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Herbst 2011 i say no Zeitung des Bündnisses gegen Rassismus und Sozialchauvinismus http://www.bgrs.de.vu/ Dich erwarten: Viele Stars für Oslo, eine exportschlagende Leitkultur, Fragen zu Frisur und Integration.

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Zeitung vom Bündnis gegen Rassismus und Sozialchauvinismus! Dich erwarten: Viele Stars für Oslo, eine exportschlagende Leitkultur, Fragen zu Frisur und Integration.

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Herbst 2011

i say no

Zeitung des Bündnisses gegen

Rassismus und Sozialchauvinismus

http://www.bgrs.de.vu/

Dich erwarten: Viele Stars für Oslo,

eine exportschlagende Leitkultur,

Fragen zu Frisur und Integration.

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Alle gegen Alle Massendemos, Generalstreik, Besetzung öffent-

licher Plätze – in vielen europäischen Ländern protestieren

Hun derttausende gegen die Zumutungen staatlicher Krisenpolitik.

Nicht so beim Krisengewinner und Exportgroß meister Deutschland:

Außenminister Westerwelle (FDP) verhöhnt sozialpolitische For-

derungen als »spätrömi sche Dekadenz«. Bayerns Ministerpräsident

Seehofer, Vorsitzender der im Bund mitregierenden CSU, stellt

Deutschland als bedrohtes Wohlfahrtsparadies dar, das sich

»bis zur letzten Patrone« gegen arbeitsscheue Ein wanderer weh-

ren müsse. Die SPD, die Partei Thilo Sarrazins, vertritt auch

in der Opposition – und in vielen Lan desregierungen – Standort-

interessen gegen Erwerbstätige und Arbeitslose. Nennenswerter

sozialer Protest? Fehl anzeige. Viele blicken eitel und nati-

onalstolz auf vermeintliche »Pleitegriechen«, und inzwischen

auch auf Portu gal, Spanien, Irland und Italien herab. Man hat

diese Länder schließlich selbst in Grund und Boden konkurriert,

und dabei klaglos massive Reallohnverluste akzeptiert.

Im Leistungsrausch für den Standort Deutschland werden all jene

bedrängt und diskriminiert, die schwach und unproduktiv er-

scheinen: Bevölkerungsgruppen, die jahrzehntelang rassistisch

ausgegrenzt und benachteiligt wur den, gelten nun als unproduk-

tive »Integrationsverweigerer«. Menschen, die auf der Flucht

vor Verfolgung und drückender Armut ihr Leben riskieren, wird

nun unterstellt, sie wollten Deutschland als »Sozialamt der

Welt« (Seehofer) ausnutzen. Hartz-IV-Empfänger_innen, die in

der kapitalistischen Konkurrenz gnadenlos aussortiert wurden,

wirft man nun Faulheit und Anspruchsdenken vor. Die aktuelle

Zunahme rassistischer und sozialchauvi nistischer Ausgrenzung

zeigt, wie brüchig die Garantien des Sozialstaats sind, und

wie schnell auch hier irratio nale Feindbilder um sich greifen.

Wir wollen mit unserer Zeitung beleuchten, wie Rassismus und

Sozialchauvinismus mit dem kapitalistischen Alltag zusammen-

hängen. Wir versprechen Ihnen: Die folgenden Artikel haben Sie

noch nicht gefühlte tausend mal gelesen.

Impressum: V. i. S. d. P. : Marlies Winter, Lupsteiner Weg 63, 14164 Berlin · Die Beiträge im Heft spiegeln nicht unbedingt die Meinung

des gesamten Bündnisses und der Verteiler_innen wieder. Die Veröffentlichung von Angabe bitte von Angabe der Erstveröffentlichung.

Dieses Heft bleibt bis zur Aushändigung an die Adressat_innen Eigentum der Absender_innen. Wir verwenden die geschlechtsneutrale Form

»_innen«, um neben dem männlichen und weiblichen Geschlecht auch Transgendern und anderen Rechnung zu tragen. Gestaltung: Gegenfeuer

Beteiligte Gruppen: Autonome Antifa Berlin, Antifa Friedrichshain, Antifaschistische Jugend Aktion Kreuzberg, AK Marginalisierte,

Antifaschistische Linke Berlin, Autonome Neuköllner Antifa, Antirassitische Initiative, Avanti Berlin, communisme sucré, Für eine

linke Strömung, Grüne Jugend Berlin, Internationale Kommunsit_innen, Bündnis Rechtspopulismus stoppen!, TOP B3rlin, [’solid] Berlin

Die folgenden Artikel haben Sie noch nicht gefühlte tausendmal gelesen.

So|zi|al|chau|vi|nis|mus [schowi…; fr.] m; -: Krisenideologie des –› Kapitalismus. Feindselig keit gegen alle, die nicht ins Ideal-bild einer kapitalistischen Leistungsgesell-schaft passen. Ausgrenzung und Erniedri-gung von Be troffenen (»unproduktiv«, »faul«, »Schmarotzer«, »Hartz-IV-Betrüger«) als Ver-such, den eigenen bedrohten Sta tus zu schüt-zen, und die eigene Nützlichkeit zu unter-mauern. S. unter schlägt die gesellschaftlichen Ursachen von Massenarmut, und stellt sozia-len Ausschluss als selbst verschuldet dar. Die Zumutungen der Standortkon kurrenz (Leis-tungskult, Verzicht für Staat und Unterneh-men) erscheinen als alternativlos. Aggressive Formen des S. (–› Sarrazin) nur Ausdruck eines parteiübergreifenden Trends. Vgl. –› Rassis-mus, –› Rechtspopulis mus.

