStaatsministerium der Finanzen, 15. 2. 1962, in: Ak-ten (Anm. 2), Dok. 76, S. 400.4 Es erschien unter dem Titel: AuenpolitischeStandortbestimmung nach der ReichstagswahlJuniJuli 1928, eingeleitet von Gerhard L. Weinberg,

    hrsg. und kommentiert von Gerhard L. Weinberg/Christian Hartmann/Klaus A. Lankheit, Mnchen1995.

    Instrument des Urheberrechts knftig nichtmehr zur Verfgung stehen wird. Vor diesemHintergrund stellt sich umso nachdrckli-cher die Frage nach Sinn und Zweck, Ergeb-nissen und Problemen einer kritischen Edi-tion von Mein Kampf. Das Institut fr

    Zeitgeschichte bereitet eine solche Editionseit Lngerem vor, wird sie im Januar 2016publizieren und der ffentlichkeit vorstel-len. Im Folgenden wird es erstens um diesachliche Notwendigkeit einer solchen Editi-on gehen, zweitens um ihren Zuschnitt undihre wesentlichen Zielsetzungen. Ein dritterGedankengang gilt einigen spezischen Pro-blemen im Kontext der ffentlichen Debatteum dieses Projekt.

    Sachliche NotwendigkeitDie sachliche Notwendigkeit einer kritischund umfassend kommentierten Neuausga-be von Hitlers Mein Kampf ergibt sichin erster Linie aus dem Quellenwert derSchrift. Auf den ersten Blick widersprichtdiese Feststellung dem weitverbreiteten Ur-teil, das Buch sei langweilig, verquast, wirr,schlecht geschrieben, ja geradezu verrckt.Schon zeitgenssische Kritiker wie An-dreas Andernach, der 1932 ein Buch ber

    Hitler ohne Maske verfasste, gingen ver-hltnismig wenig auf die Inhalte des Bu-ches ein. Stattdessen labten sie sich an derPolemik gegen den in ttender Langewei-le, mit endlosen Wiederholungen zu le-senden Heilsarmee-Sermon.5 Gleichsamstilbildend geworden ist das Urteil OttoStraers aus dem Jahr 1940, Hitlers politi-schem Gegner auf der extremen Rechten:Alles zusammen war im Stil eines Sch-lers der sechsten Volksschulklasse geschrie-ben ein grssliches Chaos von Gemein-

    pltzen, Schlerreminiszenzen, subjektivenUrteilen, persnlicher Gehssigkeit.6Undnimmt man beide Argumente zusammen einerseits ein langweiliges, inhaltlich ver-quastes Buch, andererseits kaum jemand,der es sich antun wrde, dieses Buch zu le-sen , dann kann man sich fragen, ob dieganze Aufregung um das Thema nichtleicht bertrieben ist.

    5 Andreas Andernach, Hitler ohne Maske, Mnchen

    1932, S. 2326, hier: S. 23.6 Otto Straer, Hitler und ich, Buenos Aires 1940,S. 59.

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    Aber eine solche Auffassung wrde in ge-radezu fahrlssiger Weise fortsetzen, wasder Historiker Karl Dietrich Bracher schonvor Jahren in den vielzitierten Satz kleide-te, die Geschichte Hitlers sei die Geschichteseiner notorischen Unterschtzung. Jeden-

    falls entsprche eine blasierte Haltung, diedie Auseinandersetzung mit Hitlers Senten-zen als intellektuelle Zumutung und gleich-sam unter der Wrde des eigenen Bildungs-niveaus liegend empfnde, dem gleichenfatalen Fehler, den schon die zeitgenssi-schen Eliten der Weimarer Republik begin-gen: Sie nahmen Hitler zunchst nicht ernst,suchten sich sodann seiner propagandisti-schen Erfolge zu bedienen, um am Ende vonihm selbst benutzt, desavouiert und abser-viert zu werden.

    Tatschlich muss Mein Kampf in demMa ernst genommen werden, in dem dasBuch den wichtigsten Zugang zu HitlersDenken und seiner Biograe erffnet. Anunzhligen Stellen offenbart Hitler seinemenschenverachtende Ideologie und auf ih-rer Basis eine in erschreckender Form per-vertierte, geradezu verbrecherische Ratio-nalitt, die freilich zu einem wesentlichenBedingungsfaktor des NS-Regimes wurde.Hiermit muss man sich auseinandersetzen,

    und das gilt auch dann, wenn die Botschaftin sprachlich limitierter und in der Gedan-kenfhrung lngst nicht immer geradlinigerWeise prsentiert wird. Im Folgenden seiendrei Beispiele genannt.

    Hitler beginnt sein ideologisches Schls-selkapitel ber Volk und Rasse mit derskurrilen Wendung: Es liegen die Eier desKolumbus zu Hunderttausenden herum,nur die Kolumbusse sind eben seltener zunden.7Im Prinzip bruchte so ein Satz gar

    nicht ins Lcherliche gezogen zu werden; be-sttigt er nicht vielmehr das allseits bekannteUrteil: schlecht geschrieben, verquast? Liestman indes weiter, so verndert sich das Bild.Nach einigen weiteren, stilistisch indiskuta-blen Sentenzen Meise geht zu Meise, Finkzu Fink, der Storch zur Strchin, Feldmauszu Feldmaus, Hausmaus zu Hausmaus, derWolf zur Wln usw.8 erfhrt man sehrbald, was Hitler antreibt. Da ist die Rede

    7

    Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition (Anm. 1),Bd. 1, [S. 300].8 Ebd.

    von der Natur, einem in ihr wirksamenehernen Grundgesetz, einer natrlichenAbgeschlossenheit der Arten.9 Und Hit-ler spricht auch davon, dass die Natur denVersto gegen ihr ehernes Gesetz sanktio-niert und zwar durch den Raub der Wider-

    standsfhigkeit gegen Krankheit oder feind-liche Angriffe.10

    Hitler schpft also auf seine Weise ausdem wissenschaftlichen, vor allem aber ausdem populr- und pseudowissenschaftli-chen Kenntnisschatz seiner Zeit. Und er tutetwas, was die Sozialdarwinisten aller Cou-leur tun: Er bertrgt Naturgesetze und sol-che, die er dafr hlt, auf den Menschen, dieMenschheitsgeschichte und die menschlicheGesellschaft. Schon an dem zitierten Aus-

    schnitt kann man erkennen, wohin das fhrt.Das mit den Eiern des Kolumbus begonne-ne Kapitel fhrt von der Hausmaus und ihrerAbschlieung gegen die Feldmaus bis zumGegensatz der Rassen und hier von Ari-ern und Juden und ihrem ewigen, durchein ehernes Naturgesetz determinier-ten Kampf in der Geschichte. Und wer ge-gen dieses Naturgesetz verstoe, werde seineWiderstandsfhigkeit gegen feindliche An-griffe oder gegen eigene Krankheiten verlie-ren. Das Nrnberger Blutschutzgesetz von

    1935 und der hierin statuierte Straftatbestandder Rassenschande stehen dann am Endedieser Argumentationskette. Das heit aber:Die Eier des Kolumbus offenbaren ein ent-scheidendes Merkmal des nationalsozialisti-schen Ideologiekerns. Nach 1933 werden Hit-lers Vorstellungen ber die Natur und ihreehernen Grundgesetze zum staatlichen Pro-gramm mit allen seinen brutalen Folgen.

    Ein weiteres Beispiel betrifft Hitlers For-derung, da defekten Menschen die Zeu-

    gung anderer ebenso defekter Nachkommenunmglich gemacht wird.11 Indem Hitlerin der Umsetzung dieser Forderung die hu-manste Tat der Menschheit sieht, die Milli-onen von Unglcklichen unverdiente Leidenersparen wird, knpft er an die internatio-nal gefhrte eugenische Diskussion an. Hit-ler stellt sich hier eindeutig auf die Seite derer,die eine Zwangssterilisierung von krper-lich und geistig Behinderten befrworteten.

    9

    Ebd.10 Ebd.11 Ebd., [S. 270]. Nachfolgendes Zitat ebd.

