«ICH MUSS WISSEN, WIE ES GEHT» -...

4
72 BEGEGNUNG MIT ABT DANIEL TERRA GRISCHUNA 1 | 2015 Nach zwölf Jahren als Vorsteher des Klosters Disentis trat Abt Daniel Schönbächler im April 2012 zurück. Er wolle sein Amt «an jüngere Kräfte» übergeben, sagte er damals, und freue sich auf die kommende Zeit. Wir haben den Benediktiner im Kloster Disentis besucht. Text Stefan Keller, Bilder Rolf Canal «ICH MUSS WISSEN, WIE ES GEHT» Begegnung mit Abt em. Daniel im Kloster Disentis Ç «Eine Berufung ist etwas völlig Irrationales, es ist ein Prozess, erst weit weg, kommt näher, nimmt Konturen an und wumm, plötzlich ist man drin.»

Transcript of «ICH MUSS WISSEN, WIE ES GEHT» -...

Page 1: «ICH MUSS WISSEN, WIE ES GEHT» - stefan.keller.namestefan.keller.name/useruploads/files/journalismus_so/150114_abt... · puskel oder Wellenlänge beschreiben. Wer das auf den geistigen

72

BEGEGNUNG MIT ABT DANIEL TERRA GRISCHUNA 1 | 2015

Nach zwölf Jahren als Vorsteher des Klos ters Disentis trat Abt Daniel Schönbächler im April 2012 zurück. Er wolle sein Amt «an jüngere Kräfte» übergeben, sagte er damals, und freue sich auf die kommende Zeit. Wir haben den Benediktiner im Kloster Disentis besucht.

Text Stefan Keller, Bilder Rolf Canal

«ICH MUSS WISSEN, WIE ES GEHT»Begegnung mit Abt em. Daniel im Kloster Disentis

Ç «Eine Berufung ist etwas völlig Irrationales, es ist ein Prozess, erst weit weg, kommt näher, nimmt Konturen an und wumm, plötzlich ist man drin.»

Page 2: «ICH MUSS WISSEN, WIE ES GEHT» - stefan.keller.namestefan.keller.name/useruploads/files/journalismus_so/150114_abt... · puskel oder Wellenlänge beschreiben. Wer das auf den geistigen

73

TERRA GRISCHUNA 1 | 2015 BEGEGNUNG MIT ABT DANIEL

Alle Schönbächler stammen aus Einsie-deln, und das Katholische wird ihnen in die Wiege gelegt. Es ist eine prägen -de Färbung, die auch dann bestehen bleibt, wenn eine Familie in Winter-thur wohnt, weil die SBB Arbeit geben. Martin, wie Abt Daniel damals noch hiess, ist einer von vier Katholiken in der 45-köpfigen Schulklasse. Es heisst, entweder fällst du durch die Matur, oder du bist nicht mehr katholisch. Wer in der Diaspora aufwächst, der geht, wie Martin, in eine katholische Internatsschule. Martins Weg führt nach Disentis, wo Onkel Viktor als Pa-ter lebt und lehrt. Viktor Schönbächler wird später auch in der Rolle als Abt sei-nem Neffen vorangehen. Das ist der Fundus eines nun 72-jährigen Lebens.

Ein Mönch braucht keine Uhr. Wenn es Zeit ist, ertönt die Glocke. Die meisten Tage im Jahr ist es noch dunkel, wenn Abt Daniel aus der kleinen Zelle in den breiten Gang tritt und sich flinken Schrittes an seinen Platz im oberen Chor der Barockkirche begibt. Pünkt-lich um halb sechs beginnt die Vigil mit immer derselben Bitte: « Herr, öffne meine Lippen, damit mein Mund dein

Lob verkünde.» Bis vor zwei Jahren stand Abt Daniel leicht erhöht in der Mitte des Chors, am Platz, den jetzt sein Nachfolger Abt Vigeli einnimmt. Abt em. Daniel lässt keine Vigil aus und kommt auch nie zu spät.

Für zwei von drei Schülern in der ersten Klasse der Klosterschule ist klar, dass sie nach erfolgreicher Matur Theologie

studieren wollen. Während der Puber-tät beginnt diese Gewissheit zu brö-ckeln. Nicht so bei Martin Schönbäch-ler. Gewiss, auch er nervt sich über un-mögliche Lehrer, von anderen aber ist er fasziniert, die Patres eröffnen ihm neue Welten. Sein Wissensdurst scheint unstillbar, bei allen Freifächern ist er dabei. Zu Hause gab es genau zwei Bü-cher: das Kirchengesangsbuch und ein

Globibuch. Daheim hätte er den Gar-ten jäten müssen, hier, im Internat, im «Kollegi», sprudeln die Quellen, und es ist ein ständiges Austauschen unter Mitschülern. Man teilt die Schulbank, das Zimmer, den Tisch und auch die Freizeit. Das Schuljahr beginnt nach den Sommerferien, und an Weihnach-ten geht man zum ersten Mal nach Hause. Das zweite Mal an Ostern.

