I I . Dionysio-Hadriana und Vetus Gallica - historisch geordnetes und systematisches Kirchenrecht am...

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II. Dionysio-Hadriana und Vetus Gallica - historisch geordnetes und systematisches Kirchenrecht am Hofe Karls des Großen 1 ). Von Hubert Mordek. I. Zur Verbreitung einiger Kirchenrechtssammlungen in der Karolingerzeit S. 39. II. Die Dionysio-Hadriana-Vetus Gallica-Kombination S. 42. 1. Die Vetus Gallica-Kanones im Anhang zur Dionysio-Hadriana S. 42. 2. Die Adnotationes in der Präfatio zur Dionysio-Hadriana S. 49. III. Das Capitulare Nr. 47: ein Auszug aus der Vetus Gallica S. 53. IV. Zum Kirchenrecht und den kirchenrechtlichen Sammlungen am Hofe Karls des Großen S. 56. V. Edition einiger Zusatzstücke der Collectio Vetus Gallica S. 59. I. Zur Verbreitung einiger Kirchenrechtssammlungen in der Karolingerzeit. Ale Papst Hadrian I. Karl dem Großen während seines Komaufenthalts im Jahre 774 die überarbeitete Sammlung des Dionysius Exiguus über- reichte, da verfolgte er mit dieser Gabe sicher den Zweck, der Dionysiana „eine größere Verbreitung und ein erhöhtes Ansehen im Frankenreiche zu verschaffen" 2 ). Die Hoffnungen des Papstes scheinen sich indes nicht sogleich erfüllt zu haben. In die Zeit seines Pontifikats (772—795) läßt !) Folgende Abhandlung ist ein Teilergebnis größerer Studien über das früh- mittelalterliche Kirchenrecht Galliens, die wir separat unter dem Titel .Kirchenrecht und Reform im Frankenreich' veröffentlichen werden. Die in ihrer Bedeutung bisher stark unterschätzte Collectio Vetus Gallica (= Sammlung [der Handschrift] von Angers; vgl. F. Maaßen, Geschichte der Quellen und der Literatur des canoni- schen Rechts im Abendlande 1 [Graz 1870; Nachdruck Graz 1956] S. 821-828; G. Le Bras, Notes pour servir à l'histoire des collections canoniques: I Richesses méconnues de la Bibliothèque publique d'Albi. II Sur la date et la patrie de la col- lection dite d'Angers, in: Revue historique de droit français et étranger, 4. Ser., 8 [1929] S. 767 780) wird dort eine eingehende Untersuchung und — zum erstenmal — eine kritische Edition erfahren. 2 ) Maaßen, Geschichte, S. 467. Brought to you by | Brown University Rockefeller Library Authenticated | 128.148.252.35 Download Date | 6/20/14 2:46 PM

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I I .

Dionysio-Hadriana und Vetus Gallica -historisch geordnetes und systematisches Kirchenrecht

am Hofe Karls des Großen1).

Von

Hubert Mordek.

I . Zur Verbreitung einiger Kirchenrechtssammlungen in der Karolingerzeit S. 39. I I . Die Dionysio-Hadriana-Vetus Gallica-Kombination S. 42. 1. Die Vetus Gallica-Kanones im Anhang zur Dionysio-Hadriana S. 42. 2. Die Adnotationes in der Präfatio zur Dionysio-Hadriana S. 49. I I I . Das Capitulare Nr. 47: ein Auszug aus der Vetus Gallica S. 53. IV. Zum Kirchenrecht und den kirchenrechtlichen Sammlungen am Hofe Karls des Großen S. 56. V. Edition einiger Zusatzstücke der Collectio Vetus Gallica S. 59.

I. Zur Verbreitung einiger Kirchenrechtssammlungen

in der Karolingerzeit .

Ale Papst Hadrian I. Karl dem Großen während seines Komaufenthalts im Jahre 774 die überarbeitete Sammlung des Dionysius Exiguus über-reichte, da verfolgte er mit dieser Gabe sicher den Zweck, der Dionysiana „eine größere Verbreitung und ein erhöhtes Ansehen im Frankenreiche zu verschaffen"2). Die Hoffnungen des Papstes scheinen sich indes nicht sogleich erfüllt zu haben. In die Zeit seines Pontifikats (772—795) läßt

!) Folgende Abhandlung ist ein Teilergebnis größerer Studien über das früh-mittelalterliche Kirchenrecht Galliens, die wir separat unter dem Titel .Kirchenrecht und Reform im Frankenreich' veröffentlichen werden. Die in ihrer Bedeutung bisher stark unterschätzte Collectio Vetus Gallica ( = Sammlung [der Handschrift] von Angers; vgl. F. M a a ß e n , Geschichte der Quellen und der Literatur des canoni-schen Rechts im Abendlande 1 [Graz 1870; Nachdruck Graz 1956] S. 8 2 1 - 8 2 8 ; G. L e B r a s , Notes pour servir à l'histoire des collections canoniques: I Richesses méconnues de la Bibliothèque publique d'Albi. I I Sur la date et la patrie de la col-lection dite d'Angers, in: Revue historique de droit français et étranger, 4. Ser., 8 [1929] S. 767 — 780) wird dort eine eingehende Untersuchung und — zum erstenmal — eine kritische Edition erfahren.

2) M a a ß e n , Geschichte, S. 467.

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40 Hubert Mordek,

sich keine Handschrift der Dionysio-Hadriana mit Sicherheit datieren3), nur von einer einzigen offiziellen Benutzung der Sammlung (Aachener Admonitio von 789) haben wir Kenntnis. Das ändert sich um 800. Nun fließt der Strom der Überlieferung reichlich; zahlreiche Abschriften der Dionysio-Hadriana entstehen besonders in Nordfrankreich, am Rhein und im süddeutschen Raum4). Teile der Sammlung finden Aufnahme in die Kapitularien und werden eifrig auf den karolingischen Konzilen des 9. Jh.s rezipiert5).

Trotz der außerordentlich großen Verbreitung der Dionysio-Hadriana, die zweifellos vom Hofe gefördert wurde, und in der die hohe Wert-schätzung des in der Collectio enthaltenen Rechtsstoffes deutlich zum Ausdruck kommt, ist die historisch geordnete Sammlung nie zum allein maßgebenden Liber canonum im Frankenreich geworden. Die Chance für eine solche „Alleinherrschaft" der Dionysio-Hadriana war von vorn-herein gering ; konnte sie doch einem wesentlichen praktischen Bedürfnis des kirchlichen Lebens nicht genügen : dem Verlangen nach einer systema-tischen Ordnung des kanonischen Stoffes. Daher hielt die Konzeption und Verbreitung systematischer Sammlungen im 9. Jahrhundert unver-mindert an, sie erreichte sogar einen neuen Höhepunkt. Nach den jüng-sten Feststellungen über den hauptsächlichen Wirkungsbereich dieser systematischen Collectiones canonum — Ergebnisse, die uns trotz man-cher Handschriftenverluste im großen und ganzen ein richtiges Bild von den damaligen Verhältnissen vermitteln dürften — zirkulierte die um 800 entstandene Dacheriana6) vor allem in Südfrankreich (Lyon)7) ; das

3) Eine informative Übersicht über 40 bisher bekannte Dionysio-Hadriana-Handschriften aus dem 8. und 9 . Jh. gibt R. K o t t j e , Einheit und Vielfalt des kirchlichen Lebens in der Karolingerzeit, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 76 (1965) S. 336ff. Anm. 5 4 - 5 8 und 6 0 - 6 2 ; dazu H. Mordek, Die Rechtssammlun-gen der Handschrift von Bonneval — ein Werk der karolingischen Reform, in: Deutsches Archiv 24(1968) S. 340 Anm. 5. Die älteste erhaltene Dionysio-Hadriana-Handschrift fassen wir nach K o t t j e (a. a. 0 . , S. 336 Anm. 54 Nr. 1) in Cod. Par. Lat. 8921, foil. 1 - 1 4 0 ( + Reims, Bibliothèque municipale, 2102, foil. 1 - 8 ) vom endenden 8. Jh . ; sie stammt vermutlich aus Corbie; vgl. auch Ε . A. Lowe, Codices Latini antiquiores V (Oxford 1950) S. 17 Nr. 574.

4) K o t t j e , a. a. 0 . , S. 336f. 5) Vgl. Maaßen, Geschichte, S. 467ff. e) Zur Dacheriana vgl. zuletzt H. Mordek, a. a. 0 . , S. 341 mit Anm. 7. Das

Dacheriana-Vorwort bis censurarti canonum estimare findet sich übrigens auch in Cod. Par. Lat . 14497 (13. Jh.), foli. 134™-135 ri>, einer Parallelhandschrift zu Cod. Rodez 23.

7) K o t t j e , a. a. 0 . , S. 339f. Anm. 70 weist 12 Handschriften der Dacheriana

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Haupteinflußgebiet der Concordia canonum des Cresconius war Ober-italien8). Sind also gerade jene Gegenden ohne eine systematische Samm-lung geblieben, in denen — wie oben erwähnt — das Zentrum der Dio-nysio-Hadriana-Tradition lag ? Keineswegs! Hier im Norden Frankreichs, am Rhein und in Süddeutschland erlangte eben zur Zeit Karls des Großen

aus dem 9. Jahrhundert nach, von denen 8 (9) aus Südfrankreich stammen. Zur Zeit Hinkmars von Reims lebte das Interesse an der Dacheriana jedoch offensichtlich auch im Norden Frankreichs auf; das verdeutlicht die Provenienz weiterer 11 ( + 1) Codices des 9. Jh.s, die zu Kottje nachzutragen sind (Datums- und vor allem Pro-venienzbestimmungen meist nach Prof. B. B i scho f f , München, dem ich für seine freundlich gewährten Auskünfte auch an dieser Stelle herzlich und aufrichtig dan-ken möchte):

a) Köln, Dombibl., 123 (9. Jh.1) nordwestdeutsch ? b) Paris, Bibl. Nat., Lat. 2341 (9. Jh. 2/4) Orléans c) Paris, Bibl. Nat., Lat. 1927 (9. Jh. ca. Mitte) französisch (mehr südlich) d) Vatikan, Reg. Lat. 848 (9. Jh. 3/4 [wohl kurz nach 858]) französisch (Tours ?

