Ideen Über Eine Beschreibende Und Zergliedernde Psychologie

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pdfcrowd.com open in browser PRO version Are you a developer? Try out the HTML to PDF API Ebbinghaus Meinong WILHELM DILTHEY Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie "Nur Hypothesen besitzen wir über die verursachenden Vorgänge, durch welche der erworbene, seelische Zusammenhang beständig unsere bewußten Prozesse des Schließens und Wollens so mächtig und rätselhaft beeinflußt. Hypothesen, überall nur Hypothesen! Und zwar nicht als untergeordnete Bestandteile, welche einzeln dem wissenschaftlichen Gedankengang eingeordnet sind. Solche sind ja unvermeidlich. Vielmehr Hypothesen, welche als Elemente der psychologischen Kausalerklärung die Ableitung aller seelischen Erscheinungen ermöglichen und sich an ihnen bewähren sollen." "Leben ist überall nur als Zusammenhang da. Die Psychologie bedarf also keiner durch Schlüsse gewonnenen untergelegten Begriffe, um überhaupt einen durchgreifenden Zusammenhang unter den großen Gruppen der seelischen Tatsachen herzustellen." "Die Grundbegriffe der Vernunftkritik Kants gehören durchweg einer bestimmten psychologischen Schule an. Die klassifizierende

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hermeneutics, life-philosophy

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Ebbinghaus Meinong

W ILHE LM DILTHE YIdeen über eine beschreibendeund zergliedernde Psychologie

"Nur Hypothesen besitzen wir über die verursachenden Vorgänge, durchwelche der erworbene, seelische Zusammenhang beständig unserebewußten Prozesse des Schließens und Wollens so mächtig undrätselhaft beeinflußt. Hypothesen, überall nur Hypothesen! Und zwar nichtals untergeordnete Bestandteile, welche einzeln dem wissenschaftlichenGedankengang eingeordnet sind. Solche sind ja unvermeidlich. VielmehrHypothesen, welche als Elemente der psychologischen Kausalerklärungdie Ableitung aller seelischen Erscheinungen ermöglichen und sich anihnen bewähren sollen."

"Leben ist überall nur als Zusammenhang da. Die Psychologie bedarf alsokeiner durch Schlüsse gewonnenen untergelegten Begriffe, um überhaupteinen durchgreifenden Zusammenhang unter den großen Gruppen derseelischen Tatsachen herzustellen."

"Die Grundbegriffe der Vernunftkritik Kants gehören durchweg einerbestimmten psychologischen Schule an. Die klassifizierende

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Vermögenslehre der Zeit Kants hatte die harten Sonderungen, dastrennende Fächerwerk in seiner Vernunftkritik zur Folge. Ich mache diesdeutlich an seinen Sonderungen von Ans c hauen und D enken sowie von S tof f und Form des Erkennens. Beide Sonderungen, sohart wie sie bei Kant dastehen, zerreissen einen lebendigenZusammenhang."

"Einer vollendeten, durchgeführten Psychologie bedarf dieErkenntnistheorie nicht, aber alle durchgeführte Psychologie ist doch nurdie wissenschaftliche Vollendung dessen, was auch den Untergrund derErkenntnistheorie bildet. Erkenntnistheorie ist Psychologie in Bewegung,und zwar sich nach einem bestimmten Ziel hin bewegend. In derSelbstbesinnung, welche den ganzen unverstümmelten Befund desseelischen Lebens umfaßt, hat sie ihre Grundlage: Allgemeingültigkeit,Wahrheit, Wirklichkeit werden von diesem Befund aus erst nach ihremSinn bestimmt."

E rs tes K ap i te lDie Aufgabe einer psychologischen

Grundlegung der Geisteswissenschaften

Die erklärende Psychologie, welche gegenwärtig ein sogroßes Maß von Arbeit und Interesse in Anspruch nimmt, stellteinen Kausalzusammenhang auf, welcher alle Erscheinungendes Seelenlebens begreiflich zu machen beansprucht. Sie willdie Konstitution der seelischen Welt nach ihren Bestandteilen,

Kräften und Gesetzen genau so erklären, wie die Physik und Chemie die derKörperwelt erklärt. Besonders klare Repräsentanten dieser erklärenden

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Psychologie sind die Assoziationspsychologen, HERBART; SPENCER, TAINE,die verschiedenen Formen von Materialismus. Der Unterschied zwischenerklärenden und beschreibenden Wissenschaften, den wir hier zu Grundelegen, entspricht dem Sprachgebrauch. Unter einer erklärendenWissenschaft ist jede Unterordnung eines Erscheinungsgebietes unter einenKausalzusammenhang mittels einer begrenzten Zahl von eindeutigbestimmten Elemnten (d. h. Bestandteilen des Zusammenhangs) zuverstehen. Dieser Begriff bezeichnet das Ideal einer solchen Wissenschaft,wie es sich insbesondere durch die Entwicklung der atomistischen Physikgebildet hat. Die erklärende Psychologie will also die Erscheinungen desSeelenlebens einem Kausalzusammenhang mittels einer begrenzten Zahlvon eindeutig bestimmten Elementen unterordnen. Ein Gedanke vonaußerordentlicher Kühnheit, welcher in sich die Möglichkeit einerunermeßlichen Entwicklung der Geisteswissenschaften zu einem denNaturwissenschaften entsprechenden strengen System der Kausalerkenntnistragen würde. Wenn jede Seelenlehre ursächliche Verhältnisse imSeelenleben zu Bewußtsein bringen will, so ist das unterscheidende Merkmalder erklärenden Psychologie darin gelegen, daß sie aus einer begrenztenZahl eindeutig bestimmter Elemente eine ganz vollständige unddurchsichtige Erkenntnis der seelischen Erscheinungen herbeizuführenüberzeugt ist. Sie würde mit dem Namen der konstruktiven Psychologie nochschärfer bezeichnet werden. Zugleich würde dieser Name den großenhistorischen Zusammenhang, in welchem sie steht, herausheben.