An die Vigil schliesst sich die Laudes an. 150 Psalmen sprechen und singen die Disentiser Mönche wöchentlich, jahrein, jahr aus. Mit dem zweiten Va-tikanum kam die Umstellung auf die deutsche Sprache. In Disentis setzte sich das Antiphonale von Münster-schwarzach durch. Sie legt Wert da -rauf, dass Wort- und Musikakzent auf-einander abgestimmt sind. Abt Daniel

«Richtig und falsch kann man ausdividieren, aber

eine Fünf gerade sein lassen, das kann wahr sein.»

Ç Mehrmals täglich treffen sich die Mönche im oberen Chor der Barockkirche zum Gebet. Wenn es Zeit ist, ertönt die Glocke.

Page 3: «ICH MUSS WISSEN, WIE ES GEHT» - stefan.keller.namestefan.keller.name/useruploads/files/journalismus_so/150114_abt... · puskel oder Wellenlänge beschreiben. Wer das auf den geistigen

74

BEGEGNUNG MIT ABT DANIEL TERRA GRISCHUNA 1 | 2015

sagt: «Ich wäre ausgetreten, hätte man sich für eine Form entschieden, die die-sem Aspekt nicht gerecht geworden wäre. Jeden Tag Psalmen gegen den Wortakzent singen, das geht nicht, das hätte mich zerrissen.»

Vigil und Laudes dauern gut und gerne eine Dreiviertelstunde. Dann begeben sich die Mönche ins Refektorium zum

frugalen Frühstück. Abt Daniel ist einer der ersten, die am langen Tisch Platz nehmen. Er schenkt sich eine Schale heis sen Milchkaffee ein, schneidet sich ein Stück Brot ab, das vom Vortag stammt, nimmt etwas Konfitüre aus der Glasschale und reicht alles wortlos seinem Mitbruder zur Rechten weiter. Wenig später geht er eiligen Schrittes in seine Zelle zurück.

In der Maturaklasse brodelt es. Die letz-te Seite des Gesangbuchs ist für die Primizen bestimmt. « Die können wir rausreissen, in diesen Klub geht keiner mehr », raunt Martin Schönbächler sei-

nem Nachbarn zu. Und dann kommt doch alles anders. Eine Berufung ist et-was völlig Irrationales, das kriegt man nicht in den Griff. Man kann 1000 Gründe nennen, und keiner trifft ge-nau. Es ist kein Punkt, es ist ein Prozess, erst ganz weit weg, verschwommen, kommt näher, nimmt Konturen an und wumm, plötzlich ist man drin. Wir wa-ren katholisch sozialisiert, und es war

absolut denkbar, dass man Pfarrer res-pektive Geistlicher werden konnte und – auf meine Familie bezogen – auch ins Kloster eintritt.

An der internationalen Hochschule des Benediktinerordens Athenaeum Sant’ An selmo wird Martin Schönbächler auf die Priesterweihe vorbereitet. Da die Klosterschule Disentis einen Deutsch-lehrer braucht, geht er anschliessend nach München, um Germanistik und Kunstgeschichte zu studieren. Man schreibt das Jahr 1968. Den Habit kann Daniel nicht tragen, er hätte sich zum Aussenseiter gemacht. Während der

Vorlesung des Kunsthistorikers Wolf-gang Braunfels treten Kommilitonin-nen vor sein Rednerpult, entblössen ihre Brüste und umarmen ihn. Eine Mitstudentin wird ihm sagen: « Kein Faden an mir, den ich nicht geklaut habe.» Die Gesellschaft muss man mit ihren eigenen Waffen schlagen. « In dei-nem Alter kann man sich doch nicht auf ewig verpflichten », ruft ihm eine junge Frau zu. Das spricht gegen die Freiheit. « Doch, ich kann das, mich ver-pflichten und mich doch absolut frei fühlen. Ein Paradox, doch die Wahrheit ist immer paradox, sie trägt die Gegen-sätze in sich. 2 und 2 gibt 5, das ist falsch. 2 und 2 gibt 4. Das ist nie wahr, sondern immer nur richtig. Richtig und falsch kann man ausdividieren, aber eine Fünf gerade sein lassen, das kann wahr sein.»