Vgl. dazu B. Bischoff [Mordek, Zur handschriftlichen Überlieferung der Dache-riana, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 47 (1967) S. 580 Anm. 21])

e) Leiden, Bibl. der Rijksuniv., B. P. L. 127 AB (9. Jh. 3/4) französisch (mehr nördlich)

f) Merseburg, Dombibl., 100 (9. Jh. a/4) Reims (nach Auskunft des Bibliothekars im Zweiten Weltkrieg vernichtet)

g) Brüssel, Bibl. Roy., 1312 (9. Jh. ca. 3/4) [Nähe] Reims h) Ivrea, Bibl. cap., XXXVIII (9. Jh. ca. 3/4) Oberitalien i) Paris, Bibl. Nat., Lat. 10741 (9. Jh. 3"4/4) Lyon j) Vatikan, Ottob. Lat. 261 (9. Jh. Ende) nordfranzösisch k) Paris, Bibl. Nat., Lat. 13655 (9 . -10 . Jh.; B ischof f : 10. Jh.) Dazu kommt ein jüngst von M. M u r j a n o f f (Leningrader Fragmente der Dache-

riana, in: Studia Gratiana 9 [1966] S. 3—10) identifiziertes Fragment in 1) Leningrad, Pubi. Bibl., Q. v. II. 24 (9. Jh. 3/4) Reims. 8) K o t t j e , a. a. O., S. 339 mit Anm. 69. Zur Sammlung allgemein: Maaßen ,

Geschichte, S. 806—813; R. von Sche re r , Handbuch des Kirchenrechtes 1 (Graz 1886) S. 207; H. W u r m , Studien und Texte zur Dekretalensammlung des Diony-sius Exiguus. Kanonistische Studien und Texte 16 (Bonn 1939; Nachdruck Amster-dam 1964) S. 37—39; B. K u r t s c h e i d - F . A. Wilches , Historia iuris canonici 1 (Rom 1943) S. 93ff.; A. Van Hove , Prolegomena. Commentarium Lovaniense in codicem iuris canonici I, 1 (21945) S. 266; J.-Ph. Lévy , Artikel: Cresconius ou Crisconius, in: Dictionnaire de Droit Canonique 4(1949) Sp. 762f.; A. M. S t i ck l e r , Historia iuris canonici Latini 1 (Turin 1950) S. 75; É. D e k k e r s - E . Gaar , Clavis patrum Latinorum. Sacris erudiri 3 (21961) S. 393 Nr. 1769; P. P i n e d o , Concordia canonum Cresconii, in: lus canonicum 4 (1964) S. 35—64; H. F u h r m a n n , Pseudo-isidor in Rom vom Ende der Karolingerzeit bis zum Reformpapsttum, in: Zeit-schrift für Kirchengeschichte 78 (1967) S. 47. — Dazu seien einige bisher übersehene

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die Collectio Yetus Gallica eine erstaunliche Verbreitung; mehrere Hand-schriften dieser ältesten merowingischen Rechtssammlung der systema-tischen Ordnung, die damals in jenen Gebieten geschrieben wurden, lassen sich heute noch nachweisen9).

Zwischen Dionysio-Hadriana und Vetus Gallica, zwischen der histo-risch geordneten und der systematischen Sammlung, bestand kein Kon-kurrenzkampf. Im Gegenteil fand sich schon um 800 ein Interessent, der beide Collectiones miteinander verband, indem er der Dionysio-Hadriana Teile der Yetus Gallica vorsetzte und anfügte, eine Verbindung, die sich in der Folgezeit einer lebhaften Benutzung und Verbreitung erfreute.

Die Kombination von Dionysio-Hadriana und Vetus Gallica ist nicht nur ein bemerkenswertes kirchenrechtliches Phänomen; ihr kommt all-gemein-historische Bedeutung insofern zu, als ihr Verfasser — wie unsere folgenden Ausführungen zeigen werden — allem Anschein nach am Hofe Karls des Großen selbst gearbeitet hat, und sein Werk daher wohl als ein von höchster Stelle legitimierter Beitrag zur karolingischen Kirchen-reform verstanden werden muß.

II. Die D i o n y s i o - H a d r i a n a - V e t u s Gal l i ca -Kombinat ion .

1. Die Vetus Gallica-Kanones im Anhang zur Dionysio-Hadriana.

Dionysio-Hadriana und Vetus Gallica sind bisher kritisch nicht ediert worden. Da auch eine Klassifizierung der zahlreichen erhaltenen Codices der Sammlungen fehlt10), dürfte es sich empfehlen, unsere eigentlichen

Cresconius-Handschriften genannt, auf die ich zufällig gestoßen bin: Vat. Reg. Lat . 423 (9. Jh.2), foli. 2 6 - 3 1 , vgl. A. W i l m a r t , Codices Reginenses Latini 2 (1945) S. 520; Rom, Bibl. Casanat., 2010 (12. Jh . Anfang); Rom, Bibl. Valliceli., C. 20.

9) Auf die handschriftliche Überlieferung der Collectio Vetus Gallica werden wir in unserer Anm. 1 angekündigten Studie ,Kirchenrecht und Reform im Franken-reich' ausführlich eingehen. In die nun folgenden Ausführungen sind vereinzelt Ergebnisse jener Untersuchung eingearbeitet, auf die hiermit generell verwiesen sei.

10) Zur Vetus Gallica s. oben Anm. 1 und 9. — Von der Dionysio-Hadriana gibt es nur Handschriftenlisten, Inhaltsverzeichnisse und sehr allgemein gehaltene Be-schreibungen, vgl. M a a ß e n , Geschichte, S. 441ff., der im wesentlichen zwischen der reinen und der vermehrten Hadriana unterscheidet, eine wenig glückliche Di-stinktion, da sich die vermehrte nicht auf die reine Hadriana, sondern auf eine beiden

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Ausführungen mit dem Vorstellen der Handschriften der Dionysio-Hadriana-Vetus Gallica-Kombination und der Analyse ihres Vetus Gallica-Textes zu beginnen.

Wenigstens sechs Handschriften zählen zur Vetus Gallica-Gruppe der Dionysio-Hadriana-Codices11), die sich ihrerseits wieder in drei Unter-klassen gliedert:

1) Par. Lat. 3843 (9. Jh. ca. 2 / 4 ; französisch [mehr nördlich]) und Vat. Lat. 631 (13. Jh.)12)

2) Rom, Bibl. Naz., Sessor. L X I I I (9. Jh. ca. 2 / 4 ; Nonantola)13) und München, CLM. 3860a (11. Jh.)14)

Sammlungen vorausgehende Form der Dionysiana zurückführt und daher besser als vermehrte Dionysiana zu bezeichnen ist, vgl. H. W u r m , Studien und Texte, S. 35; ebenda zur Dionysio-Hadriana S. 33ff. Ferner P. Fou rn i e r -G . Le Bras , Histoire des collections canoniques en Occident depuis les Fausses Décrétâtes jus-qu'au Décret de Gratien 1 (Paris 1931) S. 95ff.; K u r t s c h e i d - W i l c h e s , Historia iuris canonici 1, S. 89f.; Van Hove , Prolegomena, S. 268, 291ff. und 416; S t i ck -le r , Historia iuris canonici Latini 1, S. 107ff.; R. Naz , Artikel: Hadriana, in: Dic-tionnaire de Droit Canonique 5 (1953) Sp. 1083f.; W. M. P löch l , Geschichte des Kirchenrechts 1 (Wien, München 21960) S. 444; H. E. Fe ine , Kirchliche Rechts-geschichte 1 (Köln, Graz *1964) S. 94f. und 151; R. K o t t j e , a. a. 0. , S. 336ff. -Die Cánones apostolorum und die griechischen Konzile der Dionysio-Hadriana sind als Teil einer Edition der Gesamtüberlieferung gedruckt bei C. H. T u r n e r , Eccle-siae occidentalis monumenta iuris antiquissima, 2 Bde. (opus postumum ed. E. Schwar t z ) [Oxford 1899—1939] und E. S c h w a r t z , Acta conciliorum oecumeni-corum II, 2, 2 (Berlin, Leipzig 1936).

n ) Wir konnten nur einen Teil der Dionysio-Hadriana-Überlieferung nach den uns interessierenden Vetus Gallica-Stellen durchsehen. Vermutlich existieren noch weitere, hier nicht genannte Handschriften der Kombination, die erst eine gründ-liche Untersuchung der gesamten erhaltenen Tradition der Dionysio-Hadriana zu-tage fördern wird. Das Hauptergebnis unserer Ausführungen dürfte sich durch neue Handschriftenfunde jedoch kaum wesentlich verändern.

12) Diese Handschriften werden ausführlich in meiner oben S. 39 Anm. 1 ange-zeigten Arbeit über die Collectio Vetus Gallica beschrieben werden. Zu Cod. Par. Lat. 3843 vgl. Maaßen , Bibliotheca Latina juris canonici manuscripta, SB. Wien 54, Jg. 1866 (1867) S. 232 und B. Bischoff ( K o t t j e , a. a. O., S. 337 Anm. 58); s. auch Abbildung nach S. 48. — Zu Cod. Vat. Lat. 631 vgl. M. Va ta s so -P . F r a n -chi de' Cava l i e r i , Codices Vaticani Latini 1 (Rom 1902) S. 477f.

13) Vgl. A. R e i f f e r s c h e i d , Die römischen Bibliotheken, SB. Wien 50 (1865) S. 754-761; H. W u r m , Studien und Texte, S. X, 31f. mit Anm. 4, 44 und öfters; B. Bischoff ( K o t t j e , a. a. 0 . , S. 337 Anm. 57 Nr. 2). Zum Inhalt der Handschrift s. auch unten Anm. 16.

14) Vgl. H. W u r m , a. a. 0 . , S. XI, 34, 54ff. Anm. 74 und öfters. - Zur zweiten Gruppe gehört auch Cod. Vat. Lat. 1337. Allerdings ist dort die Verbindung der

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44 Hubert Mordek,

3) Cambrai 625 (9. Jh.2; Nordfrankreich) und Par. Lat. 3182 (10. Jh. ca. Mitte)16).

Das Gemeinsame der genannten Handschriften besteht darin, daß der in ihnen überlieferten Dionysio-Hadriana — sei es unmittelbar, sei es nach Zwischenstücken — Auszüge aus der Yetus Gallica folgen16).