Rass|is|mus [it.-fr.] m; -men: Soziales Ver-hältnis. Gesellschaftliche (rechtliche, soziale) Ausgrenzung und Diskri minierung von Men-schen aufgrund zugeschriebener oder herge-stellter Unterschiede. Schaffung eines »Wir« ge gen »die Anderen«. Betroffenen werden gemeinsame, unveränderliche Eigenschaften unterstellt (Abstammung, Herkunft, Glaube), und als Ursachen gesellschaftlicher Prob-leme angelastet. Rassistische Herabsetzung unter eine politisch und wirtschaftlich domi-nante Mehrheitsgesellschaft stützt zugleich deren positive Selbstzuschrei bung (–› natio-nale Identität), als Rechtfertigung und Ver-teidigung eigener Privilegien. Unterschied-liche, teils gegensätzliche Begründungen rassistischer Ausgrenzung (»Rasse«, Kultur) haben insofern die gleiche ideologi sche Funk-tion. Rassistischer Anpassungsdruck spaltet Betroffene, und unterwirft sie Ansprüchen wirtschaftli cher Verwertbarkeit. Vgl. –› Integ-ration, –› Kapitalismus.

Re|ch|ts|po|pu|lis|mus [lat.] m; -: Modernisierte Politikform von Teilen der ext-remen Rechten. Basiert auf Kon struktionen einer vermeintlich »christlich-abendländischen Wertegemeinschaft« und –› Nationalismus. Bie-tet autoritäre, vordergründig einfache Lösun-gen für zunehmende Krisen des –› Kapitalismus, indem soziale Kon flikte als Kulturkampf umge-deutet werden (»Untergang des Abendlandes«). R. wirbt mit Law-and-Order-Poli tik. Verspricht Zugehörigkeit zu einer privilegierten Gemein-schaft per Ausgrenzung von Menschen als »Krimi nelle« und »Sozialschmarotzer« (–› Sozi-alchauvinismus), und über rassistische Feind-bilder insbesondere gegen Muslime, aber auch gegen Roma und Sinti. Methodisch arbeitet R. mit Dramatisierung und inszeniert sich als Tabubrecher. Ein Hauptbetätigungsfeld ist das Internet. Gemeinhin werden Parteien wie Pro Deutsch land und Die Freiheit als rechtspopulis-tisch bezeichnet. Ähnliche Positionen werden aber auch in eta blierten bürgerlichen Parteien vertreten.

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Viele Stars für Oslo

Am 22. Juli 2011 tötete Anders Behring Brei-vik in Oslo und Utoya 77 Menschen. Der nor-wegische Rechtspopu list wollte damit ein Zeichen setzen gegen eine vermeintliche Islamisierung des Abendlandes. Nun ist ein solches Feindbild ganz offensichtlich wahn-witzig, und auch die Anschläge selbst lassen Breivik als verwirrten Einzeltä ter erscheinen. Doch seine Ideologie fußt auf rassistischen Vorstellungsbildern, die gesellschaftlich weit verbrei tet sind. In seinem Tatmanifest zitiert Breivik rechtspopulistische Vordenker_innen aus ganz Europa. Und deren rassisti scher Argwohn gegen Muslime und den Islam fi ndet quer durch alle politischen Spektren Zuspruch.Rechtspopulistische Parteien sind in Europa inzwischen weit verbreitet. In der Schweiz, den Niederlanden, Bel gien, Finnland, Schwe-den, Österreich oder Ungarn erzielten sie

bei Parlamentswahlen zweistellige Ergeb-nisse, und stehen teilweise schon in Regie-rungsverantwortung. Ihr zentrales politi-sches Thema ist der Kampf gegen den Islam und gegen Muslime – oder das, was sie dafür halten. Es werden aber auch andere Feind-bilder ins Visier genommen: Drogenkonsu-ment_innen, Obdachlose, Sozialhilfeemp-fänger_innen, und insbesondere Sinti und Roma. Rechtspopulistische Parteien fordern schärfere Gesetze und Strafen sowie den Aus-bau des Polizeiappa rats. Während der globa-lisierte Kapitalismus von einer Krise in die nächste stolpert, versprechen ihre autori-tären Programme Sicherheit und Ordnung. Rechtspopulist_innen inszenieren sich als wahre Vertreter_innen des einfachen Vol kes, im Kampf gegen eine vermeintliche »libe-rale Meinungsdiktatur« politischer Eliten und Medien.