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Die erklärende Psyschologie kann ihr Ziel nur durch eine Verbindung vonHypothesen erreichen. Der Begriff einer Hypothese kann verschieden gefaßtwerden. Jeder einen Erfahrungsbegriff durch Induktion ergänzende Schlußdarf zunächst als eine Hypothese bezeichnet werden. Der in einem solchenSchluß enthaltene Schlußsatz enthält eine Erwartung, welche sich über dasGegebene hinaus auch auf das Nichtgegebene erstreckt. Solcheergänzende Schlüsse sind in jeder Art von psychologischer Darstellungselbstverständlich enthalten. Ich kann nicht einmal eine Erinnerung auf einenfrüheren Eindruck ohne einen solchen Schluß zurückführen. Es wäre alsotöricht, aus der Psychologie hypothetische Bestandteile ausschließen zuwollen. Es wäre unbillig, der erklärenden Psychologie aus der Benutzungsolcher Bestandteile einen Vorwurf machen zu wollen, da die beschreibendesie ebensowenig würde entbehren können. In den Naturwissenschaften hatsich nun aber der Begriff der Hypothese in einem bestimmteren Sinneaufgrund der dem Naturerkennen gegebenen Bedingungen ausgebildet. Wiein den Sinnen nur Koexistenz und Sukzession ohne ursächlichenZusammenhang dieses zugleich oder nacheinander Bestehenden gegebenist, entsteht Kausalzusammenhang in unserem Naturauffassen nur durchErgänzung. So ist die Hypothese das notwendige Hilfsmittel derfortschreitenden Naturerkenntnis. Stellen sich in der Regel mehrereHypothesen als gleich möglich dar, so ist die Aufgabe, mittels derEntwicklung dessen, was aus ihnen folgt und der Vergleichung desselben mit

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den Tatsachen Eine zu erproben und die anderen auszuschließen. Es ist dieStärke der Naturwissenschaften, daß sie in Mathematik und Experiment dieHilfsmittel haben, diesem Verfahren den höchsten Grad von Genauigkeit undSicherheit zu geben. Das größte und am meisten belehrende Beispiel dafür,wie eine Hypothese so in den gesicherten Besitzstand der Wissenschaftübergeht, bildet die kopernikanische Hypothese, daß sich die Erde in 24Stunden (minus 4 Minuten) um ihre eigene Achse dreht und zugleich einefortschreitende Bewegung um die Sonne in 365 ¼ Sonnentagen besitzt, inihrer fortschreitenden Entwicklung und Begründung durch KEPLER, GALILEI,

NEWTON usw. zu einer keinem Zweifel mehr unterworfenen Theorie. Einanderes berühmtes Beispiel der Zunahme von Wahrscheinlichkeit einerHypothese bis zu dem Punkt, daß andere Möglichkeiten nicht mehrberücksichtigt zu werden brauchen, bildet die Erklärung des Lichtes durchdie Undulationshypothese im Gegensatz zur Emanationshypothese. Beiwelchem Punkt die einer naturwissenschaftlichen Theorie zugrunde liegendeHypothese durch die Verbindung mit der gesamten Naturerkenntnis unddurch die Erprobung der Konsequenzen an den Tatsachen einen solchenWahrscheinlichkeitsgrad erreicht, daß der Name Hypo these für sieaufgegeben werden kann, das ist natürlich eine müßige und zugleichunlösbare Frage. Es gibt zunächst ein sehr einfaches Merkmal, durchwelches ich innerhalb des weiten Gebietes von auf Schlüsse gegründetenSätzen Hypothesen unterscheide. Wo ein Schluß zwar eine Erscheinungoder einen Kreis von solchen in einen für sie ausreichenden Zusammenhang

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zu bringen vermag, welcher mit allen sonst bekannten Tatsachen undallgemeingültigen Theorien in Übereinstimmung ist, aber nicht andereMöglichkeiten der Erklärung ausschließen kann, da liegt sicher eineHypothese vor. Niemals kann sich dieses Merkmal finden, ohne daß einsolcher Satz den Charakter einer Hypothese hätte. Aber auch wo es fehlt, woentgegenstehende Hypothese nie ausgebildet wurden oder sich nichtbewährten, bleibt die Frage offen, ob ein auf induktive Schlüsse gegründeterSatz nicht dennoch den Charakter einer Hypothese hat. Besitzen wir dochschließlich kein absolutes Merkmal, durch welches wir unter allen Umständennaturwissenschaftliche Sätze, welche für alle Zeiten ihre definitiveFormulierung gefunden haben, von solchen unterscheiden können, welcheden Zusammenhang der Erscheinungen nur für die jetzige Lage unseresWissens von diesen Erscheinungen angemessen ausdrücken. Immer bleibtzwischen dem höchsten Grad von Wahrscheinlichkeit, welchen eine induktivbegründete Theorie erreicht und der Apodiktizität, welche denmathematischen Grundverhältnissen zukommt, eine unüberbrückbare Kluft.Nicht nur die Zahlenverhältnisse haben diesen apodiktischen Charakter; wieauch unser Raumbild sich gebildet haben mag, dieser Vorgang liegt jenseitsunserer Erinnerung: es ist nun da: an jeder Stelle desselben können wirdieselben Grundverhältnisse auffassen, ganz unabhängig von der Stelle, anwelcher sie auftreten: Geometrie ist die Analysis dieses vom Bestand dereinzelnen Objekte ganz unabhängigen Raumbildes: hierin liegt der Charakterihrer Apodiktizität, er ist gar nicht vom Ursprung dieses Raumbildes bedingt.

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In diesem Sinne haben Hypothesen nicht nur als bestimmte Stadien in derEntstehung naturwissenschaftlicher Theorien eine entscheidende Bedeutung:es läßt sich auch nicht absehen, wie bei äußerster Steigerung derWahrscheinlichkeit unserer Naturerklärung ihr hypothetischer Charakterjemals ganz zum Verschwinden gebracht werden könnte. Unserenaturwissenschaftlichen Überzeugungen werden hierdurch nicht erschüttert.Als durch LAPLACE in die Betrachtung der induktiven Schlüsse dieWahrscheinlichkeitsrechnung eingeführt wurde, wurde auch auf den Grad vonSicherheit unserer Naturerkenntnis die Meßbarkeit ausgedehnt. Damit ist derAusnutzung des hypothetischen Charakters unserer Naturerklärung imInteresse eines öden Skeptizismus oder eines im Dienste der Theologiestehenen Mystizismus der Boden entzogen. Indem nun aber die erklärendePsychologie das Verfahren der naturwissenschaftlichen Hypothesenbildung,durch welche zum Gegebenen eine Kausalzusammenhang ergänzendzugefügt wird, auf das Seelenleben überträgt: entsteht die Frage, ob dieseÜbertragung berechtigt ist. Es ist zu zeigen, daß diese Übertragung wirklichin der erklärenden Psychologie stattfindet, und die Gesichtspunkte sindanzugeben, unter welchen gegen diese Übertragung Bedenken entstehen:Beides hier nur vorläufig, da in der ganzen weiteren Darstellung direkt odermittelbar weitere Ausführungen hierüber enthalten sind.