Am einfachsten und eindeutigsten lassen sich die Yetus Gallica-Ex-zerpte in den Codices Par. Lat. 3843 und Vat. Lat. 631, unserer ersten Unterklasse, feststellen17), in der sich an die Dionysio-Hadriana die Noti-tia Galliarum18) und eine kleine Zusatzsammlung mit Kanones verschie-dener Provenienz anschließen: inmitten letzterer Additamenta steht als Einheit mit dem typischen Wort hira in den Inskriptionen die Kapitel-gruppe X X X V I , 7 - 1 2 der Vetus Gallica19).

Dionysio-Hadriana mit dem Vetus Gallica-Anhang nicht ursprünglich, sondern erst von einem späteren Redaktor geschaffen worden, der den Zusatz am Schluß dieser sehr alten Dionysio-Hadriana-Handschrift(9. Jh. Anfang, Oberrhein; B. Bischoff [Κ o t t j e, a. a. 0. , S. 336 Anm. 54 Nr. 11]) ab fol. 177r nachgetragen hat (Palimpsest!).

15) Beide Codices sind zuletzt eingehend untersucht worden von L. Bie ler , The Irish Penitentials. Scriptores Latini Hiberniae 5 (Dublin 1963) S. 13 und 22. Dazu ergänzend R. K o t t j e , in: Historisches Jahrbuch der Görresgesellschaft 84 (1964) S. 405 Anm. 1. Zu Cambrai 625 vgl. auch K o t t j e , a. a. 0 . [ZKG] S. 338 Anm. 60 Nr. 5.

le) In Cod. Sessor. LXIII ist die Dionysio-Hadriana nur fragmentarisch sicht-bar. Der Autor kopierte eine Dionysiana, die er mit Exzerpten aus der Hadriana anreicherte (nach W u r m , Studien und Texte, S. 31). Aus dieser seiner zweiten Vorlage muß er die Vetus Gallica-Kapitel bezogen haben, von denen hier die Rede ist.

" ) Cod. Par. Lat. 3843, foil. 208™-™ 210™"™ und 212™-t; Cod. Vat. Lat. 631, foil. 407Γ~408Γ.

1β) Mit Benutzung von Cod. Par. Lat. 3843 herausgegeben von Th. Mommsen, MG. AA. IX (1892) S. 552ff. (Beschreibung der Handschrift als Nr. 83, S. 572). Auch Cod. Vat. Lat. 631 wird zur Edition herangezogen (Nr. 63, S. 569f.), jedoch nur jene Notitia Galliarum der Handschrift, die der Sammlung Pseudoisidors voran-geht. Die zweite, an die Dionysio-Hadriana anschließende Notitia Galliarum der Form von Cod. Par. Lat. 3843 hat Mommsen übersehen.

19) S. Abbildung nach S. 48. Die Vetus Gallica-Kapitel XXXVI, 7 - 1 2 ent-halten folgende Kanones: Konz. v. Chalkedon, Kan. 9, Rubrik und Auszug aus dem zweiten Teil (Dion.; E. S c h w a r t z , Acta conciliorum oecumenicorum II, 2, 2 [1936] S. 56); Konz. v. Agde, Kan. 32 (Corpus Christianorum. Series Latina 148: Concilia Galliae, ed. Ch. Munier [1963] S. 207); 3. Konz. v. Orléans (a. 538), Kan.35 (MG. Cone. I, S. 83); 2. Konz. v. Mâcon (a. 585), Kan. 10 ohne die Anfangsworte (MG. Cone. I, S. 169); 1. Konz. v. Mâcon (a. 581/683), Kan. 7 (MG. Cone. I, S. 157); 1. Konz. v. Mâcon (a. 581/583), Kan. 19 (18) ohne den Schlußsatz (MG. Cone. I, S. 159 f.).

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Dionysio-Hadriana und Vetus Gallica. 45

Es dürfte kaum Zufall sein, daß der Exzerptor gerade diese Kanones vorwiegend gallischer Konzile aus dem zentralen Titel X X X V I der Vetus Gallica De causantibus et de iudicibus ausgewählt hat. In ihnen wird die Stellung des Bischofs mit Nachdruck hervorgehoben. Die Bestimmungen gipfeln in der wiederholt vorgebrachten Forderung, kein Kleriker dürfe einen Amtsbruder oder Laien, kein Laie einen Kleriker ohne Erlaubnis des Bischofs vor Gericht ziehen. Auch den karolingischen Reformern war an einer Stärkung der bischöflichen Gewalt in der Kirche gelegen ; in Titel X X X V I der Vetus Gallica konnten sie von alters her geltende Bestim-mungen finden, die ihrem Reformanliegen genau entsprachen.

Unmittelbar vor dem Exzerpt aus dem eigentlichen Korpus der Vetus Gallica werden aus dem Anhang derselben Sammlung der Auszug aus dem Brief Gregors des Großen an Brunhilde und die Notizen über die ersten vier und die ersten sechs allgemeinen Konzile zitiert20). Der Text des zweiten Konzilienverzeichnisses bricht an dieser Stelle bereits mit Iuvenalis episcopus Constantinopolitanus ab21) ; seine Fortsetzung22) muß man an ganz anderem Orte suchen — direkt nach der Notitia Galliarum, dem ersten Anhangsstück zur Dionysio-Hadriana dieser Unterklasse.

Die dem Appendix der Vetus Gallica entnommenen Zusätze werden nicht von allen, sondern nur von den nordfranzösischen Handschr ften der Vorlage tradiert. Auch der Text der Kapitel X X X V I , 7—12 kann nach Ausweis der Varianten allein aus einem nordfranzösischen Codex der Vetus Gallica stammen. Den Nachweis derselben Quelle bei beiden Entlehnungen wird man als sicheres Zeichen dafür ansehen dürfen, daß der Kompilator den hier interessierenden Teil des Anhangs zur Dionysio-Hadriana aus einer einzigen Vetus Gallica-Handschrift der nordfranzösi-schen Klasse geschöpft hat. Auf die gleiche Vorlage geht auch der Kanon Pseudosilvesters kurz vor Schluß der Handschrift Par. Lat. 3843 zurück23).

Cod. Vat. Lat. 631 hängt nicht von Par. Lat. 3843 ab, da er zuweilen einen besseren Text tradiert. Es muß also vor Par. Lat. 3843 wenigstens eine weitere Handschrift gegeben haben, die die Dionysio-Hadriana-Vetus Gallica-Kombination in derselben Form enthielt, in der sie heute

20) S. unsere Edition der Zusatzstücke ( = Nr. II —IV) unten S. 60 Zeile lOff. Auf den dort vorgelegten Text beziehen sich unsere Ausführungen auch im folgenden.

21) S. Edition S. 60 Zeile 22. 22) Inc. (in der Orthographie von Cod. Par. Lat. 3843): Cerillus episcopus Alexan-

drinus. Quartus sycnodus sub Marciano ... expl. : . . . velamen super vidua tantum ; s. Edition S. 60 Zeile 22 - S. 61 Zeile 44.

23) S. dazu unten S. 55f.

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in der Pariser und in der Vatikan-Handschrift überliefert ist. Diese Form bietet uns den bei weitem ursprünglichsten und vollständigsten Text, die Reihenfolge der Stücke aber dürfte sie kaum unverändert bewahrt haben. Denn daß der Text nach der Notitia Galliarum mitten im Satz mit Ceril-lus episcopus Älexandrinus. Quartus sycnodus sub Marciano ... beginnt und das dazugehörige Vorderstück erst später separat vorgeführt wird, ist einfach sinnlos. Man kann es sich schlechterdings nicht vorstellen, daß der Kompilator, der seinen Stoff sonst durchaus klug zu wählen versteht, an diesem Punkt so sinnwidrig gearbeitet haben soll. Plausibler erscheint eine andere Erklärung: die seltsame Reihenfolge der Stücke dürfte erst durch eine — vermutlich zufällige — Veränderung24) in jener Handschrift zustande gekommen sein, auf die die Vorlage der Codices Par. Lat. 3843 und Vat. Lat. 631 zurückzuführen ist.

In dieser Überzeugung bestärkt uns auch das Aussehen des Vetus Gal-lica-Anhangs der Dionysio-Hadriana in den Handschriften Rom Sessor. LXIII und München CLM. 3860a25). Hier schließen sich an den Auszug aus dem Gregor-Brief an Brunhilde die Notizen über die allgemeinen Konzile bis velamen super viduarn tantum ohne jede Textverschiebung an. Dagegen fehlen in der zweiten Unterklasse die aus dem Korpus der Vetus Gallica selbst stammenden Kanones XXXVI, 7—12. Diese Klasse hat ganz offensichtlich die ursprüngliche Reihenfolge der Anhangsexzerpte bewahrt, die Stücke am Schluß jedoch nicht mit übernommen26); sie steht textmäßig der Vetus Gallica-Vorlage schon ferner als die erste Unterklasse27).

Von einem Exemplar der zweiten Unterklasse muß der Erstcodex der dritten Unterklasse abhängen28), bei der die Reihenfolge der Auszüge

24) Man könnte etwa an eine Blatt- oder Lagenverschiebung denken. 25) Cod. Rom, Sessor. LXIII, fol. 197 r-v; CLM. 3860», fol. 180™-». 26) Nach velamen super viduarn tantum folgen weitere Notizen über die ersten

vier allgemeinen Konzile (inc.:Inter eetera autem concilia quattuor . . . ) : es handelt sich im großen und ganzen um eine Verbindung von Teilen des ersten und des zwei-ten Stückes der Dionysio-Hadriana-Präfatio (Isidors Etymologien VI, 16 und Adno-tatio I). S. auch unten Anm. 32.

27) In der zweiten Unterklasse heißt es z. B. zu Beginn des zweiten Konzilien-verzeichnisses Iste alie sex sinodi statt Iste sex sinodi (s. Edition S. 60 Zeile 16); bei Marciano (s. Edition S. 60 Zeile 23) fehlt imperatore.

