Hypoproteinämie- und Oedembereitschaft während des Krieges.

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Acta Medica Scandinavica. Vol. CXX, fasc. 111-IV, 1945. (Aus der 111 Medizinischcr Klinik in Helsingfors, Professor W. Kerppola.) Hypoproteinamie- und Oedembereitschaft wHhrend des Rrieges. Von M. CH. EHRSTROM. (Bei der Redaktion am 2. August 1944 eingegangen). Nach der allgemeinen Auffassung kann Hypoproteinamie durch Serumproteinverlust aus dem Blute und durch mangelhafte Plasma- proteinsynthese entstehen. Der Proteinverlust aus der Blutbahn geschieht entweder nach aussen wie bei Blutungen, Proteinurie und beim Ablassen von Exsudaten, oder in die Gewebe, wie bei Schock und seroser Ent- zundung. (Eppinger). In beiden Fallen entsteht eine relative Hypalbuminamie, weil die Albumine die Kapillanvand leichter durchdringen und langsamer als die Globuline regenerieren. Bei Scliock und seroser Entzundung kann die Hypoproteinamie durch einen gleichzeitigen Wasserverlust aus dem Blute maskiert wer- den. Man sieht da normale Serumproteinwerte bei hohen Hemo- globin- und Erythrocytwerten. Eine unzulangliche Plasmaproteinsynthese kommt bei ver- schiedenen Formen von Unterernahrung, bei gestorter Resorption aus dem Darme und bei Storungen in der Proteinsynthese selbst vor. In beiden ersteren Fallen leidet also der Organismus an ))Man- gel an Rohmateriab. Als Beispiel mag die Hypoproteinamie bei Hungeroedem, bei chronischen Marrhoen, bei Pylorusstenos und bei Sprue (E. Warburg und eigene Beobachtungen) erwiihnt wer- den. Kompliziertere Storungen in der Proteincynthese liegen den

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Acta Medica Scandinavica. Vol. CXX, fasc. 111-IV, 1945.

(Aus der 111 Medizinischcr Klinik in Helsingfors, Professor W. Kerppola.)

Hypoproteinamie- und Oedembereitschaft wHhrend des Rrieges.

Von

M. CH. EHRSTROM.

(Bei der Redaktion am 2. August 1944 eingegangen).

Nach der allgemeinen Auffassung kann Hypoproteinamie durch Serumproteinverlust aus dem Blute und durch mangelhafte Plasma- proteinsynthese entstehen.

Der Proteinverlust aus der Blutbahn geschieht entweder nach aussen wie bei Blutungen, Proteinurie und beim Ablassen von Exsudaten, oder in die Gewebe, wie bei Schock und seroser Ent- zundung. (Eppinger). In beiden Fallen entsteht eine relative Hypalbuminamie, weil die Albumine die Kapillanvand leichter durchdringen und langsamer als die Globuline regenerieren. Bei Scliock und seroser Entzundung kann die Hypoproteinamie durch einen gleichzeitigen Wasserverlust aus dem Blute maskiert wer- den. Man sieht da normale Serumproteinwerte bei hohen Hemo- globin- und Erythrocytwerten.

Eine unzulangliche Plasmaproteinsynthese kommt bei ver- schiedenen Formen von Unterernahrung, bei gestorter Resorption aus dem Darme und bei Storungen in der Proteinsynthese selbst vor. In beiden ersteren Fallen leidet also der Organismus an ))Man- gel an Rohmateriab. Als Beispiel mag die Hypoproteinamie bei Hungeroedem, bei chronischen Marrhoen, bei Pylorusstenos und bei Sprue (E. Warburg und eigene Beobachtungen) erwiihnt wer- den. Kompliziertere Storungen in der Proteincynthese liegen den

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Hypoproteinanlien zu Grunde bei Herzinsuffizienzen, Tumorka- kexien, schweren Anamien, Leukiimien, Lebercirros, gelber Leber- atrophie und bei einigen essentiellen Hypoproteinamien. Auch bei Nephriten und Nephrosen ist die Proteinsynthese wahrscheinlich gestort. (Nonnenbruch, Lichtwitz, Espersen, Holten). In einigen Fallen hat man angenommen, dass die zentrale Regulation der Plasmaproteinsynthese gestdrt worden sei, (Nonnenbruch, Licht- witz, M. Ch. Ehrstrom, Espersen), in anderen Fallen hat man an einen vermehrten Eiweisszerfall und an eine Storung in dem Orte fur die Plasmaproteinsynthese selbst (die Plasmazellen?) gedacht.