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    Nach 1933 wurden die entsprechenden Ma-nahmen im Dritten Reich mit den bekann-ten Folgen umgesetzt. Vergleichbare Kon-tinuitten, in denen Hitlers Mein Kampfnur eine Stimme unter vielen reprsentierte,die aber im NS-Regime in eine menschenver-

    achtende und mrderische Praxis mndeten,lassen sich am Beispiel der Euthanasie undder Vernichtung lebensunwerten Lebensnachweisen.12

    Ein drittes und letztes Beispiel ergibt sichaus Hitlers vernichtender Kritik an der Au-enpolitik des Kaiserreiches, die er unter dasLeitmotiv der Germanisierung stellte. Ins-besondere wandte er sich gegen die lang ge-hegte Vorstellung, man knne nichtdeutscheBevlkerungsteile durch eine aktive Sprach-

    politik fr das deutsche Volkstum gewinnen.Gerade in der Zurckweisung solcher kultu-reller Germanisierungs-Bestrebungen, wiesie aus dem Kaiserreich bekannt waren, offen-bart sich Hitlers rassenideologisches Denken.Der Versuch einer kulturellen Germanisie-rung bilde den Beginn einer Bastardierungund damit in unserem Fall nicht eine Ger-manisierung, sondern eine Vernichtung ger-manischen Elementes. Man msse sich klardarber werden, da Germanisationnur anBoden vorgenommen werden kann und nie-

    mals an Menschen.13

    Diese Vorstellung ber die Germanisie-rung des Bodens war ein integraler Be-standteil der sozialdarwinistischen Ideedes Lebensraums, den die Deutschenmit Waffengewalt im Osten zu erobern dasRecht htten. Hitler hat an dieser Vorstel-lung konsequent bis in den Zweiten Welt-krieg hinein festgehalten. Am 3. Februar1933, kurz nach seiner Ernennung zumReichskanzler, deklamierte er, die Aus-

    weitung des Lebensraumes des deutschenVolkes wird auch mit bewaffneter Hand er-reicht werden Das Ziel wrde wahrschein-lich der Osten sein. Doch eine Germani-sierung der Bevlkerung des annektiertenbezw. eroberten Landes ist nicht mglich.

    12 Siehe den Klassiker Karl Binding/Alfred Hoche,Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Le-bens. Ihr Ma und ihre Form, Leipzig 1920. Vgl. Hit-ler, Mein Kampf. Eine kritische Edition (Anm. 1),

    Bd. 1, Kap. 4, Anm. 48.13 Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition, Bd. 2,[S. 19]. Herv. i. O.

    Man kann nur Boden germanisieren.14Auch knftig blieb das Ziel der Germa-nisierung durch die weitgehende Vertrei-bung oder Vernichtung der einheimischenBevlkerung ein ebenso konsistentes wiekonstantes Motiv in den berlieferten Hit-

    ler-uerungen. In einer Unterredung mitder Reichswehrspitze vom 5. November1937 bekannt durch die Hobach-Nie-derschrift denierte Hitler die deutscheZukunft als ausschlielich durch die L-sung der Raumnot bedingt. Dabei hand-le es sich nicht um die Gewinnung vonMenschen, sondern von landwirtschaftlichnutzbarem Raum.15Am Beginn des Zwei-ten Weltkrieges forderte Hitler, jenseits derbisherigen deutschen Grenze sei ein brei-ter Grtel bislang polnischen Territoriums

    der Germanisierung und Kolonisierungzuzufhren.16 Und in seiner bekanntenAnsprache an die Oberbefehlshaber vom23. November 1939 legte Hitler seine Zielein einer Deutlichkeit dar, die wie ein fernesEcho auf Mein Kampf klingt: Die stei-gende Volkszahl erforderte grsseren Le-bensraum. Mein Ziel war, ein vernnftigesVerhltnis zwischen Volkszahl und Volks-raum herbeizufhren. () Es ist ein ewigesProblem, die Zahl der Deutschen in Ver-hltnis zu bringen zum Boden. Sicherung

    des notwendigen Raumes. Keine geklgelteGescheitheit hilf t hier, Lsung nur mit demSchwert. Ein Volk, das die Kraft nicht auf-bringt zum Kampf, muss abtreten.17

    Diese Beispiele zeigen, dass Hitlers MeinKampf eine zentrale historische Quelleist, die man keineswegs fr irrelevant erkl-ren sollte. Das gilt ganz besonders fr denZusammenhang zwischen ideologischemDenken, der Ausbung von Macht und derspteren Praxis des Zweiten Weltkrieges.

    Nirgendwo im NS-Regime ist Hitlers per-

    14 Zit. nach: Andreas Wirsching, Man kann nurBoden germanisieren. Eine neue Quelle zu Hit-lers Reden vor den Spitzen der Reichswehr am 3. Fe-bruar 1933, in: Vierteljahrshefte fr Zeitgeschichte,49 (2001), S. 517550, hier: S. 547.15 IMT. Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbre-cher vor dem Internationalen Militrgerichtshof.Nrnberg 14. November 1945 bis 1. Oktober 1946,Nrnberg 19471949, Bd. XXV, S. 406.16 Alfred Rosenberg. Die Tagebcher von 1934 bis

    1944, hrsg. u. kommentiert von Jrgen Matthus/Frank Bajohr, Frankfurt/M. 2015, S. 291 (29. 9. 1939).17 IMT (Anm. 15), Bd. XXVI, S. 329.

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    snliche Rolle, seine Handschrift als Dik-tator, deutlicher zu erkennen als im Willenzum Krieg, den er Deutschland und Europaaufzwang. In einer Mischung aus ideologi-schem Wahn, pervertiert-verbrecherischerRationalitt und brutaler Skrupellosigkeit

    entwickelte er ein Programm und hieltdaran bis zu seinem Ende fest. Die wichtigs-te Quelle fr die Entstehung dieser Kriegs-besessenheit ist Mein Kampf. Hitler nahmdabei das vor 1914 in Mitteleuropa bereitsvirulente vlkische Denken auf, adaptiertees in spezischer Weise und verarbeitete eszu einer neuen gedanklichen Synthese. Ras-senideologische Prmissen wie die berle-genheit der arischen Rasse, das Recht desStrkeren und die sozialdarwinistische Vor-stellung, das Bewegungsgesetz der Weltge-

    schichte sei der unaufhrliche Kampf undKrieg zwischen den Vlkern und Rassen,bildeten das Axiom fr Hitlers berzeu-gung, dass der Krieg um die Erweiterungvon Lebensraum in Osteuropa nicht nurein notwendiges, sondern auch jenseits allerRechtstraditionen legitimes Ziel sei.

    Zuschnitt und Zielsetzungen

    Einen kritischen Anspruch erhebt die Edi-

    tion von Mein Kampf in erster Linie durchihren Kommentar, der in diesem Zusammen-hang einen mehrfachen Zweck erfllt. So legtdie Edition, wo immer mglich, die Quellendes Hitlerschen Denkens offen. Dabei han-delt es sich nicht nur um eine Flle anony-mer Broschren- und Pamphletliteratur, son-dern auch um namentlich bekannte Autorenaus dem vlkisch-nationalistischen Spek-trum. Nicht selten lassen sich direkte An-leihen im Text von Mein Kampf nachwei-sen. Allerdings leistet der Kommentar noch

    etwas anderes, zumindest ebenso Wichtiges:Er macht nmlich transparent, welche To-poi Hitler aufnimmt, die schon lange vor ihmund ohne ihn im vlkischen Milieu existier-ten und gleichsam Allgemeingut gewordenwaren. Ob dies die behauptete Verweichli-chung und Verweibung der Gesellschaft imKaiserreich war,18 die Tiraden gegen Ras-senmischung und Rassenschande,19 derbrutale Antisemitismus oder vieles andere

    18

    Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition (Anm. 1),Bd. 1, [S. 297].19 Ebd., [S. 263].

    mehr: Hitler sog geradezu alle ihm erreich-baren vlkisch-rassistischen Denkgurenauf, um sie seinem Gedankengebude dienst-bar zu machen. Indem sie dieses verwand-te Gedankengut dokumentiert und zugleichzentrale ideologische Begriffe und ihre Tra-

    dition erlutert, kann die Kommentierungregelmig zeigen, wie tief der durch Hitlerinspirierte Nationalsozialismus in der deut-schen Gesellschaft und Kultur wurzelte. DerNationalsozialismus war eine parasitre Be-wegung und kam keineswegs von auen berdie deutsche Geschichte. Ganz im Gegenteil:Vielmehr integrierte er wesentliche Elemen-te der deutschen politischen Kultur, spitztesie zu und radikalisierte sie fr seine Zwecke.Mein Kampf ist hierfr das vielleicht wich-tigste Dokument.