2β) In beiden Gruppen fehlt ζ. B. beim Konzil von Nikäa Bischof Alexander von Alexandrien, s. Edition S. 60 Zeile 18. — Die dritte Unterklasse ist vor allem durch Textauslassungen gekennzeichnet (s. Anm. 31). Daß sie einige Besonderheiten der zweiten Unterklasse (s. die vorige Anm. angeführten Beispiele) nicht über-

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Dionysio-Hadriana und Vetus Gallica. 47

wiederum verändert ist — nun aber mit Absicht. Der Yetus Gallica-Text beginnt in den Handschriften Cambrai 625 und Par. Lat. 318229) erst mit Quatuor synodi principales30) und reicht mit Auslassungen31) und einem größeren Einschub32) bis liceat virginem consecrará). Danach folgen noch überraschend der „Libellus responsionum" Gregors I. an Augustinus ge-nau in jener Form, in der er als Anhang zum eigentlichen Korpus der Yetus Gallica überliefert ist, und die nur in den Vetus Gallica-Hand-schriften der nordfranzösischen Klasse anschließenden Exzerpte aus den Gregor-Briefen an Etherius und Brunhilde34). Der Redaktor der dritten Unterklasse hat also wohl selbständig eine weitere Anleihe aus einer Ve-tus Gallica-Handschrift der nordfranzösischen Klasse getätigt35) und da-bei den Auszug aus dem Gregor-Brief an Brunhilde am Anfang des Dio-nysio-Hadriana-Anhangs logischerweise weggelassen, um ihn am Schluß im Verein mit den beiden anderen Gregor-Stücken sinnvoller zu zitieren.

Es spricht viel dafür, daß die Dionysio-Hadriana-Vetus Gallica-Kom-bination um 800 in Nordfrankreich oder in der engeren Nachbarschaft dieses Gebietes verfaßt wurde ; von dort stammen zwei der ältesten ge-nannten Dionysio-Hadriana-Handschriften, Par. Lat. 3843 und Cambrai 625; die Vetus Gallica-Vorlage gehörte zu den Codices der nordfranzösi-

nommen hat, dürfte sich aus der Überarbeitung ihres Textes durch den Redaktor mit Hilfe der Adnotatio I aus der Präfatio zur Dionysio-Hadriana erklären. Dazu mag der Kopist das zweite Konzilienverzeichnis der Vetus Gallica in einer Hand-schrift der nordfranzösischen Klasse eingesehen haben, s. auch unsere Ausführungen im folgenden.

s e) Cod. Cambrai 625, foli. 4 0 v b - 4 7 v b ; Cod. Par. Lat. 3182, pp. 2 6 4 b - 2 7 3 » . » ) S. Edition S. 60 Zeile 14. 31) Es fehlt unter anderem: Teodosio — sub (s. Edition S. 60 Zeile 2 1 - 2 3 und

Sexta — Constantinopolitanus (s. Edition S. 61 Zeile 26f.): Homöoteleuta oder ab-sichtliche Reduzierung der Synoden von sechs auf vier entsprechend der Ankündi-gung des ersten Konzilienverzeichnisses ? — Vgl. M a a ß e n , Bibliotheca, SB. Wien 54, Jg. 1866 (1867) S. 225.

M) Dieses Zwischenstück handelt von den ersten vier allgemeinen Konzilen. Es stand in der zweiten Unterklasse am Ende der Vetus Gallica-Exzerpte, s. oben Anm. 26. In der dritten Unterklasse erscheint es bereits nach der Konzilienreihe des zweiten Verzeichnisses der Vetus Gallica.

8») S. Edition S. 61 Zeile 42. S. Nr. I und II der Edition unten S. 69f . Zeile 1 - 1 3 .

* ) S. auch Anm. 28.

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48 Hubert Mordek,

sehen Klasse der Sammlung, die damals vor allem im Norden Galliens anzutreffen waren.

Die große Verbreitung der Dionysio-Hadriana-Vetus Gallica-Kombina-tion und ihre rasche, weitreichende Wirkung, von der Zahl, Alter und Herstellungsort der erhaltenen Handschriften ein beredtes Zeugnis ab-legen36), deuten nachdrücklich darauf hin, daß sie nicht an einem unbe-achteten Ort in der Provinz, sondern in einem Zentrum kirchlich-aktiven Lebens der damaligen Zeit entstanden ist. Von besonderer Wichtigkeit für die nähere Provenienzbestimmung der Kombination wird nun der Nachweis, daß der Vetus Gallica-Codex, der dem Verfasser der Dionysio-Hadriana-Vetus Gallica-Kombination als Vorlage gedient haben dürfte,

3e) Cod. Rom, Bibl. Naz., Sessor. LXIII erlaubt die Feststellung, daß unsere Kombination schon bald nach ihrer Entstehung nach Italien gelangt ist. Dort hat •wohl auch jene verhältnismäßig junge Hand gearbeitet, die den Vetus Gallica-Anhang der Dionysio-Hadriana der ursprünglich reinen Hadriana des Cod. Vat. Lat. 1337 in der Form der Handschriften Sessor. LXIII und CLM. 3860» hinzuge-fügt hat, s. oben S. 43f. Anm. 14. Möglicherweise ist auf dem Wege von Gallien nach Italien ein Exemplar der Dio-nysio-Hadriana-Vetus Gallica-Kombination (oder eine Handschrift der Vetus Gal-lica-Vorlage für diese Verbindung?) in Churrätien kopiert worden. Dafür spricht ein Indiz in der etwa Mitte des 9. Jh.s in Rätien (Pfäfers ?) entstandenen Hand-schrift Sankt Gallen, Stiftsarchiv, Pfäfers XXX der Lex Romana Curiensis. Nur dieser Codex überliefert foli. 62T—63r zu Beginn von Buch XXIII folgenden Text: De libro Breviarium. De qualecumque causa inter duos homines agitur et ante iudieem venerit. Berit. De omni rem, unde unus ad alterum hominem debet. Eerunt duo. Qui res alienas recepii ad usuras. Eerunt III. Si pater II filios habuerit, unus ex Ulis habuerit uxorem. Eerunt. Explicit liber breviarius. (Zitiert nach E. M e y e r - M a r t h a l e r , Lex Romana Curi-ensis. Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen. XV. Abteilung: Die Rechtsquellen des Kantons Graubünden [Aarau 1959] S. 447 Zeile 29—34; vgl. auch K. Zeumer , MG. LL. V [1886] S. 412. Zur Handschrift näher A. B r u c k n e r , Scriptoria medii aevi Helvetica 1 [Genf 1935] S. 85f.; M e y e r - M a r t h a l e r , a. a. 0 . , S. XXIIff.). Das orthographisch falsche Eerunt anstelle von hera läßt sich meines Wissens nur in einem Traditionszweig der Vetus Gallica nachweisen: in den Handschriften Par. Lat. 3843 und Vat. Lat. 631. Daß der Verfasser der Lex Romana Curiensis-Form von Cod. Sankt Gallen, Stiftsarchiv, Pfäfers XXX das Wort Eerunt mit großer Wahrscheinlichkeit aus einer solchen Vetus Gallica-Überlieferung bezogen hat, dar-auf könnte auch der Inhalt der Stücke hinweisen: sowohl der Vetus Gallica-Auszug der Form von Cod. Par. Lat.3S43 als auch die erste Rubrik des Liber breviarius der Lex Romana Curiensis in der Sankt Gallener Handschrift handeln von Auseinander-setzungen vor dem weltlichen Richter.

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I t w m u r O í * c K L c i ò o t ó r ^ n J u r t u m U o m .

T l l - j l V M I

Cod. P;ir. Lat. 3843, fol. 210·': Vet.is Gallica-Exzerpto im Anhang zur Dionysio-Hadriana.

s. S. 44ff. und S. 60 Zeile 10ff.

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Dionysio-Hadriana und Vetus Gallica. 49

spätestens Anfang des 9. Jh. s am Hofe Karls des Großen zu finden war. Bevor wir jedoch auf diesen entscheidenden Punkt näher zu sprechen kommen, sei kurz eine weitere Sonderrezension der Dionysio-Hadriana untersucht, bei der Vetus Gallica-Elemente v o r der historisch geordneten Sammlung überliefert sind.

2. Die Adnotationes in der Präfatio zur Dionysio-Hadriana.

In der von S e c k e P ) sogenannten Präfatio zur Dionysio-Hadriana, die in zahlreichen Handschriften der Sammlung vorausgeht, sind mehrere inhaltlich verwandte Stücke vereinigt: Isidors Etymologien, Buch VI, Kapitel 16 über die Kanones und die ersten vier allgemeinen Konzile, die drei Adnotationes, nochmals Isidor (Auszug aus dem anfangs zitierten Kapitel der Etymologien), dazu vor allem Konzilienverzeichnisse der Dionysio-Hadriana und zweier alter gallischer Sammlungen sowie eine Dekretalenliste der Dionysio-Hadriana38). Uns interessieren speziell die drei Adnotationes, mit deren Hilfe zugleich die Herkunft der „wohl noch in der Zeit Karls des Großen"39) entstandenen Präfatio im ganzen be-stimmt werden soll40).

Analysieren wir zuerst die Adnotatio II, ein Verzeichnis von 24 Kon-zilen, dessen Hauptquelle — wie W. L i p p e r t in einer eingehenden Studie nachgewiesen hat41) — der Schlußindex der Collectio Vetus Gallica ( = Ti-tel LXII I ) gewesen ist. Die Reihe beginnt mit sechs griechischen Kon-zilen, wird fortgesetzt von zwei afrikanischen Synoden und endet mit

37) E. S e c k e l , Die erste Zeile Pseudoisidors, die Hadriana-Rezension In nomine domini incipit praefatio libri huius und die Geschichte der Invokationen in den Rechtsquellen. Aus dem Nachlaß mit Ergänzungen hg. v. H. F u h r m a n n , SB Berlin, Jg. 1959, Nr. 4, S. 24ff.

38) Genaue Beschreibung der Stücke bei S e c k e l - F u h r m a n n , a . a . O . , S. 25 bis 28.

39) S e c k e l - F u h r m a n n , a. a. 0 . , S. 37. 40) Ob und welche Teile der bei S e c k e l - F u h r m a n n unter den Nummern III

und IV laufenden Stücke erst später zur Präfatio hinzugekommen sind, ist für un-sere Fragestellung von untergeordneter Bedeutung und wurde von mir nicht näher untersucht.

41) W. L i p p e r t , Die Verfasserschaft der Canonen gallischer Concillen des V. und VI. Jh.s, in: Neues Archiv 14 (1889) S. 9 - 5 8 mit Edition der Adnotatio II (S. 2 5 - 2 8 ) und ihrer Vetus Gallica-Vorlage (S. 3 9 - 4 3 ) . Vgl. auch S e c k e l - F u h r -m a n n , a. a. 0 . , S. 26.

