Husserl Und Der Buddhismus

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Husserl und der Buddhismus Liangkang Ni Published online: 12 January 2011 Ó Springer Science+Business Media B.V. 2011 Abstract In Husserls Auseinandersetzung mit dem Buddhismus in der Rezension ,,U ¨ ber die Reden Gotamo Buddhas‘‘ (1925) sowie in dem Manuskript ,,Sokrates- Buddha‘‘ (1926) lassen sich wesentliche Eigenarten feststellen, die ihn von anderen wichtigen abendla ¨ndischen Denkern der Gegenwart unterscheiden. Zwar verfu ¨gte Husserl sicher u ¨ber eine eingeschra ¨nkte Kenntnis des Buddhismus und steht in dieser Hinsicht wahrscheinlich hinter Schopenhauer, Nietzsche, Bergson, Russell, Jaspers, Heidegger und Scheler zuru ¨ck, welche dem orientalischen Denken durchaus na ¨her stehen. Dennoch zeugt Husserls Bemu ¨hen umso mehr von einer respektvollen Haltung gegenu ¨ber dem buddhistischen Denken, als seine Untersuchung frei vom Hochmut der wissenschaftlichen Vernunft bleibt und ganz von dem echten Willen zu einem besseren Versta ¨ndnis der fremden Tradition getragen ist. 1 Edmund Husserl hat sich relativ wenig mit Buddha, dem Buddhismus oder dem indischen Denken bescha ¨ftigt und noch weniger dazu geschrieben. Neben der 1925 vero ¨ffentlichten Rezension ,,U ¨ ber die Reden Gotamo Buddhas‘‘ 1 gibt es wohl lediglich das Manuskript ,,Sokrates-Buddha‘‘, das Husserl 1926 verfasste und das erst vor kurzem vero ¨ffentlicht wurde. 2 L. Ni (&) Sun Yat-Sen University, Guangzhou, People’s Republic of China e-mail: [email protected] 1 E. Husserl, ,,U ¨ ber die Reden Gotamo Buddhas‘‘ (1925). Hua XXVII, S. 125–126. Im Folgenden abgeku ¨rzt als ,,Rezension‘‘. 2 E. Husserl, ,,Sokrates-Buddha‘‘ (Husserl 2010, S. 1–17). Im Folgenden abgeku ¨rzt als ,,Manuskript‘‘. In diesem Manuskript stellt Husserl bereits zu Beginn die Frage: ,,Wie steht die Erkenntnis im indischen Denken? Wie steht dieses zum sokratischen?‘‘ 123 Husserl Stud (2011) 27:143–160 DOI 10.1007/s10743-010-9083-5

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Husserl und der Buddhismus

Liangkang Ni

Published online: 12 January 2011

� Springer Science+Business Media B.V. 2011

Abstract In Husserls Auseinandersetzung mit dem Buddhismus in der Rezension

,,Uber die Reden Gotamo Buddhas‘‘ (1925) sowie in dem Manuskript ,,Sokrates-

Buddha‘‘ (1926) lassen sich wesentliche Eigenarten feststellen, die ihn von anderen

wichtigen abendlandischen Denkern der Gegenwart unterscheiden. Zwar verfugte

Husserl sicher uber eine eingeschrankte Kenntnis des Buddhismus und steht in

dieser Hinsicht wahrscheinlich hinter Schopenhauer, Nietzsche, Bergson, Russell,

Jaspers, Heidegger und Scheler zuruck, welche dem orientalischen Denken durchaus

naher stehen. Dennoch zeugt Husserls Bemuhen umso mehr von einer respektvollen

Haltung gegenuber dem buddhistischen Denken, als seine Untersuchung frei vom

Hochmut der wissenschaftlichen Vernunft bleibt und ganz von dem echten Willen

zu einem besseren Verstandnis der fremden Tradition getragen ist.

1

Edmund Husserl hat sich relativ wenig mit Buddha, dem Buddhismus oder dem

indischen Denken beschaftigt und noch weniger dazu geschrieben. Neben der 1925

veroffentlichten Rezension ,,Uber die Reden Gotamo Buddhas‘‘1 gibt es wohl

lediglich das Manuskript ,,Sokrates-Buddha‘‘, das Husserl 1926 verfasste und das

erst vor kurzem veroffentlicht wurde.2

L. Ni (&)

Sun Yat-Sen University, Guangzhou, People’s Republic of China

e-mail: [email protected]

1 E. Husserl, ,,Uber die Reden Gotamo Buddhas‘‘ (1925). Hua XXVII, S. 125–126. Im Folgenden

abgekurzt als ,,Rezension‘‘.2 E. Husserl, ,,Sokrates-Buddha‘‘ (Husserl 2010, S. 1–17). Im Folgenden abgekurzt als ,,Manuskript‘‘. In

diesem Manuskript stellt Husserl bereits zu Beginn die Frage: ,,Wie steht die Erkenntnis im indischen

Denken? Wie steht dieses zum sokratischen?‘‘

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DOI 10.1007/s10743-010-9083-5

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Das Thema, mit dem sich Husserl in ,,Sokrates-Buddha‘‘ befasst, ist streng

genommen weder die Beziehung zwischen Sokrates und Buddha noch diejenige

zwischen der altgriechischen und der altindischen Denkwelt, sondern vielmehr das

Verhaltnis zwischen seiner eigenen (phanomenologisch-)philosophischen Einstel-

lung und dem traditionellen, religios-ethischen Gedankengut Buddhas.

Husserl hat das Manuskript Mitte der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts

verfasst, zu einer Zeit also, in der eine zunehmend enge Verbindung zwischen

Husserl und dem morgenlandischen Denken entstand. In diesem Zusammenhang hat

Husserl anlasslich einer Einladung der japanischen Zeitschrift The Kaizo in Tokyo

funf Artikel uber ,,Erneuerung‘‘3 geschrieben und drei davon in dieser Zeitschrift

veroffentlicht. Außerdem hat Husserl um diese Zeit Karl Eugen Neumanns deutsche

Ubersetzung von Die Reden Gotamo Buddhas4 gelesen und im Jahre 1925 eine

kurze, aber sehr emphatische Rezension ,,Uber die Reden Gotamo Buddhas‘‘

geschrieben und in der Zeitschrift Der Piperbote publiziert.

Das daraufhin entstandene Manuskript ,,Sokrates-Buddha‘‘ (Januar 1926)

dokumentiert eine Prazisierung und Vertiefung derjenigen Uberlegungen, die aus

Husserls fortgesetzter Lekture der Reden Gotamo Buddhas hervorgingen. Die

Niederschrift des Manuskripts nahm nicht mehr als zwei Tage in Anspruch.

Dennoch ist dieses so gehaltvoll, dass es durchaus als ein Stuck des Husserlschen

Denkweges bezeichnet werden kann. Das Manuskript geht zwar in vielen Punkten

auf die zuvor entstandene Rezension zuruck, doch kommen wesentliche

Uberlegungen, wie etwa Husserls transzendentalphilosophische Interpretation des

Buddhismus, im Manuskript viel deutlicher zum Ausdruck.5

Karl Schuhmann und Lau Kwok-Ying haben bereits ertragreiche und lesenswerte

Darstellungen verfasst, die sich auf Husserls Rezension, auf das ,,Sokrates-

Buddha‘‘-Manuskript sowie auf das Verhaltnis zwischen Husserl und dem indischen

bzw. buddhistischen Denken beziehen.6 Die vorliegende Studie soll einen Einfluss

des indischen Denkens auf Husserl thematisieren, der bislang kaum berucksichtigt

wurde: Husserl hat nicht nur in der Jugendzeit – wie Schumann bereits gezeigt

hat – durch seine Auseinandersetzung mit Schopenhauer erste Zugange zum

Buddhismus gewonnen und diese spater in der Gottinger und Freiburger Zeit uber

die Literatur von H. Oldenberg und K. E. Neumann vertieft, sondern auch in der

3 Der Titel des Kaizo-Artikel ,,Erneuerung‘‘ ist Husserls Ubersetzung des chinesisch-japanischen Worts

,,Kaizo‘‘. In seinem Brief an Albert Schweitzer 1923 schreibt er: ,,Mein Thema lautete in Beziehung auf

den Titel der Zeitschrift ,Erneuerung‘‘‘. Vgl. Hua XXVII, S. XI, Hua Dok III/VII, S. 253. Diese

Ubersetzung von ,,Kaizo‘‘ basiert sehr wahrscheinlich auf der englischen Ubersetzung ,,Reconstruction‘‘,

die durch T. Akita – ein Vertreter des Kaizo-Magazins – im Einladungsbrief an Husserl zum Ausdruck

kam (Vgl. Hua Dok III/VIII, S. 273), die aber nicht ganz zutreffend ist. Eine angemessenere Ubersetzung

ware etwa ,,Umgestaltung‘‘ oder. ,,Umwandlung‘‘, was sich mit dem Husserlschen Begriff ,,Erneuerung‘‘

nicht deckt.4 Die Reden Gotamo Buddhas (Neumann 1922).5 Vgl. Hua XXVII, S. 125: ,,Wohl die hochste Blute indischer Religiositat, einer in Schau und ringender

Tat rein nach innen gewandten – ich mochte sagen, einer nicht ,transzendenten‘, sondern ,transzendent-

alen‘ …‘‘.6 Vgl. Schuhmann (2004) and Lau (2004–2005).

