Hochzeitstorten und Zipfelmützen: Strukturbildung auf Platin

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Im Blickpunkt 53 Priv.-Doz. Dr. Tho- mas Michely, I. Phy- sikalisches Institut, RWTH Aachen, 52056 Aachen, Dr. Matthias Kalff, Continental-Teves AG, 60441 Frank- furt/Main, Prof. Dr. Joachim Krug und Dr. Paolo Politi, Fachbereich Physik, Universität GH Essen, 45117 Essen Mechanismen des Schichtwachs- tums zu untersuchen ist ein zen- trales Anliegen der modernen Oberflächenphysik. Motiviert von der Aussicht, technologisch rele- vante Schichten durch Eingriffe in den Wachstumsprozeß gezielt herzustellen, bietet das Gebiet gleichzeitig faszinierende Ein- blicke in die Selbstorganisation fern vom thermischen Gleich- gewicht. In diesem Beitrag berich- ten wir von neuen Experimenten zum Wachstum von Platin auf Platin, in denen wir die Entste- hung von regelmäßigen Pyrami- den-Strukturen beobachten konn- ten [1]. Die Ergebnisse lassen sich anschaulich erklären, wenn man das Zusammenwirken zufälliger atomarer Prozesse genauer analy- siert. S trukturbildung beim Schicht- wachstum ist ein Phänomen, das unter fast allen Bedingun- gen der Schichtabscheidung beob- achtet wird. Eine besonders einfa- che Situation – die allerdings im- mer noch erstaunlich reichhaltig ist – liegt in der Homoepitaxie vor, dem Schichtwachstum auf einem kristallinen Substrat des gleichen Materials. In diesem Fall bilden sich keine inneren Strukturen (zum Beispiel Körner) aus, und die Strukturbildung ist auf die Ober- fläche der wachsenden Schicht beschränkt. Ein Beispiel zeigt die Rastertun- nelmikroskopaufnahme einer dün- nen homoepitaktischen Schicht auf der Pt(111)-Oberfläche in Abb. 1. Diese Schicht wurde durch stati- stisch auftreffende Pt-Atome aus einem umgebenden Pt-Dampf abge- schieden. Sie besteht aus „Bergen“ ähnlicher Größe und ähnlicher Höhe, die durch tiefe Gräben deut- lich voneinander getrennt sind. Einen Einblick in die Entstehung solcher Berge gibt Abb. 2, bei der Schichten mit sukzessive zuneh- mender Dicke dargestellt sind, die unter ansonsten identischen Bedin- gungen abgeschieden wurden. Zu- nächst bilden sich im Anfangssta- dium der Schichtabscheidung In- seln monoatomarer Höhe aus (Abb. 2a), die von etwas unregelmäßiger dreieckiger Form sind und deren Stufenkanten entlang ausgezeichne- ter Richtungen der Kristallober- fläche verlaufen (vgl. Abb. 3a). Diese Inseln wachsen lateral, ver- schmelzen und lassen Löcher in der zusammengewachsenen Lage zu- rück. Gleichzeitig keimen neue In- seln auf. Bereits nach einigen depo- nierten Lagen ist erkennbar, daß sich höchstens eine neue Insel auf einer vorhandenen Insel bildet (Abb. 2b), und daß das Tempo des lateralen Zusammenwachsens ge- genüber der Keimung zurückbleibt, die Schicht also rauher wird. Nach rund zehn deponierten Atomlagen haben sich klar unterscheidbare Berge auf der Oberfläche gebildet, die durch Keimung neuer Inseln auf ihrem Gipfelplateau in die Höhe wachsen (Abb. 2c). Die neu ge- keimten Inseln auf den Bergspitzen besitzen nun Stufenkanten, die ent- lang der 110-Richtungen des kri- stallinen Substrats orientiert sind, und zwar noch regelmäßiger als dies am Anfang des Schichtwachs- tums der Fall war. Der Vergleich von Abb. 2c mit Abb. 2d zeigt zu- dem, daß der Strukturbildungspro- zeß im wesentlichen bereits nach den ersten zehn deponierten Mono- lagen abgeschlossen ist. Die weitere Schichtabscheidung bewirkt ledig- lich ein Wachstum der Berge senk- recht zur Unterlage (Zunahme der Rauhigkeit) und eine Vertiefung der sie trennenden Gräben. Die laterale Ausdehnung der Berge ändert sich dagegen nicht mehr, es findet keine Vergröberung der wachsenden Schicht statt. Das „minimale“ Modell Zum Verständnis dieser experi- mentellen Befunde betrachten wir zunächst die Vorgänge beim Wachs- tum der ersten Monolage. Atome thermischer Energie werden aus dem Dampf mit einer mittleren De- positionsrate F (in Monolagen pro Sekunde bzw. identisch damit: in Atomen pro Gitterplatz und Sekun- de) zufällig auf Gitterplätze adsor- biert. Diese Adatome sind mobil und können aufgrund thermischer Anregungen aus dem Wärmebad des Kristalls mit einer mittleren Sprungfrequenz n auf einen benach- barten Gitterplatz wechseln. Im einfachsten Fall tritt Keimung auf, wenn zufällig zwei mobile Adatome auf benachbarte Gitterplätzen ge- langen und einen Dimer bilden. Hochzeitstorten und Zipfelmützen: Strukturbildung auf Platin Thomas Michely, Matthias Kalff, Joachim Krug und Paolo Politi Physikalische Blätter 55 (1999) Nr. 11 0031-9279/99/1111-53 $17.50+50/0 © WILEY-VCH Verlag GmbH, D-69451 Weinheim, 1999 Abb. 1: Beim Wachstum von Platin auf Pla- tin entstehen Bergstrukturen, die durch tiefe Gräben getrennt sind. Hier das Ra- stertunnelmikro- skopbild einer Pt(111)-Oberfläche, nachdem 650 Å bzw. 300 Monola- gen Platin bei 440 K darauf abge- schieden wurden. Bildgröße 4700 Å × 4700 Å. Abb. 2: Nach rund 10 Monolagen (ML) ist die Strukturbil- dung abgeschlossen: Platinstrukturen nach Depositi- on von a) 0,3 ML, b) 3 ML, c) 12 ML und d) 90 ML unter ansonsten identischen Bedingungen wie in Abb. 1. In dieser Darstellung erscheint die Topogra- phie streifend von links beleuchtet. Alle sichtbaren Stufen sind von monoatomarer Höhe. Bildgröße 2600 Å × 3450 Å.