Um 11.40 Uhr ruft die Klosterglocke zur Mittagshore. Die Arbeit wird nie-dergelegt, die Mönche begeben sich in den oberen Chor der Klosterkirche und halten im Gebet inne. « Die Glut des Mittags treibt uns um, die Stunden ei-len wie im Flug; du Gott, vor dem die Zeiten stehn, lass uns ein wenig bei dir ruhn …» Später löffeln die Mönche im Refektorium wortlos ihre Suppe, schöp-fen sich Salat und schieben die Schüs-seln mit Kartoffeln und Fleisch ihren Mitbrüdern zu. Abt Daniel gehört zu

«Seine Grundmotivation ‹wissen, wie es geht› treibt

ihn immer weiter.»

È Innerhalb diverser bevorstehender Bautätigkeiten ist auch die Sanierung der aus dem 17. Jahrhundert stammenden Klosterkirche geplant.

Page 4: «ICH MUSS WISSEN, WIE ES GEHT» - stefan.keller.namestefan.keller.name/useruploads/files/journalismus_so/150114_abt... · puskel oder Wellenlänge beschreiben. Wer das auf den geistigen

75

TERRA GRISCHUNA 1 | 2015 BEGEGNUNG MIT ABT DANIEL

jenen, die gerne auch ein Glas Wein dazu trinken. Eine Hemina, nämlich täglich ein Viertelliter Wein, sprach der kluge Benedikt jedem Mönch zu.

Für den zweiten Teil seiner Studien geht Daniel Schönbächler nach Zürich. Er wohnt in einem Studentenheim mit Menschen aus 25 verschiedenen Län-dern und übernimmt die Aufgabe, den Gottesdienst zu gestalten. Es ist ihm ein Anliegen, eine Sprache zu finden, die verstanden wird; Fachsprachen emp findet er als grauenhaft. Die Dis-sertation schreibt er über Josef Vital Kopp. Kopp war der Übersetzer von Teilhard de Chardins Buch « Der göttli-

che Bereich ». Daniel Schönbächler wählt für seine Arbeit den Titel « Erfah-rung der Ambivalenz », ein Thema, das ihm auch heute noch unter den Nägeln brennt. Er sagt: « In meinem Weltbild ist das Entweder-oder nicht ausgeprägt, vielmehr ist es das Sowohl-als-auch. Dahinter steckt eine physikalische Ge-setzgebung. Man kann Licht als Kor-puskel oder Wellenlänge beschreiben. Wer das auf den geistigen Bereich über-trägt, der kommt mit den Fundamenta-listen nicht klar. Für die heisst Katho-lisch Entweder-oder. Das war bei den Mystikern anders. Unsere Generation wird heute belächelt und verspottet, wir gelten als die blöden 68er, die alles

hin terfragen. In vielen Klöstern ist die Stimmung gekippt, Fundamentalismus hat Einzug gehalten. Es müssen wieder klare Strukturen herrschen. Man weiss, wo der Teufel und wo Gott hockt. Ich bin für intellektuelle Redlichkeit, und wenn dies nicht der Fall ist, dann kann ich auch scharf karikieren.»

Vor dem Abendessen kommt die Klos-tergemeinschaft zur Vesper zusammen, nach dem Abendessen zur Komplet. Die Komplet um acht Uhr schliesst den Tag ab und leitet zur nächtlichen Stille über. In den Zellen brennt oft noch lang das Licht, auch bei Abt em. Daniel. Seit er sein Amt als Klostervorsteher und seine Lehrtätigkeit an der Klos-terschule abgegeben hat, scheint sein Leben nicht geruhsamer geworden zu sein. Die grossen Bergtouren sind vorbei, die 60 Stundenkilometer auf dem Rennrad auch, und den Gleit-schirm hat er an den Nagel gehängt. Die Herausforderungen und Abenteuer finden vermehrt im Zwischenmensch-lichen statt. Seine Grundmotivation « wissen, wie es geht » treibt ihn im - mer weiter. Zurzeit belegt er einen Lehrgang für christliche Spiritualität, der vom Lassalle-Haus in Zusammenar-beit mit der Universität Freiburg ange-boten wird. Er selbst bietet am Klos ter Disentis Kurse an, die sich mit Wahr-nehmung, Motivation und Verhalten beschäftigen. Nach seiner Stabüberga-be vor zwei Jahren sagte Abt Daniel: « Ich werde mich nicht einmischen, sondern ein glücklicher Altabt sein.» Diese Hoffnung hat sich bisher noch nicht erfüllt.

Ç Abt em. Daniel ist auch nach seiner «Pensionierung» in Disentis noch sehr aktiv.

Disentis

Autor Stefan Keller ist Journalist und Publi-zist. Er lebt in Promontogno. [email protected] Fotograf Rolf Canal lebt in Samedan. [email protected]

Ç 2014 feierte das Kloster Disentis sein 1400-jähriges Bestehen. Das Motto des Jubiläums lautet «Stabilitas in progressu», Beständigkeit im Voranschreiten.

Ç « Unsere Generation wird heute belächelt und verspottet, wir gelten als die blöden 68er, die alles hinterfragen.»