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Spatzeit – was Schumann nicht bemerkt – durch Anregungen von A. Schweitzer

seine Kenntnisse uber die indischen Religionen entscheidend erweitert.7

Schuhmanns und Laus Darstellungen von Husserls Verhaltnis zum Buddhismus

betreffen zudem nur einen Teil des Manuskripts, da Schuhmann wahrend der

Abfassung seines Aufsatzes ,,Husserl and Indian Thought‘‘ nur die ersten 7 Seiten

des Manuskripts vorlagen. Husserls Position konnte so nicht vollstandig begriffen

werden, was den Editor des Manuskripts, Sebastian Luft, zu der Feststellung

veranlasste, dass Schuhmann ,,appears to have made an uncharacteristic error of

reconstruction, that has significant consequences for his subsequent interpretation of

the text‘‘.8 Die fehlenden 4 Seiten des Manuskripts, in denen sich Husserl viel

eingehender mit dem buddhistischen Denken beschaftigt, konnten erst spater in

seinem Nachlass gefunden werden. Vor diesem Hintergrund ist eine neue

Interpretation von Husserls Verhaltnis zum Buddhismus nicht nur moglich, sondern

auch notig.9

2

Sowohl in der Rezension von 1925 als auch in dem Manuskript von 1926

manifestiert sich Husserls Absicht, das durch Sokrates exemplifizierte altgriechische

Denken und das von Buddha vertretene altindische Denken einer komparativen

Untersuchung zu unterziehen. Wahrend Husserl in seinen spezifisch philosophischen

Uberlegungen zur Methodologie nur sehr selten auf komparatistische

Verfahren eingeht, weist er in der Rezension explizit darauf hin, dass das positive

Ziel einer kulturvergleichenden Untersuchung durchaus darin besteht, durch eine

Gegenuberstellung der eigenen und der fremden Kultur das eigene geistige Leben

zu erneuern: ,,Denn daß es sich im Buddhismus – so wie er aus seinen reinen

Urquellen zu uns spricht – um eine religios-ethische Methodik seelischer Reinigung

und Befriedigung von einer hochsten Dignitat handelt, durchdacht und betatigt in

einer inneren Konsequenz, einer Energie und einer edlen Gesinnung fast ohneglei-

chen, das muß jedem sich hingebenden Leser bald klar werden. Nur mit den

hochsten Gestaltungen des philosophischen und religiosen Geistes unserer euro-

paischen Kultur kann der Buddhismus parallelisiert werden. Es ist nunmehr unser

Schicksal, die fur uns vollig neue indische Geistesart mit der fur uns alten und sich

7 Husserl schreibt im Jahre 1935 an seine Tochter Elisabeth: ,,Ich las jetzt dazwischen Anderes: Albert

Schweitzer uber indische Religionen …‘‘ (Hua Dok III/IX, S. 455). Obgleich Schuhmann der

Herausgeber des zehnbandigen Briefwechsels von Husserl ist, hatte er dies wohl nicht mehr in

Erinnerung als er schrieb: ‘‘There is no evidence that Husserl studied any other works of the Indian

tradition in his later life.’’ Schuhmann (2004, S. 148).8 Vgl. Luft (2010, S. 3).9 Da Schuhmann die Husserlschen Uberlegungen zu Buddha in den letzten 4 Seiten des Manuskripts

nicht lesen konnte, meinte er irrtumlich, dass Husserl nur – wie am Anfang des Manuskripts – uber das

indische Denken spreche, und nicht vielmehr – wie der Titel suggeriert – den Buddhismus zum Thema

hatte. Insofern ware es sogar angebracht, den Titel des Aufsatzes ‘‘Husserl and Indian Thought’’ zu

korrigieren.

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in diesem Kontrast selbst wieder verlebendigenden und kraftigenden verarbeiten zu

mussen.‘‘10

Hiermit benennt Husserl allerdings nur ein außerliches Motiv seiner verglei-

chenden Betrachtung in der Rezension, welche sich vor allem auf praktische

Zwecke richtet, namlich durch eine vollig fremde, neue Geistesart das eigene

geistige Leben zu erneuern usw. In diesem Sinne impliziert die Rezension eine

ahnliche Intention wie die Kaizo-Artikel und gehort nicht zum Typ der neutralen,

rein theoretischen Untersuchung. Hier beruhren wir in der Tat eine grundlegende

stilistische Differenz zwischen der Rezension und dem Manuskript: die erstere ist

mitteilend, appellierend, uberredend, und enthalt mehr rhetorische Momente, das

letztere ist abwagend, meditierend, monologisierend und enthalt mehr begrifflich-

konzeptionelle Elemente.

Sowohl in der Rezension als auch im Manuskript werden zwei geistesgeschicht-

liche Traditionen gegenubergestellt: die altgriechische und die altindische, wobei

die Phanomenologie als Weiterentwicklung des von Sokrates reprasentierten

abendlandischen Denkens auftritt, wahrend die buddhistische Tradition in der

Geschichte des indischen Denkens steht. Die erstere verkorpert Vernunft, Philoso-

phie, Erkenntnis, Wissenschaft, Theorie, die letztere Heiligkeit (Buddha-Natur),

Glauben, Religion, Pietat, Praxis. Die Frage, die Husserl zu klaren versucht, lautet:

Welcher Unterschied besteht zwischen dem altindischen und dem altgriechischen

Denken? Diese Frage ist als rein theoretische intendiert, also nur von Neugierde und

Interesse geleitet; sie impliziert keinerlei praktische Zwecke.

Insgesamt ist Husserls Auseinandersetzung mit der Geschichte der Philosophie

deutlich philosophisch und kaum historisch ausgerichtet. So sind seine Kenntnisse

uber die Literatur der antiken Philosophen stellenweise durchaus bescheiden.

Dennoch war, wie Klaus Held bemerkt, ,,sein Gespur fur die maßgebenden

Entscheidungen in der Geschichte des Denkens […] ausgepragter als allgemein

angenommen‘‘.11 Dies spiegelt sich auch in Husserls Auseinandersetzung mit dem

buddhistischen Denken. Selbst wenn Husserls Kenntnis des Buddhismus noch

beschrankter war als seine Kenntnis des griechischen Denkens, so offenbart das

Manuskript dennoch einige erstaunliche und originelle Einsichten hinsichtlich der

Grundlinien des buddhistischen Denkens.

3

Aus der Rezension und dem Manuskript ergeben sich mindestens funf Gemein-

samkeiten, die Husserl zwischen dem buddhistischen und dem sokratischen Denken

aufzuzeigen versucht:

Erstens haben sowohl das von Buddha gestiftete buddhistische Denken als auch

das durch Sokrates entstehende philosophische Denken einen ,,transzendentalen‘‘

Charakter. ,,Transzendentaler Buddhismus‘‘ besagt hier, dass dieser ,,eine in Schau

10 Hua XXVII, S. 125f.11 Held (1989, S. 137).

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und ringender Tat rein nach innen gewandte‘‘,12 eine in sich gekehrte Religiositat

darstellt. So heißt es an einer Stelle des Manuskripts: ,,Ihm [dem Inder] bietet sich

ein Ausweg: im Transzendentalismus. Die Welt ist bloß Phanomen in der

Subjektivitat.‘‘13 Dies entspricht der transzendentalen Philosophie, die auf Sokrates

zuruckfuhrt und seit Descartes zur Hauptstromung der abendlandischen Philosophie

geworden ist. In dieser Hinsicht weist Husserl also einen wesentlichen Unterschied

des Buddhismus im Verhaltnis zu anderen Religionen nach, indem er zeigt, dass

dieser zwar ,,transzendental‘‘, aber nicht ,,transzendent‘‘ ist.