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Im Blickpunkt

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Priv.-Doz. Dr. Tho-mas Michely, I. Phy-sikalisches Institut,RWTH Aachen,52056 Aachen,Dr. Matthias Kalff,Continental-TevesAG, 60441 Frank-furt/Main,Prof. Dr. JoachimKrug und Dr. PaoloPoliti, FachbereichPhysik, UniversitätGH Essen, 45117Essen

Mechanismen des Schichtwachs-tums zu untersuchen ist ein zen-trales Anliegen der modernenOberflächenphysik. Motiviert vonder Aussicht, technologisch rele-vante Schichten durch Eingriffe inden Wachstumsprozeß gezieltherzustellen, bietet das Gebietgleichzeitig faszinierende Ein-blicke in die Selbstorganisationfern vom thermischen Gleich-gewicht. In diesem Beitrag berich-ten wir von neuen Experimentenzum Wachstum von Platin aufPlatin, in denen wir die Entste-hung von regelmäßigen Pyrami-den-Strukturen beobachten konn-ten [1]. Die Ergebnisse lassen sichanschaulich erklären, wenn mandas Zusammenwirken zufälligeratomarer Prozesse genauer analy-siert.

Strukturbildung beim Schicht-wachstum ist ein Phänomen,das unter fast allen Bedingun-

gen der Schichtabscheidung beob-achtet wird. Eine besonders einfa-che Situation – die allerdings im-mer noch erstaunlich reichhaltig ist – liegt in der Homoepitaxie vor,dem Schichtwachstum auf einemkristallinen Substrat des gleichenMaterials. In diesem Fall bildensich keine inneren Strukturen (zum Beispiel Körner) aus, und dieStrukturbildung ist auf die Ober-fläche der wachsenden Schichtbeschränkt.

