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Ansprechstellen im Land NRW zur Palliativversorgung, Hospizarbeit und Angehörigenbegleitung Juli 2016 Ausgabe 68 Hospiz-Dialog Nordrhein-Westfalen Schwerpunkt: ETHISCHE FRAGEN AM LEBENSENDE

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Ansprechstellen imLand NRW zurPalliativversorgung,Hospizarbeit undAngehörigenbegleitung

Juli 2016 Ausgabe 68Hospiz-Dialog Nordrhein-Westfalen

Schwerpunkt:ETHISCHE FRAGEN AM LEBENSENDE

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Liebe Leserinnen und Leser,

medizinische Entscheidungen werden imGrunde immer von ethischen Fragen begleitet, nicht nur am Lebensende,dann jedoch ganz besonders. Dies machen Begriffe wie ‚Therapieziel -änderung‘ oder ‚Therapiebegrenzung‘,deutlich … Entscheidungen ‚über Leben

und Tod‘ stehen im Raum. In Gesellschaft und Politik sowie in der Versorgung erfährt dieses Thema aktuell eine besondere Aufmerksamkeit.Das ist einerseits gut, denn ethische Fragen habenviel mit Fragen zu Menschenwürde oder Willensfreiheit zu tun – unabhängig von der Lebensphase. Sie stehen aber auch in einem direkten Zusammenhang mit Haltung, Nähe, Fürsorge und vor allem aufmerksamer Kommunikation. Analog zu dem, was unsere Autoren in Teilen deutlich machen, geht es nichtimmer um die großen Dilemmata und um hochkomplexe Entscheidungen. Hierfür ist es zwar gut, angemessene Rahmenbedingungen zu schaffen, die relevanten Akteure zusammenzu -holen und eine Gesprächskultur zu entwickeln, dienicht nur gegenüber den Betroffenen, sondernauch unter den Professionen von Wertschätzungund Achtsamkeit geprägt ist. Aber ebenso solltenwir alle, die wir im Kontakt mit Menschen arbeiten,schon weit vor der Notwendigkeit solcher Entscheidungsprozesse unsere Aufmerksamkeitauf deren Wünsche und Bedürfnisse richten. Umdies innerhalb von Institutionen, wie z. B. der stationären Altenhilfe, zu gewährleisten, bedarf essicherlich verbesserter Ressourcen. Aber die Basisist eine redliche und offene Auseinandersetzung,die jeder Mensch in seinem Lebenszusammen-hang führen sollte.Ich wünsche Ihnen eine gute Lektüre und interessante Anregungen für Ihre Arbeit.

Ihre

Gerlinde Dingerkus

Editorial

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INFORMATION

10 Jahre Ambulante Palliativpflege in NRWGerlinde Dingerkus, Felix Grützner, Thomas Montag, Christiane Ohl 4

Spirituelle Begleitung in der Hospizarbeit –WerkstattberichtHubert Edin 5

Die Nacht in deutschen PflegeheimenJörg große Schlarmann, Christel Bienstein 8

Modellprojekt „Alevitische Seelsorge in Baden-Württemberg“ Basri Askin 11

SCHWERPUNKTETHISCHE FRAGEN AM LEBENSENDE

Mobile Ethikberatung in Lippe (MELIP)Fred Salomon, Birgit Bleibaum 13

Netzwerk ambulante Ethikberatung Göttingen (NEG)Friedemann Nauck, Ildikó Gágyor, Alfred Simon 16

„Wie kann ich das denn entscheiden?!“Umgang der Deutschen Alzheimer Gesellschaft mit ethischen Fragestellungen Susanna Saxl 18

Ethik und InterkulturalitätMichael Coors 20

Medizinische Entscheidung zwischen ethischerTheorie und klinischer PraxisInterview mit Georg Bosshard 23

Veranstaltungen 27

Inhalt

IMPRESSUM

HerausgeberALPHA - Ansprechstellen im Land Nordrhein-Westfalen zurPalliativversorgung, Hospizarbeit und Angehörigenbegleitung

RedaktionAnsprechstelle im Land Nordrhein-Westfalen zur Palliativversorgung, Hospizarbeit undAngehörigenbegleitungim Landesteil Westfalen-LippeSigrid KießlingFriedrich-Ebert-Straße 157-159, 48153 MünsterTel.: 02 51 - 23 08 48, Fax: 02 51 - 23 65 [email protected], www.alpha-nrw.de

LayoutArt Applied, Hafenweg 26, 48155Münster

DruckBuschmann, Münster

Auflage2500

Die im Hospiz-Dialog-NRW veröffentlichten Artikel geben nichtunbedingt die Auffassung der Redaktion und der Herausgeberwieder. Für unverlangt eingesandte Manuskripte wird keine Gewähr übernommen. Fotos der Autoren mit Zustimmung derabgebildeten Personen.

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I mmer schon war es Aufgabe von ambulantenPflegediensten, schwerstkranke und sterben-de Menschen zu Haus zu versorgen. DieseVersorgung ist, will man der besonderen Si-

tuation und den Betroffenen gerecht werden, miteinem besonderen Aufwand verbunden und bedarfspezifischer Kenntnisse und Erfahrungen. Es gabimmer wieder Ansätze, diesem Aufwand Rechnungzu tragen, wie beispielsweise die sogenannte Fi-nalpflege als abrechenbare Leistung im Rahmender häuslichen Krankenpflege. Die Anforderungenan diese Leistungen wa-ren jedoch unzurei-chend sowohl hinsicht-lich der qualitativen alsauch der finanziellenVoraussetzungen, wasin Nordrhein-Westfalenkritisch wahrgenommenwurde. Denn hier warendie Hospiz- und Pallia-tivversorgung weit fort-geschritten, gute Stan-dards und adäquateStrukturen notwendigeBedingungen.

Mehr als zehn Jahre ist es her, dass hier daher dieersten Schritte zu einer qualitativ hochwertigen ei-genständigen ambulanten palliativpflegerischenVersorgung im Rahmen der häuslichen Kranken-pflege eingeleitet wurden. Zahlreiche Gesprächein verschiedenen Konstellationen, unterstützt vomLandesgesundheitsministerium, in denen notwen-dige Inhalte und Voraussetzungen diskutiert wur-den, mündeten im Jahr 2006 in einen eigenständi-gen, landesweiten und kassenübergreifenden Pal-liativpflegevertrag, nachdem vorher in einem etwazweijährigen Modellprojekt mit etwa 16 teilneh-menden Pflegediensten die Wirksamkeit sowie notwendige Rahmenbedingungen erprobt und ent-wickelt wurden.

Seitdem hat sich die Hospiz- und Palliativland-schaft besonders im ambulanten Bereich weiter-entwickelt. Die hospizlichen und palliativpflegeri-

schen Angebote wurden um palliativmedizinischeKomponenten erweitert und deren Vernetzung vor-angetrieben. Die bestehenden Strukturen und mitihr die Qualität und Professionalität haben weiter-hin an Profil gewonnen. Viele Palliativpflegedienstesind inzwischen zu verlässlichen Partnern gewor-den und bilden eine wesentliche Säule in den re-gionalen Netzwerken.

Jährliche Treffen der am Vertrag teilnehmenden Pal-liativpflegedienste dienen dem Erfahrungsaus-

tausch, der fachlichenFortbildung und derqualitativen Weiterent-wicklung. Die aktuelleVeranstaltung in diesemJuni in Köln stand unterdem Eindruck des neu-en Hospiz- und Palliativ-gesetzes. Dies machtAussagen zu vielen Be-standteilen der Versor-gung und Begleitung.Aber gerade für die am-bulante Palliativpflegein NRW stellt sich die

Frage danach, welche Auswirkungen dies auf deninzwischen bewährten und in ganz NRW fast flä-chendeckend umgesetzten Palliativpflegevertraghaben kann. Für die Dienste ist klar: Die im Hospiz-und Palliativgesetz vorgesehene Integration palli-ativpflegerischer Leistungen in die allgemeinehäusliche Krankenpflege darf keine Abstriche fürihr spezifisches Angebot mit sich bringen. Sie ste-hen für die hohe Qualität der Versorgung undmöchten nicht, dass es zu ,Mogelpackungen‘kommt: Wo gute Palliativpflege draufsteht, mussdiese auch drin sein! Und dies geht nur mit Qualifi-kationsanforderungen, wie sie in diesem Bundes-land bestehen, verbunden mit einer auskömm-lichen Finanzierung.

Die Veranstaltung – organisiert von HPV NRW, DGPLandesvertretung und den ALPHA-Stellen - war da-her geprägt von einer intensiven Diskussion darü-ber, was jetzt notwendig ist und welche Wünsche

Am 9. Juni 2016 trafen sich die ambulanten Palliativpflegedienste Nordrhein-Westfalens in Köln

10 JAHRE AMBULANTE PALLIATIVPFLEGE IN NRWGERLINDE DINGERKUS, FELIX GRÜTZNER, THOMAS MONTAG, CHRISTIANE OHL

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S pirituelle Begleitung ist nach der Defini-tion der Weltgesundheitsorganisationdie vierte Säule von Palliative Care.

Doch was heißt das? Was ist Spiritualität? Washeißt spirituelle Begleitung? Was ist Seelsorge?Wer ist dafür zuständig? Was muss man wissen,was muss man können, um andere Menschen ‚spi-rituell‘ begleiten zu können? Braucht man dafür einDiplom in Theologie, eine kirchliche Beauftragungals Seelsorgerin oder Seelsorger, eine eigene spi-rituelle Praxis, was immer das auch ist …?

Das Anliegen des AK Seelsorge ist es, Mitarbeite -rinnen und Mitarbeiter in hospizlichen Feldern zubefähigen, andere Menschen, Sterbende und de-ren Angehörige und Freunde auch dann zu beglei-ten, wenn spirituelle, religiöse oder, allgemeinergesprochen, Sinnfragen auftauchen. Und dieseben nicht in der Haltung eines Expertentums: hierder spirituelle Fachmann als Caregiver und da der spirituell Bedürftige als Empfänger spiritueller Zuwendung, sondern mehr im Sinne dessen, wasWalt Whitman im „Gesang meiner selbst“ allen zu-mutet und zusagt:

„Weder ich noch irgend ein anderer kann diesenWeg für dich gehen,Du musst ihn ganz für dich selbst gehen.

Er ist nicht fern, er ist in greifbarer Nähe,vielleicht befindest du dich auf ihm, seit du geborenwurdest, ohne es zu wissen …

Auch du stellst mir Fragen und ich höre dich,ich antworte, dass ich nicht antworten kann, Dumusst es selbst herausfinden.“

SPIRITUELLE BEGLEITUNG IN DER HOSPIZ-ARBEIT – WERKSTATTBERICHTHUBERT EDIN

Das Team in Vorbereitung der berufsbegleitenden Fortbildung: v .l. Dr. Sabine Federmann, Hans Overkämping, Hubert Edin (nicht im Bild: Prof. Hermann Steinkamp)

es von Seiten der Dienste gibt. Die (virtuellen)Adressaten waren dabei nicht nur Verbände, Politikoder Kostenträger, sondern auch sie selber, ihreTräger und ihre Kooperationspartner.

Das Fazit für die Organisatoren: Die Erkenntnissedieses Tages, die auf den Erfahrungen und derKompetenz der Teilnehmenden basieren, müssenin Worte gefasst und an die Öffentlichkeit gebrachtund insbesondere in die Gremien getragen werden,die jetzt Entscheidungen darüber treffen, wie sichlangfristig ambulante Palliativpflege gestalten sollte. Nach dem Motto: „Never change a runningsys tem!“ sind wir in NRW der Überzeugung, dass

die Strukturen hier in bewährter Weise weiterent -wickelt werden müssen und Vorbild sein könnenfür andere.

Felix Grützner, Gerlinde Dingerkus www.alpha-nrw.de

Christiane Ohl www.hospiz-nrw.de

Thomas Montagwww.dgpalliativmedizin.de/allgemein/

landesvertretung-nordrhein-westfalen.html

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Aus diesem Grund hatte der Arbeits-kreis im Januar 2016 zu einem Work -shop eingeladen, um das Thema „Spi-rituelle Begleitung“ in den Blick zunehmen und an einer möglichen län-gerfristigen Fortbildung zu dem Themazu arbeiten.