Demnach richtet sich der Buddhismus nicht nach einer sozusagen externen,

ubersinnlichen Gottheit, sondern bezieht sich auf die innere Einsicht und Praxis.

Dafur liefert eine Aussage Buddhas in Sandhinir-mokcana-vyuha-sutra (The

scripture on the explication of underlying meaning) einen m. E. charakteristischen

Beleg: ‘‘When the bodhisattvas become aware of the six supports, they are able to

produce that great majesty of a bodhisattva. The first is that they know well the

arising of thought. The second is that they know well the abiding of thought. The

third is that they know well the departure of thought. The fourth is that they know

well the increasing of thought. The fifth is that they know well diminution of

thought. The sixth is that they know well the method.‘‘14 Demnach liegt die

Voraussetzung dafur, ein Bodhisattwa zu werden, darin, dass man durch eine

geeignete Praxis der Meditation das eigene Bewusstsein und insbesondere dessen

Struktur und Genesis zu betrachten und zu erkennen lernt.

Was hier ‘‘arising of thought’’ genannt wird, bezieht sich auf die Genesis des

Bewusstseins, wahrend sich ‘‘abiding of thought’’ auf die Struktur des Bewusstseins

bezieht. Diese beiden Dimensionen stellen zugleich die zentralen Themen der

europaischen Transzendentalphilosophie dar. Bei Husserl entsprechen ihnen die

genetisch-transzendentale sowie die strukturell-transzendentale Phanomenologie

bzw. die transzendentale Phanomenologie der Langs- und der Querintentionalitat.15

Daruber hinaus bezieht sich das ‘‘know well’’ zwar auf die buddhistische Einsicht

und Praxis, kann aber ebenfalls analog zu der von Husserl diskutierten Wesensschau

bzw. der ,,intellektuellen Anschauung‘‘ des zeitgenossischen Neukantianers und

Neukonfuzianers Mu Zong-san verstanden werden. Mit ihr ist nichts anderes als die

wesentliche Erkenntnis des Bewusstseins von sich selbst bezeichnet. Dies wird

zugleich den Kern des funften Punkts ausmachen.

Zweitens besteht zwischen dem buddhistischen Anspruch der Entsagung und der

bewusstseinsphilosophischen Forderung nach einer transzendentalen Reduktion

eine gewisse Ahnlichkeit. Genauer zeigt sich sowohl eine Analogie hinsichtlich des

Credos ,,Bewusstsein ist alles‘‘ (vijnapti-matrata) im Yogacara-Buddhismus, mit

dem sich die Forderung nach einer ausschließlichen Blickrichtung auf das

Bewusstsein verbindet, als auch eine Analogie hinsichtlich der Einsicht in die

Nicht-Existenz außerer Objekte (an-artha) bzw. zur Negation der Welt oder

12 Hua XXVII, S. 125.13 Husserl (2010, S. 16).14 Sandhinir-mokcana-vyuha-sutra VI; The Scripture on the explication on underlying meaning (Keeman

2000, S. 72).15 Vgl. Ni (2010b, S. 77ff).

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,,Weltentsagung‘‘. In diesem Sinne versucht auch Husserl, das Denken Buddhas

phanomenologisch nachzuvollziehen: ,,Das (Einzel-)Subjekt kann zwar den Lauf

der Phanomene und das Weltphanomen nicht wirklich beseitigen, aber es kann den

Blick davon abwenden; es kann die absolute Seinssetzung der Welt inhibieren, es

kann unterlassen, sich auf ihren Boden zu stellen. In aller und jeder Praxis des

naturlichen Weltlebens ist die Welt absolut gesetzt, und der Wille will in sie hinein,

sie gestalten; in ihr soll Zufriedenheit und Gluckseligkeit erreicht werden. Das Ich

kann aber Epoche uben, ,theoretisch‘ wie praktisch uberhaupt, sofern seine Welt

praktisch ist. Dann verschwinden alle Gegensatze zwischen Rationalitat und

Irrationalitat, in sich gekehrt lebt das Ich in gewollter Willenlosigkeit, in

theoretischer und praktischer Weltentsagung.‘‘16

Demnach scheint Husserl hier durchaus von der Epoche als einer theoretischen

Weltentsagung zu sprechen, der die buddhistische Erlosung im Sinne einer

praktischen Weltentsagung entspricht.

Drittens enthalten sowohl das buddhistische als auch das sokratische Denken

einen Anspruch auf Autonomie. So stellt Husserl bereits am Anfang des

Manuskripts fest: ,,Auch das indische Kulturleben fuhrt also zur Autonomie – zu

autonomer Erkenntnis, durch welche ein an sich wahrer Weg zur Seligkeit, durch

welche also Wahrheit an sich fur ein richtiges Handeln, autonome Wahrheit in der

Erkenntnis ethisch-religioser Normen, gewonnen werden kann.‘‘17 Allerdings steht

diese Bemerkung Husserls deutlich vor dem Hintergrund des abendlandischen

Denkens. Darin liegt – insbesondere unter der Vorherrschaft einer christlichen

Moralitat – insgesamt eine theonome Ausrichtung, wahrend von einer Autonomie

der Vernunft uber lange Zeit nicht die Rede sein konnte. Demgegenuber waren

gottliche Offenbarung und Gnade die wesentlichen Voraussetzungen fur die Rettung

des Menschen. So betreffen die ersten vier der zehn gottlichen Gebote den Glauben

an Gott. Sie bilden das letzte Fundament des ethischen Gehorsams sowie der

Sanktionierung ethischen Verhaltens. In diesem Sinne stellt die christliche Ethik

eine religiose Ethik dar, also eine Ethik, die auf religiosus basiert, sofern hierunter

Gottesfurcht bzw. Frommigkeit zu verstehen ist.

Dies verhalt sich im Buddhismus grundsatzlich anders. Ouyang Jingwu, ein

wichtiger Vertreter des neuzeitlichen Buddhismus in China, stellte – als Zeitgenosse

Husserls – vor ca. hundert Jahren die bekannte These auf: ,,Buddhismus ist weder

Religion noch Philosophie‘‘.18 Diese These bezieht sich im Grunde auf die gesamte

Geistestradition in China, im Morgenland, ja in Asien. So betont auch Iso Kern in

seinem jungst veroffentlichten Werk: ,,Vor dem Eindringen westlicher Ideen gab es

in China keine prinzipielle Trennung von Philosophie und Religion. Diese Trennung

ist in unserer europaischen Tradition durch den Gedanken gottlicher Offenbarung

und Gnade begrundet, der zur Scheidung zwischen der durch menschliche Vernunft

zu erwerbenden philosophischen Erkenntnis und der erst durch gottliche

Offenbarung ermoglichten wahren Religion bzw. zur Scheidung des durch die

eigene Natur und die eigenen Krafte des Menschen Erreichbaren und des durch

16 Husserl (2010, S. 16).17 Husserl (2010, S. 5).18 Vgl. Ouyang (1995, S.1).

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gottliche Gnade Geschenkten fuhrte.‘‘19 Insofern kennt das buddhistische Streben

nach Autonomie keinen Gegensatz zwischen Religion und Philosophie, sondern

beruht auf einem eigenstandigen buddhistischen Ansatz: Jeder ist sein eigener

innerer Richter und wird nicht durch außere Gesetze bestimmt. In diesem Sinne

zeigt sich erneut, dass der Buddhismus nicht transzendent, sondern transzendental,

also ,,rein nach innen gewandt‘‘ ist.

Husserl sieht demnach im Buddhismus, der ihm weiterhin als Religion gilt, eine

ahnliche Verwirklichung der grundlegenden Forderung der Phanomenologie und

nimmt diese Einstimmigkeit in vielen Punkten sowohl verwundert als auch

begeistert auf. – Auf das Verhaltnis zwischen der phanomenologischen Philosophie

und der buddhistischen Religion wird unten noch weiter eingegangen.

