I Sicherheit, Risikoakzeptanz, Nutzungs-, Lebensdauer und ...2002, Tabelle 2.1 angefu¨hrt. Die...

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I Sicherheit, Risikoakzeptanz, Nutzungs-, Lebensdauer und das richtige Maß Johann-Dietrich Wo ¨ rner, Darmstadt Konrad Bergmeister, Wien BetonKalender 2013 Beton-Kalender 2013: Lebensdauer und Instandsetzung – Brandschutz. Herausgegeben von Konrad Bergmeister, Frank Fingerloos und Johann-Dietrich Wo ¨ rner c 2013 Ernst & Sohn GmbH & Co. KG. Published 2013 by Ernst & Sohn GmbH & Co. KG.

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I Sicherheit, Risikoakzeptanz,Nutzungs-, Lebensdauerund das richtige MaßJohann-Dietrich Worner, Darmstadt

Konrad Bergmeister, Wien

BetonKalender 2013

Beton-Kalender 2013: Lebensdauer und Instandsetzung – Brandschutz.Herausgegeben von Konrad Bergmeister, Frank Fingerloos und Johann-Dietrich Wornerc 2013 Ernst & Sohn GmbH & Co. KG. Published 2013 by Ernst & Sohn GmbH & Co. KG.

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1 Begriffsbestimmungen undEinfuhrung

Bauwerke mussen sicher sein. Dies ist eine dergrundlegendsten Anforderungen an das techni-sche Erzeugnis Bauwerk. Eng hangt die Definitionder Sicherheit mit der Akzeptanz des verbleiben-den Risikos zusammen. Als Lebensdauer fur Bau-werke und technische Anlagen wird der Zeitraumbis zum Erreichen eines noch akzeptablen Sicher-heitsniveaus bezeichnet.

Die Nutzungsdauer, oft als geplante Nutzungs-dauer (design working life) bezeichnet, definiertdie nutzbare Zeit unter Gewahrleistung der Funk-tionalitat unter Berucksichtigung der Wirtschaft-lichkeit. Dabei muss der Aufwand fur die Instand-haltung und der mogliche Ersatz oder die Erneue-rung einer baulichen Anlage in einem angemesse-nen, wirtschaftlich vertretbaren Verhaltnis stehen.Allgemein wird vorausgesetzt, dass die technischeLebensdauer „ttlf“ mindestens gleich oder großerals die geplante Nutzungsdauer „tn“ ist [1].

ttlf – tn j 0 (1)

Diese Betrachtung zeigt die enge Verflechtung derBegriffe. Die Vorgehensweise bei einem Nach-weis fur eine technische Lebensdauer oder beieiner geplanten Nutzungsdauer ist vom schopferi-schen Prozess des Strukturentwurfs, von denBaustoffen, den Baukonstruktionen, den Einwir-kungen und ihren zeitlichen Auswirkungen aufdie Eigenschaften von Baustoffen und Bauteilensowie noch einigen nicht identifizierbaren oderquantifizierbaren Parameter abhangig. Im Ver-gleich zu anderen technischen Erzeugnissen wirddie Frage der ausreichenden Sicherheit und derLebensdauer von Bauwerken in der Regel abernicht mehr von der �ffentlichkeit wahrgenom-men. Dies obwohl Forderungen zum Nachweiseiner bestimmten Lebensdauer eines Bauwerkssowohl eine technische als auch eine juristischeBedeutung haben. Anforderungen an Bauwerkeund spezifisch auch an die Lebensdauer werdenin Europa in den Eurocodes sowie national, wiebeispielsweise in Deutschland und �sterreich, inden Landesbauordnungen geregelt.

1.1 Nutzungsdauer, Lebensdauer

In den Eurocodes werden die Grenzzustande derTragsicherheit und der Gebrauchstauglichkeituber eine bestimmte Nutzungsdauer definiert. Da-bei werden fur diese Grenzzustande bestimmte

Zuverlassigkeiten gefordert und die maximal ak-zeptierbaren Versagenswahrscheinlichkeiten bzw.die minimalen Sicherheitsindizes uber eine be-stimmte Lebensdauer definiert. Das Niveau dieserVersagenswahrscheinlichkeit wurde unter Be-rucksichtigung bestimmter Gesichtspunkte desakzeptablen Risikos festgelegt.

In Abschnitt 2.1 der EN 1990 (Basis of structuraldesign) wird definiert:

„Ein Tragwerk ist so zu planen und auszufuhren,dass es wahrend der Errichtung und in der vorgese-henen Nutzungszeit mit angemessener Zuverlassig-keit und Wirtschaftlichkeit den moglichen Einflussenstandhalt und die geforderten Gebrauchstauglich-keitseigenschaften behalt. Bei der Planung und Be-rechnung des Tragwerks sind ausreichende Tragfa-higkeit, Gebrauchstauglichkeit und Dauerhaftigkeitzu beachten.“

Zur Gewahrleistung einer definierten Zuverlassig-keit uber eine technische Lebensdauer von Bau-werken mussen nun die einzelnen Bauteile, dieVerbindungselemente und die Bausysteme einedefinierte Qualitat aufweisen. Durch die Normenwerden die Sicherheitsstandards der gangigenBauteile abgebildet. Im Falle von Bauprodukten,fur die es keine normenmaßige Erfassung der Wir-kungsweisen und der Bemessung gibt, wurden aufeuropaischer Ebene durch die EOTA entspre-chende Leitlinien oder CUAPs fur europaischetechnische Zulassungen (Guidance Documents)herausgeben. Folgende Dokumente sind in Bezugauf die Nutzungsdauer relevant:– EOTA Guidance Document 002: Annahmen

zur Nutzungsdauer von Bauprodukten inLeitlinien fur europaische technische Zulas-sungen und harmonisierte Normen,

– EOTA Guidance Document 003: Bewertungder Nutzungsdauer von Bauprodukten.

Am 4. April 2011 wurde die neue Bauprodukten-verordnung (EU 305/20 011) im EuropaischenAmtsblatt veroffentlicht. Sie lost die Bauproduk-tenrichtlinie ab, die bisher die rechtliche Grund-lage der CE-Kennzeichnung war. Diese Verord-nung ersetzt ab 1. Juli 2013 die alte Ratsrichtlinie89/106/EWG, die sogenannte Bauprodukten-richtlinie (BPR) aus dem Jahr 1988. In �sterreicherfolgte die Umsetzung durch das Bauprodukten-gesetz (BauPG). Im Anhang 1 der europaischenBauproduktenverordnung werden die Grund-anforderungen an Bauwerke treffend beschrie-ben:

3Begriffsbestimmungen und Einfuhrung

I

Beton-Kalender 2013: Lebensdauer und Instandsetzung – Brandschutz.Herausgegeben von Konrad Bergmeister, Frank Fingerloos und Johann-Dietrich Wornerc 2013 Ernst & Sohn GmbH & Co. KG. Published 2013 by Ernst & Sohn GmbH & Co. KG.