Thilo Sarrazin wird von deutschen Rechtspo-pulist_innen als Held gefeiert. Denn er hat ihre Hetze hoffähig ge macht, und breite Bevölke-rungsschichten für rechtspopulistische The-sen mobilisiert. Sarrazins Buch Deutsch land schafft sich ab! wurde zum Bestseller. Seine Masche, die Folgen gesell schaftlicher Aus-grenzung den Betroffenen selbst anzulas-ten, kam in der Mehrheitsgesellschaft gut an. Und auch die angeblich so liberal vorein-genommenen Medien überließen dem sozi-aldemokratischen Rassisten immer wie der ihre Bühne. Mit populistischen Forderungen lassen sich aber nicht nur Bücher verkau-fen, sondern auch Wahlstimmen gewinnen. 32 Prozent der Deutschen teilen die Ansicht, Deutschland drohe eine Islamisierung. Die staatstragenden Parteien müssen diese irra-tionale Überfremdungsangst mit den Bedürf-nissen des Standorts abwä gen. Entsprechend wird zwischen »guten« und »schlechten« Mi grant_innen unterschieden: Hochqualifi zierte,

die »uns nützen«, sollen angelockt werden, der Rest wird abgeschoben oder soll an den europäischen Außengrenzen verrecken.Einigen ist das jedoch noch nicht genug. Bei der Abgeordnetenhauswahl am 18. Septem-ber 2011 in Berlin treten gleich zwei rechtspo-pulistische Parteien an: Die Partei Die Freiheit wurde vom ehemaligen CDU-Rechtsau ßen René Stadtkewitz gegründet. Er war einer der führenden rassistischen Agitatoren im Kampf gegen den Bau einer Mo schee in Pan-kow-Heinersdorf. Pro Berlin ist der lokale Arm der selbsternannten Bürgerbewegung Pro Deutsch land. Die hatte bereits 2008 und 2009 in Köln mit reißerischen »Anti-Islamisie-rungskongressen« zu punkten versucht. Beide Parteien setzen auch im Berliner Wahlkampf auf das verbreitete Feindbild islami scher Unterwanderung. Anders als traditionelle Alt- und Jungnazis, die an eine biologische »Über-legenheit« eu ropäischer Menschen glauben, rechtfertigen diese Schlipsträger_innen Dis-kriminierung und Ausschluss kulturell: Die Sitten und Gebräuche der Muslime seien das Problem. Dass es »die Muslime« als einheitli-che Kulturgemein schaft gar nicht gibt, ist da zweitrangig. Denn es geht um Ausgrenzung und um das gute Gefühl, selbst dazuzugehö-ren und das Sagen zu haben. Rechtspopulist_innen sind aber keine armen Irren, sondern die konsequentesten Vertreter_innen der aktuel-len Integrationsdebatte. Rechtspopulismus als Zuspitzung eines ge samtgesellschaftlichen Problems.

Autonome Neuköllner Antifa

Während der globalisierte Kapitalismus von einer Krise in die nächste stolpert, versprechen ihre autoritären Programme Sicherheit und Ordnung.

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Bevor wir in unser eigentliches Thema

einsteigen, möchten wir euch bitten,

euch kurz vorzustellen.

Garip und Cagri (Allmende): Allmende e.V. existiert seit 2004. Wir sind entstanden als ein Zusammenschluss von verschiedenen Leuten, die basisorientiert Politik machen. Wir wollten einen Begegnungsort schaffen für soziale und kulturelle Aktivitäten. Viele von uns waren vorher in Vereinen und Verbänden mit Fokus auf die Türkei und Kurdistan tätig. Irgend-wann kam die Einsicht, dass wir uns mehr mit hiesigen Themen beschäftigen müssen. Das beinhaltet auch eine politische Abrechnung mit Integration. Der Begriff muss entlarvt werden. Ali (Kurdischer Volksrat/Kurdischer Ver-

ein Berlin): Ich komme vom Kurdischen Volksrat. Wir haben seit einigen Jahren ein Netzwerk demokratischer Räte auf kommuna-ler Ebene eingerichtet. Ich persönlich habe es immer abgelehnt, mich zu »assimilieren«. Conni (AK Undokumentiertes Arbeiten):

Der AK hat sich vor drei Jahren als Bündnis verschiedener linker, feministischer und anti-rassistischer Gruppen bei der Gewerkschaft ver.di gegründet. Wir setzen uns für gleiche Rechte für alle ein – unabhängig von Pass und Aufenthaltsstatus. Zudem versuchen wir die bereits geltenden Rechte, die auch Migrant_innen ohne Papiere haben, maximal auszuschöpfen. Unser Schwerpunkt liegt dabei auf Arbeitsrechten und Arbeitsbedingungen. Dazu machen wir Öffentlichkeitsarbeit in- und außerhalb der Gewerkschaft. Wir unterhalten auch eine Anlauf- und Beratungsstelle.

Vielen Dank. Dann geht es nun los: Im

Moment werden Arbeitsverhältnisse immer

unsicherer. Gleichzeitig verschärft

sich der Rassismus. Worin gründet eurer

Meinung nach die aktuelle Konjunktur

des Rassismus? Aus welchem gesellschaft -

lichen Spektrum kommt er?

Integration – nein danke?

Migrant_innen wird eine generelle Rückständigkeit im Bezug auf die Emanzipation der Frau unterstellt.

Wir haben vor einigen Monaten in Berlin

das Bündnis gegen Rassismus und Sozial-

chauvinismus gegründet, einen Zusam-

menschluss verschiedener linker Gruppen.