Viertens verpflichtet sich der Buddhismus ebenso wie die Phanomenologie auf

einen Allgemeinheitsanspruch. Der Anspruch auf ,,Allgemeinheit‘‘ bzw. ,,Univer-

salitat‘‘ bezieht sich dabei einerseits auf die Allgemeinheit der Reflexion im

transzendentalen Sinne, andererseits auf die Allgemeingultigkeit der Wahrheit, die

sich in und durch die Reflexion erweisen soll. Der Anspruch auf Allgemeinheit gilt

also nicht nur in noetischer, sondern auch in noematischer Hinsicht. Hinsichtlich der

ersten Konnotation von ,,Allgemeinheit‘‘ besteht zwischen Buddhismus und

Phanomenologie kein wesentlicher Unterschied, da beide eine Art allgemeiner

Reflexion bzw. eine transzendentale Allgemeinheit intendieren. Hinsichtlich des

zweiten Aspekts von ,,Allgemeinheit‘‘ sieht Husserl ebenfalls eine Gemeinsamkeit

zwischen dem epistemischen Impetus der phanomenologischen Philosophie und dem

ethischen Ansatz des Buddhismus. Dies versucht er durch einige Parallelisierungen zu

demonstrieren: Die epistemische Einstellung erweist sich als allgemeines

,,theoretisches Interesse‘‘, das auf die Urteilswahrheit gerichtet ist und ihr Korrelat im

Seienden an sich hat; entsprechend erweist sich die ethische Haltung als allgemeines

,,ethisches Interesse‘‘, das sich auf die Willenswahrheit richtet und ihr Korrelat in der

Gute an sich hat. Wahrend erstere das Erkennen im Allgemeinen betrifft, bezieht sich

letztere auf das Bewerten. Die epistemische Einstellung befolgt grundsatzlich das

Prinzip vom ausgeschlossenen Widerspruch bzw. vom ausgeschlossenen Dritten,

wahrend der ethischen Haltung ein ahnliches Prinzip entsprechen soll usw.20

Funftens besteht sowohl im Buddhismus als auch in der Philosophie (insbesondere

in der Phanomenologie) die Moglichkeit der Wesensschau. Nach Husserl zielt die

phanomenologische Philosophie auf die Einsicht in eine rein theoretische Wahrheit,

wahrend es dem Buddhismus um eine ,,Einsicht in die absolute praktische

Wahrheit‘‘21 geht. Darum preist Husserl Buddha insbesonders fur ,,seine Konsequenz,

seine Vorurteilslosigkeit, seine Entschlossenheit … in der Auspragung der Wertungen

in Wesensurteilen‘‘.22 Insofern erkennt Husserl also nicht nur an, dass der Buddhismus

19 Kern (2010, S. XXI).20 Vgl. Husserl (2010, S. 10, 15). Husserl hat hier nicht gesagt, um was fur ,,ein ahnliches Prinzip‘‘ es

sich in der Ethik handeln soll. Er sagt nur, ,,jede Willenssetzung (Willensmeinung) [ist] entscheidbar und

steht unter einem Analogon des Satzes vom Widerspruch‘‘. Ein solches Prinzip kann m. E. etwa heißen,

dass jeder das Gute tun und das Schlechte vermeiden soll. Oder man kann auch den kategorischen

Imperativ bei Kant als ein sogenanntes ,,ahnliches Prinzip‘‘ betrachten.21 Husserl (2010, S. 13–14).22 Husserl (2010, S. 13).

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bereits die ,,transzendentale Reduktion‘‘ im phanomenologischen Sinne durchgefuhrt

hat, sondern ebenso, dass der Buddhismus auch hinsichtlich der ,,eidetischen

Reduktion‘‘ mit der Phanomenologie ubereinstimmt: ,,Naturlich gibt es fur solche

indische Einstellung keine Weltwissenschaft als Ziel, und Wahrheitserkenntnis hat

nur Bedeutung als Erkenntnis, gerichtet auf das Herausstellen des transzendentalen

Standpunkts, also der Welt als Phanomen, ferner auf das allgemeinste Wesen

universalen Willenslebens uberhaupt und auf seinen moglichen Zielsinn.‘‘23

Ist aber die von Husserl diskutierte Einsicht in die absolute praktische Wahrheit

dasselbe wie das buddhistische ,,know well‘‘24 bzw. die buddhistische ,,Einsicht‘‘ oder

,,Evidenz‘‘, die ausschließlich durch meditative praktische Ubungen zu gewinnen ist?

Oder gilt die Einsicht der Wissenschaften, einschließlich der Phanomenologie, nur fur

die Wahrheit als Selbstnatur (svabhava bzw. ,,Sein‘‘), also fur irdische, mundane

Wahrheiten – wie es manche buddhistische Gelehrte zu suggerieren scheinen25 – und

nicht fur die Wahrheit als Leere (sunya bzw. ,,Nichts‘‘)? Oder bestimmt Nietzsche die

buddhistische ,,Erleuchtung‘‘ (bodhi) korrekt als eine ,,Einsicht in die absolute

praktische Wahrheit‘‘, indem er den Buddhismus gleichzeitig als ,,die einzige

eigentlich positivistische Religion‘‘26 bezeichnet? – Dies sind Fragen, welche die

phanomenologischen Philosophen und die Buddhisten gemeinsam bearbeiten und

beantworten mussen. Bedauerlicherweise lassen sich Ansatze fur solche kooperativen

Forschungen bislang kaum beobachten.27

4

Obwohl sich so viele Ahnlichkeiten zwischen Phanomenologie und Buddhismus

feststellen lassen, zielen Husserls Uberlegungen doch im Wesentlichen auf die

Unterschiede zwischen beiden Traditionen. Das Ziel Husserls besteht letztlich in der

Beantwortung der Frage: Worin liegt der Unterschied zwischen den beiden

transzendentalen Einstellungen, der europaischen und der indischen28 bzw. der

phanomenologisch-philosophischen und der buddhistischen?

Erstens lasst sich ein Unterschied bzw. ein Gegensatz zwischen der europaischen

und der indischen Denkweise hinsichtlich der Formalisierung bzw. Logifizierung im

Gebiet der Erkenntnis und Praxis konstatieren, auf den Husserl im Manuskript

hinweist. Eine wesentliche Kritik Husserls an der buddhistischen Erlosungslehre

besteht darin, dass diese keinerlei Formalisierung bzw. Logifizierung durchgefuhrt

hat, wie sie aus der altgriechischen Philosophie bekannt ist. Dieser Prozess hatte mit

23 Husserl (2010, p. 16). Herv. v. Verf.24 Vgl. oben Anm. 14.25 Vgl. z.B. Jingwu (1995, S. 85f).26 Der Antichrist 23 (Nietzsche 1999, S. 189).27 Die zwischen dem 16. und 17. Juni 2010 veranstaltete ,,Erste Yogacara-Buddhismus Konferenz‘‘ im

beruhmten Tempel Lingying in Hangzhou/VR (China) mit dem Thema ,,Yogacara-Buddhismus und

Phanomenologie im Vergleich‘‘ stellt einen wichtigen Schritt in Richtung einer Zusammenarbeit

zwischen buddhistischen und phanomenologischen Forschern im chinesischen Kulturraum dar.28 Husserl (2010, S. 13).

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Sokrates bzw. Platon begonnen: ,,Sokrates, ohne selbst dessen innezuwerden, hat

darin den ersten Anhieb gemacht. Platon schafft in seiner Dialektik die Methode der

Ideenschau und der Erkenntnis von Ideen und durch Ideen. Er hat die Anfange

gefunden, er hat die Bahn gebrochen zu einer theoretischen Erkenntnis und

Wissenschaft in neuem Sinn einer wissenschaftlichen Erkenntnis mittels Ideen,

einer logischen Wissenschaft.‘‘29 Insofern ist der Prozess der Logifizierung nach

Husserl lediglich ein Sonderfall der griechischen Philosophie, indem ,,sich aber

spezifisch wissenschaftliches Denken, Erkennen, vom Erkennen des Lebens radikal

durch seine prinzipielle logische Form und Methode‘‘30 unterscheidet.