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„Bauwerke mussen als Ganzes und in ihren Teilen furderen Verwendungszweck tauglich sein, wobei ins-besondere der Gesundheit und der Sicherheit derwahrend des gesamten Lebenszyklus der Bauwerkeinvolvierten Personen Rechnung zu tragen ist. Bau-werke mussen diese Grundanforderungen an Bau-werke bei normaler Instandhaltung uber einen wirt-schaftlich angemessenen Zeitraum erfullen.“

Wesentlich ist auch die Bedeutung der Lebens-dauer und des Instandsetzungsaufwandes [2], wo-bei der Begriff der Instandhaltung aus der zuruck-gezogenen DIN VDE 31000-2 [3] zitiert wird (ID1.3.3):

„(1) Instandhaltung ist ein Bundel von vorbeugen-den und sonstigen Maßnahmen, die an dem Bauwerkdurchgefuhrt werden, damit es wahrend der Nut-zungsdauer all seine Funktionen erfullen kann.

(2) Normale Instandhaltung schließt in der Regel In-spektionen ein und findet zu einem Zeitpunkt statt, zudem die anfallenden Kosten unter Berucksichtigungder Folgekosten in einem angemessenen Verhaltniszum Wert des betreffenden Teils des Bauwerks ste-hen.“

Die Zeitspanne, in welcher ein Bauwerk mit einerbestimmten Zuverlassigkeit die geforderte Funk-tionalitat bzw. die geforderte Nutzbarkeit erfullt,wird als Nutzungsdauer bezeichnet (ID 1.3.5)

„(1) Die Nutzungsdauer ist der Zeitraum, wahrenddessen die Leistungsfahigkeit des Bauwerks (oderseiner Teile) auf einem Stand gehalten wird, der mitder Erfullung der wesentlichen Anforderungen imEinklang steht.

(2) Eine wirtschaftlich angemessene Nutzungsdauersetzt voraus, dass alle maßgeblichen Faktoren (unterBerucksichtigung von Aufwand und Nutzen) beruck-sichtigt werden, wie z. B.:– Entwurfs-, Bau- und Nutzungskosten,– durch verhinderte Nutzung entstehende Kosten,– Risiken und Folgen des Versagens des Bauwerks

wahrend seiner Nutzungsdauer und Ver-sicherungskosten zur Deckung dieser Risiken,

– planmaßige Teilerneuerung,– Inspektions-, Instandhaltungs-, Wartungs- und

Reparaturkosten,– Betriebs- und Verwaltungskosten,– Entsorgung,– Umweltaspekte.“

In der EN 1990:2002 wird die geplante Nutzungs-dauer wie folgt definiert:

„Angenommene Zeitdauer, innerhalb derer ein Trag-werk unter Berucksichtigung vorgesehener Instand-haltungsmaßnahmen fur seinen vorgesehenen Zweckgenutzt werden soll, ohne dass eine wesentliche In-standsetzung erforderlich ist.“

In der ISO 8930:1991 [4] wird die Nutzungsdauervon Bauwerken wie folgt definiert (GP F 3.1):

„Die Nutzungsdauer von Bauwerken ist der Zeit-raum, uber den die Leistung der Bauwerke auf einemder Erfullung der wesentlichen Anforderungen ange-messenen Niveau aufrechterhalten werden soll.“

Insgesamt kann festgehalten werden, dass Bau-produkte einen wesentlichen Einfluss auf die Nut-zungsdauer der daraus hergestellten Bauwerkehaben.

Ganz wesentlich ist, dass die Nutzungs- bzw. dieLebensdauer von Bauwerken vom Systementwurfund damit von der Genialitat des planenden Inge-nieurs abhangt. Die Nutzungsdauer und Dauerhaf-tigkeit von Bauprodukten sind mitbestimmend,weshalb in den europaischen technischen Spezifi-kationen, in den harmonisierten europaischen Nor-men (hEN) und in den europaischen technischenZulassungen (ETA) die Dauerhaftigkeit von Bau-produkten festgeschrieben wurde. Allgemein wirddie Dauerhaftigkeit von Bauprodukten uber dieFunktionalitat unter definierten Anwendungsbe-dingungen fur eine bestimmte Nutzungsdauer, be-schrieben. Die Nutzungsdauer wird auf der Grund-lage von Erfahrungswerten, sowie von wissensba-sierten statistisch abgesicherten Datensatzen, fest-gelegt. Fur die Nutzungsdauer gibt es aber keinegesetzliche Absicherung oder Gewahrleistungeines Herstellers fur eine konkrete Anwendung.

Die grundlegenden Systementscheide mit denWerkstoffauswahlen, den eingepragten Span-nungs- und Verformungszustanden bedingt durchdie Herstellung und den Bau sind die Basisvoraus-setzungen fur die Nutzungsdauer. Fur die verschie-denen Ingenieurbauwerke gibt es eine Serie vonMonitoring- und Managementsystemen zur In-spektion und Erhaltung wahrend der Nutzungs-dauer. Ziel ist es dabei, wahrend der Nutzungs-dauer die Tragfahigkeit und Gebrauchstauglichkeitunter Berucksichtigung eines bestimmten Sicher-heitsniveaus (z. B. Tragfahigkeit: Pf I 10–6/Jahr;Gebrauchstauglichkeit: PfI 10–3/Jahr) zu gewahr-leisten und Schaden zu vermeiden.

Die Nutzungsdauer wird manchmal auch als kon-struktive Lebensdauer „structural lifetime“ be-zeichnet [5].

Die geplanten Nutzungsdauern von Bauwerkenoder Bauteilen werden im Eurocode EN 1990:2002, Tabelle 2.1 angefuhrt.

Die Lebensdauer „tlf“ von Ingenieurtragwerkenumspannt die gesamte Zeit vom schopferischenProzess eines Entwurfs uber die Planungen, Ge-nehmigungen, Bau, Inbetriebnahme, Betrieb bishin zum Abbruch.

tlf w t0 (Entwurf, Planung, Genehmigung)S tb (Bau) S tn (Nutzung) (2)

4 Sicherheit, Risikoakzeptanz, Nutzungs-, Lebensdauer und das richtige Maß

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Entscheidend fur die Lebensdauer sind die Quali-taten des Entwurfs, der Planung und des Baus.Diese „Lebensphasen“ mussen entsprechend sorg-faltig mit bestem Ingenieurwissen in einem res-pektvollen Umgang mit anderen Wissensgebieten,der Natur und den Ressourcen betreut werden.Jede dieser Lebensphasen mussen Kosten zuge-ordnet werden. Die Kostenstruktur eines Projektskann wie folgt angegeben werden [6]:

Z(p) w B(p) – C0(p) – L(p) (3)

mit

B(p) Nutzen des Bauwerks

C0(p) Baukosten

L(p) Wertverlust bei einem Ausfall oder beimEnde der Lebensdauer; dieser Wertverlustwird in Form von Verlustkosten in Zusam-menhang mit dem Eintreten der Versagens-wahrscheinlichkeit ermittelt:(p) w Cl (Cost of losses)

· Pf (probability of failure)

Der Vektor „p“ beschreibt samtliche Bemessungs-parameter fur eine bestimmte Nutzungsdauer.

Die Gleichung der Kostenstruktur wurde in derLiteratur in Zusammenhang mit verschiedenenGrenzzustandsfunktionen beschrieben.

Der Begriff der Lebenszykluskosten umfasst wie-derum den gesamten Lebenszyklus eines Bau-werks, vom Entwurf uber die Herstellung, den Be-trieb uber die Instandhaltung, den Abbruch unddie Entsorgung. Dabei werden alle Kostenanteilesummativ erfasst. In Deutschland wurde der Be-griff der Lebenszykluskosten als Kriterium furnachhaltige Gebaude [7] eingefuhrt. Dabei fuhrenKonig et al. [8] Folgendes aus: „Fur die Lebens-zykluskostenberechnung werden die – total cost ofownership – also die Kosten eines selbstnutzendenEigentumers verstanden“. Dabei stehen fur die Be-

rechnung der Lebenszykluskosten (Life CycleCosting) fur den Gebaudebereich sowohl Metho-den als auch Datenbanken zur Prognose der Nut-zungskosten zur Verfugung [9, 10].