Ein Beispiel zeigt die Rastertun-nelmikroskopaufnahme einer dün-nen homoepitaktischen Schicht aufder Pt(111)-Oberfläche in Abb. 1.Diese Schicht wurde durch stati-stisch auftreffende Pt-Atome auseinem umgebenden Pt-Dampf abge-schieden. Sie besteht aus „Bergen“ähnlicher Größe und ähnlicherHöhe, die durch tiefe Gräben deut-lich voneinander getrennt sind.Einen Einblick in die Entstehungsolcher Berge gibt Abb. 2, bei derSchichten mit sukzessive zuneh-mender Dicke dargestellt sind, dieunter ansonsten identischen Bedin-gungen abgeschieden wurden. Zu-nächst bilden sich im Anfangssta-dium der Schichtabscheidung In-

seln monoatomarer Höhe aus (Abb.2a), die von etwas unregelmäßigerdreieckiger Form sind und derenStufenkanten entlang ausgezeichne-ter Richtungen der Kristallober-fläche verlaufen (vgl. Abb. 3a).Diese Inseln wachsen lateral, ver-schmelzen und lassen Löcher in derzusammengewachsenen Lage zu-rück. Gleichzeitig keimen neue In-seln auf. Bereits nach einigen depo-nierten Lagen ist erkennbar, daßsich höchstens eine neue Insel aufeiner vorhandenen Insel bildet(Abb. 2b), und daß das Tempo deslateralen Zusammenwachsens ge-genüber der Keimung zurückbleibt,die Schicht also rauher wird. Nachrund zehn deponierten Atomlagenhaben sich klar unterscheidbareBerge auf der Oberfläche gebildet,die durch Keimung neuer Inseln aufihrem Gipfelplateau in die Höhewachsen (Abb. 2c). Die neu ge-keimten Inseln auf den Bergspitzenbesitzen nun Stufenkanten, die ent-lang der ≤110≥-Richtungen des kri-stallinen Substrats orientiert sind,und zwar noch regelmäßiger alsdies am Anfang des Schichtwachs-tums der Fall war. Der Vergleichvon Abb. 2c mit Abb. 2d zeigt zu-dem, daß der Strukturbildungspro-zeß im wesentlichen bereits nachden ersten zehn deponierten Mono-lagen abgeschlossen ist. Die weitereSchichtabscheidung bewirkt ledig-lich ein Wachstum der Berge senk-recht zur Unterlage (Zunahme derRauhigkeit) und eine Vertiefung dersie trennenden Gräben. Die laterale

Ausdehnung der Berge ändert sichdagegen nicht mehr, es findet keineVergröberung der wachsendenSchicht statt.

Das „minimale“ ModellZum Verständnis dieser experi-

mentellen Befunde betrachten wirzunächst die Vorgänge beim Wachs-tum der ersten Monolage. Atomethermischer Energie werden ausdem Dampf mit einer mittleren De-positionsrate F (in Monolagen proSekunde bzw. identisch damit: inAtomen pro Gitterplatz und Sekun-de) zufällig auf Gitterplätze adsor-biert. Diese Adatome sind mobilund können aufgrund thermischerAnregungen aus dem Wärmebaddes Kristalls mit einer mittlerenSprungfrequenz n auf einen benach-barten Gitterplatz wechseln. Imeinfachsten Fall tritt Keimung auf,wenn zufällig zwei mobile Adatomeauf benachbarte Gitterplätzen ge-langen und einen Dimer bilden.

Hochzeitstorten und Zipfelmützen: Strukturbildung auf Platin

Thomas Michely, Matthias Kalff, Joachim Krug und Paolo Politi

Physikalische Blätter55 (1999) Nr. 110031-9279/99/1111-53$17.50+50/0© WILEY-VCH Verlag GmbH,D-69451 Weinheim, 1999

Abb. 1:Beim Wachstumvon Platin auf Pla-tin entstehenBergstrukturen,die durch tiefeGräben getrenntsind. Hier das Ra-stertunnelmikro-skopbild einerPt(111)-Oberfläche,nachdem 650 Åbzw. 300 Monola-gen Platin bei440 K darauf abge-schieden wurden.Bildgröße 4700 Å× 4700 Å.