Wir stellen zunächst die Tatsache fest, daß jede erklärende Psychologie eineKombination von Hypothesen zugrunde legt, welche sich durch das

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angegebene Merkmal zweifellos als solche kennzeichnen, indem sie andereMöglichkeiten nicht auszuschließen vermögen. Noch treten in ihr jedersolchen Hypothesenverbindung ein Dutzend andere gegenüber. Ein Kampfaller gegen alle tobt auf ihrem Gebiet, nicht minder heftig, als auf dem Feldder Metaphysik. Noch ist nirgends am fernsten Horizont etwas sichtbar, wasdiesen Kampf zu entscheiden die Kraft haben möchte. Zwar tröstet sie sichmit der Zeit, in welcher die lage der Physik und Chemie auch nicht besserschien; aber welche unermeßlichen Vorteile haben diese ihr voraus imStandhalten der Objekte, im freien Gebrauch des Experiments, in derMeßbarkeit der räumlichen Welt! Zudem hindert die Unlösbarkeit desmetaphysischen Problems vom Verhältnis der geistigen Welt zurkörperlichen die reinliche Durchführung einer sicheren Kausalerkenntnis aufdiesem Gebiet. So kann niemand sagen, ob dieser Kampf der Hypothesenjemals in der erklärenden Psychologie enden wird, und wann das geschehenmag.

So sind wir, wenn wir eine volle Kausalerkenntnis herstellen wollen, in einenNebel von Hypothesen gebannt, für welche die Möglichkeit ihrer Erprobungan den psychischen Tatsachen gar nicht in Aussicht steht. EinflußreicheRichtungen der Psychologie zeigen das deutlich. Eine Hypothese solcher Artist die Lehre vom Parallelismus der Nervenvorgänge und der geistigenVorgänge, nach welcher auch die mächtigsten, geistigen Tatsachen nurBegleiterscheinungen unseres körperlichen Lebens sind. Eine solche

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Hypothese ist die Zurückführung aller Bewußtseinserscheinungen aufatomartig vorgestellte Elemente, welche in gesetzlichen Verhältnissen aufeinander wirken. Eine solche Hypothese ist die mit dem Anspruch derKausalerklärung auftretende Konstruktion aller seelischen Erscheinungendurch die beiden Klassen der Empfindungen und der Gefühle, wodurch diebeiden Klassen der Empfindungen und der Gefühle, wodurch dann das inunserem Bewußtsein und unserer Lebensführung so mächtig auftretendeWollen zu einem sekundären Schein wird. Durch bloße Hypothesen werdendie höheren Seelenvermögen auf die Assoziation zurückgeführt. Durch bloßeHypothesen wird aus psychischen Elementen und den Prozessen zwischenihnen das Selbstbewußtsein abgeleitet. Nur Hypothesen besitzen wir überdie verursachenden Vorgänge, durch welche der erworbene, seelischeZusammenhang beständig unsere bewußten Prozesse des Schließens undWollens so mächtig und rätselhaft beeinflußt. Hypothesen, überall nurHypothesen! Und zwar nicht als untergeordnete Bestandteile, welche einzelndem wissenschaftlichen Gedankengang eingeordnet sind. Solche sind ja,wie wir sahen, unvermeidlich. Vielmehr Hypothesen, welche als Elemente derpsychologischen Kausalerklärung die Ableitung aller seelischenErscheinungen ermöglichen und sich an ihnen bewähren sollen.

Die Vertreter der erklärenden Psychologie pflegen ich nun zur Begründungeiner so umfassenden Anwendung von Hypothesen auf dieNaturwissenschaften zu berufen. Aber gleich hier am Beginn unserer

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Untersuchungen stellen wir den Anspruch der Geisteswissenschaften fest,ihre Methoden ihrem Objekt entsprechend selbständig zu bestimmen. DieGeisteswissenschaften müssen von den allgemeinsten Begriffen dergenerellen Methodenlehre aus durch das Probieren an ihren besonderenObjekten zu bestimmteren Verfahrensweisen und Prinzipien innerhalb ihresGebietes gelangen, wie es die Naturwissenschaften eben auch getan haben.Nicht dadurch erweisen wir uns als echte Schüler der großennaturwissenschaftlichen Denker, daß wir die von ihnen erfundenen Methodenauf unser Gebiet übertragen, sondern dadurch, daß unser Erkennen sich derNatur unserer Objekte anschmiegt und wir uns so zu diesem ganz soverhalten, wie sie zu dem ihrigen. Na tura pa rendo vi nc i tur [Die Naturkann nur dadurch besiegt werden daß man sich ihr unterwirft. - wp]. Nununterscheiden sich zunächst von den Naturwissenschaften dieGeisteswissenschaften dadurch, daß in jenen die Tatsachen von außen,durch die Sinne, als Phänomene und einzelne gegeben sind, wogegen sie indiesen von innen, als Realität und als ein lebendiger Zusammenhangoriginaliter auftreten. Hieraus ergibt sich für die Naturwissenschaften, daß inihnen nur durch ergänzende Schlüsse, mittels einer Verbindung vonHypothesen, ein Zusammenhang der Natur gegeben ist. Für dieGeisteswissenschaften folgt dagegen, daß in ihnen der Zusammenhang desSeelenlebens als ein ursprünglich gegebener überall zugrunde liegt. DieNatur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir. Denn in der innerenErfahrung sind auch die Vorgänge des Erwirkens, die Verbindungen der

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Funktionen als einzelner Glieder des Seelenlebens zu einem Ganzengegeben. Der erlebte Zusammenhang ist hier das Erste, das Dinstinguierender einzelnen Glieder desselben ist das Nachkommende. Dies bedingt einesehr große Verschiedenheit der Methoden, mittels derer wir Seelenlebenverstehen wir. Denn in der inneren Erfahrung sind auch die Vorgänge desErwirkens, die Verbindungen der Funktionen als einzelner Glieder desSeelenlebens zu einem Ganzen gegeben. Der erlebte Zusammenhang isthier das Erste, das Distinguieren der einzelnen Glieder desselben ist dasNachkommende. Dies bedingt eine sehr große Verschiedenheit derMethoden, mittels derer wir Seelenleben, Historie und Gesellschaft studierenvon denen, durch welche die Naturerkenntnis herbeigeführt worden ist. Fürdie Frage, welche hier erörtert wird, ergibt sich aus dem angegebenenUnterschied, daß Hypothesen innerhalb der Psychologie keineswegsdieselbe Rolle spielen als innerhalb des Naturerkennens. In diesem vollziehtsich aller Zusammenhang durch Hypothesen bildung, in der Psychologie istgerade der Zusammenhang ursprünglich und beständig im Erleben gegeben:Leben ist überall nur als Zusammenhang da. Die Psychologie bedarf alsokeiner durch Schlüsse gewonnenen untergelegten Begriffe, um überhaupteinen durchgreifenden Zusammenhang unter den großen Gruppen derseelischen Tatsachen herzustellen. So kann sie auch da, wo eine Klasse vonWirkungen innerlich bedingt und doch ohne Bewußtsein der innen wirksamenUrsachen auftritt, wie dies in der Reproduktion oder in der Beeinflussungbewußter Prozesse von dem unserem Bewußtsein entzogenen erworbenen