1.2 Sicherheit – Risiko

Die Sicherheit eines Bauwerks und die damit zu-sammenhangende Akzeptanz eines verbleibendenRisikos basiert auf wahrscheinlichkeitstheoreti-schen Festlegungen. Dabei wird die Aufrecht-erhaltung der Funktionen in Bezug auf Grenzzu-stande gefordert. Der Begriff der Sicherheit findetsich auch in verschiedenen technischen Normen.Beispielhaft genannt seien DIN EN 61508-4[11], DIN EN 14971 [12] oder DIN VDE31000-2 [3]. Die DIN VDE 31000-2 versteht un-ter Sicherheit S eine Sachlage, bei der das vorhan-dene Risiko vorh Risk nicht großer als das Grenz-risiko zul Risk ist:

vorh RiskJ zul Risk) S (4)

Die Sicherheit im Allgemeinen ist systemisch ge-staffelt und steht in Zusammenhang mit den Aus-gaben zur Gewahrleistung fur Sicherheit, mit ge-setzlichen Regelungen und mit der gesellschaftli-chen Risikoakzeptanz [13].

Ein Bauwerk wird als sicher eingestuft, wenn beivergleichbaren Situationen das vorhandene Risikoein von der Gesellschaft akzeptiertes verbleiben-des Risiko nicht ubersteigt (DIN 1055-9, Abs.5.1 (3), Eurocode 1).

Mathematisch definiert man Risiko im klassischenSinne als Produkt aus der Wahrscheinlichkeit(Haufigkeit) „P“ eines schadenserzeugendenEreignisses und dem Schaden bzw. der Konse-quenz C, der/die durch das Ereignis verursachtwird:

Risk w P · C (5)

5Begriffsbestimmungen und Einfuhrung

I

Tabelle 1. Angaben zu geplanten Nutzungsdauern von Bauwerken oder Bauteilen nachEurocode EN 1990:2002, Tabelle 2.1

Klasse derNutzungsdauer

Planungsgroße derNutzungsdauer (in Jahren)

Beispiele

1 10 Tragwerke mit befristeter Standzeit

2 10 bis 25 Austauschbare Tragwerksteile, z. B. Kranbahn-trager, Lager

3 15 bis 30 Landwirtschaftlich genutzte und ahnlicheTragwerke

4 50 Gebaude und andere gewohnliche Tragwerke

5 100 Monumentale Gebaude, Brucken und andereIngenieurbauwerke

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Die Definitionen des Begriffs Risiko konnen wiefolgt kurz beschrieben und klassifiziert werdennach [15, 16]:1. Risiko als Wahrscheinlichkeit eines Schadens,2. Risiko als Ausmaß eines Schadens,3. Risiko als Funktion von Wahrscheinlichkeit

und Ausmaß des Schadens,4. Risiko als Varianz der Wahrscheinlichkeits-

verteilung aller moglichen Konsequenzeneiner Entscheidung,

5. Risiko als Semivarianz der Wahrscheinlich-keitsverteilung aller moglichen Konsequenzeneiner Entscheidung,

6. Risiko als gewichtete lineare Kombination derVarianz und des Erwartungswertes der Wahr-scheinlichkeitsverteilung aller moglichenKonsequenzen einer Entscheidung.

Als einen Sonderfall beinhaltet der Begriff des Ri-sikos den Begriff des Grenzrisikos. Dieser Begriffwar z. B. Inhalt der Definition des Begriffs Sicher-heit. Unter dem Vergleichs- oder Grenzrisiko ver-steht man allgemein jenes Risiko, welches vonder Gesellschaft gerade noch toleriert wird bzw.welches implizit durch die Technik akzeptiertwird [16].

1.3 Verbleibendes Risiko, F-N-Diagramme

Die Gefahren zu akzeptieren hat ein bewusst ak-zeptiertes verbleibendes Risiko zur Folge. Auf-grund der subjektiv unerkannten, der vernachlas-sigten Gefahren und aufgrund von nicht geeigne-ten Maßnahmen entstehen die durch menschlicheFehlhandlungen verbleibenden Risiken. Dieseverbleibenden Risiken sind ein vorhandener Be-standteil unseres Lebens und sollten durch ent-sprechende Vorkehrungen so klein wie moglichgehalten werden. Das vorhandene verbleibendeRisiko umfasst die bewusst akzeptierten und die

aus menschlichen vielfaltigen Fehlhandlungen re-sultierenden Risiken.

Dabei werden drei Ebenen unterschieden:– das bewusst akzeptierte Risiko,– die Sicherheit durch Maßnahmen,– die Gefahren durch menschliche Fehlhand-

lungen.

Das von der Gesellschaft akzeptierte Risiko kannmit folgender Gleichung beschrieben werden:

Riskak J Riskvorh w Pf · C (6)

mit

Riskak akzeptables Risiko

Riskvorh vorhandenes Risiko

Pf Wahrscheinlichkeit eines Schadens

C Schadens- bzw. Kostenumfang

Die Erfahrung und Beobachtung der gesellschaft-lichen Reaktionen nach verschiedenen Katastro-phen zeigt, dass der Mensch die Hohe des akzep-tablen Risikos von subjektiven �berlegungen ab-hangig macht.

Bei der Beurteilung der Sicherheit muss zwischender subjektiven Wahrnehmung und den Eintre-tensfallen von Versagen oder Todesfallen bewusstunterschieden werden. Soll der Risikoparameterals Sicherheitsparameter erfolgreich eingesetztwerden, so muss er das Sicherheitsempfindenund -bedurfnis der Bevolkerung in ausreichendemMaß widerspiegeln. Zur Verbesserung der subjek-tiven Risikobewertung, die auch als Risikoaver-sion bezeichnet wird, wurden sogenannte F-N-Diagramme entwickelt [17]. Die Risikoforschungerhielt damals große Impulse durch den Bau vonAtomkraftwerken. Besonders bekannt wurden F-N-Diagramme im sogenannten Rasmussen-ReportAnfang der 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts.

6 Sicherheit, Risikoakzeptanz, Nutzungs-, Lebensdauer und das richtige Maß

vorh Pf (E, R) < zul Pf

vorh Pf (E, R) < zul Pf

vorh b (E, R) > zul b

Ed (gG, gQ) < Rd (gS, gC )

vorh R(E,R) < zul R

E < R / g

Erfahrung

Grundgesetz Art. 2, Abs. 2 Menschenrechtserklärung der UNO

~ ~

Bild 1. Staffelung von Sicherheitskonzepten (aus [13])

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Heute werden solche F-N-Diagramme vielfach zurBeurteilung der Sicherheit in Tunneln verwendet.

Zur Entwicklung eines solches Diagramms wer-den zunachst Daten uber Unfalle mit Angabe derSchaden bzw. Opfer in der Vergangenheit oder Be-rechnungen benotigt, die solche Daten ergeben.Die Daten, Opferanzahl und Unfallauftretenshau-figkeit werden zunachst nach steigender Opferan-zahl sortiert. Anschließend werden die Daten ku-muliert, d. h. die Haufigkeit fur die Opferzahl Nund mehr bestimmt und sortiert. Diese Datenpaarewerden grafisch in dem F-N-Diagramm darge-stellt.