Wir suchen die Zusam menarbeit mit Men-

schen, die sich aus eigener Betroffen heit

gegen Rassismus und Sozialchauvinismus

organisieren, mit gewerk schaftlichen

Gruppen, linken sozialen Bewegungen und

migrantischen Or ganisationen. Ge gen die

verschiedenen Gesich ter des aktuellen

Rassis mus und Sozialchauvinismus wollen

wir neue, offensi ve Formen politischer

Solidari tät entwickeln. Einer unserer

Schwerpunkte ist die kritische Auseinan-

dersetzung mit dem derzeit allgegenwär-

tigen Integrationsbegriff. Unsere Kritik

ist: Das Wort Integration verspricht

Offenheit, aber die Integrationsdebatte

produziert Ausschluss. Um der Sache ein

wenig auf den Grund zu gehen, haben wir

Vertreter_innen verschiedener politischer

Initiativen zur Diskussion getroffen.

Garip: Neu ist, dass Rassismus in vielen Schichten salonfähig geworden ist. Spannend ist, dass die Existenz von Rassismus wie immer nicht zugegeben wird, während ein etablierter Politiker wie Thilo Sarrazin ihn sogar in seiner biologistischen Form propagiert. Es ist erschre-ckend, von welch einem breiten gesellschaftli-chen Spektrum rassistische Denk- und Hand-lungsweisen getragen werden. Cagri: Ich glaube, dass Rassismus sich stän-dig verändert. Neu ist beispielsweise die Ver-einnahmung des Feminismus. Migrant_innen wird eine generelle Rückständigkeit im Bezug auf die Emanzipation der Frau unterstellt. Und die Ideologie der »Nützlichkeit« ist ganz zen-tral geworden. Sarrazin beispielsweise unter-scheidet zwischen »gut integrierten Polen« und »orientalischen Menschen«. Da hat sich etwas geändert.

Der Gedanke der Nützlichkeit wurde

angesprochen. Inwieweit hängt Rassismus

damit zusammen?

Ali: In Zeiten der Krise werden Menschen als Sündenböcke präsentiert. Konkret trifft es in der derzeitigen EU-Krise die Griechen. Es wird so getan, als ob sie etwas aus der Kasse genom-men hätten, dabei hat das Ganze systemische Gründe. Leider ist die Gegenwehr aus Organi-sationen wie den Gewerkschaften schwächer geworden.Conni: Im Moment haben wir das Problem mit dem antimuslimischen Rassismus, der Integrationsdebatte und der stetigen Unter-teilung von Migrant_innen in »nützlich« und »unnütz«. Dazu kommt, dass Leute ohne Papiere überhaupt nicht als Subjekte wahr-genommen werden, sondern ausschließlich als Objekte. Bei ver.di haben wir erfolgreich dagegen gekämpft, dass illegalisierte Mig-rant_innen öffentlich als »Schwarzarbeiter« bezeichnet und diskriminiert werden. Es gibt eine große Nachfrage nach illegalisierter und somit vermeintlich entrechteter Arbeit in den Bereichen Bau, Haushalt, Küchen, Putzen etc. – und Migrant_innen ohne Papiere sind selbst-verständlich darauf angewiesen zu arbeiten. Wir wollen diese scheinheilige Debatte um »nützliche« und »unnütze« Arbeiter_innen angehen.

Vielen Dank. Dann geht es nun los: Im

Moment werden Arbeitsverhältnisse immer

unsicherer. Gleichzeitig verschärft

sich der Rassismus. Worin gründet eurer

Meinung nach die aktuelle Konjunktur

des Rassismus? Aus welchem gesellschaft -

lichen Spektrum kommt er?

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Allerding ist Verwertbarkeit hier nicht nur ökonomisch zu denken, sondern auch kulturell.

Die Forderung nach Integration basiert

ja immer auf einem unterstellten »west-

lichen Wertekanon«. Was ist der Maßstab

für eine »gelungene Integration«? Wel-

che Verhaltensmaßgaben sind das Ziel?

Garip: Die Beziehung zwischen Integration und Rassismus ist eng. Antimuslimischer Ras-sismus funktioniert genau über diese Ver-bindung. Rassismus wird immer noch als ein Relikt aus dem Nationalsozialismus betrach-tet. Dagegen werden aktuelle Rassismen als Debatte um »Integrationsprobleme« verharm-lost. Zudem wird mit dem Begriff der Integra-tion eine Spaltung erzeugt. Eine Spaltung in Deutsche und Menschen aus vermeintlich zivilisierten Ländern, und solche mit angeb-lich unzivilisierter Herkunft, die besondere Einbürgerungstests machen und Sprachkennt-nisse nachweisen müssen. Die als frauenfeind-lich, homophob und nicht aufgeklärt bezeich-net werden. Der Westen hat sich schon immer als fortschrittlich und demokratisch bezeich-net. Die kolonialisierten Länder dagegen wur-den in westlicher Lesart immer als archaisch wahrgenommen. Als Länder, die es zu demo-kratisieren gilt. Ali: Es geht nicht um Werte, sondern um eine ökonomische Übermacht. Es geht darum, Men-schen zu kontrollieren. Das Gerede um Integra-tion ist ein vorgeschobenes rhetorisches Mit-tel, um Unterwerfung zu erreichen. Garip: Als einer der wichtigsten Werte wird propagiert, sich an die Gesellschaft anzupas-sen, sich als Individuum für den Standort nütz-lich zu machen und sich an Recht und Ord-nung zu halten. Cagri: Das zeigt die Leitkulturdebatte wun-derbar auf. Solange Migrant_innen unsicht-bar sind, können sie nicht kontrolliert werden. Die ganze Debatte dient dazu, Migrant_innen zu domestizieren. Es ist eine Art der Biopoli-tik, mit der Migrant_innen produktiv gemacht werden. Allerding ist Verwertbarkeit hier nicht nur ökonomisch zu denken, sondern auch kulturell.