Die Resonanz auf die Einladung hat dieVorbereitungsgruppe überrascht. Fast 50 Anmel-dungen: Ehrenamtliche Hospizmitarbeiterinnenund Hospizmitarbeiter, Vorstände, Koordinatorin-nen und Koordinatoren, Seelsorgerinnen und Seel-sorger.

Bevor die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sich inKleingruppen mit Aspekten der je eigenen Spiritu-alität beschäftigten, gab Hermann Steinkamp (bis2004 Professor für Pastoralsoziologie und Reli-gionspädagogik in Münster) in einem einleitendenVortrag (als Download unter http://www.hospiz-nrw.de/downloads) wichtige Impulse.

Selbstsorge und CompassioIn seinem Vortrag stellte Hermann Steinkamp zwei‚Spiritualitäten‘ vor, die für die hospizliche Arbeitfruchtbar sein können.

Der Begriff der Selbstsorge hat seine Wurzeln ineher philosophischen Denk- und Lebensschulen:in der griechisch-römischen Antike, der Stoa undin humanistischen Traditionen. Der Begriff tönt ver-traut und doch fremd zugleich.

Selbstsorge – „sich um sich selbst sorgen“ – lässtsich genauer beschreiben als eine „Praxis der Frei-heit“, in der es darum geht, das eigene Leben wirklichselbst, wirklich verantwortlich zu leben, und so dieWahrheit des Lebens in der eigenen Lebensführungdarzustellen. Das ist leicht hingeschrieben … aber:

Die antike Lebenskunst wusste, dass diese „Praxisder Freiheit“ Arbeit an sich selbst bedeutet. We-sentliche Aspekte davon sind:

• Die Sorge um die eigene Gesundheit;

• die „Meisterung der Begierden“, insofern siedie Freiheit einschränken;

• Techniken der Meditation;

• Praktiken der Gewissensprüfung und Selbstre-flexion;

• richtige Beziehungen zu den Mitmenschen (vonden privatesten, erotischen bis hin zu politi-schen Beziehungen) und darin eben auch dieSorge um die anderen.

Mit Selbstsorge ist jedoch nicht das ängstliche„sich um sich Sorgen machen“ gemeint oder dieEinladung zum grenzenlosen Egoismus; die „Meis -terung der Begierden“ meint keine ablehnende Ein-stellung zu den Genüssen und Lüsten des Lebens;Praxis der Gewissensprüfung keine skrupulösenSelbstanklagen. Es geht tatsächlich darum, „mitsich selbst befreundet zu sein“, sich „ein gutes Leben zu machen“ (mit allen ethischen Implikatio-nen). Ob und wie das gelingt, zeigt sich genaudann, wenn das Leben nicht so verläuft, wie wir esgerne hätten: Wenn Schmerzen, Leiden, Abschiede,Niederlagen, Tod … unsere Konzepte zerbrechen.

Der zweite Typus von Spiritualität lässt sich kenn-zeichnen durch den Begriff Compassio (Mitleiden,Mitgefühl) oder ‚Berührbarkeit‘. Der Begriff undwas er bezeichnet, ist tief verwurzelt in den religi-ösen Traditionen des Judentums, des Christentums,des Islam, des Buddhismus … in all diesen Tradi-tionen ist Mitgefühl und Berührbarkeit ein Namefür das Göttliche. In der Erzählung vom „barmher-zigen Samariter“ ist dieser Weg der „Gottesbegeg-nung/-erkenntnis“ vielen noch vom Hören vertraut.

Das Praxisfeld Hospiz wird immer multireligiöserund konfessionell bunter. Die beiden Ansätze„Selbstsorge“ und „Compassio/Berührbarkeit“bieten mit ihrer Herkunft aus eher philosophischenund dezidiert religiösen Wurzeln einen Rahmen, indem gute Formen für spirituelle Begleitung ent -wickelt werden können. Wichtige Kriterien (Gussone;Schiepeck, 2000) für diejenigen, die andere beglei-ten wollen, sind dabei:

• Nur wer eine eigene Praxis der Freiheit (Selbst-sorge) hat, ist glaubwürdig und kompetent, an-dere in ihrer Selbstsorge zu begleiten.

• Wichtig bleibt, nicht um das eigene Ego zu krei-sen, sondern den Kontakt zu Personen zu su-

» Den Arbeitskreis Seelsorge NRW gibt es seit2003. Auf die Initiative eines Hospizseelsorgerstreffen sich hier regelmäßig Männer und Frauenderen Anliegen es ist, den Themen Seelsorgeund Spiritualität in der Hospiz- und Palliativ -versorgung den ihnen angemessenen Stellen-wert zu geben. Dazu veranstaltet der AK Fach-tagungen, Workshops und Fortbildungen.

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chen (Meistern, Freunden, Ratgebern …), die ei-nem „freimütig Wahres“ sagen, die einen durchihre Rückmeldungen und Wahrnehmungen för-dern und herausfordern.

• Die eigene Praxis der Selbstsorge ist notwendig,um andere begleiten zu können. Gleichzeitigstellt sie einen Wert an sich dar.

• Selbstsorge braucht Zeit und Freiräume und For-men.

Die Idee für eine FortbildungNach der Diskussion des Vortrags, nach verschie-denen Runden in Kleingruppen und auch kontro-versen Diskussionen im Plenum diskutierten dieAnwesenden die Ideen des AK Seelsorge zu einerFortbildung für den Bereich Spiritual Care.

Ziel der Fortbildung ist es, die Teilnehmenden zubefähigen, aus einer eigenen reflektierten Praxisder Selbstsorge andere Menschen zu begleitenoder ihnen zu begegnen. Und diese Kultur in dereigenen Einrichtung zu befördern.

Um dies zu lernen oder weiter zu entwickeln,braucht es verschiedene Lernformen:

So wird es zwei selbsterfahrungsorientierte Einhei-ten zu den Themenfeldern „Selbstsorge“ und „Be-rührbarkeit“ geben und zwei Workshops zu denThemen „Lebensrückblick“ bzw. „Symbole, Rituale,liturgische Formen“. Die Fortbildung zielt in ersterLinie auf Koordinatorinnen und Koordinatoren inden Hos pizdiensten und anderen Einrichtungen.Die Ausschreibung der Fortbildung wird im Sommererscheinen.

Im Verlauf des Workshops entstanden Pinnwändemit den Überschriften ,Was ist klar geworden?‘ und,Was ist noch offen?‘. Auf beiden stand einiges:Thesen, Formeln, Fragen.

Vielleicht ist es ja für das Thema ,spirituelle Beglei-tung‘ eine gute Übung, mit offenen Fragen das Namenlose zu leben. Noch einmal Walt Whitman:

„Da ist etwas in mir – ich weiß nicht, was es ist –ich weiß nur, es ist in mir.

Verrenkt und verschwitzt – still und kalt wird dannmein Leib,ich schlafe – ich schlafe lange.

Ich kenne es nicht – es ist namenlos – es ist ein un-gesagtes Wort,es ist in keinem Wörterbuch, keinem Satz, keinemSymbol.

Es kreist auf etwas, das mehr ist als die Erde, aufder ich kreise,ihm ist die Schöpfung der Freund, dessen Umar-mung mich auferweckt.

Vielleicht könnte ich mehr sagen. Umrisse! Ich spre-che zu Gunsten meiner Brüder und Schwestern.

Seht ihr, meine Brüder und Schwestern?Es ist nicht Chaos oder Tod – es ist Form, Einheit,Plan – es ist ewiges Leben – es ist Glückseligkeit.“

Hans OverkämpingHPV NRW

Tel.: 0 23 63 - 8 07 16 44

Hubert EdinALPHA

Tel.: 02 51 - 23 08 48

Literatur

Gussone, B.; Schiepek, G. (2000). Die „Sorge um sich“: Burn-out-Prävention und Lebenskunst in helfenden Berufen, Miteinem Vorwort von Prof. Dr. Heiner Keupp. dgvt-Verlag, Tübingen. S.140

» Termine für die Fortbildung ,Spirituelle Begleitung in der Hospiz- und Palliativarbeit‘in Schwerte

17.-19.01.201725.-27.04.201727.-29.06.201714.-16.11.2017

Termin für die nächste Fachtagung in Essen26.10.2016

Weitere Informationen und die Ausschreibungerfolgen im Sommer 2016.

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DIE NACHT IN DEUTSCHEN PFLEGEHEIMENJÖRG GROSSE SCHLARMANN, CHRISTEL BIENSTEIN

intergrund

Die Situation während derNachtdienste in den Pflege-berufen ist bislang nur zu ei-nem geringen Teil Gegen-

stand von Forschungsprojekten. Siemüsste es aber sein, da die Bewohne-rinnen und Bewohner 42% ihrer Zeitallein mit einer Pflegeperson verbrin-gen. Die verfügbaren Studien beleuch-ten jedoch ausschließlich die Situationwährend der Nächte in Krankenhäu-sern. Daten über die Situation in Pfle-geheimen liegen bislang nicht vor. Die Studien kommen zu dem Ergeb-nis, dass Nachtschichten mit einer hö-heren Arbeitsbelastung assoziiertsind, wie beispielsweise Entschei-dungsprozesse unter Müdigkeit, per-manente Alarmbereitschaft, volle Ver-antwortung als einzige Pflegepersonim Dienst und leises Arbeiten bei ge-dämmtem Licht. Nachtpflegende ha-ben geringere Möglichkeiten, an Fort-

bildungen teilzunehmen als Pflegende im Tag-dienst. Auch fühlen sie sich durch Leitung undMitarbeitende weniger wertgeschätzt als Pflegep-ersonen des Tagdienstes. Dies kann so weit gehen,dass Tätigkeiten des Frühdienstes gegen besserenWissens bereits während der Nacht erbracht wer-den (z. B. Ganzkörperpflege),um die Erwartungshaltung derKolleginnen und Kollegen zubefriedigen. Als besonders be-lastend erleben die Pflegendenin der Nacht den Mangel anZeit, Sterbende begleiten zukönnen.

Ziel des Forschungsprojekteswar es daher, Erkenntnisseüber die Situation von Mitar-beitenden des Nachtdienstesin deutschen Pflegeheimen zugewinnen, um so einen eigen-ständigen Beitrag zur Diskus-sion zu leisten.

ErgebnisseDer Fragebogen wurde von 1.307 Personen aufge-rufen. Von diesen haben insgesamt 276 Personenden Fragebogen vollständig ausgefüllt: Die Proban-den arbeiten hauptsächlich in Häusern mit 50 bis150 Betten, in denen 75 bis 150 Bewohner leben.Durchschnittlich sind die Probanden für 51.6 Be-wohnerinnen und Bewohner verantwortlich, vondenen sie 40.3 versorgen müssen. 8.7 % der Pro-banden sind für mehr als 100 Bewohnerinnen undBewohner verantwortlich. Im Kommentarfeld zudieser Frage haben einige Probanden angegeben,für mehrere Häuser verantwortlich zu sein und wäh-rend der Nacht zwischen diesen Häusern zu pen-deln. Durchschnittlich arbeiten zwei Nachtpflegen-de im gesamten Haus. Auf den Wohnbereichen(bzw. Verantwortlichkeitsbereichen) arbeiten dieProbanden hauptsächlich alleine. Etwas mehr alsdie Hälfte der Probanden kann in Notfällen nichtauf einen Hintergrunddienst zurückgreifen.

Mit welchen Tätigkeiten sind Sie während desNachtdienstes besonders beschäftigt?Auf diese Frage konnten die Probanden bis zu fünfTätigkeiten benennen. Alle Probanden (100%) ant-worteten mit Inkontinenzversorgung. Dies schließtAntworten wie beispielsweise „Toilettengänge”,„Intimpflege” oder „Vorlagenwechsel” mit ein. Esfolgen Antworten der Kategorie Lagerung (72.83%)wie etwa „Positionswechsel”, „Bewohnerinnen undBewohner lagern“ und “betten und lagern”. Ant-

Dr. Jörg Große-Schlarmann

Prof. Dr. Christel Bienstein

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worten der Kategorie Pflegedokumentation werdenvon 52.54% der Probanden genannt. Die KategorieMedikamente (50.36%) umfasst sowohl das Rich-ten und Bestellen von Medikamenten wie auch de-ren Verabreichung in Form von Tabletten, Tropfen,Suppositorien, Injektionen und Infusionsbeigaben.Antworten der Kategorie Betreuung (27.54%) wa-ren beispielsweise „Bewohnerinnen und Bewohnerberuhigen”, „Demenzkranke betreuen”, „um Be-wohnerinnen und Bewohner kümmern, die nachtsumherirren” und „auf Schlafstörung eingehen”.5.8% der Probanden geben an, während der NachtKörperpflege wie beispielsweise „Ganzkörperwä-sche im Bett”, „Grundpflege” oder „Waschen”durchzuführen.