Abb. 2:Nach rund 10 Monolagen (ML) ist die Strukturbil-dung abgeschlossen: Platinstrukturen nach Depositi-on von a) 0,3 ML, b) 3 ML, c) 12 ML und d) 90 MLunter ansonsten identischen Bedingungen wie in

Abb. 1. In dieser Darstellung erscheint die Topogra-phie streifend von links beleuchtet. Alle sichtbarenStufen sind von monoatomarer Höhe. Bildgröße2600 Å × 3450 Å.

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Physikalische Blätter55 (1999) Nr. 1154

Im Blickpunkt

Solche Dimere wachsen durch An-lagerung weiterer Adatome zu In-seln heran, wie sie in Abb. 2a zu se-hen sind. Elementare Keimbil-dungstheorie zeigt, daß der mittlereInselabstand L (von Zentrum zuZentrum) mit

L(n/F )1/6. (1)

skaliert [2].

Die entscheidende Frage für diedreidimensionale Strukturbildungist nun: Was geschieht mit den Teil-chen, die auf den Inseln deponiertwerden? Abbildung 3a zeigt ein Kugelmodell einer Oberfläche miteinem Adatom und einer Stufe. Be-vor das Adatom in die Stufe einge-baut werden kann, muß es über dieStufenkante herabspringen. Dabeidurchläuft es eine Konfigurationverminderter Koordination, die zueiner erhöhten potentiellen Energieführt. Beim Sprung über die Stufen-

kante muß eine zusätzliche Ener-giebarriere, die StufenrandbarriereDES, überwunden werden (Abb. 3b).Bei vorgegebener Temperatur T istdie Wahrscheinlichkeit, daß derSprung in den Abgrund gelingt,gleich PS = e–DES/kBT. Die effektiveSprungrate n' = PS n für Sprüngezwischen verschiedenen Lagen istalso kleiner als die Sprungfrequenzn innerhalb einer Lage. Dieser Ef-fekt wurde von Ehrlich und Huddabereits vor über dreißig Jahren ex-perimentell entdeckt [3]; seine emi-nente Bedeutung für das Schicht-wachstum ist aber erst in den letz-ten Jahren klar erkannt worden [4].

Im Sinne einer minimalen Mo-dellierung nehmen wir an, daß dieStufenrandbarriere unendlich hochist, also PS = 0 [5]. Adatome auf In-seln können diese dann überhauptnicht verlassen. Sobald zwei Adato-me auf eine Insel deponiert wurden,entsteht nach kurzer Zeit ein neuerKeim, der ausschließlich durch wei-tere auf der Insel deponierte Atomewächst. Die Bildung zweier Keimeauf einer Insel ist dabei extrem un-wahrscheinlich, denn ein Keim ent-leert ja bereits eine Fläche derGröße L2 effektiv, wie die Keimbil-dung in der ersten Lage beweist. Esentsteht eine Morphologie aus sichnach oben verjüngenden Inselsta-peln, eben „Hochzeitstorten“, anderen Spitze sich statt des Hoch-zeitspaares aus Marzipan ein ato-mares Dimer befindet. Die Bergbil-dung (oder Hochzeitstortenbäcke-rei) vollzieht sich im Monolagentaktgemäß der folgenden einfachen Se-quenz: Keimung auf einer Insel →Wachstum des Keims zur Insel →erneute Keimung auf dieser Insel.

Die räumliche Verteilung derBerge ist in diesem Modell bereitsendgültig durch die Inseln der er-sten Monolage festgelegt; insbeson-dere ist der mittlere Abstand l derBerge gleich dem Inselabstand L,unabhängig von der Schichtdicke.Zwischen den verschiedenen Ber-gen gibt es praktisch keinen Mas-sentransport. Die Fläche der h-tenInsel eines Stapels, bezogen auf dieGrundfläche AL2 des Berges, istdeshalb gerade gleich der Be-deckung O h der h-ten Monolage.Der analytische Ausdruck für O h alsFunktion der Anzahl h = Ft der de-ponierten Monolagen wird in Ka-sten 1, Gleichung (ii), hergeleitet.Die Gestalt r(h) bzw. h(r) einesradialsymmetrischen Berges mitGrundfläche A folgt dann einfachaus der Beziehung pr(h)2 = A O h. Soentstand das in Abb. 4 als gepunk-tete Linie dargestellte Zipfelmüt-zenprofil. Die Differenz P(h) =O h – O h+1 ist der unbedeckte Anteilder h-ten Lage. Dies ist gleich derWahrscheinlichkeit, daß ein zufälligausgewählter Punkt der Oberflächesich in der h-ten Lage befindet, dieSchicht also an dieser Stelle geradeh Lagen dick ist. Nach Gleichung(ii) ist P(h) eine Poisson-Verteilungmit Mittelwert h. Da die Standard-abweichung einer Poisson-Vertei-lung gleich der Quadratwurzel ausihrem Mittelwert ist, entwickeltsich die Rauhigkeit s = (h