In Spanien gab es eine zugespitzte ras-

sistische Hetze und sogar Pogrome gegen

Illegalisierte.

Conni: Das war in El Ejido. In Italien und Grie-chenland fi ndet das aktuell häufi ger statt. In Deutschland gab es auch Pogrome, wir alle erinnern uns an Hoyerswerda und Rostock. Dass es hier keine offenen Angriffe gegen ille-galisierte Arbeiter_innen gab, könnte auch damit zu tun haben, dass diese hier weniger sichtbar sind, denn in Deutschland ist der Kon-trolldruck höher als in anderen Ländern.

Am Ende dieses Gespräches haben wir

eine konkrete Frage: Ende Oktober fin-

det anlässlich des 50. Jahrestages

des Anwerbeabkommens mit der Türkei in

Deutschland der »Tag der Integration«

statt. Wie offensiv oder defensiv kann

ein politischer Protest gegen die

aktuelle Integrationspolitik sein?

Conni: Zu dem Tag kann ich nichts sagen. Ich teile grundsätzlich die Kritik von Allmende am herrschenden Integrationsbegriff. Es gibt aber unterschiedliche Integrationsbegriffe. Manche verstehen darunter auch ganz positiv mehr soziale Teilhabe in der Gesellschaft. Aber: Gefei-ert werden Sachen, die abgeschlossen sind oder werden. Migration aber fi ndet weiterhin statt – das sollten wir deutlich machen.

Ali: Ich glaube nicht, dass viele kurdische Vereine zu den offi ziellen Feiern eingeladen werden. Ein Teil der kurdischen Vereine wird sich an Protesten beteiligen, ein Teil leider wohl auch an den Feierlichkeiten. Garip: Ich fi nde es wichtig und gut, dass die antifaschistische Linke diesen Anlass auf-greift. Wichtig ist, dass der Protest zusam-men mit migrantischen Vereinen organisiert wird. Sonst ist die Gefahr groß, gegeneinan-der ausgespielt zu werden, nach dem Motto: »deutsche Linke gegen Migrant_innen«. Oder: »Deutsche mit Pass demonstrieren gegen Integration«. Aber auch die politisch falsche Feierstimmung bei einigen etablierten Mig-rant_innenverbänden anlässlich dieses Jubi-läums muss gebrochen werden. Cagri: Wir sollten diesen Tag nutzen, um zu zeigen, dass es Kämpfe von Migrant_innen gab und gibt. Als eine Möglichkeit, die etab-lierte Geschichtsschreibung auf ihre blinden Flecken hinzuweisen. Und als Chance, sich die eigene Geschichte (wieder) anzueignen.

Bündnis gegen Rassismus und

Sozialchauvinismus

Allerding ist Verwertbarkeit hier nicht nur ökonomisch zu denken, sondern auch kulturell.

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zusammengesponnen: den »arbeitsscheuen Hartz-IV-Empfänger«. Die verbreiteten Vorur-teile gegen vermeintliche »Schmarotzer« haben nichts mit der Realität zu tun. Viel dagegen mit der Angst, selbst sozial abzusteigen. Und Angst macht autoritär. Wer Schwächere aus-grenzt, stellt sich selbst auf die Seite der Macht und des Wohlstands. Das ist ein zentrales Ele-ment sozialchauvinistischer Ideologie. Aus dem Blick geraten die gesellschaftlichen Ursa-chen dieser Unsicherheit und Ohnmacht. Die liberale Leistungsreligion kocht immer wieder über. Wer nicht obenauf schwimmt, dem wird ein problematischer Charakter zugeschrieben. Oder schlechte Gene. Das ist dann Sarrazins Rassismus.

»Ehe jetzt einer im 20. Stock sitzt und

den ganzen Tag nur fernsieht, bin

ich fast schon erleichtert, wenn er ein

bisschen schwarzarbeitet.«

Thilo Sarrazin, Sozialdemokrat (SPD)

Schon als Berliner Finanzsenator gefi el sich Sarrazin in der Pose des Tabubrechers. Auch das übrigens eine typisch rechtspopulistische Masche. Von oben herab auf gesellschaftlich Ohnmächtige eindreschen, und sich dann als Opfer einer linken Meinungsdiktatur selbst bemitleiden. Armer Thilo. Die angeblich so politisch korrek ten Massenmedien haben Sar-razin und sein rassistisches Buch Deutschland schafft sich ab! über Monate im Gespräch gehal-ten. Auch deshalb wurde es zur aufl agenstärks-

Nur eine Frage Nur eine Frage der Frisur?der Frisur?