Was belastet Sie im Dienst besonders?Auf diese Frage antworteten 29.71% der Probandenin der Kategorie zu wenig Zeit. Dies schließt Ant-worten wie beispielsweise „Wenn ich Bewohnerin-nen und Bewohner alleine lassen muss”, „muss ofthetzen, wenn es klingelt” oder „nicht ausreichendZeit für Bewohnerinnen und Bewohner zu haben”

mit ein. 65% der Probanden gaben Antworten wie„Sterbebegleitung“ und „Palliativversorgung”kommt zu kurz. 18.84% der Probanden gaben Ant-worten der Kategorie zu wenig Personal wie bei-spielsweise „dass ich alleine bin”, „fehlendes Per-sonal”, „bin allein bei Notfällen”, „ich muss so ofteinspringen” oder „keine Hilfe ist da”. In der Kate-gorie unruhige Bewohnerinnen und Bewohner(17.39%) finden sich Antworten wie „häufiges Klin-geln”, „umherirrende Alzheimerbewohnerinnenund -bewohner” und „rufende Bewohnerinnen undBewohner”. Die Kategorie Probleme mit Kollegen(10.14%) enthält Antworten wie „schlechte Versor-

gung der Bewohnerinnen und Bewohner durchSpätdienst”, „mangelnde Anerkennung durch Tag-dienstmitarbeiterinnen und -mitarbeiter” und„Druck vom Tagdienst (waschen)”. In der KategorieNotfälle antworten 8.33% der Probanden. 7.25%der Probanden gaben an, dass sie körperliche An-strengungen belasten, wie etwa „dass ich so vieleschwere Bewohnerinnen und Bewohner allein ver-sorgen muss”, „alleine lagern” oder „schwere kör-perliche Tätigkeit”. 3.26% der Probanden gabenan, im Dienst Angst zu haben, etwa „alleine imHaus macht mir Angst”, und „Angst, dass es bren-nen könnte und ich alleine bin” und „Angst vorStürzen”.

DiskussionWährend im Krankenhaus im Durchschnitt 28 Patientinnen und Patienten in der Nacht von einerPflegefachperson versorgt werden, versorgen Pfle-gende im Nachtdienst in Alteneinrichtungen 51,6 Bewohnerinnen und Bewohner. Erschreckend ist,dass 8,7% der Pflegenden für über 100 Personen dieVerantwortung tragen. Hier stellt sich die Frage, was

unter ,Versorgung‘ bei dieser Anzahl von Bewohnerinnen undBewohnern überhaupt noch ver-standen werden kann. Selbst bei60 Bewohnerinnen und Bewoh-nern sehen sich die Pflegendenmehr als 30 Türen gegenüber,hinter denen sie jederzeit vermu-ten müssen, dass etwas passiert,ohne dass sie es sofort bemer-ken. Dieses ist umso kritischer,da der Anteil von Menschen mitDemenz deutlich zugenommenhat. Mehr als 60% der zu Betreu-enden verfügen über die Pflege-stufen I bis III.

Mehr als 65% der Kolleginnenund Kollegen im Nachtdienst beklagen, dass siesich nicht ausreichend um Sterbende kümmernkönnen. Besonders in den frühen Morgenstundennimmt die Anzahl der Verstorbenen zu. Ebenfallsfürchten die Pflegenden, dass Personen in derNacht stürzen können, zudem bekannt ist, dass besonders die Sturzgefahr in der Nacht deutlichansteigt. Nicht zu wissen, ob in einem Zimmer bereits eine Person gestürzt ist und nicht sofortaufgefunden wird, stellt hierbei eine hohe psychi-sche Belas tung dar.Besonders müssen sich die Pflegenden in derNacht um Menschen kümmern, die herumirren

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(häufig/sehr oft bis zu 60%) und Zwischenfälle ab-fangen (häufig/sehr oft bis zu 37%). Deutlich haben die nächtlichen Tätigkeiten bezo-gen auf die Körperpflege abgenommen (5,8%), da-für steht die Versorgung mit Inkontinenzhilfsmittelnmit 100 % an der vordersten Stelle. Besonders pro-blematisch erscheint es, dass immer noch in derNacht Medikamente gestellt werden, obwohl be-reits eindeutig belegt ist, dass durch den Konzen-trationsverlust (Unterbrechungen, Müdigkeit) eineerhöhte Gefahr besteht, Medikamente fehlerhaftzuzuordnen.

Während die Anzahl der Teilzeitarbeitenden im Tag-dienst geringer ist, arbeiten ca. 50% der im Nacht-dienst Arbeitenden in einer Vollzeitstelle. Pflegendewählen häufig den Nachtdienst, weil ihnen dieserbesser kompatibel mit den eigenen und familiärenAnforderungen erscheint (33,3%). Vermutlich ent-steht die recht positive Bewertung des Nachtdiens -tes durch diese Gruppe – trotz objektiv sehr he -rausfordernder und belastender Aspekte – aus demVergleich zum Tagdienst. Ihnen passen die Arbeits-zeiten zu ihrem persönlichen Lebensentwurf. Aberauch die finanziellen Gründe bilden ein wichtigesKriterium, sich für die Nachtarbeit zu entscheiden.Weiterhin wird die Möglichkeit geschätzt, alleineEntscheidung zu treffen und einen dichteren Kon-takt zu Bewohnerinnen und Bewohnern zu habenim Vergleich zum Tagdienst. Weiterhin ist es für vielenicht möglich, eine ungestörte Pause zu verbrin-gen. Dieses ist jedoch dringend erforderlich, da sichbesonders in der Nacht die Konzentrationsfähigkeitverringert. Wissenschaftlich empfohlen werden sogar Kurzschlafmöglichkeiten von 10-15 Minuten.Dieses setzt jedoch voraus, dass eine Vertretungvorhanden ist.

Empfehlungen• Die Anzahl der in der Nacht verantwortlich zu be-

treuenden Bewohnerinnen und Bewohnern isteindeutig zu hoch. Es muss gewährleistet sein,dass mindestens 2-3 Pflegende für 60 Bewohne-rinnen und Bewohner in der Nacht anwesendsind.

• Verantwortliche Pflegefachpersonen müssenüber die beste Qualifikation verfügen, da sieschnell und alleine Situationen einschätzen undpassgenaue Versorgungsmaßnahmen einleitenkönnen müssen.

• Jede Einrichtung muss es möglich machen, dassein hochqualifizierter Hintergrunddienst in derNacht anwesend ist und jederzeit beratend undunterstützend eingreifen kann.

• Notfallleitlinien, ein erreichbarer ärztlicher Hinter-grunddienst und eine stetig lieferbereite Apothe-ke stellen eine erforderliche Grundlage dar.

• Es muss gewährleistet sein, dass Nachtpflegendemindestens pro Nacht eine 30 minütige Pausehaben, die sie ohne Störungen verbringen kön-nen.

• Mehr als vier Nächte hintereinander sollten Pfle-gende nicht die Verantwortung für die Bewohne-rinnen und Bewohner übernehmen, da ab diesemZeitpunkt die Aufmerksamkeit nachlässt und ge-sundheitliche Risiken für die im Nachtdienst Tä-tigen ansteigen.

• Es muss sichergestellt werden, dass Pflegendedes Nachtdienstes an den Fortbildungen teilneh-men können, ohne ihre Schlafzeit reduzieren zumüssen.

• Die Wertschätzung der Kolleginnen und Kollegenim Nachtdienst muss deutlich spürbar sein, dasie mehr als 42 % der Versorgungzeit für die Be-wohnerinnen und Bewohner verantwortlich sind.Hierzu bedarf es gezielter Maßnahmen, die vonallen sichtbar wahrgenommen werden können,z. B. durch eine gezielte Begrüßung/Besuch derNachdiensttätigen in der Woche durch die Lei-tung des Hauses.

Der gesamte Abschlussbericht ist einzusehen un-ter: http://www.uni-wh.de/gesundheit/pflegewis-senschaft/department-pflegewissenschaft/for-schung/nacht-in-deutschen-pflegeheimen/

Prof. Christel BiensteinLeitung Department für Pflegewissenschaft

Universität Witten/HerdeckeFakultät für Gesundheit

Stockumer Straße 1258453 Witten

Tel.: 0 23 02 - 9 26-3 01Fax: 0 23 02 - 9 26-3 18

[email protected]

Literatur

Bartholomeyczik, S. et al (1993). Die Nacht im Krankenhausaus der Sicht der Pflegenden. Eschborn: Verlag Kranken-pflege.

Bienstein, C., & Mayer, H. (2014). Nachts im Krankenhaus. DieSchwester Der Pfleger, 53(5), 428–433.

Isfort, M., Klostermann, J., Gehlen, D., & Siegling, B. (2014).Pflege-Thermometer 2014. Eine bundesweite Befragungvon leitenden Pflegekräften zur Pflege und Patientenver-sorgung von Menschen mit Demenz im Krankenhaus. Köln.http://www.dip.de

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M it dem Älterwerden der ehemaligenGastarbeitergeneration rücken dieThemen Sterben und Tod immer stär-ker in den Vordergrund. Durch die

veränderten familiären Strukturen wird Sterben nurnoch selten unmittelbar erlebt. Seit einigen Jahrenzeichnet sich auch innerhalb der alevitischen Com-munity in Deutschland ein zunehmender Bedarfnach religiösem Beistand durch alevitische Geistli-che und erfahrene Laien bei der Krankheitsbewäl-tigung, der rituellen Totenwaschung, der Verlust-verarbeitung sowie der Unterstützung bei der Ver-mittlung von weiterführenden Hilfen ab.

Aleviten bilden eine eigenständige Glaubensge-meinschaft im Islam mit vorwiegend türkischer wieauch kurdischer Herkunft. In der Hoffnung auf einbesseres Leben sind auch viele Aleviten im Zugeder Gastarbeitermigration (1960er Jahre) und derpolitisch-religiösen Fluchtbewegung (1970er-1990er) aus der Türkei in viele Länder Europas, vorallem nach Deutschland, ausgewandert. Ihr kultu-relles und religiöses ‚Gepäck‘ war durch eine Viel-zahl von Diskriminierungserfahrungen in der Hei-mat gekennzeichnet. Die Zahl der in Deutschlandlebenden Aleviten wird auf ca. 600.000 bis 700.000geschätzt. Sie sind als Religionsgemeinschaft hier-zulande anerkannt und bieten alevitischen Reli-gionsunterricht an ordentlichen Schulen an.