4 Zeitschrift für Rechtegeeohichte. LXXXVI. Kan. Abt. Brought to you by | Brown University Rockefeller LibraryAuthenticated | 128.148.252.35

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50 Hubert Mordek,

sechzehn gallischen Konzilen des 4. bis 6. Jh.s. Die größten Abweichun-gen zwischen der Adnotatio I I und dem Schlußindex der Vetus Gallica finden sich im ersten Drittel. In der Adnotatio II fehlen die Cánones apo-stolorum und die Konzile von Nikäa und Chalkedon, während die Kon-zile von Gangra und Karthago neu aufgenommen sind. Diese Verände-rungen gegenüber dem Schlußindex der Vetus Gallica entspringen jedoch nicht der Willkür des Verfassers ; er hat damit vielmehr absichtlich jene acht Konzile der Dionysio-Hadriana in der Adnotatio I I nachgetragen, die die vorausgehende Adnotatio I ausgelassen hatte42).

Adnotatio I und II gehören also inhaltlich zusammen. Daß sie auf einen einzigen Verfasser zurückzuführen sind, verrät ein weiteres, nicht zu übersehendes Kennzeichen. In beiden Adnotationes wird auf den (oder die) jeweiligen Haupturheber der Konzilsbeschlüsse mit den gleichen charakteristischen Worten hingewiesen:... statuerunt cánones ..., quorum auctor maxime ... episcopus fuit (extitit)iS). Wir kennen keine mögliche Vorlage, in der sich dieser Passus wörtlich belegen ließe; er dürfte vom Kompilator der Verzeichnisse selbst formuliert worden sein.

Die These, die Adnotationes I, I I und auch I I I seien von e inem Autor nach einem einsichtigen Plane entworfen worden, wird endgültig gesichert durch den Nachweis der den drei Einzelstücken zugrunde liegenden Hauptquellen. Für die Adnotatio I I hatten wir bereits die Dionysio-Hadriana und die Vetus Gallica als Vorlagen eruiert. Auch die Adnota-tio I de sex sinodis prindpalibus geht in ihren Hauptbestandteilen auf einen Codex der Vetus Gallica zurück. Ihr Text stellt eine Erweiterung jenes Verzeichnisses der ersten sechs ökumenischen Konzile dar, das sich als Zusatz zum Korpus der Vetus Gallica in der nordfranzösischen Hand-schriftenklasse der Sammlung findet44) und das auch in den Anhang eini-ger Dionysio-Hadriana-Codices übergegangen ist48): Auswahl und Rei-henfolge der sinodi principales gleichen sich in beiden Traditionen voll-kommen ; die Adnotatio I hat auch sonst den Inhalt und die schematische

42) L i p p e r t , a. a. 0 . , S. 44; S e c k e l - F u h r m a n n , a. a. 0 . , S. 26. 43) Vgl. die Editionen der Adnotatio I: Die Kanonessammlung des Kardinals

Deusdedit, neu hg. v. V. W. v o n Glanve l l (Paderborn 1905; Nachdruck Aalen 1967) S. 623f.; Corpus iuris canonici, hg. v. E. Fr i edberg , Teil I: Decretum magi-stri Gratiani (Leipzig 1879; Nachdruck Graz 1959) D. XVI c. 10; auch Migne, PL. 130, Sp. 3f. (pseudoisidorische Version). Zur Adnotatio II s. oben Anm. 41.

u ) S. unsere Edition des Verzeichnisses unten S. 60 Zeile 16 — S. 61 Zeile 27. « ) S. oben S. 45ff.

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Dionysio-Hadriana und Vetus Gallica. 51

Gliederung der Konzilienliste der Vetus Gallica weitgehend bewahrt46). Die Adnotatio III „ist ein Dekretalenverzeichnis, welches sich im wesent-lichen (Hinzufügungen und Auslassungen nicht gerechnet) an die Ha-driana hält"47).

Vornehmlich Dionysio-Hadriana und Vetus Gallica lieferten den Stoff für die drei Adnotationes. Auch mehrere der anderen Stücke, die zu den Zusätzen vor der Dionysio-Hadriana gehören, gehen auf diese Collectio der historischen Ordnung zurück48), der Auszug aus Isidors Etymologien dürfte von der redigierten Vetus Gallica angeregt worden sein49). S e ekel hatte zweifellos recht, wenn er die Einleitungsstücke als ein Ganzes be-trachtete60) und als Präfatio zur Dionysio-Hadriana bezeichnete ; denn in der tradierten Form können sie nur als Supplement speziell für die ge-nannte Sammlung der historischen Ordnung geschaffen worden sein: in Handschriften der Dionysio-Hadriana fassen wir sie in der ersten Hälfte des 9. Jh.s zum erstenmal; sie bleiben auch in der Folgezeit meist mit der Sammlung verbunden51); vor allem: ihr Verfasser hat vorzugsweise mit einer Handschrift der Dionysio-Hadriana gearbeitet: deutliche Be-stätigungen für die Annahme, daß dieser Vorspann erst von einem Be-nutzer der Dionysio-Hadriana verfertigt wurde und ursprungs- und we-sensmäßig als zur Dionysio-Hadriana gehörig anzusehen ist52).

46) Bei jedem Konzil werden in gleichbleibender Reihenfolge die Namen des regierenden römischen Kaisers, des Papstes und anderer bedeutender Bischöfe ge-nannt . Die Auswahl letzterer Konzilsteilnehmer ist besonders bezeichnend: in der Adnotatio I werden nur jene Bischöfe namentlich erwähnt, die auch das Konzilien-verzeichnis der Vetus Gallica anführt .

47) S e c k e l - F u h r m a n n , a. a. 0 . , S. 26f. ω ) Es handelt sich um die Stücke IVa, c und f bei S e c k e l - F u h r m a n n (Stück

IV, f entspricht in leicht verkürzter Form der Adnotatio I). 49) S. Edition S. 60 Zeile 14f. Daß der Vetus Gallica-Passus über die vier synodi

principales eine Zusammenfassung des berühmten isidorischen Konzilientraktats darsetllt — mit der einzigen Veränderung, daß die Synode von Konstantinopel s ta t t an zweiter an vierter Stelle erscheint —, wird jedem Kenner der Kirchenrechts-quellen auch im Mittelalter sofort klar gewesen sein. Der Konzeption des Werkes entsprechend, zog es der Autor der Präfatio vor, nicht das Exzerpt der Vetus Gal-lica, sondern den vollen Text der bekannten Vorlage zu zitieren.

50) Vgl. S e c k e l - F u h r m a n n , a. a. 0 . , S. 28. 8 l) Vgl. S e c k e l - F u h r m a n n , a. a. 0 . , S. 35. Über die Geschichte der Präfatio,

die später auch getrennt von der Dionysio-Hadriana überliefert wurde, sind wir nicht hinreichend unterrichtet. Die Wirkung der Zusatzstücke wäre wohl im Rah-men einer eingehenden Untersuchung des Textes zu behandeln, eine Arbeit, die hier nicht geleistet werden kann.

H ) S. dazu oben Anm. 40.

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52 Hubert Mordek,

Es muß nun auffallen, daß die mit einer Präfatio ausgestattete Sonder-rezension der Dionysio-Hadriana, deren Verfasser unter anderem die Vetus Gallica als Quelle benutzt hat, auch in jener Dionysio-Hadriana-Handschrift vorliegt, bei der wir am Schluß direkte Auszüge aus der Yetus Gallica festgestellt haben: Par. Lat. 3843 (9. Jh . ca. 2/4)53). Hier an einen Zufall der Überlieferung glauben zu wollen, fällt schwer, zumal wir in Par. Lat. 3843 einen sehr alten, nahe an die Anhangs-redaktion der Dionysio-Hadriana selbst herankommenden Textzeugen vor uns haben, und sowohl für die Präfatio als auch für den Anhang ein Codex der nordfranzösischen Klasse der Vetus Gallica-Handschriften als Vorlage ermittelt werden konnte54). Wir sind vielmehr der Überzeugung: die gleiche systematische Quelle bei den zum Teil auch inhaltlich mit-einander korrespondierenden Zusätzen vor und nach der Dionysio-Ha-driana in einer Handschrift, die diesen Bearbeitungen zeitlich noch sehr nahestand, verrät, daß ein und derselbe Redaktor jene Sonderform der Dionysio-Hadriana geschaffen hat, indem er der Sammlung der histori-schen Ordnung unter anderem mit Hilfe einer Vetus Gallica-Handschrift der nordfranzösischen Klasse neue Stücke vorsetzte und anfügte55).

Wenn aber — wie noch nachgewiesen werden soll56) — für die Zusätze am Schluß gilt, daß sie höchstwahrscheinlich in der Umgebung Karls des Großen selbst entstanden sind, so wird man denselben Ursprung jetzt auch für die Präfatio annehmen müssen, für jene Einleitungsstücke, die nach S e ekel „mit ihrer kanonistischen Gelehrsamkeit wenigstens zu An-sätzen einer Lehre von den Rechtsquellen gelangen"57). Ein solches Unter-nehmen erscheint in der Tat als groß genug, um von höchster Stelle aus in die Wege geleitet zu werden, von Männern des Hofes, die erfüllt waren von der Idee der karolingischen Kirchenreform und die diese Idee in die Wirklichkeit umzusetzen versuchten mit Hilfe des kanonischen Rechts,

" ) S. oben S. 43ff. 54) Für den Anhang s. unseren Nachweis oben S. 45. Bei der Adnotatio II ist

es schwieriger, eine bestimmte Vorlage zu eruieren. Doch deuten auch da Varianten darauf hin, daß die Quelle der Adnotatio II eine Handschrift der nordfranzösischen Klasse der Vetus Gallica gewesen ist.

55) In dem mir vorliegenden Cod. Par. Lat. 3843 steht am Ende der kleinen Zu-satzsammlung zur Dionysio-Hadriana, die auch die Vetus Gallica-Kanones enthält, die Adnotatio I in einer kürzeren Sonderform (Zwischenstadium ?). Die innere Ver-bindung der Konzilienverzeichnisse vor und nach der Dionysio-Hadriana tritt in dieser Handschrift also auch nach außen deutlich sichtbar in Erscheinung.