Auch deshalb wurde Deutschland schafft sich ab! zur auflagenstärksten völkischen Drucksache seit Mein Kampf.

ten völkischen Drucksache seit Mein Kampf. 20 Prozent der Deutschen können sich inzwi-schen vorstellen, eine »Sarrazin-Partei« zu wäh-len. Als Sarrazin noch gleichmäßig gegen alle vermeintlich Unproduktiven pöbelte, mussten sich auch deutsche Langzeitarbeitslose ducken. Seit er sich auf Rassismus spezialisiert hat, ist er für viele ein Nationalheld. Denn dieser Ras-sismus verspricht nationale Privilegien, und sei es Hartz IV.Auf dieser Welle wollen natürlich auch die ande-ren Parteien reiten. Horst Seehofer (CSU) spielt dafür schon mal den Deutschland-Pistolero. »Bis zur letzten Patrone« werde er »die Zuwan-derung in die deutschen Sozialsyste me« verhin-dern. Flüchtlinge und Migrant_innen werden so pauschal als schmarotzende Horden stigmati-siert, der deutsche Staat als bedrohte Unschuld. Deshalb wurde gegen Seehofer bereits ein Ver-fahren wegen Volksverhet zung eingeleitet. Es wird aber wohl alles nur ein bedauerliches Miss-verständnis gewesen sein. Die staatstragenden Parteien und ihre Wäh-ler_innen haben sich festgelegt: Deutsch-land soll der globale Super standort werden. Dafür werden soziale Sicherheiten gestrichen und gesellschaftliche Risiken privatisiert. Folge: Die Wirtschaft boomt – bis sie platzt.

TOP B3rlin

Sozialchauvinismus und elitäres Denken

begins at home: Gerade das lustige

Künstlervölkchen, dem ich angehö re, wähnt

sich ja gerne außerhalb bestehender Hier-

archien. Dabei übersehen sie, die Künst-

ler, dass sie mit ihrer Bereitschaft

sich jederzeit, vollvernetzt und mit Haut

und Haaren ihren Zielen zu widmen, gera-

dezu beispielhaft für den »neuen Geist

des Kapitalismus« stehen. Im permanenten

Drang zur Kreation haben sie eine Vor-

bildfunktion in einer Gesellschaft, die

besessen ist von Ressentiments gegen

alles vermeintlich faule, unnütze und

schmarotzende. Kritik an autoritären

Erscheinungen muss demnach auch bei uns

selbst, den Autoren, an setzen. Dann kön-

nen wir auch den ganzen anderen Scheiß

bekämpfen!

Dirk von Lowtzow (Tocotronic)

Angeblich erlebt Deutschland trotz Krise gerade sein zweites Wirtschaftswunder: Der Export boomt, während der Rest Europas in Scherben liegt. Andererseits: Selbst jetzt herrscht Massenarbeitslosigkeit, und um die ver bliebenen Jobs wird mit harten Bandagen gekämpft. Doch die Lösung ist nahe: »Wenn Sie sich waschen und ra sieren, haben Sie in drei Wochen einen Job.« So sprach Kurt Beck von der SPD. Schlappe zehn Euro im Frisiersa-lon investiert, schon läuft‘s mit der Karriere. Krisenkapitalismus und ständige Konkur-renz – alles kein Problem, so lange die Frisur sitzt. Kein Wunder, dass der Sozialdemokrat ungehalten war, als ihm ein Erwerbsloser die Hartz-IV-Reformen seiner Partei vorhielt. Die SPD hatte doch alles dafür getan, dass Deutsch-land auf dem Welt markt wieder alle niederma-chen kann. Jetzt ist Einsatz gefragt. Wer es nicht schafft, ist selbst schuld. Die Einzel nen stehen in doppelter Verantwortung: sich selbst gegen-über, aber vor allem gegenüber dem Standort. Denn »China« ist uns auf den Fersen. Also alle ranklotzen für Deutschland!Guido Westerwelle predigt diesen selbstge-machten Sachzwang in einem besonders schie-fen Bild: »Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein.« Als wäre überfl üssiger Reich-tum nicht bisher immer ein Privileg der Ober-schichten gewesen. Dennoch fand Westerwelle viel Zustim mung. Denn die von Abstiegsängs-ten geplagten Deutschen aller sozialen Klas-sen haben sich ein gemeinsames Feindbild