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seelischen Zusammenhang aus geschieht, die Beschreibung undZergliederung des Verlaufs solcher Vorgänge der großen kausalenGliederung des Ganzen unterordnen, welche von den inneren Erfahrungenaus festgestellt werden kann. Und darum ist sie auch nicht genötigt, wenn sieüber die Ursache solcher Vorgänge eine Hypothese bildet, dieselbegleichsam in die Fundamente der Psychologie einzumauern. Ihre Methode istvon denen der Physik oder Chemie gänzlich verschieden. Die Hypothese istnicht ihre unerläßliche Grundlage. Wenn also die erklärende Psychologie dieErscheinungen des Seelenlebens einer begrenzten Zahl eindeutigbestimmter Erklärungselemente von durchgehends hypothetischemCharakter unterordnet, so können wir nicht zugeben, daß dies von ihrenVertretern als das unvermeidliche Schicksal aller Psychologie aus derAnalogie der Rolle von Hypothesen im Naturerkennen begründet werdenkann. Zugleich besitzen aber Hypothesen auf psychologischem Gebietkeineswegs die Leistungsfähigkeit, welche sie im naturwissenschaftlichenErkennen bewährt haben. Die Tatsachen können auf dem Gebiet desSeelenlebens nicht zu der genauen Bestimmtheit erhoben werden, welchezur Erprobung einer Theorie durch den Vergleich ihrer Konsequenzen mitsolchen Tatsachen erforderlich ist. So ist an keinem entscheidenden Punktdie Ausschließung anderer Hypothesen, und die Bewahrheitung der übrigbleibenden Hypothese gelungen. Auf dem Grenzgebiet der Natur und desSeelenlebens haben Experiment und quantitative Bestimmung sich derHypothesenbildung in ähnlicher Weise als dienstbar erwiesen wie das im

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Naturerkennen der Fall ist. In den zentralen Gebieten der Psychologie istnichts hiervon zu bemerken. Insbesondere die für die konstruktivePsychologie so entscheidende Frage nach den ursächlichen Verhältnissen,welche die Beeinflussung bewußter Prozesse vom erworbenen seelischenZusammenhang her sowie die Reproduktion bedingen, ist ihrer Lösung nochum keinen Schritt durch alle bisherigen Anstrengungen näher geführt worden.Wie verschieden kann man Hypothesen kombinieren und dann doch ziemlichgleich gut oder schlecht aus ihnen die großen entscheidenden seelischenTatsachen, das Selbstbewußtsein, den logischen Vorgang und seineEvidenz oder das Gewissen ableiten! Die Vertreter einer solchenHypothesenverbindung haben das schärfste Auge für das, was ihr zurBestätigung dient und sie sind ganz blind für das, was ihr widerspricht. Hiergilt von der Hypothese, was SCHOPENHAUER irrtümlich von derselbenbehauptet: eine solche Hypothese führt im Kopf, in welchem sie einmal Platzgewonnen hat oder gar geboren ist, ein Leben, welches insofern dem einesOrganismus gleicht, als sie von der Außenwelt nur das ihr Gedeihliche undHomogene aufnimmt, hingegen das ihr Heterogene oder Verderblicheentweder gar nicht an sich heran kommen läßt oder, wenn es ihrunvermeidlich zugeführt wird, es ganz unversehrt wieder exzerniert[ausgeschieden - wp]. Daher haben solche Hypothesenverbindungen dererklärenden Psychologie keine Aussicht zu einem Rang, dennaturwissenschaftliche Theorien einnehmen, jemals erhoben zu werden. Solegen wir uns die Frage vor, ob nicht ein anderes Verfahren in der

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Psychologie - wir werden es als das beschreibende und zergliederndebezeichnen - die Fundierung unseres Verständnisses von allem Seelenlebenauf einen Inbegriff von Hypothesen vermeiden kann.

Denn die Herrschaft der erklärenden oder konstruktiven Psychologie, welchemit Hypothesen nach Analogie des Naturerkennens wirtschaftet, hataußerordentlich nachteilige Folgen für die Entwicklung derGeisteswissenschaften. Es scheint heute den positiven Forschern auf diesenGebieten entweder notwendig, auf jede psychologische Grundlegung zuverzichten oder sich alle Nachteile der erklärenden Psychologie gefallen zulassen. So ist dann die gegenwärtige Wissenschaft in folgendes Dilemmageraten, das außerordentlich viel beigetragen hat zur Steigerung desskeptischen Geistes und der äußerlichen, unfruchtbaren Empirie, wie auchder zunehmenden Trennung des Lebens vom Wissen. Entweder bedienensich die Geisteswissenschaften der in der Psychologie dargebotenenGrundlagen und erhalten dann hierdurch einen hypothetischen Charakter,oder sie versuchen, ohne die Grundlage irgendeiner wissenschaftlichgeordneten Übersicht über die seelischen Tatsachen, nur gestützt auf diezweideutige und subjektive Psychologie des Lebens, ihre Aufgaben zu lösen.Im ersteren Fall aber teilt die erklärende Psychologie ihren gänzlichhypothetischen Charakter der Erkenntnistheorie und denGeisteswissenschaften mit.

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Erkenntnistheorie und Geisteswissenschaften können in Bezug auf dasBedürfnis psychologischer Begründung, trotz eines erheblichen Unterschiedsim Hinblick auf den Umfang wie der Tiefe dieser Begründung, dochzusammengestellt werden. Zwar hat die Erkenntnistheorie imZusammenhang der Wissenschaften einen ganz anderen Ort als dieGeisteswissenschaften. Unmöglich kann ihre eine Psychologievorausgeschickt werden. Dennoch besteht in anderer Form auch für siedasselbe Dilemma. Kann sie unabhängig von psychologischenVoraussetzungen gestaltet werden? Und falls dies nicht der Fall wäre: waswürde die Folge davon sein, wenn ie auf eine erklärende Psychologiegegründet würde? Entstand doch die Erkenntnistheorie aus dem Bedürfnis,im Ozean metaphysischer Fluktuationen ein Stück festen Landes,allgemeingültige Erkenntnis irgendwelchen Umfangs zu sichern: sie würdenun unsicher und hypothetisch: so würde sie selber ihren Zweck vereiteln. Sobesteht dasselbe unglückselige Dilemma für die Erkenntnistheorie, wie es fürdie Geisteswissenschaften besteht.

Die Ge i s teswi ssenscha ften suchen gerade für die Begriffe undSätze, mit welchen sie zu operieren genötigt sind, eine feste, allgemeingültige Grundlage. Sie haben eine nur zu berechtigte Abneigung gegenphilosophische Konstruktionen, welche dem Streit unterliegen und so in dieempirischen Analysen und Vergleiche diesen Streit hineintragen. Daher ist inweiten Kreisen die gegenwärtige Tendenz der Jurisprudenz, der politischen

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Ökonomie wie der Theologie, psychologische Grundlegungen gänzlichauszuscheiden. Jede von ihnen versucht, aus der empirischen Verknüpfungder Tatsachen und der Regeln oder Normen in ihrem Wissensgebiet einenZusammenhang herzustellen, dessen Analysis alsdann gewissedurchgehende Elementarbegriffe und elementare Sätze ergeben würde, alsder betreffenden Geisteswissenschaft zugrunde liegend. Wie die Lage dererklärenden Psychologie ist, können sie nicht anders, sofern sie denvielfachen Untiefen und Strudeln der erklärenden Psychologie entgehenwollen. Indem sie nun aber den philosophischen Strudeln der Charybdisentfliehen, geraten sie auf die Klippe der Scylla, nämlich einer öden Empirie.