    Hitlers Schrift ist durchzogen von glat-ten Lgen, huger aber von Halbwahrhei-ten, von Feindkonstruktionen und unge-schminkter Hasspropaganda, aber auch vonsubtilen Anspielungen. Zu den Aufgaben ei-nes kritischen Kommentars gehrt es daher,nicht nur sachliche Falschaussagen und Feh-ler zu berichtigen, sondern auch zustzlicheInformationen zu liefern, Anspielungen auf-zulsen und einseitige Darstellungen zu kor-rigieren. Schlielich bercksichtigt die Edi-

    tion des Instituts fr Zeitgeschichte auchdie Folgen des Hitlerschen Denkens, wennsie immer wieder darauf hinweist, welche1924/26 nur abstrakt gedachten und formu-lierten Ideologeme nach 1933 realisiert wur-den. Der Zusammenhang von menschenver-achtender Ideologie und verbrecherischer Tatwird damit unterstrichen.

    Hinzu kommt ein Weiteres: Neben derAusbreitung ideologischer Denkmuster istMein Kampf in seinem ersten Teil auch

    die umfassendste biograsche Informati-on, die wir ber Hitler besitzen. Allerdingsist es eine horrend stilisierte Autobiograe,die alles andere als eine getreue, objekti-ve Darstellung seiner Vita ist. Einmal mehrwird hierbei die Notwendigkeit des Kom-mentars deutlich: Denn angenommen, esgbe keinerlei andere Information ber Hit-lers Biograe als Mein Kampf dann wreder heutige Leser der Darstellung in diesemBuch gewissermaen auf Gedeih und Ver-derb ausgeliefert. Er msste gleichsam glau-ben, was darin steht, ohne ber eine kriti-sche Kontrolle zu verfgen.

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    Hitler verkrperte den sozialen Bankrottin seiner Biograe. Die Lebensleistung sei-nes Vaters eines sozialen Aufsteigers hat-te ihm ordentliche Startchancen gesichert.Er nutzte sie nicht und lernte infolgedessendas Wien der Vorkriegszeit von unten ken-

    nen. 1909 versiegten Hitlers Barmittel all-mhlich; zur persnlichen Notlage kamenTeuerung und Wohnungsnot. Entgegen derDarstellung in Mein Kampf ging Hitlerkeiner ausreichend regelmigen Ttigkeitnach, um sich zumindest notdrftig berWasser zu halten. Armenfrsorge und Ar-menkche, Wrmehallen und Obdachlosen-asyl waren die Konsequenz ein Ambiente,das mit der kleinbrgerlichen Geborgenheitdes Elternhauses schmerzhaft kontrastier-te. Dies war nicht das glitzernde Wien der

    Avantgarde, sondern das Wien der Einwan-derer, der Zukurzgekommenen, der Mnner-heimbewohner.20

    Hitler hat diese Deklassierungserfahrungso verarbeitet, wie es die meisten tun wr-den. Er hat sie vor sich selbst und vor ande-ren stilis iert sie verpuppt in einem Kokonaus Selbstgerechtigkeit und Selbstmitleid.Wien 1909 das sei fr ihn eine unend-lich bittere Zeit gewesen, so schreibt erim Januar 1914 an den Magistrat der Stadt

    Linz. Ich war ein junger unerfahrenerMensch ohne jede Geldhilfe und auch zustolz, eine solche auch nur von irgend je-mand anzunehmen geschweige denn zu er-bitten. () Zwei Jahre lang hatte ich keineandere Freundin als Sorge und Not, keinenanderen Begleiter als ewigen unstillbarenHunger. Ich habe das schne Wort Jugendnie kennen gelernt.21Vier der sechs Argu-mente in diesem Bericht sind nachweislichfalsch. Hitler hatte Geldhilfe erhalten, vonder Familie und durch seine Waisenrente;

    er war durchaus nicht zu stolz gewesen,solche Hilfe anzunehmen; und bei seinerTante hat er auch darum gebeten. Schlie-lich hatte Hitler eine materiell sorgenfreie

    Jugend. Sie bot ihm Miggang und Chan-cen. Ersteren hat er ausgelebt, letztere nichtgenutzt.

    20 Brigitte Hamann, Hitlers Wien. Lehrjahre einesDiktators, Mnchen 1996, S. 7.21 Hitler an den Magistrat der Stadt Linz, 21. 1. 1914,

    in: Eberhard Jckel/Axel Kuhn (Hrsg.), Hitler. Smt-liche Aufzeichnungen 19051924, Stuttgart 1980,Nr. 20, S. 55.

    Was Hitler 1914 in einer rein persnlichenAngelegenheit dem Linzer Magistrat mitteilt,schreibt er zehn Jahre spter auch in MeinKampf: Wien sei fr ihn die traurigste Zeitmeines Lebens gewesen und habe fnf Jah-re Elend und Jammer fr ihn bereitgehalten.

    Fnf Jahre, in denen ich erst als Hilfsarbei-ter, dann als kleiner Maler mir mein Brot ver-dienen mute; mein wahrhaft krglich Brot,das doch nie langte, um auch nur den ge-whnlichen Hunger zu stillen. Er war damalsmein getreuer Wchter, der mich als einzigerfast nie verlie.22 Faktisch verfgte Hitleraus der Waisenrente, der mtterlichen Hin-terlassenschaft sowie Zinsertrgen aus demspter auszuzahlenden vterlichen Erbe berMittel, die es ihm ermglichten, sein Daseinohne die Aufnahme einer regelmigen Ar-

    beit zu fristen.23

    Er war sich denn auch derSelbststilisierung seiner Biograe bewusstund suchte daher stets die Anonymitt, ausder er kam, zu bewahren und zu pegen.Als sein Halbneffe, William Patrick Hitler,1930 aus dem gemeinsamen Namen Kapitalzu schlagen suchte, soll Hitler einen Wut-anfall erlitten und gesagt haben: Die Leutedrfen nicht wissen, wer ich bin. Sie drfennicht wissen woher ich komme und aus wel-cher Familie ich stamme.24 Und soweit esihm mglich war, lie Hitler systematisch die

    Spuren seiner ersten drei Lebensjahrzehnteverwischen.

    Man sieht also: Die kritische Beschfti-gung mit Mein Kampf ist unentbehrlich,um die Stilisierung zu entlarven, die Hitlervornimmt, aber auch um zu erkennen, wo dieAntriebskrfte seiner Biograe lagen, die amEnde die Welt bewegten. Naiv ist dagegendie immer wieder geuerte Auffassung, derpolitisch aufgeklrte Leser brauche keinenwissenschaftlichen Kommentar, da er sich

    entweder ganz autonom das richtige Bild ma-chen knne oder sich der Text ohnehin selbstrichte. Ohne Kommentar bleibt der Leserdem, was Hitler in Mein Kampf schreibt,gewissermaen ausgeliefert. Um sich kri-tisch mit dem Text auseinanderzusetzen,braucht er eine Flle von Zusatzinformatio-nen, die ihm nur der selbst auf die Materie

    22 Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition (Anm. 1),Bd. 1, [S. 19].23

    Vgl. Ian Kershaw, Hitler 18891945, Mnchen2009, S. 37.24 Zit. nach: B. Hamann (Anm. 20), S. 76.

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    spezialisierte Wissenschaftler geben kann.Tatschlich gibt es wohl kein anderes histo-risches Dokument von hnlicher Bedeutungwie Mein Kampf, von dem behauptet wr-de, eine historisch-kritische Erschlieung seiberssig.