——2 – (h)2)1/2

der Schicht nach dem einfachenGesetz s = (h)1/2.

Gute Übereinstimmung mit dem ExperimentInwieweit entsprechen die Vor-

hersagen des minimalen Modellsden experimentellen Ergebnissen?Zur Analyse der Experimente wur-den die Schichtrauhigkeit s und dermittlere Bergabstand l in Abhän-gigkeit von der mittleren Schicht-dicke h bestimmt. In Abb. 5 sinddie Ergebnisse einer ausgedehntenMeßreihe (offene Quadrate) zusam-men mit den Modellvorhersagen(gepunktete Linien) aufgetragen.Abgesehen von einer Anfangsphaseist die Übereinstimmung mit demModell hervorragend: Die Rauhig-keit s nimmt präzise mit (h)1/2 zu,und der Bergabstand l verändertsich im Rahmen der Meßgenauig-keit nicht. Im Bereich bis etwa dreiMonolagen verdoppelt sich aller-dings die Strukturgröße und dieRauhigkeitsentwicklung bleibt hin-ter den Erwartungen zurück. Aufdiese anfänglichen Abweichungen

Abb. 3: a) Aufsicht aufein Kugelmodelleiner flächenzen-trierten (111)-Oberfläche mitStufe, Halbkristall-lage (H), Stufen-adatom (S) undAdatom (A) b) PotentielleEnergie des Ad-atoms längs des ina) angedeutetenWeges.

Wenn der Massentransport zwischenverschiedenen Atomlagen vollständigunterdrückt ist, tragen nur diejenigenAtome zum Wachstum der h-ten Lagebei, die auch in dieser Lage landen.Die Anzahl dieser Atome ist propor-tional zum unbedeckten Bruchteil der Lage h–1. Deshalb wächst die Be-deckung O h der h-ten Lage gemäß derlinearen Gleichung

(i)

Wie man durch Induktion über hleicht überprüft, lautet die Lösung mitder Randbedingung O 0 = 1 und der An-fangsbedingung O h>0 = 0

(ii)

mit h = Ft. Daraus folgt erstaunlicher-

weise, daß sich die erste Lage niemalsvollständig schließt, denn O 1 = 1–e–h istfür alle Zeiten kleiner als 1. Elkinaniund Villain [9] haben dafür, in Anleh-nung an das Paradoxon von Achillesund der Schildkröte, den Begriff „Ze-no-Effekt“ geprägt: Je größer die Be-deckung der ersten Lage wird, umsokleiner ist die Wahrscheinlichkeit, daßsich auf das Substrat noch ein Atomverirrt, und umso langsamer wächstdie Lage. Der Zeno-Effekt erklärt dieEntstehung der Schluchten zwischenden Bergen auf der Platin-Oberfläche.Wegen der endlichen Größe der Atomewird sich die erste Lage irgendwanndoch schließen, und zwar dann, wenndie unbedeckten Gebiete am Grundder Schluchten nur noch einen Atom-durchmesser breit sind, also bei einerSchichtdicke der Größenordnung ln l.

O hh

n

n

ht e

hn

( ) –!