Ganz anders verhalt es sich nach Husserls Ansicht mit dem Buddhismus. Husserl

weist darauf hin, dass sich der Buddhismus zwar ,,durch seine Konsequenz, seine

Vorurteilslosigkeit, seine Entschlossenheit in der Ausschaltung des naturlichen

Lebensinteresses und der interesselosen Bewertung desselben und in der Auspragung

der Wertungen in Wesensurteilen‘‘ gegen das naturliche Denken abgrenzen kann,

dennoch sei ,,selbst da […] fur die Inder das Denken der Erlosungslehre nicht in

seiner Form (und Logik sozusagen) von dem naturlichen Denken unterschieden.‘‘31

Diese Stellungnahme bringt moglicherweise ein Missverstandnis Husserls

gegenuber dem Buddhismus zum Ausdruck. Das buddhistische Denken entsteht

zwar, wie die gesamte indische, meditative Tradition, im Grunde genommen aus

dem Fragen und Suchen nach dem endgultigen Sinn von Leben und Tod, und

unterscheidet sich daher von dem bloßen Appell an Erkennen und Wissen, wie dies

aus der griechischen Tradition uberliefert ist. Dennoch enthalt die buddhistische

Tradition zweifelsohne ebenfalls zahlreiche Ergebnisse hinsichtlich Theoriebildung,

Logik und Epistemologie. Zwar ist die buddhistische Logik (das so genannte

Hetuvidya bzw. Nyaya) bei Buddha selbst noch nicht vorhanden, sondern diese wird

erst bei den Grundern der Yogacara-Schule Vasubandhu und Asanga in der Zeit des

4. und 5. Jahrhunderts basierend auf der Erforschung des Nyaya-Systems ausgefuhrt

und in den folgenden zwei Jahrhunderten bei Dignaga und Dharmakırti prazisiert.32

Dennoch ist Auch die Entwicklung der abendlandischen Wissenschaft der Logik ist

jedoch so verlaufen: Bei Sokrates selbst findet sich noch kein echter Ansatz fur eine

formale Logik. Diese wird vielmehr erst bei Aristoteles und dann schrittweise in der

folgenden Zeit entwickelt.

Insofern stellt die Differenz hinsichtlich des Paradigmas der Formalisierung

keine wesentliche Differenz dar. Elementar sind hingegen die anderen zwei der von

Husserl festgestellten Differenzen.

5

Die zweite und bedeutendere Differenz bezieht sich auf das Problem des

Fundierungsverhaltnisses zwischen Theorie und Praxis. Die europaische

29 Husserl (2010, S. 5).30 Ebd.31 Ebd.32 Vgl. Stcherbatsky (1994, Introduction, §§ 6–11).

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Philosophie bzw. die phanomenologische Philosophie konzipiert Husserls Ansicht

zufolge die theoretische Philosophie als erste Philosophie. Der Buddhismus

hingegen sei, wie bereits erwahnt, ,,eine religios-ethische Methodik seelischer

Reinigung und Befriedigung von einer hochsten Dignitat […], durchdacht und

betatigt in einer inneren Konsequenz, einer Energie und einer edlen Gesinnung fast

ohnegleichen‘‘.33 Insofern heißt es bei Husserl auch: ,,Der Inder ist in universaler

praktischer Einstellung.‘‘34 Generell charakterisiert Husserl das altgriechische

Denken als eine allgemeine Seinswissenschaft, wahrend er das altindische Denken

als eine praktische, eine zur Seligkeit fuhrende Wissenschaft begreift. In diesem

Sinne halt er die Phanomenologie fur eine allgemeine Erkenntnislehre und den

Buddhismus fur eine allgemeine Ethik.

Fur gewohnlich halt Husserl an seiner Konzeption des Fundierungsverhaltnisses

zwischen theoretischer und praktischer Vernunft, zwischen theoretischer und

praktischer Philosophie fest. So bezeichnet er bereits in den Logischen Untersu-chungen die theoretischen Wissenschaften als Grundlagen fur samliche normativ

ausgerichtete Disziplinen.35 Zehn Jahre spater, am Anfang seines beruhmten Logos-

Artikels, besteht die Aufgabe der Philosophie als strenger Wissenschaft fur ihn

immer noch darin, den hochsten theoretischen Bedurfnissen Genuge zu tun und in

ethisch-religioser Hinsicht ein von reinen Vernunftnormen geregeltes Leben zu

ermoglichen.36 Selbst in den Vorlesungen, die er speziell den Themen der Ethik und

Wertlehre widmet, betont er immer wieder, ,,die Fackel der logischen Vernunft muß

aufgesteckt werden, damit, was an Formen und Normen in der Gemuts- und

Willenssphare verborgen ist, an das helle Licht treten kann.‘‘37 Auch in seinem

letzten Werk, der Krisis, appelliert er daran, ,,uns nicht Spezialwissenschaft und zur

Kunst, se9vmg herabgesunkene Wissenschaft oder die modischen Entartungen der

Philosophie in irrationalistische Betriebsamkeiten unterschieben [zu] lassen fur die

unverlierbare Idee der Philosophie als der letztbegrundenden und universalen

Wissenschaft.‘‘38

Diese Position Husserls kommt deutlich auch in dem hier besprochenen

Manuskript zum Ausdruck. Husserl halt auch hier daran fest, das Verhaltnis

zwischen Phanomenologie und Buddhismus aus Sicht einer Unterscheidung

zwischen theoretischer und praktischer Philosophie zu betrachten. So setzt sich

auch die Konzeption der theoretischen Philosophie als erster Philosophie im

Manuskript fort: ,,Praxis beschrankt – im Allgemeinen.‘‘ ,,Erkenntnisaufgaben in

endlichem praktischen Abzwecken losen wollen, das ergibt nie eine Wissenschaft.‘‘

,,Die Wissenschaft kann in der Gemeinschaft zur Dienerin der Praxis werden.‘‘39 In

diesem Sinne stehen die phanomenologische Philosophie und das buddhistische

Denken im Verhaltnis von Fundierendem und Fundiertem.

33 Hua XXII, S. 125f.34 Husserl (2010, p. 17).35 Hua XVIII, S. 59–62.36 Hua XXV, S. 3.37 Hua XXVIII, S. 69.38 Hua VI, S. 201.39 Husserl (2010, S. 9).

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Page 11: Husserl Und Der Buddhismus

In dieser Hinsicht, d.h. im Hinblick auf das Fundierungsverhaltnis zwischen

theoretischer und praktischer Einsicht unterscheidet sich Husserl allerdings nicht

nur von vielen morgenlandischen Denkern. (Neben Buddha spricht z.B. auch

Mengzi dem ,,Gefuhl fur das Richtige und das Falsche‘‘, d.h. dem ethischen Sinn,

eine grundlegende Stellung zu.) Er steht damit auch in Opposition zu manchen

abendlandischen Denkern, ja sogar zu anderen Phanomenologen wie M. Scheler,

der unter ,,Wertgefuhl‘‘ oder ,,sittlicher Einsicht‘‘ (der phronesis bei Aristoteles)

eine praktische Einsicht versteht, die noch grundlegender ist als die theoretische

Wesenserschauung.40

Dennoch druckt Husserl im Manuskript auch eine neue Haltung gegenuber dem

Fundierungsverhaltnis zwischen Theorie und Praxis aus. So sieht er zu Beginn des

Manuskripts die Trennung zwischen Theorie und Praxis als eine kunstliche

Unterscheidung an, die auf die Tatigkeit der Berufsphilosophen zuruckgeht: ,,Das

theoretische Interesse lost sich im Gemeinschaftsleben auch bei den Griechen und

selbst bei den Neueren nicht vom praktischen Interesse. Es lost sich davon nur im

Berufsleben der Philosophen. Wissenschaftler treiben Wissenschaft rein um der

Wissenschaft willen, auch Wissenschaft von der richtigen Lebensgestaltung.‘‘41

Dieser Gedanke taucht im Manuskript spater mehrmals auf. So heißt es etwa: ,,Die

Universalitat der Ethik (ethischen Praxis) umfasst die Universalitat der Wissen-

schaft als einer Praxis.‘‘42 Das bedeutet, dass wissenschaftliche Unternehmungen

auch eine Art Praxis darstellen. In diesem Sinne sagt Husserl auch: ,,Philosophie in

ihrer Universalitat, dem in Universalitat forttreibenden Erkenntnisinteresse gemaß,

umspannt auch die menschliche Praxis, die faktische und die ideale.‘‘43 Demnach ist

das Praktizieren auch eine Art des Erkennens. Gleichzeitig vertritt Husserl – wenn

auch in einem anderen Text – die folgende These: ,,Erkenntnisvernunft ist Funktion

der praktischen Vernunft.‘‘44 – Wir werden dieses Problem unten noch eingehender

diskutieren.