    Zur ffentlichen Debatte

    Der Grund dafr liegt darin, dass sich inder Diskussion ber Mein Kampf wissen-schaftliche, politische und moralische Ar-gumente berlagern, was nicht immer dieKlarheit der Anschauung frdert. Damitsind wir bei den politisch-kulturellen Pro-blemen, die das Projekt einer kritischen Edi-tion von Mein Kampf wohl unvermeid-

    lich im ffentlichen Raum touchiert und dieeine intensive Langzeitdiskussion erzeugen.Betont sei allerdings, dass die regelmigwiederkehrenden Wellen der ffentlichenDebatte bemerkenswert sachlich vonstat-tengingen. In Presse und Rundfunk gabes eine Vielzahl von differenzierten, auf-klrenden und vernnftig argumentieren-den Beitrgen. Die bekannten Methoden,um sich in der konomie ffentlicher Auf-merksamkeit durchzusetzen Zuspitzung,Polarisierung, Emotionalisierung, Skanda-

    lisierung wurden ganz berwiegend ver-mieden. Allerdings verweist die Diskussi-on auch auf einige problematische Trendsim hiesigen ffentlichen Umgang mit Hit-ler. Denn nicht selten ist dieser geprgt vonzwei gegenstzlichen Extremen, die beidedie kritisch-rationale Auseinandersetzungeher behindern als frdern.

    Das eine Extrem entspringt den fortbe-stehenden ngsten, im Umgang mit Hit-lers Hinterlassenschaft moralisch falsch zu

    handeln oder politische Fehler zu machen.Zwar erfordert das Thema dauerhaft einMaximum an geschichtspolitischem Fin-gerspitzengefhl. Aber die Diskussion umein Verbot von Mein Kampf zeigt, dassentsprechende ngste neue und unguteTendenzen zur Tabuisierung hervorbringenknnen. Wie dargelegt, ist das Buch einezentrale Quelle zur Geschichte des Natio-nalsozialismus. Die kritische Beschftigungmit ihm in irgendeiner Weise verhindernzu wollen, wre eine kurzsichtige Deckel-drauf-Politik. Sie leistete der (Re-)Mys-tizierung Hitlers gefhrlichen Vorschub

    und knnte den Eindruck suggerieren, Hit-ler be auch postmortal eine Art dmoni-scher Macht aus. Der historischen Einord-nung, Kontextualisierung, auch Erklrungseiner Wirkung wrde dies die Spitze ab-schneiden. Tabuisierung wrde daher das

    Gegenteil einer mndigen Auseinanderset-zung bewirken.

    Das andere Extrem liegt in der exzessi-ven Prsenz Hitlers (und auch seiner SchriftMein Kampf) in populren Unterhal-tungs- und Satireformaten. Sie verstrkensich durch die banale Erkenntnis des Hit-ler sells regelmig selbst. Ihre Eignungund Wirkung erscheinen aber problema-tisch. Tatschlich gab es ja im Nationalso-zialismus und im Verhalten Hitlers hu-

    g eine geradezu realsatirisch anmutendeSkurrilitt und entsprechend lcherlicheEntgleisungen. Das oben zitierte Wort vonden Eiern des Kolumbus gehrt dazu.Aber solche Skurrilitt verband sich in un-lslicher Weise mit Gewalt, Terror und demPostulat der Vernichtung. Zwar ist es leicht,die Skurrilitt von der Gewalt zu trennenund sie zum Gegenstand der Satire zu ma-chen. Hitlers Schnurrbart und Schfer-hund, seine Phonetik und Physiognomieeignen sich denkbar gut frs Amsement.

    Aber wenn Kabarettisten, Autoren und Fil-memacher groe Medienwirksamkeit erzie-len, verstrkt dies die Gefahr der Verharm-losung durch Banalisierung. Allzu raschdrohen Satire und vordergrndig spahaf-ter Umgang mit Hitler eine intellektuell an-strengendere Beschftigung mit dem Ge-genstand zu ersetzen.

    Natrlich wre die Behauptung vermes-sen, es knne in Deutschland nur den ei-nen, den richtigen ffentlichen Umgang

    mit Hitler geben. Aber ein gewisses Ma anaufklrerischem Ernst darf und muss manerwarten. Andernfalls wrde Hitler ein-mal mehr unterschtzt. Um jeden Anscheineiner gleichsam postmortalen kulturellenHerrschaft Hitlers zu vermeiden, mssendaher seine Demagogie entziffert, seine Er-folge erklrt und die hinter ihnen stehendengesellschaftlich-kulturellen Antriebskrftestudiert werden. Dies bleibt fr die Deut-schen eine Daueraufgabe: in der Wissen-schaft, in den Medien und auch in der Po-litik. Dies ist die Voraussetzung fr einenmndigen Umgang mit Hitlers fatalem Erbe

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    und zugleich das strkste politisch-morali-sche Argument fr die Verffentlichung ei-ner kritischen Edition.

    Dieses Argument hlt auch dort stand, woes sich naturgem am schwersten tut: gegen-

    ber den Opfern des Nationalsozialismus.Die Gefhle der Opfer spielen eine bedeut-same Rolle. Und einem Holocaust-berle-benden lsst sich mglicherweise kaum plau-sibel machen, warum in Deutschland MeinKampf wenngleich kritisch kommentiert neu gedruckt werden soll. Zwar gibt es auchunter dieser Gruppe der besonders Betroffe-nen unterschiedliche und kontrre Positio-nen. Aber eine mglicherweise unberwind-bare Emprung ber Plne, Mein Kampfin einer wie auch immer gearteten Form neu

    zu bearbeiten, ist nachvollziehbar und zu re-spektieren. Gleichwohl gilt es angesichts derrechtlichen Lage, die allein auf dem auslau-fenden Urheberrecht beruht, die Umstndezu erlutern und am Ende noch einmal dieGrnde darzulegen, die fr Transparenz undOffenheit sprechen.

    Eine irgendwie geartete Dichotomie zwi-schen Opferempathie einerseits und gleichsamkalter Wissenschaftlichkeit andererseitsgibt es ohnehin nicht. Historisch-kritische

    Aufklrung kann niemals unethisch sein.Ein solcher, mitunter im ffentlichen Raumgehrter Vorwurf gegen den wissenschaftli-chen Umgang mit Mein Kampf frdert dieIrrationalitt der Debatte. Wissenschaftli-che Aufklrung der NS-Geschichte und ihrerVerbrechen ist immer auch Dienst an den Op-fern und dient auf ihre Weise der Aufrechter-haltung der Wrde der Opfer. Dies gilt auchfr die Arbeit an Mein Kampf.

    Dies muss umso mehr hervorgehoben

    werden, als das Werk, wie bereits hundert-fach gesagt wurde, im Ausland, im Internetund in Antiquariaten frei verfgbar ist undin der Zukunft frei verfgbar bleiben wird.Unter keinen Umstnden ist die Verbrei-tung des Textes zu verhindern. Und gera-de weil Hitlers Hetzschrift Urheberrechthin, Urheberrecht her lngst in der Weltist und auch knftig gleichsam unkontrol-liert vagabundieren kann, ist die Erstellungeiner ernsthaften Edition mit einem dezi-diert kritischen Standpunkt das Gebot derStunde. Sie wird so eingerichtet sein, dassihr Leser keine Seite Hitler-Text wird lesen

    knnen, ohne zugleich die kritische Ein-ordnung der Editoren zur Kenntnis neh-men zu mssen.

    Das Fazit lsst sich als Pldoyer fr das Le-sen fassen. Die Empfehlung zur kritischen

    Lektre drngt sich gerade angesichts dernicht endenden und sich wechselseitig in al-len denkbaren Formaten verstrkenden me-dialen Prsenz Hitlers und des Nationalso-zialismus auf. Diesem Kreislauf des Neuenund Immergleichen kann der Interessiertenur entkommen, wenn er ad fontesgeht. DassMein Kampf einen eminenten Quellen-wert fr die Geschichte des Unheils besitzt,ist, wie deutlich geworden sein drfte, unbe-streitbar. Und dafr, dass die verbrecherischeGeschichte des nationalsozialistischen Un-

    heils besser verstndlich wird, intellektuellund kognitiv erschlossen werden kann, legtdie akribische wissenschaftliche Aufberei-tung die Basis.