––

==∑1

0

1

d dt Fh h hO O O= ( – ).–1

Kasten 1: Der Zeno-Effekt

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Physikalische Blätter55 (1999) Nr. 11

Im Blickpunkt

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werden wir noch zurückkommen.In Abb. 4 wird das theoretischeZipfelmützenprofil eines Berges(gepunktete Linie) mit einem mitt-leren experimentellen Bergprofil(durchgezogene Linie) nach einerSchichtdicke von 300 Monolagenverglichen. Auch hier ergibt sichqualitativ und quantitativ eine sehrgute Übereinstimmung: Die beidenKurven kommen bis auf den Gipfel-bereich der Berge fast zur Deckung.Insbesondere bilden sich sowohltheoretisch als auch experimentellschmale und tiefe Gräben zwischenden Bergen (s. dazu auch Kasten 1),und am Fuß der Berge zeigt sich einBereich negativer Krümmung, derzum Berggipfel hin in einen Bereichpositiver Krümmung übergeht. Nurim Gipfelbereich wird experimen-tell statt einer scharfen Zipfelmüt-zenspitze ein Gipfelplateau beob-achtet (deutlich zu sehen in Abb.2d).

Die ermutigende Übereinstim-mung der Beobachtungen mit demModell der unendlichen Barrieremacht die Analyse der Abweichun-gen umso wichtiger. Wie wir im fol-genden zeigen werden, lassen sichalle Diskrepanzen darauf zurück-führen, daß die Stufenrandbarriereerstens zwar groß, aber nicht un-endlich hoch ist, und daß sie zwei-tens eine unerwartete Abhängigkeitvon der deponierten Schichtdickezeigt, sich also im Laufe des Wachs-tums verändert.

Wie entstehen die Gipfel-terrassen?Die abgeschnittenen Zipfelmüt-

zen lassen sich anschaulich als Fol-ge der in Wirklichkeit nur endlichhohen Stufenrandbarriere DES ver-stehen, die ein Adatom nicht un-endlich oft, sondern lediglich 1/PS-mal reflektiert [6]. Für die Adatomean den Flanken der Berge ist dasunwesentlich, da sie nach wenigenReflektionen die aufwärtsgerichteteStufenkante erreichen und dort ge-bunden bleiben. Für die Gipfelter-rasse ergibt sich aber ein qualitati-ver Unterschied: Hier führt die end-liche ReflektionswahrscheinlichkeitPS zu einer endlichen Aufenthalts-zeit t1/PS des Adatoms. Wirdwährend dieser Zeit kein zweitesTeilchen deponiert, so verläßt dasAdatom die Terrasse und wird eineLage tiefer in die Stufenkante ein-gebaut. Die Wahrscheinlichkeit fürdie Deposition eines zweiten Atomswährend der Aufenthaltszeit des er-sten (und damit die Keimbildungs-

wahrscheinlichkeit) ist eine starkzunehmende Funktion der Insel-größe (Gleichung (iii) in Kasten 2).Damit die Schichtmorphologie, wiebeobachtet, von Monolage zu Mo-nolage reproduziert wird, muß sichder Durchmesser l der Gipfelterras-se gerade so einstellen, daß wäh-rend der Deposition einer Mono-lage auf der Insel genau ein Keim-bildungsereignis auftritt. DieseBedingung führt auf die Abschät-zung (siehe Kasten 2)

l(n'/F)1/5. (2)

Zusammen mit Gl. (1) ist es da-mit gelungen, die beiden Längen-skalen der Schichtmorphologie –den mittleren Inselabstand L unddie Größe l der Gipfelterrassen –mit den mikroskopischen Parame-tern F, n und n' des Wachstumspro-zesses in quantitative Beziehung zusetzen. Für unsere Platinschichtenführt die genaue Auswertung auf ei-ne Stufenrandbarriere von etwa0,25 eV. Der im Höhenprofil unmit-telbar unter den Gipfelterrassen

auftretende „Überschwinger“ derexperimentellen Kurve gegenüberder theoretischen erklärt sichzwanglos aus dem abwärtsgerichte-ten Materialtransport von der Gip-felterrasse vor der Keimbildung.