6 6) S. unten S. 56f. 67) S e c k e l - F u h r m a n n , a. a. 0 . , S. 28.

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Dionysio-Hadriana und Vetus Gallica. 53

vor allem der Dionysio-Hadriana als der grundlegenden Sammlung der historischen Ordnung und der bedeutendsten systematischen Collectio Galliens noch aus merowingischer Zeit, der Vetus Gallica.

Ist die Verbindung von Dionysio-Hadriana und Vetus Gallica am Hofe entstanden, so müssen dort selbstverständlich Handschriften beider Sammlungen greifbar gewesen sein.

Daß die Dionysio-Hadriana als Geschenk Papst Hadrians I. an den Hof kam, in der Bibliothek Karls des Großen sorgfältig aufbewahrt und als „Codex authenticus" des öfteren kopiert wurde, ist allgemein be-kannt68). Auch das Vorhandensein der Vetus Gallica am karolingischen Königshof kann heute noch einwandfrei nachgewiesen werden. Wir er-innern zunächst an das auf Grund paläographischer Untersuchungen ge-wonnene Urteil B. B i schof f s , nach dem der Vetus Gallica-Codex Par. Lat. 1603 (8. —9. Jh. Nordostfrankreich) zur Hofbibliothek Karls des Großen gehört haben dürfte59). Daneben gibt es ein weiteres, eindeutiges Indiz: zu Beginn des 9. Jahrhunderts fand die Vetus Gallica Eingang in die karolingische ßeichsgesetzgebung; sie diente als Vorlage für ein Capi-tulare ecclesiasticum Karls des Großen.

III . Das Capitulare Nr. 47: ein Auszug aus der Vetus Gallica.

An die Capitula per missos cognita facienda des Jahres 806 schließen sich in der Überlieferung60) einige wohl um dieselbe Zeit entstandene Capitula excerpta de canone an ( = Capitulare Nr. 47 in der Edition von Boretius)61), die später von Ansegis von Saint-Wandrille in sein bedeu-

58) Vgl. L. T r a u b e , Textgeschichte der Regula S. Benedicti (München 1898) S. 74; C. C h r i s t - Α . K e r n , in: Handbuch der Bibliothekswissenschaft, hg. v. F. M i l k a u und G. L e y h 3 , 1 (Wiesbaden 1953) S. 339; B. B i s c h o f f , Die Hofbiblio-thek Karls des Großen,in: Karl der Große, Lebenswerk und Nachleben 2 (Düsseldorf 1965) S. 44.

s9) B i s c h o f f , a. a. 0 . , S. 56. eo) OLM. 19416 (9. Jh. Ende, Südbayern ; vgl. B. B i s c h o f f , Die südostdeut-

schen Schreibschulen und Bibliotheken in der Karolingerzeit I [Wiesbaden s1960] S. 164).

" ) MG. LL. II, Capit. I, S. 133f.

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54 Hubert Mordek,

tendes Kapitulariensammelwerk62) aufgenommen wurden63) und so zu all-gemeinster Verbreitung gelangten; sie sind nichts anderes als ein Ex-zerpt aus der Vetus Gallica64).

Der Verfasser des Capitulare Nr. 47 hat die ersten 23 numerierten Kapitel nur der Capitulatio unserer Sammlung entlehnt ; es beginnt mit:

I. Ut per singulos annos synodus bis fiat. II. Qualis ad sacerdotium vel sacros ordines secundum quod in canone

legimus venire non potest. I I I . Ut nequaquam inter duos metropolitanos provincia dividatur65).

Brechen wir hier das Zitat ab und untersuchen den Text. Der Anfang des Capitulare entspricht genau dem Capitulatio-Beginn der nordfranzösi-schen Handschriften Brüssel 10127-44 ( = B) und Stuttgart HB VI 109 ( = S2)66), die Überlieferung setzt also da ein, wo auch die Urform der Vetus Gallica begonnen haben dürfte67). Im folgenden ist Rubrik 5 der redigierten Vetus Gallica weggelassen, wohl deshalb, weil sie fast wörtlich der Rubrik 4 gleicht. Die anschließenden Nummern 3—16 des Capitulare sstimmen mit den Vetus Gallica-Überschriften 6—20 überein68), die Nummern 17—23 entsprechen den Rubriken 21—27 der Vorlage, aller-dings mit Umstellung von 21 und 22 und mit einigen, in unserem Zu-sammenhang belanglosen Textveränderungen.

e2) Vgl. R. B u c h n e r , Die Rechtsquellen. Beiheft zu W. W a t t e n b a c h - W . L e v i s o n - H . L ö w e , Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter (Weimar 1953) S. 48f.; L. F. G a n s h o f , Was waren die Kapitularien ? (Darmstadt 1961) S. 108ff.

63) Ansegis, Buch I, Kapit.el 127-133 und Appendix I, Kapitel 1 1 - 2 7 (MG. LL. II, Capit. I, S. 411 und 446f.).

β4) Das erkannte zuerst A. N ü r n b e r g e r , in: MG. LL. II, Capit. II (Addenda et corrigenda zu Bandi ) S. 538. Vgl. auch C. de C le rcq , La législation religieuse franque. Étude sur les actes de conciles et les capitulaires, les statuts diocésains et les règles monastiques 1 (Louvain, Paris 1936) S. 156 Anm. 1; R. B u c h n e r , Die Rechtsquellen, S. 79.

«5) MG. LL. II, Capit. I, S. 133. 66) Cod. Brüssel, Bibliothèque Royale, 1 0 1 2 7 - 4 4 ( 8 . - 9 . Jh. , Nordostfrankreich

oder Belgien); Cod. Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, HB VI 109 (9. Jh. 114, [Süd-]Westdeutschland); s. dazu unten S. 59 Anm. 87 und 88; zu den Siglen der Handschriften ebenda Anm. 84.

· ' ) Zur Urform und zu den einzelnen Redaktionen der Collectio Vetus Gallica vgl. später ausführlich meine oben S. 39 Anm. 1 angezeigte Arbeit.

e8) Die Rubriken 18 und 19 der Vorlage sind in der Edition des Capitulare von B o r e t i u s zu einer einzigen (Nr. 15) zusammengefaßt. Aus Ansegis läßt sich jedoch erkennen, daß sie in der Originalfassung des Capitulare noch getrennt waren. Der Text von CLM. 19416 (s. oben Anm. 60), der einzigen Handschrift, in der das Capitulare Nr. 47 auf uns gekommen ist, bedarf also der Korrektur.

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Dionysio-Hadriana und Vetus Gallica. 55

Ein Grund, warum der Verfasser des Capitulare die Übernahme der über 60 Rubriken umfassenden Vetus Gallica-Capitulatio bereits mit Nummer 27 abbricht, läßt sich nicht erkennen. Daß die Verkürzung durch die Vorlage bedingt war, dürfte ganz unwahrscheinlich sein. Wir kennen die Capitulatio nur vollständig als Teil des Gesamtkorpus der Sammlung; auch der Autor des Capitulare wird wohl mit einer ganzen Handschrift der Vetus Gallica gearbeitet haben. Dieser Codex muß nach Form und Wortlaut der Exzerpte den nordfranzösischen Handschriften BS2 sehr nahegestanden haben: Das Capitulare setzt wie BS2 erst mit Rubrik 3 der Capitulatio der redigierten Vetus Gallica ein, am Schluß von Nummer 13 ( = Rubrik 16 der Vetus Gallica) fehlt analog BS2 vel clero.

Die Quelle für die ersten 23 Kapitel unseres Stückes wäre damit ein-deutig geklärt. Woher aber stammt der Kanon Pseudosilvesters Incipit canon sancii Silvestri et CCLXXXIV episcoporum. Fecit hos gradus in gremio sinodi — mistica veritas, der den Schluß des Ganzen bildet ? Nürn-berger69) wies darauf hin, daß sich diese Stelle im Anhang der Vetus Gal-lica· Handschrift Sankt Gallen 675 findet70). Sie ist auch in den Codices Einsiedeln 205 und Wien 2171 außerhalb des Korpus, in den Codices Berlin Phill. 1763 und Albi 38 bis im Appendix zur Sammlung über-liefert71). Die genannten Handschriften gehören aber teils zur süddeut-schen, teils zur südfranzösischen Klasse der Vetus Gallica-Tradition, können also als Vorlage nicht in Frage kommen, da der Verfasser des Capitulare eine nordfranzösische Handschrift benutzt hat. Tatsächlich ist der pseudosilvestrische Kanon auch in einer solchen enthalten: in S2, jedoch in erweiterter Form und ohne die oben zitierte Inskription, so daß S2 selbst nicht die Vorlage gewesen sein kann72).

Ein negatives Ergebnis — aber nur in bezug auf die eben erwähnten Handschriften! Es gibt nämlich eine weitere Überlieferung des Kanons Pseudosilvesters in Verbindung mit der Vetus Gallica und zwar am Ende

«9) MG. LL. II, Capit. II, S. 538. *>) Cod. Sankt Gallen, Stiftsbibliothek, 675 (9. Jh.1) pp. 170-171. ") Cod. Einsiedeln, Stiftsbibliothek, 206 (9. Jh. Mitte) pp. 3 8 - 3 9 ; Cod. Wien,

österreichische Nationalbibliothek, 2171 (9. Jh.3/4) fol. l v . - Cod. Berlin, Deutsche Staatsbibliothek, Phill. 1763 (9. Jh. Anfang) foil. 4 9 v - 5 0 r ; Cod. Albi, Bibliothèque municipale, 38bis (9. Jh. Mitte) fol. 26r (Genaue Datierung der Handschriften nach B. B i schof f ) .

72) In Cod. Stuttgart HB VI 109 findet sich der Kanon Pseudosilvesters im Korpus der Vetus Gallica selbst (Kapitel XXXVI, 12a).

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56 Hubert Mordek,

des Dionysio-Hadriana-Codex Par. Lat. 384373) kurz nach dem direkten Auszug aus unserer systematischen Sammlung, der die Kapitel XXXVI, 7 - 1 2 enthält74).