Es bedarf keines Beweises, daß die erklärenden Psychologie, sofern sie nurauf Hypothesen begründet werden kann, welche nicht fähig sind zum Rangeiner überzeugenden, die anderen Hypothesen ausschließenden Theorieerhoben zu werden, ihre Unsicherheit den Erfahrungswissenschaften desGeistes, welche sich auf sie stützen würden, notwendig mitteilen müßte. Unddaß jede erklärende Pspychologie solcher Hypothesen zu ihrer Begründungbedarf, das eben wird einen Hauptgegenstand unserer Beweisführungausmachen. Aber das mun nun an dieser Stelle bewiesen werden, daß jederVersuch, eine Erfahrungswissenschaft des Geistes ohne Psychologieherzustellen, ebenfalls unmöglich zu einem benutzbaren Ergebnis führenkann.

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Eine Empirie, welche auf die Begründung dessen, was im Geiste geschieht,aus dem verstandenen Zusammenhang des geistigen Lebens verzichtet, istnotwendig unfruchtbar. Dies kann an jeder einzelnen Geisteswissenschaftnachgewiesen werden. Jede von ihnen bedarf psychologischer Erkenntnisse.So kommt jede Analyse der Tatsache "Religion" auf Begriffe wie Gefühl,Wille, Abhängigkeit, Freiheit, Motiv, welche nur in einem psychologischenZusammenhang aufgeklärt werden können. Sie hat es mit Zusammenhängendes Seelenlebens zu tun, da in diesem das Gottesbewußtsein entsteht undKraft gewinnt. Diese aber sind durch einen allgemeinen, regelmäßigenseelischen Zusammenhang bedingt und nur von ihm aus verständlich. DieJurisprudenz hat in Begriffen wie "Norm", "Gesetz", "Zurechnungsfähigkeit"psychische Zusammensetzungen vor sich, welche eine psychologischeAnalyse erfordern. Sie kann den Zusammenhang, in welchem einRechtsgefühl entsteht, oder den, in welchem Zwecke im Recht wirksamwerden und die Willen dem Gesetz unterworfen werden, unmöglichdarstellen, ohne ein klares Verständnis des regelmäßigen Zusammenhangsin jedem Seelenleben. Die Staatswissenschaften, welche es mit der äußerenOrganisation der Gesellschaft zu tun haben, finden in jedemVerbandsverhältnis die psychischen Tatsachen von Gemeinschaft,Herrschaft und Abhängigkeit. Diese fordern eine psychologische Analyse.Geschichte und Theorie von Literatur und Kunst findet sich überall auf diezusammengesetzten ästhetischen Grundstimmungen des Schönen,Erhabenen, Humoristischen oder Lächerlichen zurückgeführt. Dieselben

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bleiben dem Literaturhistoriker ohne psychische Analyse dunkle und toteVorstellungen. Er kann das Leben keines Dichters verstehen ohne Kenntnisder Prozesse der Einbildungskraft. Es ist so, und keine Absperrung derFächer kann es verhindern: wie die Systeme der Kultur: Wirtschaft, Recht,Religion, Kunst und Wissenschaft, wie die äußere Organisation derGesellschaft in den Verbänden der Familie, der Gemeinden, der Kirche, desStaates aus dem lebendigen Zusammenhang der Menschenseelehervorgegangen sind, so können sie schließlich auch nur aus diesemverstanden werden. Psychische Tatsachen bilden ihren wichtigstenBestandteil, ohne psychische Analyse können sie also nicht eingesehenwerden. Sie enthalten Zusammenhang in sich, weil Seelenlebenn einZusammenhang ist. So bedingt das Verständnis dieses innerenZusammenhangs in uns überall ihre Erkenntnis. Sie konnten als eineübergreifende Macht über den Einzelnen nur entstehen, weil Gleichförmigkeitund Regelmäßigkeit im Seelenleben besteht und eine gleiche Ordnung fürdie vielen Lebenseinheiten ermöglicht. (1)

Und wie die Entwicklung der einzelnen Geisteswissenschaften an dieAusbildung der Psychologie gebunden ist, so kann auch die Verbindungderselben zu einem Ganzen ohne Verständnis des seelischenZusammenhangs, in welchem sie verbunden sind, nicht herbeigeführtwerden. Ohne die Beziehungen auf den psychischen Zusammenhang, inwelchem ihre Verhältnisse gegründet sind, sind die Geisteswissenschaften

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ein Aggregat, ein Bündel, aber kein System. Jede noch so rohe Vorstellungvon ihrer Verbindung untereinander beruth auf irgendeiner rohen Vorstellungvom Zusammenhang der seelischen Erscheinungen. Die Verbindungen, inwelchen Wirtschaft, Recht, Religion, Kunst, Wissen untereinander und mit deräußeren Organisation der menschlichen Gesellschaft stehen, können dochnur aus dem umfassenden, gleichförmigen seelischen Zusammenhangverständlich gemacht werden, aus dem sie nebeneinander entsprungen sindund kraft dessen sie in jeder psychischen Lebenseinheit zusammenbestehen, ohne sich gegenseitig zu verwirren oder zu zersetzen.

Dieselbe Schwierigkeit lastet auf der E rkenntni s theo r i e . Eine durchden Scharfsinn ihrer Vertreter hervorragende Schule fordert die völligeUnabhängigkeit der Erkenntnistheorie von der Psychologie. Sie behauptet,daß in KANTs Vernunftkritik diese Emanzipation der Erkenntnistheorie vonder Psychologie durch eine besondere Methode im Prinzip vollzogen ist.Diese Methode will sie entwickeln. Hierin scheint ihr die Zukunft derErkenntnistheorie zu liegen.

Aber augenscheinlich können die geistigen Tatsachen, welche den Stoff derErkenntnistheorie bilden, nicht ohne den Hintergrund irgendeiner Vorstellungdes seelischen Zusammenhangs miteinander verbunden werden. KeineZauberkunst einer transzendentalen Methode kann dieses insich Unmöglichemöglich machen. Kein Zauberwort aus der Schule KANTs kann hier helfen.