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    verkaufte als der zweite, der primr die Ent-wicklung der NSDAP nachzeichnete, erlebteder erste Band mehr Auagen als der zweite,bis 1930 beide Bnde vereint in einer Volks-ausgabe erschienen. Einzel- und Gesamtaus-gabe wurden nun parallel auf den Markt ge-

    bracht; insgesamt wurden von Mein Kampfbis zur sogenannten Machtergreifung 1933etwa 240 000 Stck verkauft. Danach huf-te sich die Zahl der Ausgabenvarianten (Le-der, Dnndruck, Jubilums-, Hochzeits- undandere Sonderausgaben), die jeweils unter-schiedliche Auagenhhen erreichten. Bis1944, als die Produktion schlielich versieg-te, sind rund 12,5 Millionen Exemplare vonMein Kampfgedruckt worden.3

    Wie viele von diesen Bchern allerdings

    auch gelesen wurden, ist umstritten. OthmarPlckinger hat in seinem Buch ber die Re-zeptionsgeschichte von Mein Kampf dieThese vertreten, dass es sich anders, als meis-tens angenommen, durchaus um ein vielgele-senes Buch gehandelt habe.4 Allerdings las-sen die ueren Indizien wie die Ausleihratein Bibliotheken keine denitiven Aussagenber die tatschliche Lektre zu; dass alle,die whrend der Herrschaft Hitlers anlss-lich der Eheschlieung oder anderer wichti-ger Ereignisse mit einer Ausgabe von Mein

    Kampfbeglckt wurden, sich mit dem Buchanschlieend auch auseinandergesetzt ht-ten, lsst sich hingegen denitiv ausschlie-en. Immerhin galt es schon damals wegenseines Stils, seiner Hasstiraden und seinesUmfangs (fast 800 Seiten) als unlesbar. So we-nig, wie man Hitler vor 1933 als Person ernstnahm, so wenig ernst nahm man im Allge-meinen auch, was er an Programmatischem inMein Kampfverkndete.

    Zwar gab es durchaus Reaktionen auf die

    Verffentlichung seitens politischer Geg-ner, seitens christlicher Publizistik, seitensanderer gesellschaftlicher Gruppen

    wie derGewerkschaften.5 Doch meist beschrnk-te sich die Rezeption auf einzelne Aspek-

    3 Mit der Lizenzvergabe ins Ausland verfuhr derVerlag bis zu Kriegsbeginn sehr restrikt iv. Verffent-licht wurden meist nur bersetzungen des gekrztenTextes. Als man aufgrund der neuen Machtkonstella-tionen keine Rcksichten mehr zu nehmen brauchte,konnte der vollstndige Text erscheinen, bersetzt in

    etwa 14 Sprachen.4 Vgl. O. Plckinger (Anm. 2).5 Ebd., S. 203577.

    te oder nur auf die biograschen Teile desBuches. Die 1932 verffentlichte SchriftHitlers Weg des ReichstagsabgeordnetenTheodor Heuss setzte sich schon intensi-ver und sehr kritisch mit Mein Kampfauseinander, verkannte aber die revolutio-

    nre Dynamik, die ihm zugrunde lag. Heussglaubte wie viele andere Brgerliche, Hitlerwerde sich durch das parlamentarische Ver-fahren bndigen lassen.

    Realistischere Einschtzungen fanden sichvor allem im Ausland. 1935 verffentlich-te der Journalist Tete Harens Tetens in derBasler National-Zeitung eine Reihe vonzehn Artikeln, in der er warnend darauf ver-wies, dass Hitlers Politik einem Plan folge,den er bereits in Mein Kampf

    offenbart

    habe.6

    Aus Wien meldete sich 1936 die Auto-rin Irene Harand zu Wort und geielte cou-ragiert die Schndung der Menschenrechtein Deutschland, die sie in Bezug zu Zitatenaus Mein Kampfsetzte.7Und 1939 brach-te der Schriftsteller Robert Charles Ensorin Oxford eine Broschre heraus, in der erausfhrte, dass Hitlers radikaler Rassismus,den er schon in Mein Kampf

    hatte erken-nen lassen und den man in seiner Bedeu-tung nicht zur Kenntnis genommen habe,zu einer Expansionspolitik fhre, die nicht

    mehr aufzuhalten sein wrde.8 Mglicher-weise erlaubte der Blick von auen, also ausdem europischen Ausland, eine klarere Ein-schtzung dessen, was Mein Kampf warund welche Bedeutung es fr Hitlers politi-sches Vorgehen hatte, als die deutsche Bin-nenperspektive. Auf jeden Fall haben dieseWarner in Hitlers Buch etwas gesehen, das indirektem Bezug zu Hitlers Vorgehen standund von daher als Quelle fr das Verstehender Hitlerschen Politik von hohem Wert ist.

    Diese Sicht wurde von der NS-Forschungnach dem Krieg in den meisten Fllen nichtgeteilt. Zum einen hielt man es fr eineberschtzung der Bedeutung von Perso-nen in der Geschichte, wenn man Hitler ins

    6 Vgl. Tete Harens Tetens, Was will Hitler? Auen-politik und letzte Schluziele nach Hitlers eigenenWorten. 10 in der Basler National-Zeitung verffent-lichte Aufstze, hrsg. von Johann Babtist Rusch/Al-fred Kundert/Carl Albert Looski, Basel 1935.7 Vgl. Irene Harand, Sein Kampf. Antwort an Hitler,

    Wien 1936.8 Vgl. Robert Charles Kirkwood Ensor, Herr Hit-lers Self-Disclosure in Mein Kampf, Oxford 1939.

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    Zentrum des Geschehens rckte und sichvon der Erforschung seiner Intentionen eintieferes Verstndnis des Dritten Reichsversprach. Zum anderen fand man MeinKampfim Allgemeinen so banal und wirr,dass eine intensivere Befassung sich nicht

    zu lohnen schien.9

    Das ist auch heute nochein verbreitetes Urteil, nicht selten von de-nen vertreten, die sich der Mhe einer einge-henden Lektre gar nicht ausgesetzt haben.Bei einem Teil der Forscher zeichnete sich inden vergangenen Jahren aber doch ein gewis-ses Umdenken ab; so schpft beispielsweisedie Hitler-Biograe von Ian Kershaw in-tensiv aus Hitlers Bekenntnisschrift.10Dassaber erst 2000, also 55 Jahre nach HitlersTod und etwa 75 Jahre nach Abfassung sei-nes Buches, ein durchgngiger Kommentar

    zu Mein Kampf

    verffentlicht wurde,11

    isteine Merkwrdigkeit, die einmal mehr aufdie Sonderstellung Hitlers in der Geschich-te verweist. Wenn gegenwrtig vom Insti-tut fr Zeitgeschichte in Mnchen eine kom-mentierte Textausgabe vorbereitet wird, diepubliziert wird, sobald das Buch gemeinfreiist, zeigt dies, dass man Hitlers Schrift nunimmerhin auch von anderer Seite einer Kom-mentierung fr wrdig bendet.

    Ein Motiv fr die letztgenannte Ausgabe ist

    sicher auch die Besorgnis, das Buch knntegroen Schaden anrichten, sollte es ohne An-merkungen und Erklrungen auf den Marktgelangen. Es ist jedoch die Frage, inwiefern essich dazu eignet, im dazu bisher nicht geneig-ten Leser rassistisches beziehungsweise sozi-aldarwinistisches Gedankengut zu verankern.

    9 Zu den Ausnahmen gehrt beispielsweise Wer-ner Maser, der 1966 sein Buch Adolf Hitlers MeinKampf. Geschichte. Auszge. Kommentare mitdem Hinweis versah, dass kein Text fr die Erkl-rung Hitlers und die NS-Zeit so aufschlussreich wrewie Mein Kampf. Der Titel von Karl Langes BuchHitlers unbeachtete Maximen. Mein Kampf und dieffentlichkeit (1968) verdeutlicht die Problemlage.10 Vgl. Ian Kershaw, Hitler, 2 Bde., Stuttgart 1998/2000.11 Barbara Zehnpfennig, Hitlers Mein Kampf. EineInterpretation, Mnchen 20053. Eine kompakte, aufdie ideologische und programmatische Seite konzen-trierte Neufassung des Kommentars wurde 2011 pu-bliziert: Barbara Zehnpfennig, Adolf Hitler: MeinKampf. Studienkommentar, Mnchen 2011. DasBuch von Christian Zentner, Adolf Hitlers Mein

    Kampf. Eine kommentierte Auswahl, Mnchen 1974,besteht dagegen hauptschlich aus Zitaten, die rechtfreihndig bewertet werden.