6

Dieses Schwanken in Husserls Uberlegungen erstreckt sich auch auf die von ihm

diagnostizierte dritte Differenz zwischen der phanomenologischen Philosophie und

dem Buddhismus, die die verschiedenen Arten der Autonomie betrifft, nach der

beide Traditionen streben: einerseits ist damit eine theoretische Autonomie,

andererseits eine Autonomie des Willens gemeint. Husserl spricht in diesem

Zusammenhang auch von ,,Erkenntnisautonomie‘‘ bzw. ,,praktischer Autonomie‘‘

.45 Diese stellen die Formen der Autonomie dar, die Sokrates und Buddha jeweils

40 Vgl. Scheler (1980a, b, S. 47, 65, 202, 266).41 Husserl (2010, p. 5).42 Husserl (2010, S. 15.43 Husserl (2010, S. 10.44 ,,Meditation uber die Idee eines individuellen und Gemeinschaftslebens in absoluter Selbstverant-

wortung‘‘ (1924), (Hua VIII, S. 201).45 Vgl. Husserl (2010, S. 6).

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Page 12: Husserl Und Der Buddhismus

beanspruchen. Husserls Uberlegungen dazu nehmen im Manuskript einen relativ

großen Raum ein. Insgesamt stimmt Husserls Verstandnis des Fundierungsverhaltnisses

zwischen beiden Formen der Autonomie mit seinem Verstandnis des

Fundierungsverhaltnisses zwischen theoretischer und praktischer Vernunft uberein,

wonach ,,erst die Autonomie der Erkenntnis zu einer autonomen Kunst gefuhrt

haben muss‘‘.46

Die ,,Autonomie‘‘, von der Husserl spricht, bedeutet vor allem die Fahigkeit,

eigene theoretische Urteile und praktische Entschlusse aufgrund der Evidenz einer

originaren Gegebenheit bzw. einer eigenen Einsicht zu vollziehen, ohne vorgege-

benen Gesetzen und Normen blind zu gehorchen. In diesem oben bereits erwahnten

Punkt besteht eine wesentliche Gemeinsamkeit zwischen Husserls Phanomenologie

und der buddhistischen Philosophie. Dennoch bedarf es einer eingehenderen

Untersuchung der Differenz und des Fundierungsverhaltnisses zwischen

Erkenntnisautonomie und Willensautonomie bzw. zwischen theoretischer und

praktischer Autonomie. Dadurch gelangt die Untersuchung schließlich zu dem

grundlegenden Unterschied zwischen Husserls Phanomenologie und dem Buddhismus.

Sowohl die Differenz als auch das Fundierungsverhaltnis zwischen

Erkenntnisautonomie und Willensautonomie sind fur Husserl vor allem dadurch

gekennzeichnet, dass die theoretische Autonomie, also die von Sokrates beanspruchte

Autonomie, auf der Einsicht in eine theoretische Wahrheit beruht, wahrend die

Willensautonomie, also die von Buddha angestrebte Autonomie, auf der Einsicht in

eine praktische Wahrheit beruht.47 Die Beziehung zwischen diesen beiden Formen der

Autonomie scheint bei Husserl von Anfang an bereits festzustehen, wenn ,,erst die

Autonomie der Erkenntnis zu einer autonomen Kunst gefuhrt haben muss‘‘48

Gleichzeitig weist Husserl hier auch auf das Fundierungsverhaltnis zwischen

beiden Formen der Autonomie bzw. zwischen beiden Formen der Einsicht hin: Wenn

die Erkenntnisautonomie durch die Einsicht in die absolute Erkenntniswahrheit

begrundet ist, und die praktische Autonomie ebenfalls von einer spezifischen

Einsicht, namlich der Einsicht in die absolute praktische Wahrheit abhangt, dann

setzt jede Form der Autonomie von vornherein eine Art von wahrer Einsicht voraus

und das Husserlsche Fundierungsverhaltnis hatte sich so bereits aus seinen eigenen

Voraussetzungen ergeben: Jede Form der Autonomie musste in einer

Wesenserkenntnis fundiert sein.49 Auch das Verhaltnis zwischen Autonomie und

Evidenz spiegelt so das Verhaltnis zwischen Praxis und Theorie, zwischen

Fundierendem und Fundiertem wieder.

Husserls Verstandnis des Fundierungsverhaltnisses zwischen den beiden Formen

der Autonomie als auch dessen Verhaltnis zu den beiden Erkenntnisformen sowie

sein Verstandnis des Gewichtungs- und Fundierungsverhaltnisses zwischen der

46 Husserl (2010, S. 13).47 Vgl. Husserl (2010, S. 6, 13). Husserl weist hier auf zwei Formen der Autonomie hin, einerseits die

Erkenntnisautonomie: ,,Ein theoretisches Leben kann autonom heißen, sofern es in Sachen des Urteils

eben nichts anderes als doxische [?] Evidenzbegrundung zulasst‘‘; andererseits die praktische Autonomie:

,,Autonom kann man einen Willen nennen, der auf Einsicht in die absolute praktische Wahrheit seines

Zieles beruht und ausschließlich durch diese Einsicht bzw. diesen Wert bestimmt ist.‘‘48 Vgl. Husserl (2010, S. 9).49 Ahnlich heißt es in der Bibel: ,,die Wahrheit wird euch frei machen‘‘ (Johannes 8, 32).

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Page 13: Husserl Und Der Buddhismus

theoretischen und praktischen Vernunft, zwischen Wissenschaftslehre und

Kunstlehre, sind in sich durchaus konsistent: sowohl die theoretische als auch die

praktische Autonomie setzen eine erkennende Vernunft voraus.

In der Tat ist die Theorie, wenn diese als die Befreiung von allen

Interessenshaltungen und Willensregungen verstanden und insofern von allen

heteronomen Determinanten freigesprochen wird, schon an und fur sich autonom.50

Entsprechend heißt es in einem Satz des Manuskripts, den Husserl nachtraglich

wieder gestrichen hat: ,,Dann ist theoretisches Interesse und ein in infinitum

theoretisch verlaufendes Leben eo ipso autonom (analytischer Satz).‘‘51

Darin druckt sich eine Perspektive aus, die man als eine statische oder

strukturelle Perspektive bzw. eine Perspektive der Querintentionalitat in der

Untersuchung jenes Fundierungsverhaltnisses bezeichnen kann. Diese Perspektive

steht bei Husserl sowohl in der Fruhzeit als auch in der Spatzeit im Vordergrund.

Aber wie oben bereits erwahnt, kommt in vielen Manuskripten oft ein anderer

Aspekt zum Tragen. In dem hier vorliegenden Manuskript ist dieser bereits mehr

oder weniger deutlich sichtbar: ,,Ein theoretisches Interesse kann auch ,autonom‘

insofern heißen, als das Subjekt eine konsequente Wahrheitsforschung im Sinn der

Endgultigkeit als einen absolut praktisch seienden Wert ansieht, vielleicht nicht als

den einzigen, aber jedenfalls als einen solchen, dem es rein um seiner selbst willen

und nicht bloß als Mittel fur andere absolute Werte zustrebt.‘‘52 Das bedeutet, dass

auch das theoretische Interesse wesentlich als eine Form des Wertstrebens gelten

muss und in diesem Sinne auch einen Willen und eine praktische Tatigkeit darstellt.

Dies erinnert an Heideggers Infragestellung der Husserlschen Rede von einem

,,universalen theoretischen Willen‘‘ in dessen Phanomenologie-Artikel in der

Encyclopaedia Britannica aus dem Jahre 1927: ,,Und dieser Wille selbst?‘‘53 Aus

diesem Manuskript geht hervor, dass sich Husserl bereits zuvor, wie etwa in dem

Manuskript von 1926, auf dieses Thema eingelassen hat: ,,Andererseits ist es nicht

ausgeschlossen, dass die universale Wissenschaft des rein theoretischen Interesses

gerade das ist, was dem universalen Willen nach einem befriedigenden Leben

(Einzelleben und Gemeinschaftsleben) Not tut.‘‘54 Husserl hat also bereits gesehen,

dass auch der theoretische Wille eine Form des Willens sowie dass das

transzendentale Interesse auch eine Form des Interesses ist. Anders gesagt: Auch

der Wille zur Befreiung von jedem Willen ist eine Form der Willensbetatigung;

auch das Interesse einer interesselosen Beobachtung ist eine Form des Interesses.