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Die »Ande ren«, das sind die weniger Aufge-klärten, weniger Gebildeten, die Rückschritt-lichen. Der geschichtsvergessene Verweis auf eine vermeintlich »christlich-jüdische« bzw. »abendländische« Tradition macht deutlich, dass es hier vor allem um Ausgrenzung und Stigmatisierung geht. Vor diesem Hinter-grund wird seit den späten 1990er Jahren an einer bedarfsge rechten »Integrationspolitik« gefeilt. Rechtskonservative Kreise in der CDU forderten zwar weiter eine »rückkehrorien-tierte« Ausländerpolitik, und polemisierten gegen eine vermeintliche »Zwangsgerma-nisierung« von Migrant_innen. Doch diese Stimmen wurden leiser, als sich herausstellte, dass Integration ein hervorragendes Instru-ment der Diszipli nierung und Hierarchisie-rung ist. Denn integrieren muss sich stets die Gruppe der »Anderen«, und zwar an das nationa le Kollektiv. Und als Maßstab gelunge-ner Integration gilt in erster Linie die Verwert-barkeit eines Menschen.Auch unter Rot-Grün wurde staatliche Auslän-derpolitik nicht plötzlich menschenfreund-lich. Es galt weiter das Gebot wirtschaftli-cher Nützlichkeit. Mit Verweis auf deutsche Standortinteressen wurde versucht, Migrati-onspolitik selektiver zu gestalten und Anreize für hochqualifi zierte Arbeitskräfte zu schaf-fen. Flüchtlinge wurden weiter systematisch abge schoben, u.a. auf Grundlage des 1992 mit den Stimmen der SPD verschärften Asyl-rechts. Man verfuhr nach dem Motto »Mehr die uns nützen, weniger die uns ausnützen«

– wie es Günther Beckstein (CSU) so schön for-mulierte. Der jüngste Integrationsgipfel der schwarz-gelben Koalition ging in dieser Logik noch einen Schritt weiter. Hier wurde schon mal die Möglichkeit ausgelotet, vermeintli-che »Integrationsverweigerer« abzuschieben. Das offenbart die ausgrenzende Funktion des Integrations-Begriffs. Er ist ein Instrument zur Kennzeichnung und Kontrolle von Mig-rant_innen. Integra tion ist für sie von Anfang an ein hoffnungsloses Unterfangen. Um glei-che Rechte und Chancen geht es nicht. Statt des sen wird mit der Forderung nach indivi-dualisierten Anpassungsleistungen die ganze Debatte entpolitisiert. Die Folgen jahrzehnte-langer Benachteiligung werden den Betroffe-nen selbst angelastet.

Rassismus reloaded»Sieben Millionen Ausländer in Deutsch-

land sind eine fehlerhafte Entwicklung,

für die die Politik verantwortlich ist.

(...) Weitere Zuwanderung aus fremden

Kulturen muss unterbunden werden.«

Helmut Schmidt,

ehem. Bundeskanzler (SPD)

In den 1970er Jahren wurde im politischen Mainstream der BRD noch offen die Diskrimi-nierung und Ungleichbehand lung von Mig-rant_innen gerechtfertigt – wie dieses Zitat anschaulich zeigt. Die sogenannten »Gastar-beiter« sollten vor allem eins sein: kurzzeitig verwertbare Arbeitskräfte, die nach Gebrauch wieder in ihre Heimat zurückkehren. Der Be zug auf die Nation rechtfertigte ihre Aus-grenzung. Das hat sich bis heute nicht geän-dert. Es scheint selbstverständlich, dass es ein natürliches Recht gibt, dort, wo man geboren ist, die privilegierte Gruppe zu bilden. Um es mit den Worten der NPD zu sagen, der ras-sistischsten Partei der BRD: »Jeder Mensch ist Ausländer, außer da wo er hingehört.« Doch auch der BRD-Nationalismus musste sich anpassen, aufgrund veränderter wirt-schaftlicher Rahmenbedingungen, und weil die migrantische Bevölkerung nicht daran dachte, ihr Leben in Deutsch land aufzuge-ben. So wurde sozial hergestellte Ungleich-heit zunehmend über »Kultur« gerechtfertigt. Unter Verweis auf eine unterstellte kulturelle Andersheit von Migrant_innen wurde immer wieder eine scharfe Trennlinie zwischen Mehr heitsbevölkerung und den vermeintlich »Anderen« gezogen.

»Die Leitkultur in Deutschland ist die

christlich-jüdisch-abendländische Kul-

tur, nicht die islamische.«

Hans-Peter Friedrich,

Bundesinnenminister (CSU)

Inzwischen ist in Politik, Medien und ras-sistischen Alltagspöbeleien verstärkt von »unseren Werten« die Rede, an die sich »die Anderen« endlich anzupassen hätten. Inte-ressanter Weise scheint dabei immer völlig klar, wer welche Werte vertritt: »Wir«, das ist die aufgeklärte, säkulare, freiheitlich-demo-kratische deutsche Mehrheitsgesellschaft.

Denn integrieren muss sich stets die Gruppe der »Anderen«, und zwar an das nationa le Kollektiv.

Für eine konsequent antirassistische Politik sind Nationalismus und Integrations-Gefa-sel gleichermaßen inakzeptabel. Wir sagen Nein zu einem System, das Menschen auf ihre Nicht-Zugehörigkeit festlegt, um dann zu sortieren, wer über haupt zu gebrauchen ist, allen anderen mit rassistischen Geset-zen jegliche Rechte zu verweigern oder sie abzuschieben!