Der Nachweis der ausreichenden Sicherheit er-folgt mithilfe der F-N-Diagramme. Fur den Nach-weis werden Vergleichslinien benotigt, die fureine Vielzahl von besonderen Ereignissen entwi-ckelt wurden. Dabei konnen durch diese Zielkur-ven akzeptable und nicht akzeptable Bereiche de-finiert werden. Dazwischen kann noch ein Be-reich, der unter gewissen Bedingungen zulassigist, ein sogenannter ALARP-Bereich, ausgewie-sen werden (as low as reasonable possible). Tragt

man nun die ermittelte Kurve in ein solches Dia-gramm ein, erkennt man, ob die Kurve in einemzulassigen Bereich liegt [18].

Inzwischen wurden verschiedene Varianten entwi-ckelt, wo auf der x-Achse bei F-D-Diagrammender Schaden, bei F-PAR-Diagrammen die Anzahlder Menschen in einem gefahrdeten Bereich, dieF-t-Diagramme die Zeit, um die Schaden zu besei-tigen und bei F-E-Diagrammen der Energieverlustangegeben werden. Neben dem direkten Nach-weis der Sicherheit uber F-N-Ziellinien ist esauch moglich, aus den Diagrammen Zielwerte furSterbe- oder Versagenswahrscheinlichkeiten zuermitteln. So kennt man heute Diagramme, dieauf der x-Achse die Schadenskosten, einen Scha-densparameter aus verschiedenen anderen Para-metern, die Anzahl durch den Schaden betroffenerMenschen (PAR) oder die Zeit bzw. die Kosten furdie Schadensbeseitigung zeigen.

Vrijling et al. [19] haben durch Umformungen derFormeln von F-N-Kurven und durch die Wahl ge-wisser Annahmen eine Gleichung entwickelt, mitder man invers die operative Zielversagenswahr-

7Begriffsbestimmungen und Einfuhrung

Ir k a n n t unerkannt

unerkannt subjektiv erkannt

berücksichtigt vernachlässigt

als Risiko durch Maßnahmen

zweckmäßige M. ungeeignete M.

korrekt eingesetzt falsch angew.

Sicherheit durch

bewusst akzeptiertes Risiko

Gefahren aus menschlichen Fehlhandlungen

Verbleibendes Risiko

25% 10% 15%

75% 90% 85%

AnzahlSachschädenPersonenschäden

Maß

nahm

enei

nsat

z

Objektives Gefährdungspotenzial

o b j e k t i v e

Gef

ahre

nerk

ennu

ng

Bild 2. Gefahrdungspotenzial

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scheinlichkeit Pf von Bauwerken ermitteln kann.Vrijling et al. geben zunachst folgende Formel furein akzeptables Risiko an:

E(Ndi)S k � s(Ndi)Ibi � 100 (7)

mit

E(Ndi) mittlere Opferanzahl

s(Ndi) Standardabweichung der Opferanzahl

k Faktor: zu 3 gewahlt

bi Politikfaktor: abhangig vom Grad derFreiwilligkeit des RisikosWird das Risiko bewusst und absolutfreiwillig eingegangen, liegt der Wertbei 100, wird das Risiko unbewusst undabsolut unfreiwillig eingegangen,so liegt der Wert bei 0,01

Weiterhin soll gelten:

E(Ndi)wNA � Pf � Pd|i � NPi (8)

s2(Ndi)wNA � Pf � (1s Pf ) � (Pd|i � NPi)2 (9)

mit

NA Anzahl der Bauteile/Bauwerke in einemLand

NPi Anzahl der bei einem Versagen gefahrdetenMenschen

Pd|i Sterbewahrscheinlichkeit fur die gefahrdetenMenschen

Pf Versagenswahrscheinlichkeit des Bauteils/Bauwerks

Das Prinzip „Technisches Risiko ist die Eintritts-wahrscheinlichkeit eines Schadens multipliziert mitdem Schadensumfang“, wird in der Ingenieurpraxiseinerseits indirekt durch Teilsicherheitsbeiwerte

bei der Bemessung und andererseits durch kon-struktive Regeln umgesetzt [20]:1. Beschrankung der Versagenswahrscheinlich-

keit durch Einfuhrung von Sicherheitsbeiwer-ten (globale Sicherheitsbeiwerte oder Teilsi-cherheitsbeiwerte) und gleichzeitige Formu-lierung von materialspezifischen Konstruk-tionsregeln.

2. Definition der vertretbaren Versagenswahr-scheinlichkeiten in grober Abhangigkeit vonSchadensauswirkungen.

Mittels integrierten Ansatzen bei den Sicherheits-konzepten (s. Abschn. 3.1 Gesellschaftliche Rele-vanz) konnen auch die Aspekte des zeitlichen Ver-haltens uber die Nutzungsdauer und der gesell-schaftlichen Relevanz berucksichtigt werden.

1.4 Lebensqualitatsparameter

Mit den F-N-Diagrammen konnen technische undnaturliche Risiken erfasst und beispielsweise furTunnelprojekte sinnvoll eingesetzt werden. Beigesundheitlichen Risiken mussen aber der Le-bensraum und die Umweltbedingungen des Men-schen berucksichtigt werden. Zusatzlich habenauch soziale Umstande und Netzwerke eine Aus-wirkung auf die mittlere Lebenserwartung. DieseErkenntnis fuhrt dazu, die Art und Weise, wiewir leben, also unsere Lebensqualitat als ein Risi-komaß fur Menschenleben zu verstehen. Die Defi-nition des Begriffes Lebensqualitat ist jedoch miterheblichen Schwierigkeiten verbunden. In derDissertation von Hoffmann-Koch [21] wurde dieLebensqualitat als Messparameter im medizini-schen Bereich untersucht und allgemein im Kon-sens mit anderen Autoren [22, 23] folgenderma-ßen definiert:– psychisches Befinden (z. B. Angst, Depres-

sionen, Verhaltensstorungen),– soziales Befinden (z. B. Partnerschaftsbezie-

hungen, Kontakte zu Mitmenschen),– Leistungsfahigkeit in unterschiedlichen Be-

reichen des alltaglichen Lebens (z. B. Beruf,Haushalt, Freizeit),

– korperliche Verfassung (z. B. Gesundheits-zustand, Beschwerden).

Hierbei wird die Lebensqualitat primar aus derSicht der Betroffenen im Sinne einer erlebten Ge-sundheit betrachtet, was einer gesundheitsbezoge-nen Lebensqualitat entspricht.

Wichtig ist aber neben der passiven Empfindungdie aktive Gestaltung der Lebensqualitat [24].

Im allgemeinen Sprachgebrauch wird mit Qualitatdes Lebens vorwiegend der Grad des Wohlbefin-dens eines Menschen oder einer Gruppe von Men-schen beschrieben und der unmittelbare Lebens-raum damit verstanden.