Das Modellprojekt Alevitische Seelsorge in Baden-Württemberg wurde im Rahmen des Förderpro-gramms „Palliative Praxis – Projekte für alte Men-schen“ der Robert Bosch Stiftung im Zeitraum April2013 bis September 2015 realisiert. Initiiert undumgesetzt wurde das Projekt von der AlevitischenAkademie e.V. in Kooperation mit dem GeistlichenRat der Alevitischen Gemeinden in Baden-Württem-berg. Die Konzeptentwicklung wurde begleitetdurch Vertreterinnen und Vertreter des Hospiz St.Martin in Stuttgart und der Alpen-Adria UniversitätWien/Klagenfurt. Ein fünfköpfiger Beirat, beste-hend aus alevitischen Geistlichen (Dedes), Wissen-schaftlern und Praktikern, begleitete das Projekt.Während der zweieinhalbjährigen Projekt lauf -zeit wurden 25 ehrenamtlich engagierte Männer

und Frauen für die seelsorg-liche Begleitung von älteren sterbenden Men-schen im gemeindlichen,hos pizlichen und häuslichenKontext qualifiziert und indiesem Prozess begleitet.Herzstück des Projekts bilde-te die Konzipierung und Umsetzung eines Seelsorge-curriculums (Lehrplan) fürdie alevitische Sterbe- undTrauerbegleitung. Das Seel-sorgecurriculum umfasst sie-ben Themenmodule mit ei-nem zeitlichen Gesamtumfang von 160 StundenTheorie sowie dreißig Stunden Praxis. Der Vorbereitungskurs wurde als pragmatisch-erfah-rungsbezogene Fortbildung konzipiert und umge-setzt. Die Themenauswahl wurde durch bereits bestehende Seelsorge-Curricula (z. B. KlinischeSeelsorge Ausbildung, KSA) inspiriert und sukzes-siv um spezifisch alevitische Themeninhalte erweitert. Folgende Module waren Gegenstand desVorbereitungskurses:

Modul 1: Der sterbende Mensch

Modul 2: Strukturen und Besonderheiten der Hospiz- und Palliativversorgung

Modul 3: Spiritualität und Seelsorge

Modul 4: Trauerbegleitung und -arbeit

Modul 5: Rechtliche Aspekte der Vorsorge

Modul 6: Krisenintervention in der Telefonseelsorge

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die über ei-nen alevitischen Glaubenshintergrund verfügten,kamen aus ganz Baden-Württemberg. Bei der Be-werberauswahl spielte die Betrachtung der persön-lichen Lebenssituation im Hinblick auf die Anfor-derungen, die der Vorbereitungskurs an alle Betei-ligten stellt, eine wichtige Rolle. Dies waren:

MODELLPROJEKT „ALEVITISCHE SEELSORGEIN BADEN-WÜRTTEMBERG“ BASRI ASKIN

Basri Askin

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eine stabile Lebenssituation und Lebensführung

psychische Belastbarkeit

frei verfügbare Zeit

die Bereitschaft zur Verbindlichkeit

Die zweimonatige Praxisphase zielte innerhalb derVorbereitungszeit Ehrenamtlicher in der Sterbebe-gleitung zum ersten Mal auf konkrete Erfahrungenin der Begleitungspraxis. Drei Elemente bestimm-ten die Praxisphase:

• Die Begleitung hilfs- und pflegebedürftiger (älterer) Menschen

• Die Reflexion dieser Erfahrungen in der Kursgruppe unter fachlicher Begleitung

• Fortbildungsangebote zu praxisrelevanten Themen

Im Zuge des Modellprojekts ,Alevitische Seelsorgein Baden-Württemberg‘ entwickelte sich erstmalsein Bewusstsein für die Notwendigkeit und Bedeu-tung der Seelsorgethematik. Die Aleviten betratenmit dem Projekt Neuland. Durch die Förderung derRobert-Bosch-Stiftung war es erstmals möglich, Eh-renamtliche für die Begleitung sterbender Men-schen zu gewinnen, zu qualifizieren und auch zubegleiten. Dass dieser Impuls dabei von den Alevi-ten selbst ausging, war und ist von unschätzbaremWert für das Selbstverständnis der alevitischenCommunity. Insbesondere ist es aber vor demHintergrund der in einigen Bundesländern ausge-handelten Staatsverträge mit muslimischen Verbänden von besonderer Bedeutung, da es dieformalen Rechte von Aleviten als Glaubensgemein-schaft in Deutschland mit Substanz füllt. Die zahl-reichen positiven Rückmeldungen zum Modellpro-

jekt machen Hoffnung und geben Mut, den einge-schlagenen Weg – auch mit wissenschaftlicher Begleitung – fortzuführen. So fließen bereits dieErfahrungen aus dem Modellprojekt unmittelbarzur Entwicklung eines eigenständigen Moduls ,Ale-vitische Seelsorge‘ am neuen und weltweit bislangeinzigen Lehrstuhl für alevitische Theologie an derAkademie der Weltreligionen der Universität Hamburg ein. Die alevitische Sterbe- und Trauer-begleitung ist orientiert an den individuellen Bedürfnissen der Begleiteten und steht allen Menschen offen, unabhängig von ihrer eigenenWeltanschauung oder Glaubensauffassung. Um eine Nachhaltigkeit der neu entstandenen Aleviti-schen Seelsorge sicherzustellen, sollen neue ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiterausgebildet sowie die bereits ausgebildeten kon-tinuierlich fortgebildet werden. Als Projektpartnerkonnte dafür die Elisabeth-Kübler-Ross-Akade-mie® für Bildung und Forschung des Hospiz Stuttgart gewonnen werden. Des Weiteren ist eineImplementierung des Projektes in bestehende Hospiz- und Palliative-Care-Strukturen geplant mitdem Ziel eines Austauschs und einer guten Vernet-zung der alevitischen Seelsorgerinnen und Seelsorger mit den Akteurinnen und Akteuren derHospizarbeit in Baden-Württemberg.

Die ausführliche Projektbroschüre finden Sie onlineunter:http://www.bosch-stiftung.de/content/language1/downloads/ABAlevitischeSeelsorgeBaWue.pdf

Basri AskinAlevitische Akademie e.V.

Mannheimerstr. 105a68535 Edingen-Neckarhausen

[email protected]

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13ETHISCHE FRAGEN AM LEBENSENDE

W as tun? – Eine Frage als Impuls

„Sollen wir den 54-jährigen Bewoh-ner des Pflegeheims in die Klinik

schicken? Seine neurologische Erkrankung schrei-tet unaufhaltsam fort. Jetzt isst er nicht mehr.“ Mitdieser Frage wandte sich der Hausarzt an das Ethik-komitee am Klinikum Lippe. Es kann zu ethischenEntscheidungskonflikten bei stationären Patientenangefragt werden. Da es aber um die Entscheidungüber eine Klinikaufnahme ging, fand die ethischeBeratung auch für einen Heimbewohner statt, mitHausarzt, Vertretern des Pflegeheims und Betreuern.Sie ergab, auch in außerklinischen Entscheidungs-konflikten kann eine professionelle Ethikberatunghelfen.

KEK als VorbildNach Ende der Tätigkeit als Chefarzt, in der der Au-tor das klinische Ethikkomitee aufgebaut und ge-leitet hatte, äußerte er in einem Vortrag die Idee,eine vergleichbare Struktur für den pflegestationä-ren und ambulanten Bereich im Kreis Lippe aufzu-bauen. Das etablierte Palliativnetz in Lippe mit demrund 20 Jahre bestehenden Ambulanten Hospiz-und Palliativ-Beratungsdienst (AHPB), dem Pallia-tivärztlichen Konsiliardienst (PKD), dem Intensiv-und Palliativ-Pflegedienst Lippe (IPPL) und demstationären Hospiz griff diese Idee auf und stellteseine Strukturen zur Verfügung. Die geplante Ethik-beratung sollte als ergänzendes Angebot integriertwerden.

Viele örtliche Pflegeeinrichtungen und Personenunterschiedlicher Profession begrüßten die Pläneund unterstützen den Aufbau, so dass in knappzwei Jahren der Rahmen geschaffen und die Ethik-beratung am 1. Januar 2016 offiziell unter dem Dachdes AHPB aufgenommenwerden konnte. Schonwährend des zweiten Pla-nungsjahres kamen fünfAnfragen, zu denen Orien-tierungshilfen gegebenwurden.

Konkrete Fälle motivierenDie Vorarbeiten erfolgten zweigleisig. Anhand von

realen, aber schon abge-schlossenen Fallbeispie-len wurden mit einemKreis von InteressiertenEthikberatungen simu-liert. Die Übungen mit an-schließender Methoden-diskussion über den ab-gelaufenen Prozess (AGPflege und Ethik, 2009;Lindau, Salomon, 2002)zeigten, was Ethikbera-tung ist, wie sie abläuftund was sie leis ten kann.Das motivierte die Teil-nehmenden, diese Mög-lichkeit für die Regionnutzbar zu machen undsich selbst in ethischerFallberatung zu qualifizie-ren.

Eine Gruppe mit Vertre-tern aller im PalliativnetzLippe zusammenge-schlossenen Partner erar-beitete Organisations-form und Aufgaben derambulanten Ethikbera-tung und entwickelte denNamen mit RegionalbezugMELIP (Mobile Ethikbera-tung in Lippe) sowie Logo,(s. S. 15) Flyer und Inter-netseite (www.melip.de).

Parallel dazu erfolgte die Schulung zu Ethik undEthikberatungen nach den curricularen Vorgaben

und den Richtlinien fürdie Qualifizierung zum/rEthikberater/in der Aka -demie für Ethik in derMedizin (AEM). Der Teil-nehmendenkreis spie-gelte die Vielfalt der

Professionen für das angestrebte Arbeitsfeld wieder: Ärztinnen und Ärzte, oft mit Palliativkom-petenz, Pflegende unterschiedlicher Hierarchie -

MOBILE ETHIKBERATUNG IN LIPPE (MELIP)FRED SALOMON, BIRGIT BLEIBAUM

Prof. Dr. Fred Salomon

Birgit Bleibaum

» In diesem Arbeitsfeld ist die Viel-falt der Professionen ein wichtigesElement.

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stufen aus stationären Pflegeeinrichtungen undambulanten Diensten, Juris tinnen und Juristen, Berufsbetreuerinnen/-betreuer, Mitarbeitende ausHospiz- und Palliativdiensten und Seelsorgerinnenund Seelsorger.

Aufgaben und Ziele von MELIPMELIP soll zur Kultur des Umgangs mit Bewohne-rinnen und Bewohnern in stationären Pflegeein-richtungen, mit Versorgungs-/Pflegebedürftigen imambulanten Bereich sowie mit palliativmedizinischversorgten Menschen beitragen. Sie dient der Information, Orientierung und Beratung der ver-schiedenen an der Versorgung beteiligten und davon betroffenen Personen in ethischen Fragen.Die Schwerpunkte der Arbeit entsprechen denenin klinischen Ethikkomitees: Ethikfallberatung, Erarbeiten von Orientierungshilfen für wiederkeh-rende Fragen sowie Fortbildung von Mitarbeiten-den und Öffentlichkeit zu ethischen Themen.

EthikfallberatungEthikberatungen können helfen, wenn es in schwie-rigen Entscheidungs-, Behandlungs-, Pflege- undVersorgungssituationen Konflikte in der Beachtungund Umsetzung des Patientenwillens gibt, wenn eine Therapiemaßnahme, die nicht dem Willen desPatienten entspricht, beendet werden soll oderwenn auf eine Behandlung verzichtet werden soll,die nur zur Verlängerung des Sterbens führt. Siekönnen von allen Beteiligten beantragt werden, vonden Betroffenen, die zuhause oder in Pflegeeinrich-tungen leben, von Angehörigen und Freunden,

Betreuenden, Bevollmäch-tigten, behandelnden Ärz-tinnen und Ärzten sowiehaupt- und ehrenamtlichenMitarbeitenden der beteilig-ten Dienste.

Die Anfrage wird an das Büro des AHPB gerichtetund anhand eines Fragebo-gens von der Autorin als

zuständiger Koordinatorin vorstrukturiert. Die vierköpfige MELIP-Leitung entscheidet, ob das Problem zur Beratung geeignet ist, und plant Zeit,Ort und Teilnehmerkreis des Gesprächs. Der Betroffene oder sein gesetzlicher Vertreter sollteteilnehmen. Es wird dort beraten, wo die betroffenePerson lebt und versorgt wird. Ein dreiköpfiges Teamvon MELIP moderiert, berät und protokolliert die Ergebnisse. Wenn kein Konsens erzielt wird, werdenauch die unterschiedlichen Meinungen protokolliertund bei Bedarf weitere Termine vereinbart.

Die Beratungsergebnisse sind Orientierungshilfenund Empfehlungen, die dazu beitragen sollen, eineoptimale ethische Begründung für eine Entschei-dung zu finden, schränken aber die Entscheidungs-freiheit der Handelnden nicht ein. Sie entbindendiese nicht von ihrer individuellen Verantwortung.

Für die Koordination, die Anfahrt und den Zeitauf-wand werden für eine Beratung 180 € berechnet.Stellt dieser Betrag ein Hindernis dar, kann der För-derverein des PKD den Aufwand mittragen. Außer-dem hoffen wir, im Laufe der Arbeit auch gezieltSpenden zu bekommen, so dass wir auf die Auf-wandsentschädigung verzichten oder sie reduzie-ren können.