Auch in diesen Fallen sieht man gewohnlich eine relative Hyp- albuminamie, die entweder darauf beruht, dass der Organismus eine grobdispersere Eiweisslosung leichter zustandebringt, oder darauf, dass eine solche aus irgend einem Grunde vorzuziehen ist.

oder bei Albuminwer- ten unter 2.5 % treten gewohnlich Oedeme auf. Diese hypopro- teinamischen Oedeme (nephrotischen Oedeme) folgen nicht dem Gravitationsgesetze in demselben Grade wie die kardialen Oedeme sind aber im Gegensatz zu den elastischen Oedemen bei akuter Glomerulonephritis auffallend weich. Schon ein leichter Druck auf die Haut lasst Vertiefungen ‘zuriick, die lange bleiben. Der Eiweissgehalt in der Oedemfliissigkeit ist sehr gering, nach Beck- man hochstens 0.1 %, gegen 1 yo bei nephritischem Oedem.

Hypoproteinamische Oedeme werden nicht selten mit kardia- len oder nephritischen Oedemen kombiniert. Bei F a e n von akuter Glomerulonephritis mit eiweissreicher Oedemfliissigkeit kann nach starker Proteinurie, die einige &it gewirkt hat, eine Hypoprotei- nlmie sich entwickeln, wobei die Oedeme einen anderen Charakter nehmen und eiweissarme, nephrotische Oedeme werden. Bei manchen subakuten und halbchronischen Nephriten ist sowohl ein nephritischer Oedemkomponent (= vermehrte Kapillarpermeabili- tat) als auch ein nephrotischer (= Hypoproteintimie) vorhanden. Wenn das Herz auf Grund der Hypertonie zu versagen beginnt, tritt noch ein kardialer Oedemkomponent hinzu (Fishberg). Bei Herzinsuffizienz kann eine Stasalbuminurie hypoproteintimische Oedeme hervorrufen. (M. Ch. Ehrstrom). Die Kenntnis dieser Ver- hiiltnisse spielt natiirlich eine Rolle bei unserem terapeutischen Verfahren.

WIhrend der Kriegsjahre 1942 und 1943 wurde unter Finnlands

Eei den Totalproteinwerten unter 5.5

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Bevolkerung ein Typus von hypoproteinaniischen Oedemen obser- viert, dessen Entstehungsmechanismus von Interesse zu sein scheint.

In diesen Jahren war die akute diffuse Glomerulonephritis sehr gewohnlich. Auf der I11 medizinischen Klinik in Helsingfors wurde die Erfahrung gemacht, dass die Falle mit Hinsicht auf ihre Oedeme von dem gewohnlichen Bilde der diffusen Glomerulonephritis abweichend waren. Die Oedeme waren oft auffallend gross und weich, wie bei Nephrose.

In 23 Fallen wurden die Serumproteine bestimmt, wobei eine mehr oder minder hochgradige Hypoproteiniimie konstatiert wurde. Der niedrigste Wert war 3 % Totalprotein. Dabei ist zu beachten, dass die Profeinurie nie gross war, sondern im Gegenfeil oft unbedeu- tend.

Dieselbe Erfahrung hat S. Dietrich bei der Feldnephritis in der deutschen Ostarmee in den Jahren 1942 und 1943 gemacht. Dietrich glaubt, dass die Feldnephritis mit der Glomerulonephritis der Friedenszeit nicht identisch sei, sondern dass jene eine spezi- fische Infektionskrankheit sei, zu deren Symptomen ausser Kapil- larschaden auch eine pr imhe Sttirung in der Serumproteinbildung gehoren sollte. Er lehnt den Gedanken an Unterernlhrung in sei- nen Fallen ab und glaubt auch nicht an die Miiglichkeit, dass die Hypoproteinamie durch Ausfluss des Seruiiieiweisses in die Gewebe entstanden sein konnte. Doch gibt er an, dass der Eiweissgehalt der Oedemfliissigkeit in den ersten Stadien zu 0.7 % aufstieg, und dass die Gewichtszunahme oft 10 kg iiberschritt. Wenn man berech- net, dass die Bluteiweissmenge etwa 200 g betragt, bedeutet das, dass ca 70 g oder des Bluteiweisses den1 Oedem gefolgt sei, eine Menge, die die Hypoproteinaniie genugend zu erklaren scheint. Keine Hydramie war vorhanden.