Diese Perspektive auf das Problem stimmt mit der oben erwahnten Perspektive

eines statischen, strukturellen Fundierungsverhaltnisses in der Tat nicht uberein. Ich

50 Husserl (2010, S. 7): ,,Hier kann erwachsen: das freie, von allen sachhaften Interessen geloste, von

allen Interessen der ,Selbsterhaltung‘ befreite theoretische Interesse – Spiel der Erkenntnis.‘‘.51 Husserl (2010, S. 13, Anm17).52 Husserl (2010, S. 13).53 Hua IX, S. 274, Anm. 3.54 Husser (2010). Mit dieser Infragestellung hangt Heideggers Stellungnahme zum Problem des

Verhaltnisses zwischen Wille (Interesse) und Erkenntnis sowie zwischen Praxis und Theorie zusammen.

Diese Stellungnahme kommt nur implizit in Sein und Zeit, explizit aber in seinen im selben Zeitraum

gehaltenen Vorlesungen zum Ausdruck, z. B. als Stellungnahme zum Verhaltnis zwischen ,,Sorge und

Intentionalitat‘‘ (vgl. Heidegger 1979, § 31, S. 420f).

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123

Page 14: Husserl Und Der Buddhismus

bin versucht, die hier auftretende Perspektive als eine genetische zu bezeichnen, in

der das genetische Fundierungsverhaltnis in Betracht gezogen wird. Das strukturelle

und das genetische Fundierungsverhaltnis scheinen einander zu widersprechen und

sich sogar auszuschließen. In einem ahnlichen Sinne mag auch das Verhaltnis

zwischen der theoretischen und der praktischen Philosophie oder zwischen der

phanomenologischen Philosophie und dem Buddhismus widerspruchlich oder

zumindest gegensatzlich aussehen. Aber genau so, wie sich die Lehre des

Pratıtya-samutpada (,abhangiges Entstehen‘) und die Lehre des Dharmata (,wahres

Wesen‘) innerhalb des Buddhismus nicht widersprechen, so stutzen sich auch die

theoretische und die praktische Philosophie sowie die strukturelle und die

genetische Phanomenologie zwar auf verschiedene Perspektiven, ohne einander

aber notwendig zu widersprechen. Vielmehr konnen sie sich sogar gegenseitig

erganzen.55

7

Abschließend sei die von Husserl festgestellte vierte und wohl auch grundlegendste

Differenz zwischen der Phanomenologie und dem Buddhismus dargestellt.

Husserl spricht am Ende des Manuskripts immer wieder vom irrationalen

Charakter des Buddhismus und stellt ihm den ,,Rationalismus‘‘ der griechischen

Wissenschaft entgegen: ,,Gegenuber dem ,Rationalismus‘ der griechischen Wis-

senschaft und einer Ethik, die philosophisches Leben auf philosophischem Wissen, also

auf Wissenschaft in einer Weise grundet, die dem Irrationalen in seiner prinzipiellen

Bedeutung nicht genugtut, ruht der Blick des Inders gerade auf dem Irrationalen.‘‘56

Dennoch verbirgt sich hinter dem Husserlschen Etikett der ,,Irrationalitat‘‘ im

Grunde keine Kritik am Buddhismus, die etwa mit Bergsons Vorwurf eines

,,inkompletten Mystizismus‘‘,57 mit Stcherbatskys Rede von einem ,,extremen

Relativismus‘‘58 oder Nietzsches Kritik einer ,,nihilistischen Religion‘‘59 vergleich-

bar ware. Aus Husserls Sicht ist die buddhistische Irrationalitat nicht mit denjenigen

irrationalen Elementen ,,im praktischen Bereich einer rein sich befriedigenden

Subjektivitat‘‘ zu verwechseln, ,,die es ermoglichen, dass sein bestgerichtetes und

methodisch noch so gut angelegtes Streben missrat‘‘, sondern sie bezeichnet ,,eine

uber alle solche Befriedigungen in ihrer Relativitat auf das Irrationale hinausge-

hende und doch ihnen genugtuende ,Seligkeit‘ in Gottesgeborgenheit‘‘.60

Husserl spricht hier bereits den grundlegenden Unterschied zwischen dem in der

Philosophie angestrebten Wert der Vernunft und dem im Buddhismus angestrebten

absoluten Wert an: ,,Einmal hat der Erkenntniswille seinen Willensgrund in der

55 Ausfuhrlichere Darstellungen dieser Problematik finden sich in Ni (2004, S. 20–32) sowie in Ni 2010d,

S. 97ff., Ni 2010a, S. 219ff., und auch Ni 2010c, S. 277ff.56 Husserl (2010, S. 16).57 Stcherbatsky (1994, S. 29).58 Bergson (1932, S. 121).59 Antichrist 6 (Nietzsche 1999, S. 186).60 Husserl (2010, S. 15f).

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Page 15: Husserl Und Der Buddhismus

Erkenntnissphare selbst, das andere Mal hat er seinen Willensgrund außer sich in

einem anderen Willen.‘‘61 Im ersten Fall stellt sich der Wille als ein Wille zu einem

endgultigen, absoluten Wert dar, im zweiten Fall hingegen als die endgultige

,,Aufhebung‘‘ des Willens zum absoluten Wert, als die ,,Entwertung aller weltlichen

Motive und aller Sonderwollungen‘‘; der erste Fall impliziert einen positiven

kategorischen Imperativ, der zweite hingegen einen negativen kategorischen

Imperativ. Damit verbindet sich unmittelbar die Frage: Welcher von beiden ist

endgultig? Welcher Imperativ ist ,,wirklich kategorisch‘‘?62 – Dabei wird die

eigentliche Differenz zwischen der phanomenologischen Philosophie und dem

Buddhismus offenbar.

Was hier festgestellt wurde, ist eigentlich nicht nur die Differenz zwischen der

phanomenologischen Philosophie und dem Buddhismus, sondern genauer ein

Gegensatz in einem bestimmten Sinne. Obwohl die Phanomenologie und der

Buddhismus beide – wie oben dargestellt – von der naturlichen Einstellung

verschieden sind und sich in der transzendentalen Einstellung befinden, steht

Husserls Phanomenologie, nachdem sie die gesamte Welt samt Ich und Gott

eingeklammert hat, also ,,die Generalthesis der naturlichen Einstellung‘‘ ausge-

schaltet hat, noch dem ,,reinen oder transzendentalen Bewusstsein‘‘ als dem

,,phanomenologischen Residuum‘‘ gegenuber, und enthalt in sich weiterhin die

,,Welt‘‘ als ,,rein phanomenales Sein‘‘.63 Insofern kann Husserl im Manuskript

sagen: ,,Die Welt hat ,Sinn‘ – das ist Korrelat davon, dass das menschliche

Willensleben ,Sinn‘ hat, und das wieder sagt, dass es in ihm Willensendgultigkeit

gibt.‘‘64 Anders verhalt es sich dagegen im Buddhismus: Hier gibt es nicht nur die

von Vasubandhu und Asanga vertretene Yogacara-Schule, welche ahnlich wie

Husserl, aber in zugespitzter Weise darauf besteht, dass alles weltliche Sein

scheinbar bzw. phanomenal ist und daher alles nur Bewusstsein ist und alles aus

Bewusstsein wird. Uberdies ist im Buddhismus noch das von Nagarjuna vertretene

radikalere Madhyamika prasent, wonach auch die Bewusstseinstatigkeiten samt

ihren verschiedenen Gesetzen, ja alles, einschließlich des buddhistischen Dharmas

(Gesetz) selbst, nur relative, abhangige Verhaltnisse (hetu-pratyaya) darstellten;

wonach alles nur fiktiver Name bzw. Begriff sei und keine unveranderliche

Substanz und Natur an sich hatte. Von hier aus gelangt der Buddhismus zu der

These, dass alles weltliches Sein und alle buddhistische Weisheit (prajna) leer ist,

was schließlich zu einer Entsagung von allem Wollen und Denken fuhrt.65

Im Grunde genommen besteht also zwischen den beiden zentralen buddhisti-

schen Begriffen der ,,Erleuchtung‘‘ (bodhi) und der ,,Leere‘‘ (sunya) eine

immanente Beziehung, wonach ihre Verbindung die Einsicht in das absolute

Nichtsein besagt. Dagegen besteht in der Phanomenologie eine immanente

Beziehung zwischen den beiden zentralen Begriffen der ,,Evidenz‘‘ und des ,,reinen

Bewusstseins‘‘, in denen sich die Einsicht in das absolute Sein ausdruckt.