OrientierungshilfenEntscheidungskonflikte im ambulanten Bereichunterscheiden sich von denen in der Klinik (Coorset al., 2015). Nach ersten Erfahrungen stehen Fra-gen zur künstlichen Ernährung oder zur Beendi-gung von Nahrungs- und Flüssigkeitsgabe über lie-gende Sonden im Vordergrund. Deshalb soll dazueine Orientierungshilfe erarbeitet werden, die allenEinrichtungen bekannt gemacht wird und so man-che Einzelfallberatung überflüssig machen kann.

FortbildungenDurch Ethikfortbildungen sollen Mitarbeitende inden Pflegeeinrichtungen des Kreises geschult wer-

» Ethikberatungen können in komplexenEntscheidungs-, Behandlungs-, Pflege-und Versorgungssituationen hilfreichsein.

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den, auftauchende Entscheidungskonflikte selbstbearbeiten zu können. Die Öffentlichkeit soll sen-sibilisiert werden, ethische Fragen am Lebensendebesser wahrzunehmen und erörtern zu können.Das ist ein Beitrag zur Kultur des Umgangs mitein-ander im Kreis Lippe.

PläneObwohl die ersten Reaktionen auf die Angeboteden Bedarf bestätigen, wird es nötig sein, Beden-ken und Hindernisse wahrzunehmen und auszu-räumen. Ethikberatung bei Bewohnerinnen und Be-wohnern von Pflegeheimen verschafft immer aucheinen Einblick in die Institution. Es muss klar sein,dass die dabei gewonnenen Erkenntnisse nichtmissbraucht werden. Viele Fragen berühren auchdie Zuständigkeit des Betreuungsgerichts. Es istein Treffen mit den im Kreis tätigen Betreuungs-richterinnen und -richtern geplant, um im Aus-tausch miteinander Lösungen bei zukünfti-gen Anfragen zu finden. Das Angebotder Ethikberatung soll im öffent-lichen Bewusstsein zur selbst-verständlichen Möglichkeitwerden, für die auch Spon-soren gefunden werden,um nicht an finanziellenGrenzen zu scheitern.

Prof. Dr. Fred SalomonTulpenweg 2132657 Lemgo

[email protected]

Birgit Bleibaum (AHPB)Kramerstr. 1032657 Lemgo

[email protected]

Literatur

AG Pflege und Ethik in der Akademie für Ethik in der Medizin(2005). „Für alle Fälle …“ Arbeit mit Fallgeschichten in derPflegeethik. Brigitte Kunz Verlag, Hannover.

Coors, M., Simon, A., Stiemerling, M. (2015). Ethikberatung inPflege und ambulanter Versorgung. Modelle und theoreti-sche Grundlagen. Jacobs Verlag, Lage.

Lindau, S., Salomon, F. (2002). Ethik im ärztlichen Alltag – Kon-frontation mit einem realen Fall. Deutsches Ärzteblatt 99(6), 346-347.

www.aem-online.dewww.ethikkomitee.dewww.melip.de

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ETHISCHE FRAGEN AM LEBENSENDE

» Die Erörterung ethischer Fragen amLebensende stellt auch einen Beitragzur Kultur des Umgangs miteinanderin einer Region dar.

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D er medizinischeFortschritt wirft im-mer wieder Fragennach dem Dürfen

und Sollen, aber auch der Sinn-haftigkeit von Behandlungs-maßnahmen insbesondere beimultimorbiden, hochbetagtenund schwerkranken Patientin-nen und Patienten auf. Nichtalles medizinisch-technischMögliche ist auch medizinischsinnvoll und entspricht demWunsch der Patientinnen undPatienten. Zunehmend häufigkommt es dadurch zu ethi-schen Fragen, die die Themen„Behandeln oder nicht behan-deln?“ und „Was ist die richti-ge Behandlung angesichts deraktuellen Situation?“ und da-mit auch den Umgang mit Ster-ben und Tod betreffen. Ange-sichts dieser Herausforderun-gen kommt es dazu, dass sichBehandelnde, Patientinnenund Patienten und Angehörigenicht über das Therapiezielund damit die weitere Behand-lung von Patientinnen und Pa-tienten einig sind. In solchenSituationen kann eine außen-stehende Ethikberatung ver-mittelnd auftreten und die Be-troffenen dabei unterstützen,einen Konsens zu erreichen.

Im klinischen Bereich habensich in den vergangenen 20Jahren sogenannte KlinischeEthik Komitees (KEK) zuneh-mend etabliert und dazu ge-führt, dass in der Regel quali-fizierte Mitglieder den Be-

handlern, aber auch Patientinnen und Patientenund Angehörigen Unterstützung bei ethisch he -

rausfordernden Situationen im Klinikalltag anbie-ten. In der ambulanten Versorgung gab es bishernur wenig vergleichbare Strukturen, sodass Be-handler, Patientinnen und Patienten und deren An-gehörige in ähnlichen Situationen meist auf sichgestellt waren. Das Netzwerk ambulante Ethikbe-ratung Göttingen (NEG) wurde gegründet, um auchim ambulanten Bereich Ethikberatung anbieten zukönnen.

Welches Netzwerk steht hinter der Initiative?Das Netzwerk ambulante Ethikberatung Göttingenermöglicht nun, dass sich auch niedergelasseneÄrztinnen und Ärzte, Hausärztinnen und Hausärzte,Mitarbeitende in stationären Pflegeeinrichtungen,ambulant versorgende Pflegekräfte, Selbsthilfe-gruppen und Angehörige in der Stadt und im Land-

kreis Göttingen bei medizinethischen Fragestellun-gen und schwierigen Entscheidungssituationen be-raten lassen können. Hervorgegangen ist die Ideezu dieser Initiative aus der jahrelangen (Ethik-)Be-ratung, die das Team des Palliativzentrums Göttin-gen für den ambulanten Bereich bei Schwerkran-ken und Sterbenden für ärztliche Kolleginnen undKollegen ambulant angeboten hat sowie aus einemgemeinsamen Forschungsprojekt des GöttingerIns tituts für Allgemeinmedizin, der Klinik für Palli-ativmedizin und der Akademie für Ethik in der Medizin. In diesem von der Robert-Bosch-Stiftunggeförderten Projekt wurde die Implementierung einer ambulanten Ethikberatung mit bedarfsge-rechten Beratungsformen für die hausärztliche Versorgung untersucht.

Die handelnden Personen und InstitutionenGegründet wurde die Beratungsstelle von der Uni-versitätsmedizin Göttingen (UMG), der Akademie

NETZWERK AMBULANTE ETHIKBERATUNGGÖTTINGEN (NEG)FRIEDEMANN NAUCK, ILDIKÓ GÁGYOR, ALFRED SIMON

Prof. Dr. Friedemann Nauck

Dr. Ildikó Gágyor

Prof. Dr. Alfred Simon

» Ziele: Sensibilisierung für ethische FragestellungenStärkung der Kompetenz im Umgang mit ethischen FragenHilfestellung für Ratsuchende in ethischenKonfliktsituationen

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ETHISCHE FRAGEN AM LEBENSENDE

für Ethik in der Medizin (AEM) und der Ärztekam-mer Niedersachsen (ÄKN). Prominente Grußwortezur Auftakt-und Informationsveranstaltung am 29. September 2015 sprachen Rolf-Georg Köhler,Oberbürgermeister der Stadt Göttingen und FrauDr. Martina Wenker, Präsidentin der ÄrztekammerNiedersachsen. Das interdisziplinär tätige Netz-werk vereint Ärztinnen/Ärzte, Pflegekräfte, Patien-tenvertreterinnen/-vertreter, Sozialarbeiterinnen/-arbeiter, Medizinethikerinnen/-ethiker, Psychothe-rapeutinnen/-therapeuten, Juristinnen/Juristen,Physiotherapeutinnen/-therapeuten, Pharmazeu-tinnen/Pharmazeuten und Tätige aus den Berei-chen Seelsorge und Verwaltung.

Die Aufgaben des NetzwerkesZu den zentralen Aufga-ben des Netzwerkes ge-hört die Durchführungvon ethischen Fallbe-sprechungen. Diese kön-nen bei ethischen Fragenoder Problemen bezüg-lich der Patientenversor-gung sowohl vor Ort,zum Beispiel im häuslichen Bereich, in der Praxiseines Hausarztes oder im Pflegeheim als auch aneinem neutralen Ort, wie z. B. in der BezirksstelleGöttingen der Ärztekammer Niedersachsen (ÄKN)stattfinden.

Zusätzlich kann eine telefonischeBeratung über dieBezirksstelle Göt-tingen vereinbartwerden. Darüberhinaus bietet dasNetzwerk retro-spektive Fallbespre-chungen in Grup-pen, Fortbildungenzum Thema Ethik imGesundheitswesenund Weiterbildun-gen im BereichEthikberatung an.Das Netzwerk hatsich außerdem derEntwicklung vonLeitlinien bzw.Handlungsempfeh-lungen für wieder-kehrende ethische

Problemstellungen speziell in der ambulanten Ver-sorgung verschrieben. Auch andere Institutionen,die im Bereich Ethikberatung tätig sind, können mitder Unterstützung durch das Netzwerk rechnen.

Wer setzt die Beratungen um?Zurzeit sind ca. 35 Personen im Rahmen des Netz-werks tätig, von denen ein Großteil bereits eine Ba-sisschulung für Ethikberatung durchlaufen hat undfür die Moderation ethischer Fallbesprechungenzur Verfügung steht. Zur internen Qualitätskontrollearbeiten die Moderatorinnen und Moderatoren inder Regel zu zweit. Weiterbildungsmaßnahmen,quantitative Evaluationen und Untersuchungen derBeratungsanlässe mit Hilfe qualitativer Methodensollen die langfristige Qualitätssicherung des NEG

gewährleisten.

Die Hausärztin undSprecherin des NEG-Vorstands Dr. KarinMeier-Ahrens formu-liert ihre Wünsche fürdie Zukunft wie folgt:„Uns ist eine niedrig-

schwellige Beratung wichtig. Ich wünsche mir, dasssich die ambulante Ethikberatung ausbreitet undwir in Deutschland soweit kommen wie die Verbrau-cherberatung: Dass es normal ist, sich an uns zuwenden, wenn man einschlägige Fragen hat.“

Struktur des Netzwerks ambulante Ethikberatung Göttingen

» Aufgaben:Telefonische BeratungModeration von ethischen FallbesprechungenDurchführung von Ethik-FortbildungenErstellung von Ethik-Leitlinien

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S eit Januar 2002 bie-tet die Deutsche Alz-heimer Gesellschaftam Alzheimer-Tele-

fon Beratung an für Menschenmit Demenz, für ihre Angehö-rigen, aber auch für diejenigen,die ehrenamtlich oder beruf-lich in die Begleitung und Ver-sorgung von Demenzkrankeneingebunden sind. Neben Fra-gen zur Pflegeversicherung, zukonkreten Unterstützungsan-geboten oder zu den Behand-lungsmöglich-

keiten geht es dabei am häufigstenum den Umgang mit Menschen mitDemenz und die damit verbunde-nen ethischen Fragestellungen:

„Mein Vater ist doch ein erwachse-ner Mann. Entscheidungen für ihntreffen zu sollen, fällt mir unendlich schwer.“; „Mei-ne Mutter will nicht ins Heim. Doch sie kann einfachnicht mehr alleine zu Hause bleiben und ich bin be-rufstätig. Ich kann sie doch nicht gegen ihren Willen

ins Heim bringen?“; „Mein Mann will die Tablettennicht nehmen. Er sagt, er sei doch nicht krank. Jetztüberlege ich, ob ich ihm die Medikamente unterdas Essen mische.“; „Seit meine Frau einmal weg-gelaufen ist, traue ich mich nicht mehr, sie zum Ein-kaufen mitzunehmen. Jetzt schließe ich die Tür ab,wenn ich etwas besorgen muss. Es ist ja nur füreine knappe Stunde.“; „Die Pflegekräfte im Heimhaben mir geraten, meinem Mann zu erzählen, dasser nur zur Kur da sei. Das würde ihn vielleicht we-niger aufregen, aber darf ich ihn denn belügen?“Auf all diese Fragen gibt es keine einfachen Ant-worten, kein „Ja“ oder „Nein“. Um zu einer Ent-scheidung zu kommen, ist es notwendig, die ver-

schiedenen Seiten gegen-einander abzuwägen. Inder Beratung bemühen wiruns, Hilfestellungen dabeizu geben, zu klären, wel-che Interessen an welcherStelle eine Rolle spielen,welche Erfahrungen ande-

re mit ähnlichen Entscheidungen gemacht haben,aber auch wo es möglicherweise noch Informa-tionsbedarf gibt, um eine Entscheidung verantwor-tungsvoll treffen zu können.