Die Hypoproteiniiniie in meinen Fiillen kann nicht erschopfend erklart werden als Ausdruck fiir eine besondere Eigenart bei den Nephriten wahrend des Krieges. Es erwies sich namlich, dass die Oedeme auch bei Herzmsuffizienz off einen nephrotischen Chard- ter hatten, und die Serumproteinanalysen offenbarten nicht selfen eine hochgradige Hypoproteinamie (der niedrigste Wert 2.7 % Total- eiweiss). In einigenFJdllen lag eine leichte Stasproteinurie (ad 1.5 pro mille) vor, meistens aber war der Urin proteinfrei.

Den wirklichen Wert bei diesen Hypoproteinamien wahrend

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des Krieges bekommt man durch Vergleichung niit Serumprotein- analysen bei Nephriten und Herzinsuffizienzen wahrend des Frie- dens. Als Vegleichungsobjekt sind solche Falle a m den Jahren 1937 und 1939, erwahlt worden, die mit Hinsicht auf die Dauer und die Grosse der Proteinurie in einem moglichst hohen Grade den Fallen aus den Kriegsjahren entsprochen haben. Die Serie von Fallen aus der Friedenszeit enthalt jedoch etwas mehr Falle mit hochgradigerer Proteinurie.

Die Durchschnittszahlen fur die Seruniproteinwerte in den heiden Serien sind folgende:

Nephriten ............ 1942-43 Herzinsuffizienzen ...... . - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - _ _ - - - -

Nephriten ............ Herzinsuffizienzen ...... 1937-39

Total-

5.4 yo 2.9 yo 2.5 yo 5.5 yo 3.0 % 2.5 yo - - - - - - - - -. - - - - - - - - - - - - - - - - . 6.9 yo 4.0 yo 2.9 yo 7.1 yo 4.0 oh 3.1 yo

Die Nephriten und die Herzinsuffizienzen wahrend des Krieges haben also niedrigere Serumproteinwerte als die Falle wahrend des Friedens. Der Unterschied bei den Nephriten ist 1.5 und bei den Herzinsuffizienzen 1.6 yo Totalproteine. Die Differenzen beruhen zum grossten Teile auf den Albuminen. Die Unterschiede zwischen den Globulinwerten der Serien machen nur 0.4 Yo fur die Nephriten und 0.6 yo fur die Herzinsuffizienzen.

Nur in einem Falle von Nephritis aus den Kriegsjahren wurde der Eiweissgehalt in der Oedemflussigkeit bestimmt. Der war hoch, wohl 1.0 %. Die Hemoglobin- und Erytrocytwerte im Blute waren in den akuten Nephritisfallen nicht herabgesetzt.

Da Proteinurie nicht allein an der vermehrten Hypoproteina- mie tendenz der Kriegsjahre Schuld 'sein kann, kann dieselbe nur entweder durch eine gesteigerte Kapillarpermeabilitit mit ver- mehrtem Ausfluss des Eiweisses in die Gewebe oder durch eine defekte Proteinsynthese erklart werden. Die beiden Moglichkeiten scheinen in Betracht kommen zu konnen.

Seit dem Jahre 1940 hat die Bevolkerung von Helsingfors (wo die Patienten herstammen) auf fett- und eiweissarmer Kost gelebt. Besonders ist das animalische Eiweiss knapp gewesen, hat

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zeitweise sogar ganz gefehlt. Trotzdem sind keine Falle von wirklichen hypoproteinamischen Hungeroedemen vorgekommen, und eine von 0. Turpeinen ausgefuhrte Untersuchung uber die Serumproteinwerte bei den Klienten auf der Poliklinik des Kran- kenhauses Stenghrd zeigte, dass die Serumproteinwerte der Ein- wohner von Helsingfors durchaus normal waren. Deshalb kann man kaum voraussetzen, dass die Blutproteine der Nephritis- und Herzinsuffizienzpatienten primar fierabgesetzt gewesen seien.