61 Husserl (2010, S. 13).62 Husserl (2010, S. 17).63 Vgl. Hua III/1, §§ 30, 44, 49.64 Ebd, S.16.65 Vgl. hierzu Takemura (1992, Capt. 4–5).

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Page 16: Husserl Und Der Buddhismus

Dabei bleiben naturlich noch die folgenden Fragen offen: Wenn ein Wille

autonom alle Formen des Willens, also auch sich selbst, negieren will, muss er dann

nicht selbstredend als irrational bezeichnet werden? Und wenn ja, um welche Form

des Irrationalismus handelt es sich dabei? Wie unterscheidet sich dieser ,,Irratio-

nalismus‘‘ von demjenigen, den Husserl stets mit Skeptizismus und Mystizismus

gleichsetzt und welcher sich seiner Ansicht nach letztlich selbst aufhebt?66

In seinem Manuskript hat Husserl diese Frage nicht beantwortet, jedenfalls nicht

eindeutig. Stattdessen bemuht er sich darum, den buddhistischen Standpunkt richtig

zu verstehen. Er sieht ein, dass sich mit dem vernunftgeleiteten Leben der

endgultige Wert bzw. die Idee ,,eines Willenslebens der Positivitat, einer positiven

Praxis‘‘67 verbindet, sowie dass Irrationalitat hier nichts anders bedeutet als die

Aufhebung und Uberwindung jener Rationalitat, und darum rein negativ, als

Willenlosigkeit zu verstehen ist. Aber allem Anschein nach ist Husserl nicht der

Meinung, dass letztere den Gegensatz zur ersteren bildet, sondern er geht von einer

hoherstufigen Ebene aus, in der samtliche Gegensatze zwischen positiven und

negativen Werten, Rationalitat und Irrationalitat, Willentlichkeit und

Willenlosigkeit nicht mehr existieren. Obwohl Husserl diese Ebene zwar nicht als

ein neues, hoherstufiges willentliches Leben ansehen wurde, raumt er ein, dass hier

,,alle Gegensatze zwischen Rationalitat und Irrationalitat [verschwinden], in sich

gekehrt lebt das Ich in gewollter Willenlosigkeit, in theoretischer und praktischer

Weltentsagung.‘‘68

Wie es scheint, betrachtet Husserl den Buddhismus nicht als Irrationalimus in der

von ihm gewohnlich intendierten Bedeutung, sondern vielmehr als einen

Uberrationalismus, der uber den Gegensatz zwischen dem alten Rationalismus

und Irrationalismus erhaben ist, ahnlichen demjenigen, den er – wie er 1935 in

seinem Brief an L. Levy–Bruhl dokumentiert – durch seine phanomenologische

Methode zu erreichen versucht.69 Insofern hofft Husserl auch weiterhin, eine

wesentliche Ubereinstimmung zwischen seiner Phanomenologie und dem

Buddhismus, ja zwischen Philosophie und Religion uberhaupt finden zu konnen.

Wenn Husserl diese Einstellung allerdings nicht nur in einer neutralen Weise zu

verstehen suchte, sondern auch werthaft anerkennte, so konnte dies durchaus dazu

fuhren, dass er die philosophische Einstellung aufgabe und in eine religiose

Einstellung uberginge. In diesem Fall wurde er die Erkenntnis aus Sicht des

Glaubens betrachten und die Rationalitat innerhalb einer Uberrationalitat

unterbringen, und so also eine transzendente Position innerhalb der transzendentalen

Einstellung einnehmen. – Jedoch lasst sich weder in der Rezension noch im

Manuskript ein Hinweis in diese Richtung finden. Dort bleibt Husserl lediglich an

einem verstehenden Nachvollzug orientiert.

66 Hua VI, S. 1, S. 90.67 Husserl (2010, S. 14).68 Husserl (2010, S. 16).69 Brief von Husserl an L. Levy-Bruhl, 11. III. 1935 (Hua Dok III/VII, S. 164): ,,Vielleicht werden die

vorbereiteten neuen Publikationen einige Vorstellung davon geben, wie aussichtvoll und konkret die

Methode ist, durch die ich gegen den schwachlichen Mystizismus und Irrationalimus eine Art

Uberrationalismus begrunden will, der den alten Rationalismus als unzulanglich uberschreitet und doch

seine innersten Intentionen rechtfertigt.‘‘

158 Husserl Stud (2011) 27:143–160

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Page 17: Husserl Und Der Buddhismus

In jedem Fall lassen sich in Husserls Auseinandersetzung mit dem Buddhismus in

dem vorliegenden Manuskript eigenturmliche Ansichten feststellen, die ihn von

anderen wichtigen abendlandischen Denkern der Gegenwart unterscheiden. Zwar

verfugte Husserl sicher uber eine eingeschrankte Kenntnis des Buddhismus und steht

in dieser Hinsicht wahrscheinlich hinter Schopenhauer, Nietzsche, Bergson, Russell,

Jaspers, Heidegger und Scheler70 zuruck, welche dem orientalischen Denken

durchaus naher stehen. Dennoch zeugt Husserls Bemuhen umso mehr von einer

respektvollen Haltung gegenuber dem buddhistischen Denken, als seine

Untersuchung frei vom Hochmut der wissenschaftlichen Vernunft bleibt und ganz

von dem echten Willen zu einem besseren Verstandnis der fremden Tradition

getragen ist.

Dabei ist die hier vorgestellte Auseinandersetzung Husserls mit dem Buddhismus

auch von seiner eigenen spateren Position in der Krisis unterschieden, wo ,,China‘‘

und ,,Indien‘‘ als ,,bloß empirischer anthropologischer Typus‘‘ oder ,,mystisch-

praktische Welten‘‘ bezeichnet werden.71 Doch auch in der Krisis zeigt sich eine

Sensibilitat Husserls gegenuber der ,,Verkehrtheit‘‘ bzw. der ,,Sinnesverfalschung‘‘,

dass ,,man[,] in den von Griechenland geschaffenen und neuzeitlich fortgebildeten

wissenschaftlichen Denkweisen erzogen, schon von indischer und chinesischer

Philosophie und Wissenschaft (Astronomie, Mathematik) spricht, also Indien,

Babylonien, China europaisch interpretiert‘‘.72 Diese Sensibilitat kommt besonders

deutlich in dem von uns behandelten Manuskript zum Ausdruck und ist

kennzeichnend fur Husserls grundsatzliche Einstellung zum Buddhismus.

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70 Die beiden letztgenannten Phanomenologen stehen mit dem Buddhismus in einer intellektuellen

Verbindung. Zur intellektuellen Beziehung zwischen M. Heidegger und dem Buddhismus vgl. auch Ni

(2004, S. 20–32). Außerdem wurde es sich lohnen, uber die Beziehung von M. Scheler zum Buddhismus

eine Monographie zu schreiben. Es ist zu beachten, dass Scheler ebenso wie Husserl die von Neumann

ubersetzten Reden Gotamo Buddhos studiert hat und davon beeinflusst wurde. (Vgl. Scheler 1980b, S. 88,

Anm. 1.) Ferner sei darauf hingewiesen, dass er einerseits die Bekehrung bzw. die Erleuchtung Buddhas

als wichtige Beispiele fur seine Sympathie-Analyse benutzt (Scheler 1980b, S. 61, 71), andererseits die

buddhistische Lehre kritisiert, da sie den Wert des Lebens ,,als negativen Wert betrachtet‘‘, und ,,nur die

Methode der Objektivierung des Leides durch Erkenntnis seines (vermeintlichen) Grundes im Wesen der

Dinge selbst und die resignative Abfindung mit ihm‘‘ kannte (Scheler 1980a, S. 315, 348). Somit eroffnet

Scheler zahlreiche Perspektiven zur komparativen Untersuchung von Phanomenologie und Buddhismus.71 Vgl Hua VI, S. 14, S. 311.72 Vgl Hua VI, S. 331.

Husserl Stud (2011) 27:143–160 159

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