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Der Schein, dies leisten zu können, beruth schließlich darauf, daß derErkenntnistheoretiker in seinem eigenen lebendigen Bewußtsein diesenZusammenhang besitzt und aus ihm denselben in seine Theorie überträgt. Ersetzt ihn voraus. Er bedient sich seiner. Aber er kontrolliert ihn nicht. Daherschieben sich ihm notwendig aus dem Sprachkreis und dem Gedankenkreisder Zeit Deutungen dieses Zusammenhangs in psychologischen Begriffenunter. So ist es gekommen, daß die Grundbegriffe der Vernunftkritik KANTs

durchweg einer bestimmten psychologischen Schule angehören. Dieklassifizierende Vermögenslehre der Zeit KANTs hatte die hartenSonderungen, das trennende Fächerwerk in seiner Vernunftkritik zur Folge.Ich mache dies deutlich an seinen Sonderungen von Anschauen und Denkensowie von Stoff und Form des Erkennens. Beide Sonderungen, so hart wiesie bei KANT dastehen, zerreissen einen lebendigen Zusammenhang.

KANT legte auf keine seiner Entdeckungen ein größeres Gewicht, als aufseine scharfe S onderung von Natur und den Prinzipien des A nschauens und des D enkens . Aber in dem, was er "Anschauung"nennt, wirken überall Denkvorgänge oder ihnen äquivalente Akte mit. So dasUnterscheiden, Abmessen von Grade, Gleichsetzen, Verbinden und Trennen.Daher hat man es hier nur mit verschiedenen Stufen im Wirken derselbenProzesse zu tun. Dieselben elementaren Prozesse von Assoziation,Reproduktion, Vergleichung, Unterscheiden, Abmessung der Grade,Trennung und Verbindung, des Absehens vom Einen und Herausheben des

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Anderen, worauf dann die Abstraktion beruth, wirken in der Ausbildungunserer Wahrnehmungen, unserer reproduzierten Bilder, der geometrischenGestalten, der Phantasievorstellungen, welche dann auch in unseremdiskursiven Denken walten. Diese Prozesse bilden das weite undunermeßlich fruchtbare Gebiet des schweigenden Denkens. Die formalenKategorien sind aus solchen primären logischen Funktionen abstrahier. KANT

hätte daher auch nicht nötig gehabt, diese Kategorien aus dem diskursivenDenken abzuleiten. Und alles diskursive Denken kann als eine höhere Stufedieser schweigenden Denkvorgänge dargestellt werden.

Ebenso kann die in KANTs System durchgeführte Trennung von S to ff und F o rm der Erkenntnis heute nicht mehr so festgehalten werden. Vielwichtiger als diese Trennung sind die inneren Beziehungen, welche zwischender Mannigfaltigkeit der Empfindungen, als dem Stoff unserer Erkenntnis,und der Form, in welcher wir diesen Stoff auffassen, überall bestehen. Wirbesitzen gleichzeitige voneinander verschiedene Töne zugleich, und wirvereinigen sie im Bewußtsein, ohne daß wir ihr Auseinander in einemNebeneinander auffassen. Dagegen können wir eine Mehrheit von Tast- oderGesichtsempfindungen immer nur in einem Nebeneinander zusammenbesitzen. Können wir doch nicht einmal zwei Farben zusammn undgleichzeitig anders als in einem Nebeneinander vorstellen. Ist nunaugenscheinlich bei dieser Nötigung, im Nebeneinander zu besitzen, dieNatur der Gesichtseindrücke und der Tastempfindungen im Spiel? Ist also

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hier nicht höchst wahrscheinlich durch die Natur des Empfindungsstoffs dieForm seiner Zusammenfassung bedingt? Wie ergänzungsbedürftig KANTs

Lehre von Stoff und Form des Erkennens ist, zeigt auch folgendeBetrachtung. Eine Mannigfaltigkeit von Empfindungen als bloßer Stoffschließt an jedem Punkt Unterschiede, etwa Verhältnisse und Abstufungenvon Farben gegeneinander ein. Diese Unterschiede und Grade bestehenaber nur für ein zusammenhaltendes Bewußtsein; daher muß die Form dasein, damit der Stoff da sein kann, so wie dann natürlich Stoff da sein muß,wenn Form auftreten soll. Es wäre ja auch ganz unverständlich, wiepsychische Stoffelemente durch das Band eines vereinigenden Bewußtseinsvon außen verknüpft werden sollten. (2)

So wird man immer auch in der Erkenntnistheorie der willkürlichen undstückweisen Einführung psychologischer Ansichten nur dadurch entgehen,daß man ihr mit wissenschaftlichem Bewußtsein eine klare Auffassung desseelischen Zusammenhangs zugrunde legt. Man wird die zufälligen Einflüsseirriger Psychologien in der Erkenntnistheorie nur los werden, wenn es gelingt,ihr gültige Sätze über den Zusammenhang des Seelenlebens zur Verfügungzu stellen. Allerdings wäre untunlich, der Erkenntnistheorie eine durchgeführtebeschreibende Psychologie als Grundlage vorauszusenden. Andererseits istaber die voraussetzungslose Erkenntnistheorie eine Jllusion.

So könnte man sich zunächst das Verhältnis zwischen Psychologie und

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Erkenntnistheorie folgendermaßen vorstellen. In derselben Weise, in welchersie allgemeingültige und sichere Sätze auch aus anderen Wissenschaftenentnimmt, könnte die Erkenntnistheorie aus der beschreibenden undanalysierenden Psychologie einen solchen Zusammenhang von Sätzenentnehmen, wie sie ihn bedarf und wie er keinem Zweifel ausgesetzt ist. Einkunstvolles logisches Gespinst, von innen herausgesponnen und nunbodenlos in der leeren Luft schwebend - glaubt man, daß ein solchesSpinngewebe sicherer und fester sein wird als eine Erkenntnistheorie,welche sich allgemeingültiger und fester Sätze bedient, die ausAnschauungen in den Einzelwissenschaften schon abgeleitet und bewährtsind? Kann etwa eine Erkenntnistheorie vorgezeigt werden, welche nichtstillschweigend oder ausdrücklich solche Anleihen macht? Nur darauf kannes ankommen, ob die entliehenen Sätze die Probe der Allgemeingültigkeit,der strengsten Evidenz bestanden haben, deren Begriff dann freilich seinenSinn und die Rechtfertigung seiner Anwendung rückwärts in den Grundlagender Erkenntnistheorie, die schließlich in der inneren Erfahrung liegen, findenmuß. Darum allein könnte es sich also zunächst auch bei der Aufnahmepsychologischer Sätze handeln. Es wäre demnach nur die Frage, ob solcheSätze ohne Hypothesenpsychologie geliefert werden können. Schon diesführt auf das Problem einer Psychologie, in welcher die Hypothesen nichtdieselbe Rolle spielen, wie es in der jetzt herrschenden erklärendenPsychologie der Fall ist.