8 Sicherheit, Risikoakzeptanz, Nutzungs-, Lebensdauer und das richtige Maß

10-12

10-8

10-10

10-6

10-4

10-2

10-0

102

10 -2 10 -1 10 0 10 1 10 2 10 3 10 4

Wah

rsch

einl

ichk

eit

von

meh

r al

s O

pfer

n pr

o Ja

hrF

N

Anzahl Todesopfer N

akzeptabel

ALARP

nicht akzeptabel

Bild 3. Beispiel einer Nachweiskurve (Groningen-Kurve 1978, aus [13])

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Der Lebensqualitatsparameter von Nathwani,Lind, Pandey [25] gestattet im Bauwesen z. B. dieBeurteilung von baulichen Verstarkungsmaßnah-men hinsichtlich ihrer Effektivitat. Dabei wird al-lerdings nicht die Lebensqualitat einer einzelnenPerson berucksichtigt, sondern jene innerhalbeiner Region oder eines Landes. Sinnvoll sind die-jenigen Maßnahmen, die zu einer Erhohung derLebensqualitat fuhren.

Vernachlassigt man aber diese langfristige Ent-wicklung und geht stattdessen davon aus, dassdie Veranderung der Lebensqualitat allein durchdie geplante Maßnahme erfolgt, dann kann manbasierend auf dem Lebensqualitatsindex eine For-mel entwickeln, die die maximalen Kosten einerbaulichen Schutzmaßnahme in Abhangigkeit ver-schiedener Parameter angibt:

Cmax w1sw

w� CF � NF

M� g � (Pf1 s Pf2) (10)

mit

Cmax maximale Kosten

CF Formfaktor fur die Sterbeverteilung in demLand/der Region

NF Anzahl der bedrohten Menschen

M mittlere Sterberate in dem Land/der Region

Pf1 operative Versagenswahrscheinlichkeit vorder baulichen Schutzmaßnahme

Pf2 operative Versagenswahrscheinlichkeitnach der baulichen Schutzmaßnahme

Die Lebensqualitatsparameter stehen in einemVerhaltnis mit den Schutzmaßnahmen fur den Le-bensraum, die der Gesetzgeber festlegt. Dabei ge-nugt aber nicht nur die Definition von Grenzwer-ten, sondern diese mussten auch uberwacht undKorrekturmaßnahmen vollzogen werden. Bei-spielhaft werden Lebensraume in der Nahe vonHochleistungsautobahnen mit viel Guterverkehrerwahnt, wo nur durch eine quantitative Limitie-rung eine Verbesserung eintreten kann. Dies kannjedoch volkswirtschaftliche Konsequenzen her-vorrufen. Eine konsequente Verbesserung konntedurch eine Verlagerung des Guterverkehrs vonder Straße auf die Bahn erreicht werden, wodurchdie Volkswirtschaft aufrecht erhalten und der Le-bensraum gezielt verbessert werden kann [28].Die Durchfuhrung von Schutzmaßnahmen verur-sacht Kosten und kann bei Infrastrukturprojektennur uber die Betrachtung uber den gesamten Nut-zungsraum zu einem ausgewogeneren Verhaltniszwischen Aufwand und Nutzen fuhren.

9Begriffsbestimmungen und Einfuhrung

I

20

30

40

50

60

70

80

90

100

0 5.000 10.000 15.000 20.000 25.000 30.000 35.000 40.000

Pro-Kopf-Einkommen in €

Mitt

lere

Lebe

nser

war

tung

inJa

hren

L=175

L=150

L=100

L=125

USA (1850)Sierra Leone (2000)

Equatorial Guinea (2000)Südafrika (2000)

Botswana (2000)

Deutschland (1850)

USA (2000)

Luxembourg

Schweiz(2000) Deutschland

(2000)

(2000) Japan (1994)(1994) Griechenland (2000)

Schweden (1820)

Bild 4. Pro-Kopf-Einkommen, mittlere Lebenserwartung und Lebensqualitatsindex fur 170 Lander(aus [26, 27])

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2 Zuverlassigkeit undSicherheitskonzepte imKonstruktiven Ingenieurbau

2.1 Zuverlassigkeitsmethoden

Die Zuverlassigkeit einer Konstruktion ist durchdie Einwirkung S und durch deren Widerstand Rcharakterisiert. Fur statische Falle tritt Versagendann ein, wenn der Widerstand kleiner als die Ein-wirkung wird: S I R. Versagen an einer Strukturist nicht unbedingt an den Verlust der Tragsicher-heit gebunden. Versagen kann sich auf den Verlustder Gebrauchstauglichkeit (z. B. Durchbiegungen,Schwingungen etc.) als auch auf den Verlust vonallgemeinen Anforderungen (z. B. Larmemission,Wirtschaftlichkeit, �sthetik etc.) beziehen. Hierzuwerden je nach Anforderung Grenzzustandsfunk-tionen g w R – S j 0 definiert, die den Versagens-bereich vom �berlebensbereich trennen.

Bei der Beurteilung von Konstruktionen ist es we-sentlich, zwischen den beiden Begriffen Sicher-heit und Zuverlassigkeit klar zu unterscheiden. Si-cherheit, ein qualitativer Begriff, bezieht sich inerster Linie auf das Risiko von Personenschaden.Zuverlassigkeit ist hingegen eine quantifizierbareGroße und wird daher ursachlich mit Konstruk-tionen, Objekten, Prozessen in Verbindung ge-bracht.

Die klassische Zuverlassigkeitstheorie beruck-sichtigt im Allgemeinen nicht Versagensfalle ausmenschlichen Fehlleistungen. Grund dafur ist,dass menschliche Fehlleistungen nur sehr schwerquantifizierbar sind und menschliche Fehlleistun-gen nur durch erhohte Qualitatssicherung redu-ziert werden konnen.

Die Ermittlung der Zuverlassigkeit einer Kon-struktion ist mit der Auswertung der Grenzzu-standsbedingung – Integration des Versagensbe-reiches g I 0 – verbunden. Diese Aufgabe ist mit-tels folgender Verfahren losbar:

– analytische Verfahren,– direkte Integration,– Naherungsverfahren,– Simulationsverfahren.

Die analytischen Verfahren konnen nur fur Grenz-zustandsformulierungen herangezogen werden,welche wenige Variable beinhalten. Aus diesemGrund ist das Verfahren fur ubliche Konstruk-tionen des Ingenieurbaus unpraktikabel.

Die direkte Integration ist ebenfalls nur fur einenbeschrankten Kreis an Anwendungen geeignet,da der Rechenaufwand fur eine steigende Anzahlan Zufallsvariablen und fur unregelmaßige For-men des Integrationsgebietes Df dramatisch an-steigt.

Die Naherungsverfahren bedienen sich meist einerApproximation der Grenzzustandsfunktion durcheine Ersatzfunktion im Bereich des Bemessungs-punktes. Dies bringt den Vorteil, dass die Versa-genswahrscheinlichkeit Pf in geschlossener Formberechnet werden kann.

Das First-Order-Second-Moment(FOSM)-Verfah-ren nahert die Grenzzustandsfunktion durch einelineare Funktion im Bemessungspunkt an und be-dient sich bei den Rechenroutinen der statistischenMomente 1. und 2. Ordnung [29]. Die Verfahrennach Basler und Cornell bzw. Hasofer und Lind be-ruhen auf diesen Grundsatzen.