Die Höhe der Stufenrandbarrierehängt von der Schichtdicke ab Bislang wurde implizit unter-

stellt, daß die Stufenrandbarriereeine während des Wachstums kon-stante und von der Inselform unab-hängige Größe ist. In Wirklichkeithängt aber die Höhe der Barrierevon der lokalen atomaren Konfigu-ration der Stufe ab. Experimenteund Simulationen zeigen, daß fürStufen auf Pt(111) die Barriere fürden Weg über eine dichtgepackteStufenkante wie in Abb. 3a von derGrößenordnung 0,2 – 0,3 eV ist,während sie für den Weg hinab aneiner Halbkristallage nahezu ver-schwindet [7, 8]. Ändert sich alsodie atomare Struktur der Stufen-kanten – insbesondere die der Gip-felterrassen – während des Wachs-tums, so ändert sich auch die Rand-barriere. Tatsächlich zeigt Abb. 2eine drastische Veränderung derStufenkantenstruktur: Während derDeposition der ersten zehn Mono-lagen nimmt durch die zunehmendbessere Ausrichtung der Stufenkan-ten entlang der ≤110≥-Richtungendie Konzentration der Halbkristal-lagen von etwa 20 % auf etwa 1 %ab. Dies ist im Rahmen des mini-malen Modells leicht zu verstehen.Wegen der wie (h)1/2 zunehmendenRauhigkeit bei konstanter Struktur-größe werden die Berge immer stei-ler. Die Stufenkanten an den Flan-ken rücken damit enger zusammen,und die Wachstumsgeschwindigkeitder Stufenkanten, die proportionalzur Terrassenbreite ist, nimmt ab.Jedes sich an die Stufe anlagerndeAtom hat demzufolge mehr Zeit,

Abb. 4:Höhenprofil eines Berges nach Depositi-on von 300 ML. Gepunktete Linie: Theo-retisches Profil bei unendlich hoher Stu-fenrandbarriere; durchgezogene Linie:mittleres experimentelles Profil, be-stimmt durch die Analyse der Höhenver-teilung einzelner Berge, Normierung undMittelung über etwa zehn Berge.

Die Wahrscheinlichkeit, daß währenddes Aufenthaltes eines Adatoms aufder Gipfelterrasse ein zweites dortdeponiert wird, ist gegeben durch dasVerhältnis der mittleren Aufenthalts-zeit t des Adatoms zum mittleren Zeit-intervall Dt zwischen zwei Depositi-onsereignissen. Die Rate 1/t, mit derdas Adatom die Insel verläßt, setztsich zusammen aus der Wahrschein-lichkeit PR, daß es sich an einem Stu-fenrandplatz befindet, und der Rate n'= PSn, mit der es herabspringt. Unterder Annahme einer räumlich homo-genen Aufenthaltswahrscheinlichkeit(die eine genauere Rechnung bestätigt)

gilt für eine kreisrunde Insel, derenRadius r Atomabstände beträgt: PR =2pr/(pr2) = 2/r, und somit t = r/2n'. Fürdie gleiche Geometrie ist Dt = 1/(Fpr2),so daß sich die gesuchte Keimbildungs-wahrscheinlichkeit zu

t/Dt = pFr3/2n' (iii)

ergibt. Der Durchmesser l der Gipfel-terrasse ist bestimmt durch die Forde-rung, daß von den pr2 Atomen, diewährend des Wachstums einer Mono-lage auf der Insel landen, im Mittel ei-nes einen Keim bildet. Der Ausdruck(iii) ist also gleich 1/(pr2), was schließ-lich auf die Abschätzung (2) führt.

Kasten 2: Keimbildung auf Gipfelterrassen

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Im Blickpunkt

eine optimale Einbauposition zufinden, und die Stufen werden glat-ter.

Die erst allmählich anwachsendeStufenrandbarriere erklärt nun un-mittelbar die Abweichungen vomminimalen Modell in der Anfangs-phase des Wachstums. Es kommtzunächst noch zu einem erhebli-chen Materialtransport von den In-seln herab, was die Rauhigkeit un-ter den vorhergesagten Wert (h)1/2

drückt und für vermehrte Ver-schmelzung von Inseln sorgt, ohnedaß zuvor auf jeder Insel ein neuerKeim enstanden wäre. Dadurch re-duziert sich in der Anfangsphasedie Zahl der Gipfelterrassen unddie Strukturgröße l nimmt, wie inAbb. 5b erkennbar, zu.