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Aber das Verhältnis der Psychologie zur Erkenntnistheorie ist noch einanderes, als das irgendeiner anderen Wissenschaft zu dieser, selbst der vonKANT vorausgesetzten Mathematik, mathematischen Naturwissenschaft undLogik. Der Seelische Zusammenhang bildet den Untergrund desErkenntnisprozesses, und der Erkenntnisprozeß kann auch nur in diesemseelischen Zusammenhang studiert und nach seinem Vermögen bestimmtwerden. Nun sahen wir aber darin schon den methodischen Vorzug derPsychologie, daß ihr unmittelbar, lebendig, als erlebte Realität der seelischeZusammenhang gegeben ist. Das Erlebnis desselben liegt allem Auffassender geistigen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Tatsachen zugrunde.Mehr oder weniger aufgeklärt, zergliedert, erforscht. Die Geschichte derWissenschaften des Geistes hat eben diesen erlebten Zusammenhang zuihrer Grundlage, und sie erhebt ihn schrittweise zu einem klarerenBewußtsein. Von hier aus kann nun auch das Problem des Verhältnisses derErkenntnistheorie zur Psychologie aufgelöst werden. Im lebendigenBewußtsein und der allgemeingültigen Beschreibung dieses seelischenZusammenhangs ist die Grundlage der Erkenntnistheorie enthalten. Einervollendeten, durchgeführten Psychologie bedarf die Erkenntnistheorie nicht,aber alle durchgeführte Psychologie ist doch nur die wissenschaftlicheVollendung dessen, was auch den Untergrund der Erkenntnistheorie bildet.Erkenntnistheorie ist Psychologie in Bewegung, und zwar sich nach einembestimmten Ziel hin bewegend. In der Selbstbesinnung, welche den ganzenunverstümmelten Befund des seelischen Lebens umfaßt, hat sie ihre

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Grundlage: Allgemeingültigkeit, Wahrheit, Wirklichkeit werden von diesemBefund aus erst nach ihrem Sinn bestimmt.

Ziehen wir das Fazit. Was von der Psychologie zu fordern war und was denKern ihrer eigentümlichen Methode ausmacht: beides weist uns in dieselbeRichtung. Aus allen dargelegten Schwierigkeiten kann uns allein dieAusbildung einer Wissenschaft befreien, welche ich, gegenüber dererklärenden oder konstruktiven Psychologie, als beschreibende undzergliedernde bezeichnen will. Ich verstehe unter beschreibenderPsychologie die Darstellung der in jedem entwickelten menschlichenSeelenleben gleichförmig auftretenden Bestandteile und Zusammenhänge,wie sie in einem einzigen Zusammenhang verbunden sind, der nichthinzugedacht oder erschlossen, sondern e r leb t wird. Diese Psychologieist also Beschreibung und Analysis eines Zusammenhangs, welcherursprünglich und immer als das Leben selbst gegeben ist. Hieraus ergibtsich eine wichtige Folgerung. Sie hat die Regelmäßigkeiten imZusammenhang des entwickelten Seelenlebens zum Gegenstand. Sie stelltdiesen Zusammenhang des inneren Lebens in einem typischen Menschendar. Sie betrachtet, analysiert, experimentier und vergleicht. Sie bedient sichjedes möglichen Hilfsmittels zur Lösung ihrer Aufgabe. Aber ihre Bedeutung,in der Gliederung der Wissenschaften, beruth eben darauf, daß jeder von ihrbenutzte Zusammenhang durch innere Wahrnehmung eindeutig verifziertwerden kann und daß jeder solche Zusammenhang als Glied des

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umfassenderen aufgezeigt werden kann, der nicht erschlossen, sondernursprünglich gegeben ist.

Was ich als beschreibende und zergliedernde Psychologie bezeichne, hatnoch einer anderen Anforderung zu genügen, welche in den Bedürfnissen derGeisteswissenschaften und der Leitung des Lebens durch sie enthalten ist.

Die Gleichförmigkeiten, welche den Hauptgegenstand der Psychologieunseres Jahrhunderts ausmachen, beziehen sich auf die Formen des innerenGeschehens. Die mächtige inhaltliche Wirklichkeit des Seelenlebens reichtüber diese Psychologie hinaus. In den Werken der Dichter, in denReflexionen über das Leben, wie große Schriftsteller, ein SENECA, MARC

AUREL, AUGUSTIN, MACHIAVELLI, MONTAIGNE, PASCAL sie ausgesprochenhaben, ist ein Verständnis des Menschen in seiner ganzen Wirklichkeitenthalten, hinter welchem alle erklärende Psychologie weit zurückbleibt. Aberin der ganzen reflektierenden Literatur, welche die volle Wirklichkeit desMenschen erfassen möchte, macht sich nun bis auf diesen Tag, neben ihrerinhaltlichen Überlegenheit, das Unvermögen zur systematischen Darstellunggeltend. Wir finden uns durch einzelne Reflexionen bis ins innerste Herzgetroffen. Die Tiefe des Lebens selbst scheint sich in ihnen aufzuschließen.Sobald wir aber aus denselben einen klaren Zusammenhang herzustellenstreben, versagen sie. Von solchen Reflexionen ist die Weisheit der Dichterüber den Menschen und über das Leben ganz verschieden, welche nur durch

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Gestalten und Fügungen von Schicksalen, hier und da höchstens blitzartigdurch die Reflexion erleuchtet, zu uns redet. Aber auch sie enthält keinenfaßbaren allgemeinen Zusammenhang des Seelenlebens. Man hört bis zurErmüdung, daß in Lea r, Hamle t und Macbe th mehr Psychologiesteckt, als in allen psychologischen Lehrbüchern zusammen. Möchten unsdoch diese Fanatiker der Kunst uns einmal die in solchen Werkeneingewickelte Psychologie enthüllen! Versteht man unter Psychologie eineDarstellung des regelmäßigen Zusammenhangs des Seelenlebens, soenthalten die Werke der Dichter gar keine Psychologie; es steckt auch garkeine unter irgendeiner Hülle darin, und durch keinen Kunstgriff kann ihneneine solche Lehre von den Gleichförmigkeiten der seelischen Prozesseentlockt werden. Wohl aber liegt nun in der Art, wie die großen Schriftstellerund Dichter über das Menschenleben handeln, für die Psychologie eineAufgabe und ein Stoff. Hier ist das intuitive Verständnis des ganzenZusammenhangs, welchem auf ihrem Weg die Psychologie sichverallgemeinernd und abstrakt ebenfalls zu nähern hat. Man wünscht sicheine Psychologie, welche in das Netz ihrer Beschreibungen einzufangenvermöchte, was diese Dichter und Schriftsteller mehr enthalten als diebisherige Seelenlehre; eine Psychologie, welche eben die Gedanken, dieAUGUSTIN, PASCAL oder LICHTENBERG durch eine einseitige grelleBeleuchtung so eindringlich machen, in einem allgemeingültigenZusammenhang erst für das menschliche Wissen nützlich machte; und nureine beschreibende und zergliedernde Psychologie kann sich der Lösung

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dieser Aufgabe annähern; nur in ihrem Rahmen ist die Lösung dieserAufgabe möglich. Denn sie geht vom erlebten, ursprünglich und mitunmittelbarer Mächtigkeit gegebenen Zusammenhang aus; sie legt auch dasnoch der Zergliederung Unzugängliche unverstümmelt dar.