Fur das FOSM-Verfahren werden Taylorreihen-entwicklungen zur Approximation der Grenz-zustandsfunktion verwendet. Wird die Taylorreihenach dem ersten Term abgebrochen, spricht manvon Naherungsverfahren der Zuverlassigkeits-theorie 1. Ordnung (First Order Reliability Me-thod FORM) bzw. wird die Taylorreihe nach demzweiten Term abgebrochen, spricht man von demNaherungsverfahren 2. Ordnung (Second OrderReliability Method SORM). Im Normenwesenwerden die Verfahren 1. Ordnung sehr haufig zurKalibrierung der Bemessungswerte herangezo-gen. Sie werden in den Europaischen Normen alsStufe-II-Verfahren bezeichnet.

Neben den bisher erwahnten analytischen Verfah-ren zur Losung der wahrscheinlichkeits-theoreti-schen Problemstellungen existiert auch die Klasseder Simulationsverfahren, welche sich zur Losungder wahrscheinlichkeitstheoretischen Problem-stellung statistischer Mittel bedient. Mittels wie-derholter Einzelberechnungen ist es moglich,durch Vergleich der Versagensfalle mit den �ber-lebensfallen, die Versagenswahrscheinlichkeit Pf

abzuleiten. Zu den bekanntesten Verfahren dieserKlasse gehort die Monte-Carlo-Simulation, ge-folgt von zahlreichen weiterentwickelten Techni-ken zur Reduktion der Sampleanzahl. In den Euro-paischen Normen werden diese Methoden alsStufe-III-Verfahren bezeichnet.

In der direkten Verknupfung mit nichtlinearen Fi-niten Elementen konnen mittels eines Interak-tionsalgorithmus bei jedem Lastschritt die ent-sprechenden Wahrscheinlichkeiten eines Versa-gens bzw. das Zuverlassigkeitsniveau bestimmtwerden [30].

2.2 Nachweiskonzepte im Ingenieurbau

Die Bemessung von Baukonstruktionen erfolgtauf der Grundlage des semiprobabilistischen Si-cherheitskonzeptes mit Teilsicherheitsbeiwerten;in seltenen Fallen werden die Nachweise mit pro-babilistischen Methoden durchgefuhrt.

Wichtig ist die Erkenntnis, dass bei allen sicher-heitstheoretischen Berechnungen sowohl die Ein-

10 Sicherheit, Risikoakzeptanz, Nutzungs-, Lebensdauer und das richtige Maß

Page 11: I Sicherheit, Risikoakzeptanz, Nutzungs-, Lebensdauer und ...2002, Tabelle 2.1 angefu¨hrt. Die Lebensdauer „t lf“ von Ingenieurtragwerken umspannt die gesamte Zeit vom scho¨pferischen

gangsparameter als auch die Modellierung mitUnsicherheiten behaftet ist. Deshalb sollen die er-rechneten Eintrittswahrscheinlichkeiten oder dieabgeleiteten Sicherheitsindizes als Anhaltswerteund nicht als auf Kommastellen genaue Rechen-werte fur die Beurteilung gesehen werden.

Neben der Nachvollziehbarkeit der rechnerischenZuverlassigkeitsbewertung soll eine Konstruktionwirtschaftlich sein und der Materialeinsatz res-sourcenorientiert durchgefuhrt werden.

Komplexe Bauwerke mit langer Nutzungsdauer,Konstruktionen aus Glas und neuen Hybridwerk-stoffen sind in Bezug auf das Langzeitverhaltensicherheitstechnisch zu bewerten.

Der linke Ast im Bild 5 gilt fur Materialien undKonstruktionen, bei denen man die gesamte Kettemit den verfugbaren Verfahren widerspruchsfreiund vollstandig erfassen kann. Der rechte Ast,der beispielsweise fur geklebte Glasfassadenbeim heutigen Stand der Wissenschaft und Tech-nik zur Anwendung kommt, geht davon aus, dassnoch Lucken in der Beschreibung vorhandensind, die zusatzliche Maßnahmen erfordern.Wichtig ist dabei das Verhalten der einzelnen Kon-struktionsteile auch qualitativ einzuschatzen:Sprode Materialien sind anders einzustufen alszahe, Systeme, bei denen das Versagen ohne Vor-ankundigung zu erwarten ist, bedurfen andererRegelungen als Systeme, die z. B. mit großen Ver-formungen den Zustand „kommunizieren“.

Je nach der Einschatzung der einzelnen Situationsind verschiedene Instrumente verfugbar, um dieSicherheit zu gewahrleisten, wie beispielsweise:– Beschrankung der Nutzungs- bzw. Lebens-

dauer,– Berucksichtigung zusatzlicher Tragelemente

zur Absicherung eines redundanten Tragver-haltens,

– Monitoringmaßnahmen zum Erkennen einesversagenskritischen Zustands,

– parallele Auslagerung eines entsprechendenBauteils mit bauwerksahnlicher Bean-spruchung auf einem entsprechend hoherenNiveau,

– Test aller einzubauenden Bauteile.

2.3 Sicherheitskonzept fur geklebteGlasfassaden

Nach entsprechenden Antragen der Wirtschaftwurde in den 1980er-Jahren in den entsprechendenSachverstandigenausschussen des DIBt eine breiteDiskussion daruber gefuhrt, wie man geklebteGlasfassaden in Deutschland zulassen kann, ohnedas bisherige Sicherheitsniveau infrage zu stellen.Als Ergebnis mussten alle Fassaden bei einer Ein-bauhohe von uber 8 m neben dem Nachweis derKlebung auch mit mechanischen Nothaltern verse-hen werden, die mit einer rechnerischen Sicherheitvon 1,1 in der Lage waren, die Glaselemente vordem Herabfallen zu sichern. Die Wirksamkeit die-

11Zuverlassigkeit und Sicherheitskonzepte im Konstruktiven Ingenieurbau

I

Eigenschaften Festigkeit, Steifigkeit… Streuung, Zeitstand… Temperatur, Feuchtigkeit… Betriebsfestigkeit…

Beurteilung

vollständig erfasst unvollständig erfasst

γm... γm / zeitliche Begrenzung / Redundanz / Beobachtung / Paralleltest / 100%-Test

Nachweise Sd < Rd

Bild 5. Prinzipielles Nachweiskonzept

Page 12: I Sicherheit, Risikoakzeptanz, Nutzungs-, Lebensdauer und ...2002, Tabelle 2.1 angefu¨hrt. Die Lebensdauer „t lf“ von Ingenieurtragwerken umspannt die gesamte Zeit vom scho¨pferischen

ses Vorgehens wurde zum einen mit der probabilis-tischen Methode nachgewiesen, zum anderen auchmit Brandschutz etc. begrundet.Mit der Entwicklung der Kleber und der Bemes-sungsmethoden fur Kunststoffe hat sich nun eineMoglichkeit der Aktualisierung der Gewahrleis-tung der Sicherheit von geklebten Glasfassadeneroffnet.Jede Maßnahme hat ihre Chance und ihre eigeneProblematik. Das bisherige Vorgehen mit Nothal-terungen entspricht dem Nachweis des rechten As-tes in Bild 5. Dasselbe Sicherheitsniveau kann er-reicht werden, wenn der Nachweis der Verklebungauf der Grundlage eines Zeitstandnachweises er-folgt. Die dafur erforderlichen Kennwerte undzeitlichen Extrapolationsverfahren sind material-spezifisch festzulegen.Insgesamt besteht der Nachweis dann aus folgen-den Schritten:

f Kennwerte Verklebung (Kurzzeitfestigkeit,Langzeitverhalten),

f Bemessungszeitraum 50 Jahre,f Sicherheitsbeiwert am Ende des Zeitraums.