„WIE KANN ICH DAS DENN ENTSCHEIDEN?!“Umgang der Deutschen Alzheimer Gesellschaft mit ethischen Fragestellungen

SUSANNA SAXL

Susanna Saxl

Die Beratung wird ehrenamtlich durchgeführt. Dieorganisatorischen Kosten sollen durch Spenden ge-deckt werden.

An wen können sich Interessierte wenden?Betroffene und Antragsteller können sich über dieBezirksstelle Göttingen der ÄKN telefonisch odereinfach per E-Mail an das Netzwerk wenden. Gernedürfen auch Interessierte außerhalb Göttingens,die einen Erfahrungsaustausch begrüßen oder wo-möglich selber ein ähnliches Netzwerk gründenmöchten, ihr Anliegen per E-Mail an das GöttingerNetzwerk ambulante Ethikberatung richten: [email protected] Tel.: 05 51 - 30 70 23-20

Prof. Dr. Friedemann NauckDirektor Klinik für Palliativmedizin

Georg-August-Universität GöttingenRobert-Koch-Straße 40

37075 GöttingenTel.: 05 51 - 3 91 05 00Fax: 05 51 - 3 91 05 02

friedemann.nauck@med.uni-goettingen.dewww.palliativmedizin.uni-goettingen.de

» Auf viele Fragen der Angehörigen gibt es keineeinfachen Antworten.

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Ich möchte dies mit einem Beispiel aus unserer Be-ratungspraxis veranschaulichen. Eine Tochter riefan und erzählte, dass sie gerade aus dem Heimkomme, in dem ihre Mutter wohnt. „Die Pflegekräf-te und der Arzt wollen, dass ich meine Zustimmungzu einer Magensonde für meine Mutter gebe. Dasie seit einer Woche nichts mehr isst und kaumnoch trinkt, würde sie sonst verhungern und ver-dursten. Ich glaube nicht, dass sie eine Magenson-de wollen würde, aber wie kann ich das denn ent-scheiden? Ich habe zwar eine Vollmacht von ihr,aber eine Patientenverfügung gibt es nicht.“ DieTochter stand sehr unter Druck, als sie anrief. Siehatte das Gefühl, sie müsse diese Entscheidung –und damit die Entscheidung über Tod oder Lebenihrer Mutter – innerhalb der nächsten Stunden tref-fen. Um sie bei einer Entscheidungsfindung zuunterstützen, war es hier zunächst notwendig,mehr über die genaueren Umstände zu erfahren:Ist die Mutter bereits im schweren Stadium der De-menz? Gibt es bestimmte Ursachen dafür, dass siekeine Nahrung mehr zu sich nimmt? Leidet sie bei-spielsweise an Schluckstörungen oder vielleicht anAppetitlosigkeit oder Übelkeit als Nebenwirkungeines Medikaments? Hat sie Probleme mit den Zäh-nen oder eine Entzündung im Mund oder Hals?Oder ist eventuell die Essenssituation zu unruhigund fühlt sie sich zu sehr gedrängt? Was wurde be-reits ausprobiert, um die Mutter wieder zum Essenzu bewegen?

Im Gespräch stellte sich heraus, dass die Muttersich bereits im fortgeschrittenen Stadium der De-menz befand. Die Tochter konnte nicht einschätzen,ob bereits der Sterbeprozess eingesetzt hatte oderob die Mutter nur durch eine vorangegangene In-fektion so stark geschwächt war, dass sie kaumnoch ansprechbarwar. Für die Toch-ter war es wichtigzu erfahren, dasseine MagensondeUntersuchungenzufolge die Über-lebenszeit der Patienten nicht verlängert, es sichalso tatsächlich nicht um eine Entscheidung „überLeben und Tod“ handelt. Ihr war auch nicht klar,dass trotz Magensonde die Nahrungsaufnahmeüber den Mund weiterhin möglich und meist sogarempfehlenswert ist. Ebenso wenig wusste sie, dassdie Magensonde wieder entfernt werden könnte,wenn ihre Mutter sich wieder erholen würde. Nach-dem wir auch die möglichen Komplikationen, diemit dem Legen einer Magensonde verbunden sind

(u. a. Verstopfen der Sonde, Einwachsen der Hal-teplatte in die Magenwand, Abriss der Sonde, Ent-zündungen der Haut an der Austrittsstelle, Undich-tigkeit oder Schmerzen und eine ggf. erforderlicheFixierung, wenn die Mutter versuchen würde, dieSonde zu entfernen), besprochen hatten, fühltesich die Tochter weitgehend gestärkt und infor-miert. Sie sah sich nun in der Lage, mit dem Arztund mit dem Pflegeteam im Heim die offenen Fra-gen zu besprechen und dann mit ausreichenderÜberlegungszeit eine Entscheidung zu treffen.

Unabhängig davon ob Angehörige oder Mitarbei-tende in Pflege- und Gesundheitsberufen mit ethi-schen Fragestellungen im Umgang mit Menschenmit Demenz konfrontiert sind: Wichtig ist immer ei-ne echte Auseinandersetzung mit der Frage und dieEinbeziehung von allen, die in Beziehung zu dembetroffenen Menschen stehen. Dabei geht es auchdarum, offen zu sein für neue und ganz andere Er-klärungen als bisher, um ein bestimmtes Verhaltenzu verstehen. Ethische Fallbesprechungen könnendazu beitragen, die Achtsamkeit und Sensibilitätin (Pflege-)Teams aufrechtzuerhalten, indem Entscheidungsprozesse sichtbar und mitgestaltbargemacht werden.

Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft hat einen Ar-beitsausschuss Ethik berufen, der aus neun Mit-

gliedern unterschiedlicher Professionensowie Angehörigen besteht. Im Laufe derJahre hat der Ausschuss eine Reihe von‚Empfehlungen‘ erarbeitet, um für ver-schiedene Themen praxisorientierte An-regungen und Entscheidungshilfen auf-zuzeigen. Dazu gehören die Empfehlun-

gen zum Umgang mit Diagnose und Aufklärung beiDemenz; Empfehlungen zum Umgang mit Unruheund Gefährdung bei Demenz (Hinweise zur Vorbeu-gung und Minderung von Gefahren, die durch Un-ruhe und Sich-Verlaufen bei Demenzkranken ent-stehen können); Empfehlungen zum Umgang mitErnährungsstörungen bei Demenz (u. a. Einsatz ei-ner Magensonde) sowie die Empfehlungen zur Be-gleitung von Demenzkranken in der Sterbephase.

19ETHISCHE FRAGEN AM LEBENSENDE

» Angehörige benötigen ofteinfach nur mehr Sicherheitund Zeit, um Entscheidungentreffen zu können.

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E s scheint intuitiv na-heliegend, dass ethi-sche Fragen mit derkulturellen Identität

von Personen zu tun haben. Sosind die Wertvorstellungen ei-nes Menschen sicher durch dieKultur, in der er oder sie lebt,geprägt. Von daher scheint esoffensichtlich, dass Menschenaus unterschiedlichen Kulturenaufgrund ihrer unterschied-lichen Wertvorstellungen mit-einander in Konflikt geratenkönnen. Diese erste Einschät-zung ist in zentralen Punkten

richtig, aber sie ist auch an zwei entscheidendenStellen zu einfach: Zu einfach ist sie im Blick aufdas vorausgesetzte Kulturverständnis und im Blickauf das Verständnis von Ethik.

Was ist Kultur?Was sind eigentlich diein ethischer Hinsicht re-levanten kulturellenUnterschiede, an die wirin solchen Fällen den-ken? Mal sind es natio-nale oder geographi-

sche Unterschiede, z. B. wenn eine deutsche einertürkischen, oder eine europäische einer arabischenKultur gegenübergestellt wird. Es können aber auchreligiöse Grenzen gezogen werden, wenn man z. B.die christliche und islamische Kultur einandergegenüberstellt. Denkbar sind aber auch noch ganzandere interkulturelle Grenzziehungen, die unsaber interessanterweise eher selten als kulturelle Grenzen auffallen, wie z. B. die Unter-scheidung von Professionskulturen oder aber regionalen Kulturen innerhalb eines Landes.

So eindeutig es also zu sein scheint, dass zwischenkultureller Identität und ethischen Bewertungenein Zusammenhang besteht, so unklar ist dabei,was eigentlich mit der kulturellen Identität gemeintist. Häufig wird dabei ein sogenanntes essentialis -tisches Kulturverständnis vorausgesetzt, das voneiner Kultur als einer historischen gewachsenen,aber ansonsten weitgehend statischen Größe aus-geht (Knipper, Bilgin, 2009, S. 21). Kulturen erschei-nen dann als relativ klar umrissene Größen, die

man miteinander vergleichenkann. Doch die Frage nachden Grenzen dieser vermeint-lich so klar umrissenen Größe‚Kultur‘ zeigt, dass solch einessentialistisches Kulturver-ständnis zu einfach ist. Wo die

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- Juli 2016/6820 SCHWERPUNKT

ETHIK UND INTERKULTURALITÄTMICHAEL COORS

Dr. Michael Coors

» Die Frage danach, was ‚kulturelleIdentität‘ meint, bringt weiterekomplexe Fragestellungen mitsich.

Empfehlungen, Anregungen und Entscheidungshil-fen stehen auf der Internetseite der Deutschen Alzheimer Gesellschaft kostenlos zum Downloadzur Verfügung unter: https://www.deutsche-alzhei-mer.de/angehoerige/ethische-fragestellungen.html

Oberster Maßstab des Handelns sollte immer dieLebensqualität der betroffenen Menschen mit De-menz sein.

Susanna SaxlDeutsche Alzheimer Gesellschaft e.V. Selbsthilfe

DemenzFriedrichstr. 236

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kulturellen Grenzen jeweils gezogen werden, istnämlich abhängig von den Interessen derer, die diese Grenzen ziehen. In ethischer Hinsicht ist darum die Frage nach der kulturellen Herkunft einerPerson weniger interessant als die Frage, warumein bestimmter kultureller Unterschied in einemethischen Konflikt überhaupt von Interesse ist!

Die größte Gefahrsolch eines essentialis -tischen Kulturbegriffsliegt darin, dass er zuStereotypen führt, diedann nicht mehr über-prüft werden. Dannmeint man schon zuwissen, was der Pa-tient/die Patientin willund braucht, weiler/sie z. B. zu einer bestimmten Religionsgemein-schaft gehört. Der Patient bzw. die Patientin bleibtaber ein Individuum, das nicht einfach über seinekulturellen oder religiösen Bezüge definiert werdenkann: Ob ein Mensch, der aus einem mehrheitlichislamisch geprägten Land kommt, auch alle mora-

lischen Überzeugungen des Islams teilt, wissen wirnicht, solange wir nicht mit ihm oder ihr darübergesprochen haben – zumal auch der Islam eine Fül-le unterschiedlicher Schulen und Deutungen kennt.

Sinnvoller ist es darum, von Kulturen nicht als fest-stehenden Größen auszugehen, sondern die kul-turelle Identität von Personen als ein dynamisches,

sich veränderndes Zwischen-ergebnis von Selbst- undFremdzuschreibungen zu ver-stehen: „Kulturell identifizier-te Grenzen und Kategoriensind nicht naturgegeben, son-dern das stets zeit- und situa-tionsgebundene (Zwischen-)Ergebnis sozialer Beziehun-gen.“ (Knipper, 2014, S. 57).Die Zuschreibung einer kultu-

rellen Identität hat immer eine Funktion im Blickauf die zwischenmenschlichen Beziehungen, in de-nen diese Zuschreibungen vorgenommen werden.Darum ist die relevante Frage diejenige nach denGründen für die Bedeutsamkeit der jeweils beton-ten kulturellen Differenz. Statt auf Kulturen zu ach-

» Jeder Mensch hat individuelleVorstellungen von einem ‚gutenLeben‘, die nicht nur ethische,sondern auch rechtliche Fragenaufwerfen können.

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ten, geht es darum, auf die Konstruktion von kulturellen Differenzen in zwischenmenschlichenBeziehungen zu achten.