Antifa Friedrichshain

Man lässt die Leute glauben, sie seien

verschieden, nur weil sie an unter-

schiedlichen Orten geboren worden sind

oder unterschiedlich aussehen, um sie

gegeneinander aufzuhetzen. Dabei ist

das Miteinander entscheidend, der Kampf

gegen Ausbeutung und Unterdrückung. Und

den gilt es, gemeinsam zu führen. Unab-

hängig von Her kunft, Aussehen, Religion

oder Geschlecht. Das kapitalistische

Prinzip der Konkurrenz untereinander

muss dem der Solidarität weichen, und

zwar auch über die Landesgrenzen hinweg.

Wir sagen nicht: »Die nehmen uns die

Ar beitsplätze weg, indem sie für weni-

ger Geld arbeiten.« Wir sagen: »Glei-

cher Lohn für gleiche Arbeit!« Niemand

soll gezwungen sein, sich unter Wert zu

verkaufen. Rassismus kann keine Antwort

auf soziale Probleme sein.

Ringo Bischoff

(Bundesjugendsekretär ver.di)

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Widerstand ist die halbe Miete! In vie-len Stadtteilen Berlins wehren sich Betroffene gemeinsam gegen geplante Luxussanierun-gen und anschlie ßende Mieterhöhung. Bei einer Konferenz im April dieses Jahres, organi-siert von der Berliner Mieter_innenbewe gung, berichteten Betroffene von ihren Problemen und tauschten sich aus, wie Widerstand dage-gen Erfolge brin gen kann. Keine Lösung sind Forderungen an die Politik. Denn deren Verspre-chen geraten schnell in Konfl ikt mit Marktzwän-gen und mit Interessen der Stadtfi nanzierung. Dagegen scheint das Prinzip der Selbstorga-nisation eine Waffe zu sein. Bewohner_innen der Forsterstraße 8 in Kreuzberg zum Beispiel durchkreuzten die Pläne des Ei gentümers und verteidigten bezahlbare Mieten in ihrem Haus.

Geh wo Du wohnst Wenn Sie sich den Kaf-fee nebenan nicht mehr leisten können, die Nachbarn von gegenüber nach und nach aus-gewechselt werden und Ihre Fassade gerade gestrichen wird, können Sie sich schon den-ken: Auch bei mir wird bald ein Brief vom Ver-mieter im Briefkasten liegen, und zwar mit einer saftigen Mieterhöhung. Aber mehr Geld verdienen Sie dadurch nicht, weniger Essen werden Sie auch nicht, und zur Arbeit fahren Sie ohnehin schon mit dem Rad. Umziehen? Das wäre dann wahrscheinlich Marzahn oder Spandau. Überall sonst steigen die Mieten nämlich auch. Oder sind schon jetzt für viele unbezahlbar.Wohnungsnot und massive Mietsteigerun-gen, und als Folge die Verdrängung von Menschen mit geringem Ein kommen, sind inzwischen auch in den Medien als Problem anerkannt. Die etablierten Parteien ziehen mit dem Thema in den Wahlkampf. Ändern tut sich aber trotz aller Versprechen nichts. Im Gegenteil: Politiker_innen aller Parteien

sind für die Misere mitverantwortlich. Franz Schulz zum Beispiel, Grüner Bürgermeister von Fried richshain-Kreuzberg, verspricht sei-nen Wähler_innen, sich für Betroffene stark zu machen. Anfang dieses Jahres ließ er aber zu, dass das alternative Hausprojekt Liebig14 brutal geräumt wird. Die Menschen, die dort seit mehreren Jahren bezahlbar und selbst-verwaltet wohnten, passten dem neuen Eigentümer nicht. Denn Grundstücke und

Wohnungen sind in der kapitalistischen Gesellschaft in erster Linie Waren, die mög-lichst ge winnbringend verwertet werden sol-len. Die kapitalistische Stadt muss versuchen, in Konkurrenz mit anderen Städten mög-lichst viel Geld bzw. Kapital anzuziehen. Des-halb arbeiten Kommunen und Wohnungs-wirtschaft Hand in Hand, um ganze Bezirke in ihrem Sinne »aufzuwerten«. Diejenigen, die sich dann keine Wohnung mehr im Innen-stadtbereich leisten können, müssen eben in Randbezirke ziehen. Erwerbslose sind von einer sol chen Umstrukturierung besonders betroffen: Überschreitet die vom Hauseigen-tümer festgelegte Miete die zuläs sigen Gren-zen für Hartz-IV-Empfänger_innen, müssen sie sich verschulden oder umziehen.

Positive Beispiele wie diese zeigen, dass Luxus-modernisierung und Vertreibung einkommens-schwacher Mieter_innen kein Schicksal sind.

Rot vor Wut! Die Mietsteigerungen sind nur ein Grund für Verdrängung und Ausgrenzung Geringverdienender oder Erwerbs loser. Lohn- und Einkommenssenkungen unter das Hartz-IV-Niveau und unsichere Arbeitsverhältnisse tragen dazu bei, dass immer mehr Menschen um ihren Wohnraum fürchten müssen. Des-halb ist Mieterkampf nicht nur ein Kampf gegen Mieterhöhungen, sondern auch immer ein Kampf gegen niedrige Löhne und men-schenunwürdigen »Sozialleistungen«!

ALB / InterKomms

Vom Bordstein bis zur Skyline

Die kapitalistische Stadt muss versuchen, in Konkurrenz mit anderen Städten möglichst viel Kapital anzuziehen.