    Denn die Lektre ist in der Tat mhsam, derStil alles andere als einnehmend, die Themensind weitgestreut und oft mit historischen Be-zgen versehen, die sich nur dem Kenner er-schlieen. Selbst in der rechtsextremen Szene die also von Hitlers Gedanken nicht mehr

    berzeugt zu werden braucht drfte mannicht allzu viele nden, die sich durch die 800Seiten hindurchgearbeitet haben. Und wennwie im Fall des Prozesses gegen den Holocaust-leugner Ernst Zndel ein gleichgesinnter Ver-teidiger in seinem Pldoyer aus Mein Kampfzitiert,12dann ist das noch kein Beweis fr diefundierte Kenntnis der Schrift in rechtsextre-men Kreisen. Befrworter wie Gegner wissennur allzu oft nicht, wovon sie reden.

    Deshalb soll nun zur Sprache kommen, was

    Hitlers Buch eigentlich beinhaltet: Es ist Au-tobiograe, es ist die Entfaltung einer Welt-anschauung, es ist die Verkndung eines po-litischen Programms.

    Autobiograe

    Als sich Hitler 1924 nach seinem gescheitertenPutschversuch in der komfortablen Lands-berger Haft befand,13konnte er in Ruhe sei-ne Gedanken niederschreiben und seine mit

    ihnen verknpfte Autobiograe dem Zweckdes Buches gem darstellen. Dieser Zweckwar laut eigener Aussage, die Ziele unsererBewegung klarzulegen sowie ein Bild derEntwicklung derselben zu zeichnen. Zudemsollte der eigene Werdegang geschildert wer-den, sofern er fr das Verstndnis der Partei-entwicklung notwendig war auch, um dervon der jdischen Presse betriebenen Le-gendenbildung entgegenzuwirken.14 Wa-rum Hitler sein Buch schrieb, ist damit deut-

    12 Der Prozess fand 2007 vor dem MannheimerLandgericht statt, der Verteidiger war Ludwig Bock.Vgl. Stephan Braun/Anton Maegerle, Rechtsanwlteder extremen Rechten, in: Stephan Braun/AlexanderGeisler/Martin Gerster (Hrsg.), Strategien der extre-men Rechten. Hintergrnde Analysen Antwor-ten, Wiesbaden 2009, S. 378403, hier: S. 387.13 Komfortabel war die Haft insofern, als man Hitlerfreien Zugang zur Bibliothek, den Empfang von Be-suchern, alle erforderlichen Materialien fr die Ab-fassung seines Buches etc. gewhrte.14 Diese und die folgenden Zitate sind der Ausga-be Adolf Hitler, Mein Kampf. Zwei Bnde in einem

    Band, 127.128. Auage, Mnchen 1934, entnommen.Die oben genannten Zitate entstammen dem Vor-wort, S. XXVII.

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    lich: Er wollte, mglicherweise auch nocheinmal fr sich selbst, die Zielsetzungen derNSDAP klren, um diese innerlich zu eini-gen und nach auen, vor allem gegen die kon-kurrierenden vlkischen Gruppierungen,abzugrenzen. Des Weiteren sollte der enge

    Zusammenhang zwischen seiner persnli-chen Entwicklung und der der Partei erkenn-bar werden die Einheit zwischen Partei undParteifhrer. Dass es dazu einiger gewalt-samer Umdeutungen der Geschehnisse be-durfte, dass als Fgung erscheinen musste,was vielleicht eher zufllig war, liegt auf derHand. Doch auch wenn Hitler seinen Wer-degang im Nachhinein so begradigt, dass erpunktgenau auf das anvisierte Ziel hinfhrt,ist es sehr aufschlussreich, wie er diesen Wer-degang schildert.

    Gem Hitlers eigener, durchaus glaub-hafter Darstellung waren es die Erfahrun-gen seiner Wiener Zeit und das Fronterleb-nis, die ihn wesentlich prgten.15Nach Wienkam er bekanntlich, weil er an der Kunstaka-demie studieren wollte; die vom Vater fr ihnvorgesehene Beamtenlaufbahn war ihm einGraus. Sein Scheitern bei der Aufnahme indie Akademie, sein mhsames Sich-Durch-schlagen in der als Moloch erlebten Gro-stadt gibt Hitler recht unverblmt zu erken-

    nen; es ist keine Heldensaga. Womit er, auskleinbrgerlicher Umgebung stammend,nun erstmals konfrontiert wird, ist die Sozi-ale Frage: das Massenelend eines stdtischenProletariats. Zugleich sieht er, wie eine poli-tische Bewegung, die marxistisch orientier-te Sozialdemokratie, sich zur Fhrerschaftder verelendeten Massen aufschwingt und imSinn ihres sozialistischen Internationalismusantinational agitiert.

    Letzteres erzeugt Hitlers Hass, denn er, der

    in einem nicht-funktionierenden Vielvlker-staat, dem zerfallenden Habsburgerreich, auf-gewachsen ist, hat sich nach eigenen Angabenschon frh gegen die Dynastie und fr einendezidierten deutschen Nationalismus ent-schieden. In Wien meint er, den Zusammen-hang zwischen den Elementen des Sozialenund des Nationalen begriffen zu haben: So-ziale Verelendung erzeugt Ressentiments ge-

    15 Glaubhaft ist das deshalb, weil beides erstens die

    einschneidendsten Erlebnisse in seinem Leben warenund weil zweitens seine Weltanschauung deutlicheSpuren dieser beiden Erfahrungen in sich trgt.

    gen die eigene Nation, weil diese so etwas zu-lsst. Hitlers spterer National-Sozialismuszieht daraus die Konsequenz. Nur durch so-ziale Hebung kann man die Menschen an dieNation binden. Eigentlich htte sich HitlersBewegung Sozial-Nationalismus nennen

    mssen. Denn das soziale Element ist ganzeindeutig Mittel zum Zweck ein Mittel, umden Nationalismus zu befrdern.

    Hitler selbst benennt als Ertrag seiner Wie-ner Zeit die Einsicht in zwei Gefahren, de-ren entsetzliche Bedeutung fr die Existenzdes deutschen Volkes ihm zuvor nicht be-wusst war: Marxismus und Judentum.16Der Marxismus predigt Egoismus und Klas-senhass, hetzt die Menschen gegen das eigeneVolk auf, entlarvt alle bisher geltenden Wer-

    te als Herrschaftsinstrumente der Besitzen-den. Hitler sieht in ihm eine furchterregendeKraft der Zerstrung, denn die marxistischeVerheiung eines kommenden Reichs derFreiheit und Gleichheit ist fr ihn nichts wei-ter als eine Lge. Der fr Hitler entscheidendeDurchbruch ist jedoch erreicht, als er begrif-fen zu haben glaubt, wer hinter diesem Atten-tat auf die Menschheit steht: Als er den Judenals Fhrer der Sozialdemokratie erkannte,werden ihm auf einmal die Zusammenhn-ge klar. Der Angriff auf die Nation erfolgt im

    Dienste eines fremden Volkes der Juden.

    Diese tarnen sich, so Hitler, als Religi-onsgemeinschaft, doch ihre Religion kenntkeine wahre Transzendenz. Sie ist vielmehrganz und gar auf irdischen Gewinn ausge-richtet und entspricht dem natrlichen Ego-ismus und Materialismus der Juden. Dieletztgenannten Eigenschaften sind auchder Grund, weshalb sich die Juden in frem-de Vlker einschleichen, parasitr an ihnenteilhaben und sie von innen heraus zu zer-

    setzen versuchen. Das alles folgt einem gro-en Plan, an dessen Ende, gem der bibli-schen Verheiung, die Weltherrschaft steht.Und der jdische Marxismus ist der letzteBaustein in diesem Plan: Indem er die nati-onalen Grenzen durchbricht und die Men-schen nivelliert, schafft er freie Bahn fr dieweltweite Herrschaft der Juden.