Ethik in einer kulturell pluralistischen Gesell-schaftDas eingangs dargestellte Verständnis von inter-kulturellen Konflikten ist aber auchnoch in einer anderen Hinsicht zueinfach: Wenn interkulturelle ethi-sche Konflikte als Konflikte auf-grund unterschiedlicher Wertvor-stellungen verstanden werden,dann unterscheiden sie sich letzt-lich nicht von anderen ethischenKonflikten in einer modernen plu-ralistischen Gesellschaft – der Unterschied ist lediglich gradueller Art (Ilkilic, 2010). Denn kennzeichnend für unsere moderne Gesellschaftist gerade die Akzeptanz unterschiedlicher Wert-vorstellungen, sodass die ethische Frage nach verbindlichen normativen Kriterien des richtigenHandelns angesichts der Pluralität von Wertvorstel-lungen zu der zentralen Frage wird (Habermas,1983).

Im Kontext von Medizin und Pflege haben sich alssolche Prinzipien für ein ethisch vertretbares Han-deln der Respekt vor der Selbstbestimmung, dieFürsorgeprinzipien des Wohltuns und des Nicht-schadens und das Gerechtigkeitsprinzip etabliert(Beauchamp; Childress, 2009). Diese Prinzipiensind nicht nur Ausdruck einer kulturell geprägtenWertvorstellung, sie beanspruchen vielmehr Gültigkeit gerade angesichts der Vielzahl unter-schiedlicher kultureller Prägungen in unseren pluralistischen Gesellschaften.

Gerade dem Prinzip des Respekts vor der Selbst-bestimmung kommt angesichts der kulturellen Plu-ralität eine zentrale Rolle zu. Es regelt nämlich unseren Umgang mit unterschiedlichen Vorstellun-gen des guten Lebens. Weil Menschen unterschied-liche kulturell geprägte Vorstellungen davon ha-ben, was es bedeutet, gut zu leben, dürfen wir an-deren diese Entscheidung nicht abnehmen,sondern müssen uns daran orientieren, was sieselbst als ihre je eigene Vorstellung des Guten be-nennen.

Zu einem wirklich harten ethischen Konflikt kommtes deswegen v. a. dann, wenn das Selbstbestim-mungsrecht einzelner Personen durch andere inFrage gestellt wird, wenn z. B. die Familie die Auf-

klärung eines Angehörigen verweigert oder wennder Ehemann meint, für seine Frau entscheiden zukönnen. Ob sich jemand dafür aber auf seine kul-turelle Identität beruft oder nicht, ist letztlich fürdie ethische Entscheidungsfindung in solch einerSituation nicht relevant. Hier sind dem Handeln vonÄrztinnen/Ärzten und Pflegekräften in Deutschland

zudem enge rechtli-che Grenzen gesetzt.

Allerdings zeigt sich,dass solche hartenethischen Konflikteeher selten sind.Auch wenn es eineReihe von Fällen gibt,

bei denen derartige Fragen im Vordergrund zu ste-hen scheinen, zeigt sich doch häufig, dass das ei-gentliche Problem oft anderer Natur ist. Viel häufi-ger geht es in interkulturellen ethischen Konfliktenum die sehr unterschiedliche Wahrnehmung der je-weiligen Situation.

Eine bestimmte kulturelle Identität zu haben, be-deutet immer auch, die Welt und das eigene Lebenauf eine bestimmte Art und Weise wahrzunehmenund sich im Leben und insbesondere in Krisensitu-ationen zu orientieren. Diese Art der Orientierungfunktioniert sehr unmittelbar und intuitiv. Je frem-der mir nun die Situationswahrnehmung eines an-deren Menschen ist, je fremder seine Art und Weisesich intuitiv zu einer kritischen Situation wie z. B.einer tödlichen Erkrankung zu verhalten, desto grö-ßer ist das Konfliktpotential.

Fazit: Was hilft in der Praxis?Für interkulturelle ethische Konflikte hilft zunächst,was für den Umgang mit ethischen Konflikten all-gemein hilft: Sensibilität dafür, dass Menschen die-selbe Situation sehr unterschiedlich wahrnehmenkönnen, abhängig davon, was sie in ihrem Lebenerlebt haben und wie sie dadurch geprägt wurden.Darum braucht es in ethischen Konflikten immerwieder den Versuch, die Situation auch vom Stand-punkt des Anderen aus zu betrachten (Arendt,2008). Je fremder mir allerdings die Wahrnehmungdes Anderen ist, desto schwerer fällt dies und destomehr Kommunikation und Gespräch braucht es.

Häufig werden ethische Konflikte von den Beteilig-ten selbst kulturalisiert, d. h. die kulturelle Identitätwird z. B. von Angehörigen oder von Patienten alsArgument angeführt, oder aber auch von Ärztin-nen/Ärzten und Pflegekräften. Insbesondere in die-

Es geht in interkulturellenethischen Konflikten häufigum die sehr unterschiedlicheWahrnehmung einer Situation.

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Was ist Ihr persönlicher Bezug zu dem Thema?Ich habe nach der Klinischen Ausbildung zum Fach-arzt für Allgemeine Innere Medizin im Jahre 2000und nach einer Dissertation zum Umgang mit le-bensverlängernden Maßnahmen in StadtzürcherPflegeheimen mehrere Jahre am Institut für Rechts-medizin der Universität Zürich primär empirischeForschungsprojekte zu medizinischen Entscheidun-gen am Lebensende durchgeführt und geleitet.2006 habe ich im Bereich der klinischen Ethik ander Medizinischen Fakultät der Universität Zürichhabilitiert. Danach habe ich bis 2009 als erster festangestellter klinischer Ethiker am UniversitätsspitalZürich gearbeitet und in jener Zeit auch in der Zen-tralen Ethikkommission sowie der Subkommission,Klinische Ethikberatung‘ der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften mit-gearbeitet. 2009 habe ich der hauptberuflichen

Tätigkeit als klinischerEthiker den Rücken gekehrt und bin in die klinische Tätigkeit amKrankenbett zurückge-kehrt. Ich habe die Zusatz-ausbildung zum Geriaterabsolviert und arbeite seit2013 als Leitender Arzt ander Klinik für Geriatrie desUniversitätsspitals Zürich.Mit einem geringen Stun-denanteil bin ich danebennoch seit mehreren Jahrenals Klinischer Ethiker amWaidspital, einem mittel-großen Zürcher Stadtspi-tal, tätig.

MEDIZINISCHE ENTSCHEIDUNG ZWISCHENETHISCHER THEORIE UND KLINISCHERPRAXISINTERVIEW MIT DR. GEORG BOSSHARD

Dr. Georg Bosshard ist Facharzt für Geriatrie am Universitätsspital Zürich und seit 2006 Privatdozent fürKlinische Ethik an der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich.

Dr. Georg Bosshard

sen Fällen gilt es sehr genau darauf zu achten, wasmit dem Verweis auf die kulturelle Identität eigent-lich begründet werden soll, oder ob damit nichtdem eigentlichen Konflikt ausgewichen wird.

Pastor Dr. Michael CoorsTheologischer Referent

Zentrum für Gesundheitsethik (ZfG)an der Evangelischen Akademie Loccum

Knochenhauer Str. 3330159 Hannover

Tel.: 05 11 - 1 24 16 [email protected]

Literatur

Arendt, H. (2008). Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philo-sophie. 4. Auflage. München: Piper.

Beauchamp, T. L., Childress, J. F. (2009). Principles of Biome-dical Ethics Oxford. 6. Aufl. Oxford, New York: Oxford Uni-versity Press.

Habermas, J. (1983) Moralbewutsein und kommunikatives Han-deln. Frankfurt a.M.: Suhr-kamp.

Illikilic, I. (2010). Medizinethische Aspekte des interkulturellenArzt-Patienten-Verhältnisses. In: Deutscher Ethikrat (Hrsg.).Migration und Gesundheit. Kulturelle Vielfalt als Heraus-forderung für die medizinische Versorgung. Berlin: Deut-scher Ethikrat, 29–40.

Knipper, M., Bilgin, Y. (2009). Migration und Gesundheit. St.Augustin, Berlin: Konrad Adenauer Stiftung.

Knipper, M. (2014). Vorsicht Kultur! Ethnologische Perspektivenauf Medizin, Migration und ethnisch-kulturelle Vielfalt. In:Coors, M., Grützmann, T., Peters, T. (Hrsg.). Interkulturalitätund Ethik. Der Umgang mit Fremdheit in Medizin und Pfle-ge. Göttingen: Edition Ruprecht, 52–69.

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- Juli 2016/6824 SCHWERPUNKT

Welche Schwierigkeiten sehen Sie bzgl. der Verbindung zwischen ethischer Theorie und klinischer Praxis?Ich würde die grundsätzliche Frage stellen, ob dieklinische Ethik das erreichen kann, was die Medi-zinethik bzw. die Biomedizinische Ethik offensicht-lich verpasst hat, nämlich eine echte Brücke zuschlagen zwischen ethischer Theorie und klinischerPraxis, letztlich also zwischen Philosophie und Me-dizin. Ich persönlich habe Zweifel, obdie klinische Ethik diesem Anspruch ansich selber, eine echte Brückenfunktionzwischen Philosophie und klinischerMedizin bilden zu können, wirklich indem Maße gerecht werden kann, wiesich das viele erhoffen.

Worin liegen diese Schwierigkeiten im Detail?Es gibt drei Bereiche, in denen diese Schwierigkei-ten ihren Ausdruck finden: 1. in der Methodik derKlinischen Ethik; 2. im Zusammenhang mit derIdentität des Klinischen Ethikers und 3. in der Frageder Glaubwürdigkeit.

Beginnen wir mit dem Thema ‚Methodik‘: Inzwischen gibt es ja für ethische Fallgesprächeeinige methodische Herangehensweisen. Wassehen Sie hier als problematisch an?Ein Fachgebiet – auch, aber nicht nur in der Medizin– definiert sich zum einen über ein Kompetenzfeld,in dem es beansprucht, die beste Expertise zur Verfügung zu stellen. Zum anderen muss ein Fach-gebiet eine als wirksam nachgewiesene Methodeanbieten können, auf der diese Expertise aufbaut.Das Kompetenzfeld, in dem die Klinische Ethik Expertise beansprucht, sind bekanntlich Entschei-dungssituationen, in denen Wertfragen resp. Werte -konflikte eine zentrale Rolle spielen. Das tönt zunächst einmal klar und plausibel, jedenfalls in derTheorie. In der Praxis allerdings zeigt sich immerwieder, dass dieGrenze zwischenSach- und Wertfra-gen fließend ist,oder, präziser ge-sagt, dass reale klini-sche Probleme fastimmer ein unauflös-bares Konglomerat von Sach- und Wertfragen dar-stellen. Ganz davon zu schweigen, dass in der Re-alität so manche angeblich ‚ethischen‘ Problemein Tat und Wahrheit Kommunikationsproblemesind.

Selbst wenn es nun aber in einem konkreten Falldurchaus möglich sein kann, eine klare Wertfragezu isolieren, selbst dann sind Zweifel angebracht,wie hilfreich die von der klinischen Ethik geltendgemachten Methoden – manche sprechen auch vonTools oder gar von der „Werkzeugkiste des Klini-schen Ethikers“ – wirklich sind. Misstrauisch ma-chen könnte einen hier nur schon die Vielfalt – mankönnte auch sagen: Widersprüchlichkeit – an an-

gebotenen Metho-den.

Könnte es sein, dasssich hinter dieserVielfalt eine gewissemethodische Hilflo-

sigkeit verbirgt? Könnte es so sein, dass, wenn manso viele grundverschiedene Methoden in Erwägungziehen muss, vielleicht keine davon wirklich trag-fähig ist, weil vielleicht ethische Fragen eine derartelementare Ebene des Menschseins betreffen, dasssie sich der Abstraktion eines strengen methodo-logischen Zugangs entziehen? Ebenfalls nicht wirk-lich vertrauenserweckend ist die Vielfalt bzw.Widersprüchlichkeit der von einzelnen Autorenempfohlenen professionellen Voraussetzungen.Aber dazu kommen wir später.