Insbesondere in dem Jahre 1942, wo die Versorgungsverhalt- nisse besonders schwer waren, wurden jedoch zahlreiche Falle von Oedem beobachtet, die mit Hypoproteinamie nicht kombiniert waren. Diese kamen speziell bei Frauen vor und waren auf das Unterhautsgewebe im Gesicht und in den Beinen beschrankt. Durch ihr Aussehen und durch ihre wechselnde Intensitat erinnerten diese Oedeme an angioneurotische Oedeme. Sie reagierten gunstig auf Kalk- und Hefekur in Kombination mit extra Zugabe von Butter und Fleisch. Vieles sprach dafiir, dass die Oedeme auf einer gesforten Kapillarpermeabilitat beruhten, die im Zusammenhang mif der Krisezeit und der defekten Ernahrung war.

Es scheint also berechtigt, bei den Patienten wahrend des Krieges eine gestorte Kapillarfunktion vorauszusetzen. Es ist wohl auch moglich, dass eine weitere Beschadigung der Kapillargefasse durch die Entstehung einer Nephritis oder einer Herzinsuffiaienz eine so stark vermehrte Kapillarpermeabilitat zu Folge hatte, dass Ausfluss in die Gewebe eine Hypoproteinamie hervorrufen konnte.

Doch muss man auch die Moglichkeit einer unzulanglichen Pro- teinsynthese beachten, die auf dem Mange1 an Eiweiss in der Nah- rung beruhen konnte. Der Organismus versucht mit allen Mitteln ein norinales Bluteiweissniveau beizubehalten. Dabei verfiigt der- selbe unter normalen Verhaltnissen uber eine gewisse Menge von Depot-Eiweiss. Plasmainjektionen haben namlich erwiesen, dass sehr grosse Eiweissdosen in Depot verschwinden konnen, auch bei so gut wie normalen Eiweisskonzentrationen im Blute, was nicht der Fall zu sein scheint, wenn der Organismus vollgeladen ist (Hede- nius). Es scheint deshalb sehr glaubenswert, dass weil die Blut- proteinsynthese bei eiweissarmer Kost ausserst angestrengt ist, ein

'Proteinverlust aus der Blutbahn, entweder durch Ausfluss in die Gewebe oder durch Proteinurie katastrophale Folgen haben kann. 27 - Ada med. scandinav. Vol. C X X .

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Die Hypoproteiniimie bei den Nephriten und Herzinsuffizienzen wiihrend des Krieges in Finnland scheint also durch ein Zusammen- wirken von disponierenden Faktoren - (gestorte Kapiliarfunktion, die durch die Krisezeit und die defekte Erniihrung bedingt ist und mangelhafte Plasmaprofeinsynthese) - und von auslljsenden Fak- toren (Eiweissausfluss durch die Kapillarwand und Proteinurie) zu- standezukommen. Mit anderen Worten, es ist eine Hgpoprotei- niimiebereitschafi vorhanden. Hypoproteinamie und Oedem wer- den manifest, wenn solche Faktoren wie Proteinurie oder Kapillar- permeabilitiitssteigerung hinzutreten.

Literaturveneichnis.

Reckman: ref. Fishberg. - Dietrich: Klin. Wschr., 22, 715 (1943). - Ehrstrbm, M. Ch.: Finska Lakares Handl., 79, 59 (1936). - Eppinger: Die serbse Entzundung. Wien 1935. - Espersen: Ugeskr. f. Lag., 100, 847 11938). - Fishberg: Hypertension and Nephritis, Philadelphia 1940. - Hedenius: Nord. med., 21, 125 (1944). - Holten: Nord. med., 12, 3059 11941). - Lichtwitz: Pathologie der Funktionen und Regulationen, Leiden 1936. - Nonnenbruch: $Knolls mitt. f. h z t e . Jubilaumsausgabe 1936. - Turpeinen, 0.: Wird spater verbffentlicht. - Warburg, E.: Nord. med., 2051 (1938).