    Man sieht hier beispielhaft, wie sich eineVerschwrungstheorie entwickelt: Die Su-che nach der einen Ursache unterschiedlichs-

    16 A. Hitler (Anm. 14), S. 20.

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    ter, von Hitler wahrgenommener Phnomenewie ethnische Spannungen im Vielvlker-staat, kulturelle Dekadenz, von den Marxis-ten geschrter Hass auf die eigene Nation, ka-pitalistische Ausbeutung und so weiter fhrtzur Entdeckung des einen Urhebers: die

    Juden, die im Interesse ihres eigenen Volkesdie anderen Vlker von innen heraus schw-chen, vor allem aber das Volk, das bisher dasHabsburgerreich getragen und zusammenge-halten hat: die Deutschen. Das heit fr Hit-ler: Es geschieht alles planmig; gerade diestrkste Kraft muss geschwcht werden, umden Zusammenbruch herbeizufhren. Diedamals verbreiteten antisemitischen Stereo-type und die Wahrnehmung, dass sich auf derFhrungsebene der sozialistischen und bol-schewistischen Bewegungen relativ viele j-

    dische Funktionre fanden und einige Vor-denker des Sozialismus jdischer Herkunftwaren, verschmelzen hier zu dem Urteil, dassder Marxismus eine jdische Ideologie istund dass man in ihm die letzte Stufe des We-ges zur jdischen Weltherrschaft vor sich hat.

    Hitlers Wiener Jahre stehen also ganz imBann der Herausbildung seiner Weltanschau-ung. Die zweite wesentliche Station seinesWeges ist das Kriegserlebnis, das ihm mg-licherweise die Erfahrung einer Willenskraft

    verschafft hat, auf die er bei seinem spteren,kaum fassbar steilen Aufstieg zurckgrei-fen konnte. Fr sein Land kmpfen zu kn-nen, gibt Hitlers bisher ziellosem Leben eineRichtung und einen Sinn. Er, der sich in Wienals Sonderling und Einzelkmpfer durch-schlug, ist auf einmal Teil einer groen Ge-meinschaft. Zudem kann er seiner Sehnsuchtnach dem Hohen und Groen, seiner Sehn-sucht nach Tat und Selbstopfer nachgeben.So zieht er, wie viele andere, voller Begeiste-rung in den Krieg. Doch er schildert auch den

    mentalen Einbruch, der gerade angesichts derfurchtbaren Stellungskriege des Ersten Welt-krieges seine Kameraden und ihn befllt: anStelle der Schlachtenromantik aber war dasGrauen getreten.17Die Angst hat Einzug ge-halten, die Angst um das nackte berleben.Hitler cht, so seine Darstellung, einen in-neren Kampf mit sich aus. Schon im Winter1915/16 war bei mir dieser Kampf entschie-den. Der Wille war endlich restlos Herr ge-worden.18Er hat seine Feigheit besiegt.

    17 Vgl. ebd., S. 181.18 Ebd.

    An solchen Stellen wird deutlich, weshalbdas Buch Mein Kampf heit. Hitler hatauf allen Ebenen einen Kampf ausgefochten,nicht nur um die uere Durchsetzung seinerPartei, sondern auch um sein inneres Gleich-gewicht. Dass bei ihm schlielich der Wil-

    le siegte und nicht die Vernunft, erwies sichnicht nur fr ihn selbst als Verhngnis. DerKampf, das ist gleich noch zu zeigen, bildetdas Zentrum seines Denkens und Seins unddamit auch seiner Weltanschauung.

    Vier Jahre grauenhaften Kriegserlebens ha-ben die Kmpfenden des Ersten Weltkrie-ges hinter sich, als sich in Deutschland dieKriegsmdigkeit in Streiks niederschlgtund die innenpolitischen Friktionen so zu-nehmen, dass der Kaiser abdanken muss und

    die Republik ausgerufen wird. Fr Soldatenmit Hitlers Einstellung ist das der Dolch-sto. Im Felde unbesiegt, habe das deutscheHeer von den Novemberverbrechern inder Heimat, also den Sozialisten und den Ju-den, welche die Revolution betrieben htten,den Dolch in den Rcken gerammt bekom-men, sodass die Kriegsniederlage unvermeid-lich war. Zu dieser Fehleinschtzung, was dieUrsachen der Niederlage angeht, trug nichtzuletzt die beschnigende Darstellung derKriegssituation bei, die lange von der Obers-

    ten Heeresleitung betrieben worden war.

    Es war also alles umsonst gewesen.19Hit-lers bitteres Resmee ber eine Zeit hrtesterEntbehrungen mndet in ein Bekenntnis desHasses, des Hasses auf all die, die er fr dieVergeblichkeit seines Opfers verantwortlichmacht. Ob er tatschlich genau damals be-schloss, Politiker zu werden,20 lsst sich we-der be- noch widerlegen. Auf jeden Fall of-fenbart Hitler das Motiv fr sein politischesTun: Da es mit den Drahtziehern der Revolu-

    tion, den Juden, kein Paktieren gebe, bleibenur das harte Entweder Oder.21Der poli-tische Kampf ist fr ihn primr Kampf gegendie Juden. Von dorther muss wohl alles Wei-tere, was Hitler noch ber seinen Werdegangschildert den Weg vom Vorsitzenden einerSplitterpartei zu einem Volksredner, der denMnchener Zirkus Krone zu fllen vermag verstanden werden.

    19 Ebd., S. 223.20

    Ich aber beschloss, Politiker zu werden. Ebd.,S. 225.21 Ebd.

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    Weltanschauung

    Hitlers Denken ist alles andere als wirr, viel-mehr ist es von groer Kohrenz. Nimmtman die entsprechenden Passagen aus MeinKampf zusammen, so ergibt sich eine in sich

    geschlossene Weltanschauung.22

    Hitler woll-te zuerst die Kpfe der Menschen gewinnen,bevor er sich ihrer Leiber (zur Fortzeugungder Rasse beziehungsweise zum Kampf)bediente. Er wusste, dass eine Revolution ei-ner neuen groen Idee23 bedarf, um zumErfolg zu gelangen, und das galt auch fr dienationalsozialistische Revolution. Weshalbdiese Revolution ntig war, wird aus dem bis-her Ausgefhrten klar: Fr Hitler setzte derMarxismus zum Sprung auf die Weltrevoluti-on an. Er musste aufgehalten werden, das war

    die deutsche Mission. Und deshalb mussteihm eine Lehre von besserer Wahrhaftigkeitaber gleicher Brutalitt der Durchfhrungentgegengestellt werden.24

    Ausgangs- und Mittelpunkt von Hit-lers Weltanschauung ist der Kampfgedan-ke. Die Natur, deren Teil der Mensch ist,ist ein Kampfgeschehen, und das aus gutemGrund. Denn der Kampf hat zwei frderli-che Folgen: Er sorgt fr Ordnung, indem erden Schwcheren zur Unterordnung unter

    den Strkeren zwingt, und fr Steigerung,weil die Kmpfenden ber sich hinauswach-sen mssen und der Kampf zu einer Ausle-se des Besseren fhrt. Ohne Ordnung kannein System nicht berleben, ohne Steige-rung gibt es keinen Fortschritt. Der Kampfist fr Hitler also fr das berleben und dieFortentwicklung eines Systems unerlss-lich. Dieser Gesetzmigkeit kann sich derMensch nur um den Preis seines Untergangswidersetzen, und gemeint ist dabei nichtnur der physische Kampf, sondern auch jede

    22 Dazu noch einmal detaillierter: Barbara Zehn-pfennig, Hitlers Weltanschauung, in: Frank-LotharKroll/dies. (Hrsg.), Ideologie und Verbrechen, Kom-munismus und Nationalsozialismus im Vergleich,Mnchen 2014, S. 6789.23 A. Hitler (Anm. 14), S. 597.24 Im Original gesperrt. Ebd., S. 44 f. Zum Zusam-menhang zwischen NS und Marxismus vgl. BarbaraZehnpfennig, Nationalsozialismus als Antimarxis-mus? Hitlers programmatisches Selbstverstndnis inMein Kampf, in: Manuel Becker/Stephanie Bon-

    gartz (Hrsg.), Die weltanschaulichen Grundlagen desNS-Regimes. Ursprnge, Gegenentwrfe, Nachwir-kungen, Berlin 2011, S. 7998.

    andere Form des Ringens mit den anderenMenschen, mit den widrigen Umstndenoder mit sich selbst.