3 Vereinfachung und Transparenzder Sicherheitsnachweise

3.1 Sicherheit und gesellschaftliche Relevanz

So uberzeugend dieses Konzept im Prinzip undbeispielhaft in der konkreten Anwendung fur ge-klebte Glaskonstruktionen ist, so wenig lost esdie oben genannten Probleme.Eine Auswertung einer großen Anzahl von Praxis-beispielen hat gezeigt, dass die angestrebte „Ge-nauigkeit“ durch Verwendung sehr differenzierterTeilsicherheitsbeiwerte und Kombinationsbei-werte nicht zu entsprechend veranderten Kon-struktionen fuhrt. Schon bei reiner Betrachtungder Teilsicherheitsbeiwerte ist die Vorgabe mit 3Dezimalstellen, d. h. Darstellung einer Differen-zierung von weniger als 5 % nicht zu rechtfertigen,berucksichtigt man gleichzeitig die unsicherenStreuungsparameter von Einwirkung und Wider-stand. �hnliche Aussagen konnen fur die Kombi-nationsbeiwerte getroffen werden. Ein Vergleichmit typischen Konstruktionen, die mit der fruhe-ren �berlagerungsregel „Schnee S Wind/2“bzw. „Wind S Schnee/2“ berechnet werden, be-legt die geringe Auswirkung theoretisch hochent-wickelter Beiwerte und zugehoriger Kombinatio-nen, die allenfalls noch in EDV-Programmen inGanze betrachtet werden konnen.Um auch zukunftig die Berechnungen zumindestteilweise wieder einer Transparenz zuzufuhren,ware eine Vereinfachung anzustreben, die ohneVerlust an Sicherheit und bei sehr eng begrenztem„Verlust“ an Wirtschaftlichkeit eine Bemessungermoglicht.

Ein entsprechender Ansatz wird in [31] von Cor-nelius vorgestellt.

Vorschlag fur Einwirkungen im ublichen Hochbau:– Die Anzahl der Sicherheitsbeiwerte ist wesent-

lich zu reduzieren durch die Einfuhrung einesgewichteten, mittleren Beiwerts. Fur den ubli-chen Hochbau kann gF w 1,4 gesetzt werden.

– Die �bergabe von Auswirkungen wird ver-einfacht, z. B. Lastubergabe an den Baugrund:EQ,k w Ed/gF,Mittel w sEG,k mit gF,Mittel w 1,4fur die Grenzzustande STR/GEO.Durch die Einfuhrung eines universellenKombinationsbeiwertes Cuni w 0,7 sindnahezu alle Einwirkungsarten nach DIN EN1990:2010 gebuhrend zu berucksichtigen.Damit konnten die Kombinationsregelnwesentlich vereinfacht werden.

Ein ahnlicher Vorschlag kann auf der Wider-standsseite angedacht werden.Derzeitige Teilsicherheitsbeiwerte fur die Wider-stande:– Stahl gM0 w 1,1 mit Stabilitatsversagen bzw.

gM0 w 1,0 ohne Stabilitatsversagen– Bewehrungsstahl gs w 1,15– Spannstahl gs w 1,15; die Ermittlung der

mittleren Vorspannkraft „Pm0“ nach Beendi-gung des Vorspannvorgangs bzw. nach demLosen der Verankerung bei Vorspannung mitsofortigem Verbund erfolgt mit:Pm0 w 0,85 · fp0,1k · Ap bzw. Pm0

w 0,75 · fpk · Ap

– Beton gc w 1,5; bei Fertigteilen mit einerwerksmaßigen und standig uberwachten Her-stellung darf gc w 1,35 gesetzt werden. DerBemessungswert wird unter Berucksichtigungeines Abminderungsfaktors zur Berucksichti-gung von Langzeiteinwirkungen sowie vonungunstigen Auswirkungen auf die Festigkeitermittelt:fcd w 0,85 · fck/gc

– Holz gm w 1,3; wobei der Bemessungswert miteinem Modifikationsfaktor, der den Einflussder Lasteinwirkungsdauer und der Holz-feuchte berucksichtigt, ermittelt wird:fmd w fmk · kmod/gm

– Glas ggl w 1,25; vielfach wird eine zulassigeSpannung ohne zusatzlichen Teilsicherheits-beiwert verwendet.

Vorschlag fur die Widerstandsseite:

Allgemein konnte fur

a) die Baustoffe: Beton, Holz, bezogen auf denBruchwert– Beton (gc w 1,5/0,85 w 1,76)– Holz (lange Lasteinwirkung, Nutzungsklasse

2 – offene Bauwerke): (gm w 1,3/0,7 w 1,86)

12 Sicherheit, Risikoakzeptanz, Nutzungs-, Lebensdauer und das richtige Maß

Page 13: I Sicherheit, Risikoakzeptanz, Nutzungs-, Lebensdauer und ...2002, Tabelle 2.1 angefu¨hrt. Die Lebensdauer „t lf“ von Ingenieurtragwerken umspannt die gesamte Zeit vom scho¨pferischen

ein mittlerer Widerstandsbeiwert von gm w 1,8und fur

b) die Baustoffe: Profil-, Bewehrungs- und Spann-stahl, bezogen auf die Zugfestigkeit– Stahl ohne Stabilitatsversagen (fur Fe 510:

gM0 · fu/fy w 1,0 · 510/355 w 1,44 oder Fe 360:gM0 · fu/fy w 1,0 · 360/235 w 1,53).

– Bewehrungsstahl (fur Stahl IIIa, IVa, IVb:gs · fu/fy w 1,15 · 500/400 w 1,44)

– Spannstahl unter Berucksichtigung von fpk

(Bruchwert): (gc w 1,15/0,75 w 1,53)

ein mittlerer Widerstandsbeiwert von gm w 1,5 an-gedacht werden.Fur nichtlineare Berechnungen im Stahl- undSpannbetonbau kann ein mittlerer globaler Sicher-heitsfaktor ggl w 1,3 verwendet werden.Auf dem Weg zu diesen Vereinfachungen ist einZwischenschritt einzuschalten, um die Festlegungder einzelnen Werte abzusichern und gleichzeitigschon direkt mehr Transparenz in die Berechnun-gen einzufuhren. Die Transparenz nutzt dannauch der unabhangigen Kontrolle, die derzeit auf-grund der Komplexitat der in den Regelwerkenvorgegebenen Systematik und der entsprechendenUmsetzung in EDV-Programmen im Sinne einer„black box“ nur schwer moglich ist, es sei denn,man verlasst sich wiederum auf (hoffentlich unab-hangig erstellte) Rechenprogramme. Fur die An-

wendung von Rechenprogrammen unter der For-derung „pruffahige Unterlagen“ ist die Auflagezu verstehen, dass die o. g. Parameter fur den je-weiligen Anwendungsfall „ruckgerechnet“ unddokumentiert werden sollen.

Diese Auflage sahe dann folgenden Ablauf vor:

1. Festlegung und Dokumentation der Teilsicher-heitsbeiwerte und Kombinationsbeiwerte furdie verschiedenen Einwirkungen und Wider-stande entsprechend den jeweiligen Regel-werken.

2. Durchfuhrung und Dokumentation der Be-messung bzw. der Nachweise.

3. Bestimmung und Dokumentation der o. g. re-duzierten Anzahl von Parametern (Teilsicher-heitsbeiwerte), die zu derselben Bemessungs-aussage bzw. demselben Nachweisniveau fuh-ren wurden.