Und nun vergleiche man den Ort, an dem der Kanon Pseudosilvesters in der zuvor besprochenen Handschrift S2 tradiert wird: unmittelbar nach Kapitel XXXVI, 12 der Vetus Gallica75), nach jenem Kanon, mit dem das kurze Exzerpt aus dem Urkorpus der Sammlung in Cod. Par. Lat. 3843 endet. Der Zusammenhang ist evident. Der Kanon Pseudo-silvesters und auch die übrigen Vetus Gallica-Stiicke können in die Dio-nysio-Hadriana-Vetus Gallica-Kombination von Cod. Par. Lat. 3843 nur aus einer Vetus Gallica-Handschrift gelangt sein, die dem nordfranzösi-schen Codex S2 außerordentlich ähnlich gewesen ist76).

Dasselbe Bild bietet sich uns beim Capitulare: Der Text der ersten 23 Kapitel gleicht weitgehend S2 ( + B). Der Text des pseudosilvestri-schen Kanons stimmt vollkommen mit dem von Cod. Par. Lat. 3843 überein, der jener S2 verwandten Vetus Gallica-Form entlehnt ist. Es kann keinen Zweifel geben: Auch der pseudosilvestrische Kanon des Capitulare Nr. 47 muß wie die übrigen 23 Kapitel des Stückes aus jener S2 sehr nahestehenden, heute vollständig aber nicht mehr erhaltenen Sonderform der Vetus Gallica stammen, die auch der Verfasser der in Cod. Par. Lat. 3843 vorliegenden Verbindung von Dionysio-Hadriana und Vetus Gallica benutzt hat.

Es bestätigt sich damit unsere eingangs aufgestellte These, allein die Vetus Gallica sei die Vorlage für das Capitulare Nr. 47 Karls des Großen gewesen.

IV. Zum Kirchenrecht und den k irchenrecht l i chen Sammlungen

am Hofe Karls des Großen.

Der Nachweis eines engen quellenmäßigen Zusammenhangs zwischen dem Capitulare Nr. 47 und der Dionysio-Hadriana-Vetus Gallica-Verbin-dung ist zugleich für die Provenienzbestimmung der Kombination von wesentlicher Bedeutung.

73) Cod. Par. Lat. 3843, fol. 212™. 71) S. oben S. 44f. ") S. Anm. 72. , e) Auch der Text der in Cod. Par. Lat. 3843 zitierten Vetus Gallica-Kapitel

XXXVI, 7 - 1 2 (s. oben S. 44f.) weist auf S2.

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Dionysio-Hadriana und Vetus Gallica. 57

Wir wissen bereits, daß die durch den Pariser Codex Lat. 3843 repräsen-tierte Klasse unserer Dionysio-Hadriana-Handschriften den Text der Verbindung am ursprünglichsten bewahrt hat77), und daß ihre Über-lieferung nahe an den Erstcodex der Kombination herankommt, der im endenden 8. oder früh im 9. Jh. entstanden sein muß, zu einer Zeit, da die Dionysio-Hadriana noch am Beginn ihrer eigentlichen Wirkung stand. Karl der Große hatte die Sammlung vom Papst erhalten. Vom Hofe scheinen etwa seit 800 die stärksten Impulse für ihre Verbreitung aus-gegangen zu sein78). Am Hofe aber muß auch unser Capitulare entstanden sein, zu dessen Abfassung genau jene sehr seltene Form der Vetus Gal-lica herangezogen wurde, die auch in der ursprünglichsten Überlieferung der Dionysio-Hadriana-Vetus Gallica-Kombination sichtbar und zweifel-los dem Verfasser der Verbindung selbst zur Hand gewesen ist. Diese ganz singulär in jener Kombination und im Capitulare Nr. 47 zu be-legende Vetus Gallica-Sonderform mit dem Kanon Pseudosilvesters muß also wie die Dionysio-Hadriana am Hofe greifbar gewesen sein79). Bei diesem Sachverhalt, bei dem nachweislichen Zusammentreffen aller frag-lichen, zum Teil sonst nirgends faßbaren Quellen an dem einen Ort am karolingischen Königshof, halte ich es für so gut wie sicher, daß nicht nur das Capitulare Nr. 47, sondern auch die Kombination von Dionysio-Hadriana und Vetus Gallica ihrer Entstehung nach mit jenen aktiven Reformkreisen um den König selbst in Verbindung zu bringen ist, daß sie am Hofe konzipiert wurde.

Damit wird nun deutlich, daß man im engeren Kreise Karls des Großen nicht beabsichtigte, die alten gallischen Kanonessammlungen gänzlich aus der kirchlichen Rechtspraxis zu verbannen, um so der Dionysio-Hadriana die alleinige Herrschaft auf dem Gebiete des Kirchenrechts zu verschaffen, daß die überkommenen Rechtswerke in der Karolingerzeit nicht gegen, sondern im Einklang mit den Absichten des Hofes oft kopiert und gern benutzt wurden: das stärkste Argument gegen die seit Wasser-schieben immer wieder vertretene Ansicht, die Dionysio-Hadriana sei

" ) S. oben S. 46. 7S) In Nordostfrankreich und Westdeutschland sind damals zahlreiche Codices

der Dionysio-Hadriana geschrieben worden, vgl. R. K o t t j e , in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 76 (1965) S. 336; s. auch oben S. 40.

" ) Es ist durchaus möglich, daß die Vetus Gallica-Sonderform mit dem Kanon Pseudosilvesters nach Kapitel XXXVI, 12 erst am Hofe entstanden ist.

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58 Hubert Mordek,

formell zum Gesetzbuch der fränkischen Kirche erhoben worden80). In ihr sah man wohl die vorbildliche Sammlung der historischen Ordnung, neben der jedoch auch andere Collectiones derselben Ordnung wie die Quesnelliana81) am Hofe abgeschrieben und von hier aus verbreitet wur-den82) — mögen sie auch in ihrer Bedeutung gegenüber der Dionysio-Hadriana stark zurückgetreten sein.

Großen Wert dagegen legten die karolingischen Reformer auf die syste-matische Sammlung der Vetus Gallica, die nicht nur am Hofe geduldet, sondern als Vermittlerin alten Rechtsgutes anerkannt und gefördert wurde. Man sorgte für ihre handschriftliche Verbreitung83), entnahm ihr den Stoff für ein Capitulare ecclesiasticum und kombinierte einzelne Teile der Sammlung mit der Dionysio-Hadriana, dem bedeutendsten Liber canonum jener Zeit.

Das kanonistische Interesse Karls des Großen und seiner engeren Mit-arbeiter war keineswegs auf eine Collectio der historischen Ordnung be-schränkt. Auch das systematische Kirchenrecht, das den Zwecken der Reform durch die thematische Gliederung des Stoffes in natürlicher Weise entgegenkam, wurde bewußt gepflegt und für die Durchsetzung der Reformziele genutzt. Die Collectio Vetus Gallica bildete ein systema-tisches Pendant zur historisch geordneten Dionysio-Hadriana am karo-lingischen Königshof.

8 0) Vgl. dazu H. M o r d e k , in: Deutsches Archiv 24 (1968) S. 340f . Anm. 6. 8 1) Der Quesnelliana-Codex Einsiedeln, Stiftsbibliothek 191 (8 .—9. J h . ; vgl.

M a a ß e n , Bibliotheca, S B Wien 56 [1867] S. 1 9 8 - 2 0 0 ; d e r s . , Geschichte, S. 487 ; E . A. L o w e , Codices Latini antiquiores VII [Oxford 1956] S. 12 Nr. 874) entstand wahrscheinlich in Nordostfrankreich, nach B i s c h o f f (Die Hofbibliothek Karls des Großen, S. 55) „ein des Königs würdiges B u c h " ; vgl. auch B i s c h o f f , Panorama der Handschriftenüberlieferung aus der Zeit Karls des Großen, in: Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben 2 (Düsseldorf 1965) S. 239. Die bei M a a ß e n , Ge-schichte, S. 486ff. nicht genannte Quesnelliana-Handschrift Arras 644 ( 8 . - 9 . J h . ) s tammt aus derselben Schreibschule wie Einsiedeln 191, vgl. L o w e , CLA. V I ( 1 9 5 3 ) S. 4 Nr. 713.

8 2) In der Präfatio zur Dionysio-Hadriana sind unter anderem die Konzilien-verzeichnisse zweier — nach S e c k e l — unbekannter gallischer Sammlungen wohl des 7. Jh .s enthalten. Falls die beiden Stücke ursprünglich zur Einleitung gehört haben — erst die volle Kenntnis ihrer Überlieferungsgeschichte dürfte in dieser Frage Klarheit schaffen —, müßten Handschriften der fraglichen gallischen Samm-lungen der historischen Ordnung zur Zeit Karls des Großen am Hofe vorhanden gewesen sein.

8 3) S. oben S. 53.

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Dionysio-Hadriana und Vetus Gallica. 59

V. E d i t i o n einiger Zusatzstücke der Col lect io Vetus Gallica.

Die folgenden vier kurzen Zusatzstücke der Vetus Gallica finden sich nur in den vollständigen Handschriften der nordfranzösischen Klasse der Sammlung84):

Pj = Paris Lat. 1603(8. -9 . Jh. Nordostfrankreich)85) foli. 91»-92"» C = Köln 91 (8. - 9 . Jh. wohl Burgund)86) foli. 82v_83^ Β = Brüssel 10127-44 ( 8 . - 9 . Jh. Nordostfrankreich oder Belgien)87)

foil. 57Γ—58r

S2 = Stuttgart HB VI 109 (9. Jh. V4 [Süd-]Westdeutschland)88) foil. 118Γ—120r.

Es handelt sich um jene Kapitel, die aus dem Anhang unserer systema-tischen Sammlung in die Dionysio-Hadriana-Vetus Gallica-Kombination übergegangen sind89).

Der gedruckte Text hält sich streng an die handschriftliche Überliefe-rung. Namen sind fast stets in der Schreibung von Cod. Par. Lat. 1603 wiedergegeben.

I.

D E E P I S T O L A P A P E G R E G O R I I U R B I S ROME AD E D E R I O E P I S C O P O L U C D O N E N S I S

Omnia, que ina) sanctis canonibus, sicut prediximus, sunt adversa, districtib) sub anathematis interposicione damnentur, idest, ut nullus pro

5 adipiscendis ecclesiasticis ordinibus dare aliquid0) commodid) présumât

84) Wir geben den Handschriften jene Siglen, die sie auch in unserer oben S. 39 Anm. 1 angekündigten Gesamtausgabe der Vetus Gallica tragen werden.