Und was bewegt Sie, wenn Sie über die Glaub-würdigkeit nachdenken?Ich befürchte, dass die Tendenz der letzten Jahre,theoretisch-ethische Qualifizierungen gegenüberklinischen Biografien relativ stark zu gewichten, dieklinische Ethik vor ein schwerwiegendes Glaubwür-digkeitsproblem bei den klinisch Tätigen stellt.

In dem Werk ,Klinische Ethikberatung – Ein Praxis-buch‘ herausgegeben von Andrea Dörries, GeraldNeitzke, Alfred Simon, Jochen Vollmann, erschienenim Kohlhammer Verlag Stuttgart 2008, werden in

verschiedenen Kapiteln folgendeprofessionellen Voraussetzungenfür eine gelingende KlinischeEthikberatung nahegelegt: DerTheologe Ralph Charbonnier emp-fiehlt das ,Jahrhundertealte Theo-rie- und Erfahrungspotential dertheologischen Anthropologie‘ und

hält ein ,Plädoyer für eine institutionalisierte theo-logisch verantwortete Ethikberatung‘.

Etwas anders tönt es beim Internisten und Gas -troenterologen Gerd Richter: Dieser sieht „Exzel-lentes klinisches Wissen und medizinische Kennt-

» Ethische Fragen betreffen eineelementare Ebene des Mensch-seins.

» Im Kompetenzfeld der klinischenEthik spielen nicht nur Sach- undWertfragen, sondern auch Kommuni-kationsprobleme eine zentrale Rolle.

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nisse“ als zentral für die klinische Ethikberatungan. Der Ethiker und Psychiater Jochen Vollmannsieht eine Kernkompetenz des klinischen Ethikers– neben der ethischen Fachkompetenz – in der„Kompetenz in Kommunikation und Prozessteue-rung“. Könnte es sein, dass reale ethische Beratungstätigkeit sehr viel mehr situations- undpersonengebunden ist, als wir es gerne zugeben?Im englischen Sprachraum gibt es zu dieser Erkenntnis den Satz: „90 Percent in ethics is pickingthe right ethicist“ also: In der Ethik kommt es v. a.darauf an, den richtigen Ethiker für die eigenenInteressen zu erwischen – und nicht so sehr auf diegenerelle Expertise, die Ethiker anzubieten haben ...

Wie steht es um den letzten Punkt, die Identitätdes Beraters?Ich glaube, dass die beschriebene methodische Un-schärfe und die Unklarheit des Kompetenzfeldesverbunden ist mit einer unsicherenIdentität der in der klinischen Ethiktätigen Personen. Was ich damit mei-ne und, viel wichtiger noch, wie sichdas anfühlt, möchte ich anhand eines Artikels zeigen, den RouvenPorz, der klinische Ethiker des Uni-versitätsspitals Bern, kürzlich in derSchweizerischen Ärztezeitung publi-ziert hat. Der Titel des Textes lautet„Das ethische Dilemma“. Hier lesenwir von der Patientengeschichte eines Arztes aus seinem Alltag alsOnkologe, wobei er die Situation als Dilemma bezeichnet. Porz weist denArzt darauf hin, dass philosophischgesehen gar kein eigentliches Dilem-ma vorliege, sondern allenfalls eineProblemsituation. Etwas später er-zählt dann eine Pflegende eine Ge-schichte aus ihrem früheren Pflege-alltag, die sie als sehr belastendempfunden hat und ebenfalls als ‚Dilemma‘ bezeichnet.

Ab hier zitiere ich wörtlich aus demArtikel von Porz, der sich nun selbersagen lässt: „Wie meinen Sie das,wenn Sie von Dilemma sprechen? Ichglaube, man könnte die Situation derFrau eher als Grenzsituation charak-terisieren. Ich sehe kein Dilemma,auch nicht für Sie als Pflegende. FürAristoteles hingegen wäre die Situa-tion der Frau wahrscheinlich am

ehes ten eine Tragödie gewesen.“ Ich rede weiter,dann merke ich, dass ich weit übers Ziel hinaus-schieße. Der Small Talk ist jetzt ganz offensichtlichvorbei. Der Arzt versucht zu retten: „Ach, Herr Porz,jetzt werden Sie mal nicht so ernst. Tragödien gibtes doch nur im Theater.“ Ich reiße mich zusammenund versuche zu lächeln.

Dieser, wie ich finde, außerordentlich mutige undehrliche Text zeigt nicht in der Theorie, sondern an-hand einer konkreten Begegnung, wie schwierig,ja fast unmöglich es ist, die Expertise eines klini-schen Ethikers klinisch tätigen Fachleuten zu ver-mitteln. Vor allem aber zeigt der Text, wie sich dieseUnklarheit auf die Beziehung zu den klinisch täti-gen Fachleuten auswirkt, und wie es sich anfühlt,eine so nebulöse und gleichzeitig mit derart hohenAnsprüchen verbundene Position wahrzunehmen.

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- Juli 2016/6826 SCHWERPUNKT

Vermutlich hängt das von der individuellen Biogra-fie und Persönlichkeit des jeweiligen klinischenEthikers ab. Vor dem Hintergrund meiner Biografietendiere ich allerdings dazu, zu denken, dass sichdieses Problem am ehesten so lösen lassen würde,dass von jeder als klinischer Ethiker oder Ethikerintätigen Person eine abgeschlossene Berufsausbil-dung, Berufserfahrung bzw. parallele Berufstätig-keit und eine sichere Sozialisation und damit ver-bundene abgeschlossene Identitätsbildung in einerder im Spital anerkannten Berufsgruppen, welchedirekt in die Patientenbetreuung involviert sind,verlangt würde.

Hängt diese Haltung auch mit dem Thema dervon Ihnen als drittes Kriterium genanntenGlaubwürdigkeit zusammen?Ja, ich würde sagen, das hängt sehr direkt damitzusammen. Klinische Medizin ist kein Philosophie-ren im luftleeren Raum, sondern es geht hier ele-mentar ums Handeln, ums Probleme lösen. Im All-tag kommt deshalb derjenigen Fachperson, welcheklinische Probleme am besten lösen kann – weil siedie beste Ausbildunghat, weil sie von ihrerErfahrung und/oderPersönlichkeit dazubesonders geeignetist, weil sie den ent-sprechenden Einsatzund die entsprechendePräsenz zu bringen be-reit ist – auch bei einerethischen Entscheidung in der Regel am meistenGewicht zu. Ich denke, das ist quasi ‚normal‘, ichkann daran nichts Falsches sehen, auch wenn ichdie Forderung der Ethik, dass unsere Wertentschei-dungen im klinischen Alltag als solche erkannt wer-den und über die besten Argumente entschiedenwerden sollen, nachvollziehen kann.

Aber es ist eben so, dass die Stärke eines ethischenArgumentes in der Klinik kränkelt, wenn es von ei-ner Person vorgebracht wird, von der man weiß,dass sie im Alltag keine klinischen Probleme lösenmuss, und umgekehrt auch ein eigentlich ‚schwa-ches‘ Argument Gewicht bekommt, wenn es von ei-ner Person geäußert wird, die tagtäglich unter Zeit-druck, unter limitierten Ressourcen und immerauch unter limitiertem Wissen klinische Problemelöst. Zwar ruft dieser Mangel an Glaubwürdigkeitin einer ersten Phase der Etablierung der klinischenEthik nur selten offenen verbalen Widerstand her-vor. Im Reich der Worte sind die Ethiker den Klini-

kern oft überlegen, und die Gefahr, in die Ecke des-jenigen gedrängt zu werden, der „gegen die Ethik“ist, lauert hier nur zu offensichtlich.

Das heißt, hier liegt – kein ethisches, aberdoch – ein fachwissenschaftliches Dilemma vor?Das könnte man so sagen. Ich höre oft von ehertheoretisch geprägten Ethikern die Aussage, dassKliniker generell wenig Bewusstsein für die ethi-sche Dimension eines Problems hätten. Das magmanchmal so sein. Häufiger ist es aber meiner Erfahrung nach so, dass sich ein Kliniker der ethi-schen Dimension einer Fragestellung sehr wohl bewusst ist, er befürchtet aber, dass bei einer Etikettierung der Fragestellung als einer explizit‚ethischen‘ eine Dynamik losgetreten wird, die erlieber vermeidet, so dass er vielleicht eher ein Labelwie ‚interdisziplinär‘, ‚trouble shooting‘, ‚Standort-gespräch‘ etc. wählen wird.

Mit der weiteren Verbreitung der Klinischen Ethikfinden sich dann aber durchaus Kliniker, die neu-gierig und selbstbewusst genug sind, um sich auf

diesen Prozess einzulassen und ihrepersönlichen Erfahrungen mit ethi-schen Fallbesprechungen zu sam-meln. Dabei werden sie aber oft-mals realisieren, dass die angeb-lichen Ethiktools bei weitem nicht –erlauben Sie mir, Begriffe aus derChirurgie zu verwenden – so scharfschneiden wie ein Skalpell und beiweitem nicht die Klarsicht eines mo-

dernen Endoskops bereit stellen.

Was ist Ihr Fazit aus dem hier Besprochenen undIhren praktischen Erfahrungen?Ich habe letztlich kein Rezept, wie dieses Problemzu lösen sei. Aber ich hoffe, meine Ausführungenentmutigen die Leserinnen und Leser nicht.

Im Gegenteil: Ich würde mir wünschen, dass sie inihrem Willen gestärkt werden, das Fachgebiet erstrecht und im Wissen um mögliche Widerständeweiterzubringen.

» Für die Auseinandersetzung mit ethischen Fragen sind u. a. Berufserfahrungen, eine sichere Sozialisation und eine fortgeschrittene Identitätsbildungförderlich.

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15.07.-16.07.2016 Engelskirchen Trauer nach Suizid – Zusatzmodul für TrauerbegleiterMalteser Hilfsdienst e. V. Malteser Akademie EhreshovenTel.: 0 22 63 - 9 23 [email protected]

05.09.16-07.09.2016 KölnMit Kindern über Sterben und Tod redenEinfühlsame Kommunikation in der Begleitung Dr. Mildred Scheel Akademie Tel.: 02 21 - 9 44 04 [email protected]

07.09.-10.09.2016 LeipzigQualität braucht Miteinander, Mut undKompetenz11. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizinwww.dgp2016.de

12.09.-14.09.2016 DattelnBasale Stimulation in der PädiatrischenPalliativversorgungVestische Kinder- und Jugendklinik Datteln Tel.: 0 23 63 - 97 57 65S.Kaldirim-Celik@kinderklinik-datteln.dewww.kinderklinik-datteln.dehttp://kinderpalliativzentrum.de

Veranstaltungen

16.09.-17.09.2016 KölnTrauer ist Leben – Leben ist (auch) TrauerHumanistischer Umgang mit Verlusten undTrauerprozessen in Therapie und Beratung –Fortbildung für Psychotherapeut/innenund Berater/innenGwG-Akademie für Personzentrierte Fort-und WeiterbildungTel.: 02 21 - 92 59 08 [email protected]

21.09.-25.09.2015 BielefeldSpiritual CareBildung & Beratung Bethel-Seelsorgeinstitut BethelTel.: 05 21 - 144 33 [email protected]

23.09.-24.09.2016 Bochum2. Palliativ Kongress RuhrPalliativnetz Bochum e.V.www.palliativkongress-ruhr.de

26.09.-29.09.2016 BonnMultiprofessionell (Palliative Care Plus) –Demenz und neurologische KrankheitsbilderAkademie für PalliativmedizinTel.: 02 28 - 6 48 15 39 palliativmedizin.bonn@malteser.orgwww.malteser-krankenhaus-bonn.de

Vorankündigung: Gemeinsam auf dem Weg – Hospizkultur und Palliativversorgung in Einrichtungen für Menschen mit Behinderung16.11.2016 HagenVeranstalter: ALPHA-NRW

Ab Juli erhalten Sie die Einladung und das Programm. Eine Anmeldung ist ab diesem Zeitpunkt möglich. Eingeladen sind alle, die Berührung mit diesem Thema haben.

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ALPHA-RheinlandHeinrich-Sauer-Straße 1553111 BonnTel.: 02 28 - 74 65 47Fax: 02 28 - 64 18 [email protected]

ALPHA-WestfalenFriedrich-Ebert-Straße 157-159 48153 MünsterTel.: 02 51 - 23 08 48Fax: 02 51 - 23 65 [email protected]