    Der Kampf zwischen den Menschen erfolgtim Allgemeinen zwischen den Vlkern, die

    sich im Zeitalter der Nationalitten als Na-tionen denieren. Doch diese Zuordnung istnicht trennscharf. Denn in die Vlker knnensich Nicht-Zugehrige einschleichen, die sichnicht als Fremde zu erkennen geben und dieinnere Einheit zerstren. Diese innere Ein-heit eines Volks ist jedoch berlebenswich-tig, denn den Kampf fhrt man nur fr dasals gleich Empfundene, nicht fr Fremdes.Hier kommt nun die Rasse ins Spiel. FrHitler ist das einzig verlssliche Merkmal derinneren Homogenitt eines Volkes die Zuge-

    hrigkeit zur selben Rasse, weil diese nichtbeliebig denierbar und vernderbar ist wiebeispielsweise die Religionszugehrigkeit.Rassische Reinheit ist der entscheidendeWeg zur seelischen Einheit, zu jener Willens-einheit, die man braucht, um fr sein Volksein Leben zu geben.

    Fr alles bisher Gesagte gibt es natrlichVordenker und Vorgnger, und Hitler hat of-fenbar unendlich viel gelesen und rezipiert.Doch wie er die Versatzstcke zusammen-

    fgt, ist originr. Dass man zu seiner Zeit dieRassentheorie so ernst nahm, dass beispiels-weise auch die Deutsche Forschungsgemein-schaft Rassenforschung nanzierte, istheute kaum mehr vorstellbar, zum Verstnd-nis der geistigen Situation der Zeit aber wich-tig zu wissen.

    Zwischen den Rassen gibt es fr Hitler,darin etwa Arthur de Gobineau und Hous-ton Stuart Chamberlain folgend,25 gravie-rende Wertunterschiede. Dabei bemisst sich

    der Wert an der Kulturleistung; Rassewird hier sozusagen zum physischen Unter-grund der Kulturen. Die arische Rasse istdie Kulturschpferin par excellence, denn ihrverdankt sich fast alles, was gegenwrtig anKunst, Wissenschaft und Technik26zu n-den ist. Neben kulturschpfenden Rassengibt es auch Kulturtrger, die eine ihnen na-

    25 Vgl. Arthur de Gobineau, Versuch ber die Un-gleichheit der Menschenrassen, 4 Bde., Stuttgart

    1939405

    ; Houston Stuart Chamberlain, Grundlagendes 19. Jahrhunderts, Mnchen 1899.26 A. Hitler (Anm. 14), S. 317.

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    hegebrachte Kultur fortfhren knnen. Esgibt aber auch die Rasse der Kulturzerst-rer, die selbst nicht schpferisch ist, das vonanderen Geschaffene aufzehrt und es letzt-lich dem Untergang zufhrt. Natrlich sinddamit die Juden gemeint.

    Warum aber sind die Juden in den Au-gen Hitlers die gefhrlichste aller Rassen?Warum muss ihrer Bekmpfung die oberstePrioritt eingerumt werden? Die Antwortauf diese Frage ist der Schlssel zum Holo-caust, und die Antwort ndet sich ebenfallsin Mein Kampf.

    Die Juden zerstren die natrliche Kampfes-ordnung. Denn sie selbst sind aufgrund ihrerWeltverhaftetheit und ihrer Selbstsucht nicht

    willens zu kmpfen. Dennoch wollen sie herr-schen, und Hitler stellt sich ernsthaft die Fra-ge: Sollte diesem Volk, das ewig nur dieserErde lebt, die Erde als Belohnung zugespro-chen sein?27 Doch es kann nicht im Sinneder Vorsehung sein, das Werk der Natur derSelbstaufhebung preiszugeben. Insofern dr-fen die Juden, wie Hitler meint, mit ihrer per-den Taktik keinen Erfolg haben. Diese Tak-tik besteht darin, nicht selbst zu kmpfen,sondern die Starken, Kampfeswilligen zu de-moralisieren und sich die Herrschaft so zu er-

    schleichen. Dazu gibt es zwei besonders ge-eignete Mittel: Geist und Geld. Mit ihrerGeldmacht bringen die Juden die entscheiden-den gesellschaftlichen Krfte in ihre Abhn-gigkeit, und durch den Kapitalismus erzeugensie eine Gier nach Mehr, die alle gesellschaft-liche Solidaritt aufkndigen lsst und dieMenschen bedingungslos an den Genuss imHier und Jetzt bindet. Ihren Geist verwen-den die Juden zur Erzeugung von Ideologien,die den Kampf als etwas Bses, zu berwin-dendes erscheinen lassen. Dazu gehren zum

    Beispiel der Liberalismus, der an die Stelledes Kampfes die wirtschaftliche Konkurrenzsetzt, der Internationalismus, der die Vlker-verstndigung predigt, und als letzte Stufe derMarxismus, der mit der universellen Gleich-heit der Menschen auch den ewigen Friedenund die Beseitigung jeder Ntigung zum Le-benskampf verheit.

    Faktisch bedeutet seine Durchsetzungjedoch das Ende der Menschheit. Denn erselbst ist wegen des fehlenden Antriebs zum

    27 Ebd., S. 69.

    Krfteringen, wegen seiner Zerstrung desPersnlichkeitsprinzips und wegen seinerrein materialistischen Ausrichtung sterilund wird das Vorhandene nur aufzehren.Da er, wie in Russland zu besichtigen, sichzunchst darum bemhen wird, die nati-

    onalen Trger der Intelligenz auszurottenund die Vlker ihrer natrlichen geistigenFhrung zu berauben,28 wird die verhei-ene Gleichheit die der Sklaverei sein, dennim weltweiten Reich der Gleichen werdendann die Juden ihre grausame Herrschaftausben. Allerdings wird diese Herrschaftnicht von Dauer sein. Denn nach dem Todedes Opfers stirbt frher oder spter derVampir.29

    Politisches ProgrammSo wie Hitler in seiner Weltanschauung nochdas Widerstrebendste zu einer Einheit zu-sammenzwingt, so wie er mit uerster Wil-lenskraft alles auf eine Ursache zurckfhrt,plante er auch ein systematisches, alle Wider-stnde brechendes Vorgehen zur Umsetzungseiner Weltanschauung. Das Ziel war klarumrissen: Es musste darum gehen, die Deut-schen als den edelsten Teil der Arier fr ihreMission zu rsten, nmlich den Endkampf

    mit der Rasse der Zerstrer aufzunehmen,um dadurch dem natrlichen Kampfgesche-hen auf der Erde wieder Raum zu geben. Erstwenn das Denken, das den Kampf moralischchtet, aus der Welt geschafft sein wrde,knnten die Vlker, knnten die Rassenwieder in dem von der Natur gewollten Krf-teringen fr den Fortbestand und das Fort-schreiten der Menschheit sorgen.

    Nicht alles konnte Hitler dann so verwirk-lichen, wie er es vorgesehen hatte. Aber schon

    in Mein Kampfverdeutlicht er seine Tak-tik: Das groe Ziel ist nicht verhandelbar, dieMittel zu seiner Erreichung hingegen sind es.Im Nachgeordneten kann man Flexibilittwalten lassen und sich den Umstnden gemverhalten, solange man nicht aus den Augenverliert, warum man tut, was man tut. DieseFlexibilitt Hitlers haben Zeitgenossen undauch sptere Deuter30 oft als Opportunis-

    28 Ebd., S. 358.29

    Ebd.30 S