85) CLA. V (1953) S. 5 Nr. 531; s. auch oben S. 53. 8«) CLA. VIII (1959) S. 38 Nr. 1155. ") CLA. X (1963) S. 31 Nr. 1548. M) Vgl. J. A u t e n r i e t h , Die Handschriften der ehemaligen königlichen Hof-

bibliothek 3 (Wiesbaden 1963) S. 106f. ") Ihr Aussehen in den verschiedenen Klassen der Dionysio-Hadriana-Hand-

Bchriften haben wir in unserer Untersuchung vorn näher beschrieben, s. oben S. 42ff.

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60 Hubert Mordek,

vel pro datis accipere neque enim ex laico habitu quisquam rapine6) audeat ad locum sancii') regiminis pervenire neque ut alique«) mulleres cum sacerdotibus habitent nisi hec que sacris, ut praediximush), canoni-bus sunt permisse.

Auszug aus dem Schlußteil des Briefes Papst Gregors I. an Bischof Etherius von Lyon u. a. (Caput nostrum ; JE. 1747 ; MG. Epp. II, 8. 209 Zeile 32 - 8. 210 Zeileô).

Abweichungen von der Vorlage.

a) in] fehlt in der Vorlage b) districti] districte c) aliquid] aliquod d) commodi] commodum; wie die Vet. Gall, jedoch Cod. Cam. 41 der Vorlage e) rapine] repente f) sancti] sacri g) alique] aliae h) praediximus] praedictum est

I I .

I T E M S A N C T I G R E G O R I I P A P E AD P R O N I H I L D E R E G I N A

Sub districta anathematis interposicione debeat interdici nullus ex laico habitu1) ad episcopatus audeat gradum accedere neque pro ecclesia-sticis ordinibus quilibet dare vel suscipereJ).

Auszug aus dem Mittelteil des Briefes Papst Gregors I. an die fränkische Königin Brunhilde (Postquam excellentiae; JE. 1743\ MG. Epp. II, 8.199 Zeile 14—16).

Abweichungen von der Vorlage.

i) habitu] habitu subito ; wie die Vet. Gall, jedoch die Codd. Vat. Pal. Lat. 266 und Düsseid. B. 79 der Vorlage j) dare vel suscipere] quicquam dare vel sit ausus accipere.

I I I .

X I I · Quattuor sinodus principalis hec sunt: Nicinus, Ephesianus, Calci-donensis, Constantinopolitanus.

Iste sex sinodi, que secuntur, his temporibus facti sunt: Prima sinodus Nicia sub Constantino imperatore, Iulio pape Romano, Machario Hieru-salemitano, Alexandro Alexandrino. Secunda sinodus Constantinopoli-tanos sub Teodosio imperatore, Damasus papa Romanus, Cerellus epi-scopus Hierusalemitanus, Nectarius episcopus Alexandrinus. Tercia sino-dus sub Teodosio imperatore, Cerello papa Romano, Iuvenalis episcopus Constantinopolitanus, Cerellus episcopus Alexandrinus. Quarta sinodus sub Marciano imperatore, Leo papa Romanus, Iuvenalis episcopus Hieru-Bolemitanus, Anacholius episcopus Constantinopolitanus. Quinta sinodus

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Dionysio-Hadriana und Vetus Gallica. 61

Iustinianus inperatur, Vigilius papa Romanus, Domninos Anciocensis, Eoticius Constantinopulitanus. Sexta sinodus sub Constantino, Agatho papa Romano, Iorgios Constantinopolitanus.

Hi sunt subterscripti heretici: Arius, Eonomius, Nestorius, Deoscoros, Teodoras, Paulus, Petras, Sercius, Siverus, Macharas, Sapelius, Nestorius, Eoticis, Appollonaris, Onorius, Orienus, Quirus, Puras, Polonius, Ste-fanus.

α) Verzeichnis der ersten vier ökumenischen Konzile (vgl. Isidor von Sevilla, Ety-mologien-, Buch VI, Kapitel 16; s. auch oben 8. 51 Anm. 49).

b) Verzeichnis der ersten sechs ökumenischen Konzile mit einer Aufzählung von Häretikern, die auf dem sechsten ökumenischen Konzil von Konstantinopel (a. 680—681 ) verdammt wurden (vgl. die dem Vetus Gallica-Text am nächsten stehende Stelle bei Mansi, Sacrorum conciliorum nova et amplissima colleetio 11, Sp. 730f.).

IV.

XVIII · In mense Marcio et Iunio et September et December in istos ieiunia quatuor temporum anni celebrantur et sacri ordinis benedicentur. De parrocianis in quacumque die dominico in ipsis mensis eveniret, simi-liter in ipsis mensis mense Marcio prima sabati in quadraginsima, in mense Iunio secunda sabbati, in mense September in tercio sabbati, in mense December in novissimo sabbati excepto si eveniret nativitas Do-mini in ipsa die sabbati precidente die sabbati ordinantur clerici carde-nalis in civitatibus, et sic explentur illa quattuor temporum ieiunia.

In virginibus sacrandis non licet nisi in epiphania et tercia feria in pasca et in quemlibet festa apostolorum et nulli presbiterorum liceat vir-ginem sacrare.

Vidua sub nulla benediccione velitur, liceat presbiterum velamen super viduam tantum.

Kurze Abhandlung über das Fasten und die Erteilung der Weihen an den Quatem· bertagen. Vorschriften für die Weihe der Jungfrauen und das Schleiernehmen der Witwe.

Kritischer Apparat

I.

1 Vor D E steht XII BS2 (zu PL s. unten Zeile 14) EPISTOLA] EPTL C, EPI-STOLE S2 URBIS] ORBIS Ρλ 2 EDERIO] HETERIO C, AETHERIO BS2 LUGDONENSIS CBS2 3 adverse Β 4 sub] sup P1 anate-matis Β interposione korr. zu interpositione C, interposición Β, interpositionem S2 dampnentur C 5 adipiscendes P1 ecclesiastices Px , aeclesiasticis C quomodi P1 6 layco C habeto P x rapina Β 7 audiat

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62 Hubert Mordek,

P j ad] fehlt BS2 sanctae S2 reminis Tcorr. zu regiminis P1 nequem P1 alique] aliquid Plt aliqua C, aliaque S2 mulieris P1 8 que] qui Px canonibus] cummunionibus P1 9 permissi C, praemissi BS2.

II.

10 ITEM] ITEM EPISTOLA C PRONIHILDE] BRUNIHILDE C, PRUNICHILDE B, BRUNICHILDE S2 REGINA] REGINAE C, korr. aus REGINAE S2 11 districtara P1 anathemates C, annathematis S2

interpositione C, interdictione korr. zu interpositione S2 12 layco C habito P1 episcopatis S2 audiat Px gratum P1 accidere Px, accudere C pro] per C ecclesiastices Plt aeclesiasticis C 13 dari C.

III.

14 XII ] Pj, fehlt in den übrigen Hss. (zu BS2 s. oben Zeile 1) Quatuor Β sinodis Bei principales C nicenus CBS2 effesianus C, efesianus B, efesiano S2 calcidoninsis Β 15 constantinopolitani C, constantinopolitano S2 16 Iste sex] Istis ex CS2, isti sex Β que] qui CS2 his] is Pl

facti] stati P1 synodus S2 17 nicea B, niceni S2 papa C hieru-solimitano CBS2 18 sinodos B, synodus S2 Constantino palitanos Plt con-stantinopolitanus B, constantinopolitano S2 19 theodosio CS2, theudosio Β impera torem Ρλ cirillus C, Cyrillus BS2 2 0 hierusolimitanus CB, hieru-solemitanus S2 tertia C'S2 sinodos B, synodus S2 21 theodosio CS2, theudosio Β imperatorem P1 Cirillo C, cyrillo BS2 iuvencolis C 22 constantinopolitano S2 cirillus C, Cyrillus BS2 alexandrino S2 23 martiano S2 imperatorem C hierusolimitanus CBS2 24 anatholius CBS2 Costantino politanus P,, constantinopolitano S2 quinto C sinodos B, synodus S2 25 iastiano S2 imper C, impr B, imperatore S2 virgilius S2 domninus CS2, domninus korr. zu doninus Β anti-ocinsis CBS2 26 euticius CBS2 constantinopolitanus CB, constantinopoli-tano S2 synodus S2 Costantino Ρ, agattho C, agato BS2 27 iurgios korr. zu iorgios P „ iorgius CBS2 constantinopolitano S2.

28 Hi] Hii CBS2 heredici S2 arrius CBS„ eunomius C, eunomius korr. zu eonomius Β dioscorus CBS2 29 theodorus C, teoderus Β sertius S2 siverius C, severus BS2 macarus S2 sabellius CBS2 30 (a)euticis CBS2 apollonaris CBS2 Onorius] davor durchgestrichen ha-narius P l f honorius C Orienus] orien C, orieno S2 pullonius C, pollonius BS2 stephanus C, stephano S2.

IV.

32 XVIII] XI I I CS2 martio S2 33 ieiunie P „ ieiuna S2 quattuor CS2 tempora korr. zu temporum C ordines Β 34 parrocianos P¡, par-rochian C, parrochianis S2 mensis] fehlt C evenerit CBS2 35 men-sis] fehlt S2 martio S2 sabbato C, sabbati BS2 quadragissima C, quadragensimo BS2 36 secunda] II Β sabbati1] sabbato C septembre C tertio C, I I I Β, I l l a S2 sabbati2] sabbato C 37 decembro C

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Dionysio-Hadriana und Vetus Gallica. 63

sabbato C, sabbat <S2 si] se P t C venerit C, evenerit &¡ 38 praece-dente BS2 clereci Β chardenalis CB 39 quatuor B.

40 sacradis Β non licet] fehlt P1 efhefhania P1 tertia CS2

ferea Β 41 pascha BS2 apostulorum C pr(a)esbiterum P 1 C. 43 Viduae S2 benedictione C, benediction B, benedictionem S 2 veletur

CB, yelletur S2 presbt P j 44 vidua C'BS2 Nach tantum folgen latei-nische Worterklärungen. Px überliefert: Inrogas idest non rogas, pravium idest manus melodis de pellis oviura sive caprarum quem ad collo adpenditur, scena dicet tem-plum idolorum. CBS2tradieren nur: Inrogas idest non rogas, bravium idest munus.

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