Die Vereinfachung und Schaffung von mehrTransparenz reduziert den Aufwand, ohne die Si-cherheit zu reduzieren. Damit wird es auch mog-lich, die im Beitrag I „Infrastruktur und Gesell-schaft“ im Beton-Kalender 2012 angesprocheneAbhangigkeit der Sicherheitsfaktoren von demRisiko zu realisieren. Beispielhaft ist dies in demVCI-Leitfaden zur Anwendung der DIN 4149:2005 auf Tragwerke und Komponenten in der che-mischen Industrie geschehen (Tabelle 2).

13Vereinfachung und Transparenz der Sicherheitsnachweise

I

Tabelle 2. Bedeutungsbeiwerte gI bezuglich des Personenschutzes (Auszug aus dem VCI-Leitfaden zurAnwendung der DIN 4149:2005 auf Tragwerke und Komponenten in der chemischen Industrie)

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Im Kapitel I „Infrastruktur und Gesellschaft“ desBeton-Kalenders 2012 wurde Folgendes ausge-fuhrt:

Der gesellschaftlichen Realitat kann durch ent-sprechende Annahmen Rechnung getragen wer-den:

Rmod w k1 · k2 · k3 · Rak (11)

Rmod J Rvorh w pf · S · XS (12)

mit

Rmod modifizierter akzeptabler Wert desRisikos

Rvorh vorhandenes Risiko

pf Wahrscheinlichkeit eines Schadens

S Schadensumfang

k1 Anpassungsfaktor zur Berucksichtigungder Vorteilserwartungw 1 ohne VorteilserwartungWerte mit Vorteilserwartung bestehennicht, als Anhaltswert kann ein Wert von10 angesetzt werden.

k2 Anpassungsfaktor zur Berucksichtigungder Einflusserwartungw 1 ohne EinflusserwartungWerte mit Einflusserwartung bestehennicht, als Anhaltswert kann ein Wert von10 angesetzt werden

k3 Anpassungsfaktor zur Berucksichtigungder Schadensbedeutungw 1 fur Gefahr fur Menschenleben undwirtschaftliche Folgenw 10 fur keine Gefahr fur Menschenlebenw 0,1 fur große Gefahr fur �ffentlichkeit

XS Faktor zur Berucksichtigung großerSchaden (Bild 6)

Unter Berucksichtigung dieser Zusammenhangeist in Analogie zu dem VCI-Leitfaden ein Faktorzu entwickeln, der die erforderliche Sicherheitvergroßert. Der so festgelegte globale Beurtei-lungsfaktor gRisiko (ahnlich Bild 5) kann in einenBeurteilungsfaktor fur die Einwirkung gS,Risiko

und einen fur den Widerstand gM,Risiko aufgeteiltwerden.

gS,Risiko w gM,Risiko w

ffipgRisiko (13)

3.2 Das richtige Maß

Bereits in der Philosophie Platons (*427 v. Chr.,{347 v. Chr.) in seiner Politeia finden wir in seinenKardinalstugenden: „die Besonnenheit (das rich-tige Maß) – la temperantia“. Dieses Grundsatz-prinzip soll zukunftig verstarkt in den Ingenieur-disziplinen, insbesondere bei der multidisziplina-

ren Bewertung der Zuverlassigkeit, berucksichtigtwerden. Die kausalen Zusammenhange konnenzwar mit Modellen beschrieben werden; die ge-sellschaftlichen und damit die sozialen Interaktio-nen konnten einerseits differenziert und musstenandererseits transparenter erfolgen [32].

Diese Grundhaltung von nachvollziehbaren Re-geln fuhrt auch zu einer verstarkten Bestrebungdie Normenreihe der Eurocodes 0 bis 9 und derennationale Anwendungsdokumente zu vereinfa-chen und klar nachvollziehbare Konzepte fur alleBemessungsnormen zu schaffen [31]. Nachdemin Deutschland die Tragwerksplanung ab dem1. Juli 2012 auf den Eurocodes mit den NationalenAnhangen basiert, werden neue Ansatze fur pra-xisgerechte Regelwerke diskutiert. Dabei wurdenvon Cornelius [31] zehn Grundsatze erarbeitet,welche nachfolgend auszugsweise wiedergegebenwerden.1. Grundregeln der Mechanik:

Von der Lastabtragung zur Einwirkung undder Lastabtragung im Bauwerk sollen die Wir-kungsweisen koharent auf mechanischen Re-geln aufbauen.

2. Praxisgerechte und nachvollziehbareNachweiskonzepte:Sowohl die Rechenmodelle als auch die Erfas-sung der Einwirkungen und der Widerstandesollen gut nachvollziehbar und soweit sinnvollmit grafischen oder tabellarischen Hilfswertenvereinfacht werden.

3. Vielzahl an Einwirkungskombinationenreduzieren:Fur Standardfalle sollen die Einwirkungskom-binationen auf ein Mindestmaß reduziert wer-den. Dabei konnte auch eine globale Sicher-

14 Sicherheit, Risikoakzeptanz, Nutzungs-, Lebensdauer und das richtige Maß

Bild 6. Korrekturfaktor Xs zur Berucksichtigunggroßer Schaden (qualitativ)

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heitsbetrachtung und keine differenzierte mitTeilsicherheitsfaktoren angewandt werden.

4. Optimierungsparameter reduzieren:Auf ein Mindestmaß sollte die Anpassungdurch Verwendung von Parametern an indivi-duelle Randbedingungen reduziert werden.

5. Einheitliche Gliederung in allen Normen desKonstruktiven Ingenieurbaus:Ziel ist es, eine einheitliche Gliederung fur alleNormen zu erstellen, damit immer in den glei-chen Kapiteln beispielsweise die Baustoffe,die Nachweise etc. zu finden sind.

6. Durchgangigkeit der Regelungen uberBaustoffgrenzen hinweg:Hierbei sollten die Nachweise fur den Bau-grund mit denselben Lastkombinationen unddenselben Sicherheitselementen erfolgen wiedie Nachweise im Bauwerk.

7. Vereinheitlichung der erforderlichenHeißbemessung:Angestrebt wird dabei eine Vereinfachung inder Nachweisfuhrung der Feuerwiderstands-dauer.

8. Verbesserung der handwerklichen Qualitatund der Sprache der Normen:Durch eine Vereinfachung der textlichen Fas-sungen sollen die Dokumente leichter lesbarund verstandlicher werden.

9. Reduzierung der national festlegbarenParameter (NDP):Soweit wie moglich sollten europaweit diegleichen Parameter gelten und die nationalenEigenheiten reduziert werden.

10. Eurocodes reprasentieren den Stand derTechnik, nicht der Wissenschaft:Die Normen sollten einfach, verstandlich, denanerkannten Stand der Technik berucksichti-gend verfasst werden.

Die Sicherheit von Bauwerken uber die technischeLebens- bzw. Nutzungsdauer kann zwar mit Nor-men beschrieben und mit den anerkannten Regelnder Technik nachgewiesen werden; entscheidendbleibt aber das verantwortliche Handeln des Inge-nieurs, welcher das systemische Erfassen vomEntwurf bis zum Abbruch berucksichtigt und so-weit als moglich die gesellschaftlichen, okologi-schen und okonomischen Auswirkungen beruck-sichtigt.

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