Eine unabhängige Unterstützungdieser Argumentation ergibt sichaus Wachstumsexperimenten inAnwesenheit eines adsorbierendenVerunreinigungsgases. AdsorbiertesKohlenmonoxyd ist bei 440 K aufPt(111) hochmobil und haftet be-vorzugt an Stufenkanten. Dort be-hindert es den Transport von Ato-men stufenabwärts, es erhöht also

die Stufenrandbarriere [7]. In ei-nem Kohlenmonoxidpartialdruck,der ausreicht, um alle Stufenatomestets mit CO-Molekülen zu be-decken, ist die Barriere von Beginndes Wachstums an hoch, und dieanfänglichen Abweichungen derRauhigkeit und der Strukturgrößevom minimalen Modell sollten ver-schwinden. Die quantitative Aus-wertung der CO-Experimente in derAbb. 5 bestätigt dieses Bild.

AusblickDas dargestellte Beispiel zeigt

eindrucksvoll, welches detaillierteVerständnis der Strukturbildungbeim Schichtwachstum auf der Ba-sis einfacher Modelle heute möglichist. Die hier skizzierten grundlegen-den Prinzipien können zur Analyseeiner Vielzahl von Wachstumspro-zessen angewandt werden. Ande-rerseits soll nicht verschwiegenwerden, daß die meisten experi-mentellen Systeme sehr viel kom-plexer sind. Unter den zahlreichenungelösten Problemen ist eines derspannendsten, einen Einblick in dieatomistischen Vorgänge bei der in-

neren Strukturbildung in dünnenSchichten zu gewinnen. Wie bildetsich etwa bei der Abscheidung aufamorphen Substraten die Textur derpolykristallinen Schicht aus, undwelche Elementarprozesse sind fürdie häufig beobachtete Säulenmor-phologie verantwortlich?

Danksagung T. M. und M. K. danken Pavel

ΩSmilauer und George Comsa für dieZusammenarbeit beim experimen-tellen Teil der hier dargestellten Er-gebnisse. Unsere Arbeiten wurdenvon der DFG durch ein Heisen-berg-Stipendium (T. M.) sowie imRahmen des SFB 237 „Unordnungund große Fluktuationen“ (J. K.)unterstützt. P. P. dankt der Alexan-der von Humboldt-Stiftung für dieGewährung eines Forschungssti-pendiums.

Literatur[1] M. Kalff, P. ΩSmilauer, G. Comsa,

T. Michely, Surf. Sci. Lett. 426,L447 (1999)

[2] S. Stoyanov, D. Kashchiev, in„Current Topics in Materials Scien-ce“, Bd. 7, hrsg. von E. Kaldis(North Holland, 1981)

[3] G. Ehrlich, F. Hudda, J. Chem.Phys. 44, 1039 (1966)

[4] R. Kunkel, B. Poelsema, L. Verheijund G. Comsa, Phys. Rev. Lett. 65,733 (1990); J. Villain, J. Phys. I 1,19 (1991). Einen Überblick geben J.Krug, Adv. Phys. 46, 139 (1997); P.Politi, G. Grenet, A. Marty, A. Pon-chet und J. Villain, Phys. Rep. (inDruck)

[5] J. Krug, J. Stat. Phys. 87, 505 (1997)[6] P. Politi, J. Phys. I 7, 797 (1997)[7] M. Kalff, G. Comsa, T. Michely,

Phys. Rev. Lett. 81, 1255 (1998)[8] P. J. Feibelman, Phys. Rev. Lett.

81, 168 (1998); M. Villarba, H.Jónsson, Surf. Sci. 317, 15 (1994)

[9] I. Elkinani, J. Villain, J. Phys. IFrance 4, 949 (1994)

Abb. 5: a) Oberflächenrauhigkeit ss und b) mittlerer Bergabstand ll in Abhän-gigkeit von der mittleren deponiertenHöhe h. Als Maß für ss bzw. ll wurde dieHöhen-Höhen-Korrelationsfunktion G(r)=≤≤(h(x)–h)(h(x+r)–h)≥≥ an den Stellen G(0)bzw. G(ll/2) = 0 für die verschiedenenWerte von h ausgewertet. Die offenen

Quadrate entsprechen den Abscheide-bedingungen wie in Abb. 1, 2 und 4. Dieoffenen Kreise entsprechen Abscheidungin einem Kohlenmonoxydpartialdruck von pCO = 1,9 ×× 10–9 mbar. Die gestrichelteLinie in a) entspricht der Modellvorher-sage ss = (h)1/2 und in b) der Vorhersage ll = L = const.