Fassen wir alle diese Bestimmungen zusammen, welche wir nacheinander inBezug auf eine solche beschreibende und zergliedernde Psychologiegegeben haben, so wird schließlich auch die Bedeutung klar, welche dieLösung dieser Aufgabe auch für die erklärende Psychologie haben würde.Diese erhielte in der beschreibenden ein festes deskriptives Gerüst, einebestimmte Terminologie, genaue Analysen und ein wichtiges Hilfsmittel derKontrolle für ihre hypothetischen Erklärungen.

Zwe i tes K ap i te lDie Unterscheidung der erklärenden

und der beschreibenden Psychologie

Die Unterscheidung einer beschreibenden und einer erklärendenPsychologie ist nicht neu. Mehrmals in der Geschichte der modernenPsychologie ist der Versuch wiedergekehrt, zwei einander ergänzendeBehandlungsweise derselben durchzuführen. CHRISTIAN WOLFF sah in derSonderung der rationalen und empirischen Psychologie einen besonderenRuhmestitel seiner Philosophie (3). Die empirische Psychologie ist nach ihm

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die Erfahrungswissenschaft, welche von dem, was in der menschlichenSeele ist, Kenntnis gewährt. Sie kann mit der Experimentalphysik verglichenwerden. (Deutsche Logik, § 152, Nachr. v. s. Schriften, Seite 232). Sie setztdie rationale Psychologie nicht voraus, sie setzt überhaupt keine andereWissenschaft voraus. Vielmehr dient sie der Prüfung und Bestätigungdessen, was die rationale Psychologie a priori entwickelt (Psychologiaempirica, § 1, 4, 5). Die rationale Psychologie wird von ihm auch als dieerklärende bezeichnet (Psychologia rationalis, § 4). Sie hat ihreErfahrungsgrundlage in der empirischen. Sie entwickelt unter Beihilfederselben a priori aus der Ontologie und Kosmologie das, was durch diemenschliche Seele möglich ist. Und wie sie an der empirischen ihreErfahrungsgrundlage besitzt, so hat sie auch an derselben ihre Kontrolle (Ps.emp. § 5). Nun wies zwar KANT die Unmöglichkeit einer rationalenPsychologie nach: dennoch blieb von diesen Sätzen WOLFFs als wertvollerKern die Unterscheidung eines beschreibenden und eines erklärendenVerfahrens und die Einsicht, daß die beschreibende Psychologie dieErfahrungsgrundlage und Kontrolle der erklärenden ist.

Innerhalb der HERBART'schen Schule bildete dann THEODOR WAITZ dieseUnterscheidung in einem modernen Sinn fort. Er hatte 1849 in seinerPsychologie als Naturwissenschaft die Methode dieses Werkes dahinbestimmt, daß es die in der Erfahrung gegebenen psychischenErscheinungen mittels der ihnen angemessenen Hypothesen erklärt; so hatte

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er zuerst in Deutschland eine erklärende Psychologie nach modernemnaturwissenschaftlichen Zuschnitt begründet: nun stellte er 1852 in der "KielerMonatsschrift" dieser erklärenden Psychologie den Plan einerbeschreibenden zur Seite. Er begründet diese Unterscheidung durch die inder Naturerkenntnis bestehende Sonderung der deskriptiven undtheoretischen Wissenschaften. Die deskriptive Psychologie hat,entsprechend den Wissenschaften des organischen Lebens, zu ihrenmethodischen Hilfsmitteln: Beschreibung, Analyse, Classification,Vergleichung und Entwicklungslehre; insbesondere hat sie sich alsvergleichende Psychologie und psychische Entwicklungslehre auszubilden.Die erklärende oder naturwissenschaftliche Psychologie arbeitet mit demMaterial, das die beschreibende liefert, an demselben erforscht sie dieallgemeinen Gesetze, welche die Entwicklung und den Verlauf despsychischen Lebens beherrschen, und sie stellt dieAbhängigkeitsverhältnisse dar, in denen das Seelenleben zu seinemOrganismus und der Außenwelt steht; so besteht sie in einer erklärendenWissenschaft des Seelenlebens und in einer Wissenschaft von derWechselwirkung zwischen ihm, dem Organismus und der Außenwelt: wirwürden heute sagen einer P sychophys i k . Und nun bestimmt erschließlich: "Die Klarheit der wissenschaftlichen Behandlung ist wesentlichdavon abhängig, in welcher Schärfe und Reinheit diese Teilung derAufgaben durchgeführt und festgehalten wird." Sein großes Werke über dieAnthropologie der Naturvölker war ein Teil der damals von ihm geplanten

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Arbeiten über beschreibende Psychologie. Innerhalb der HERBART'schen

Schule hat dann auch DROBISCH sich dieser Sonderung bedient, neben seinemathematische Psychologie hat er die meisterhafte empirische gestellt,deren Beschreibungen noch heute wertvoll sind.

So hielt WAITZ nicht nur an den Einsichten WOLFFs fest, er machte auchinfolge der Ausscheidung des Metaphysischen aus der erklärendenPsychologie mehrere wichtige Fortschritte in der Bestimmung desVerhältnisses beider Darstellungen zueinander. Er erkannte, daß dieElemente der Erklärung, von denen die naturwissenschaftliche Psychologieausgeht, den Charakter von Hypothesen haben, ja er sprach aus, daß dieerklärende Psychologie nur "die Mög li chke i t zeigen kann, daß durchdas Zusammenwirken der angegebenen Elemente nach einer allgemeinenGesetzmäßigkeit sich gerade solche komplizierte, psychischeErscheinungen bilden, wie wir sie mittels der Beobachtung in uns finden"(Psychologie, Seite 26). Ihm ging auch schon die außerordentlicheAusdehnung der Hilfsmittel einer beschreibenden Psychologie auf:vergleichendes Studium, welches das Seelenleben der Tiere, derNaturvölker, die seelischen Veränderungen im Fortschritt der Kultur benutzt:Entwicklungsgeschichte der Individuen und der Gesellschaft. Und ohne nocheinen Blick rückwärts auf die Lehrbücher der HERBART'schen Schule zuwerfen, drang er auf der hohen See der Anthropologie der Naturvölker undder unermeßlichen Religionsgeschichte vorwärts: ein kühner beharrlicher

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Entdecker, dem nur zu früh sein Ziel gesetzt wurde; sonst hätte er nebenLOTZE und FECHNER in der Geschichte der modernen Psychologie einen ganzanderen Einfluß gewonnen, als der ihm nun zuteil geworden ist.

Zwei Gesichtspunkte scheinen mir eine weitere Umformung desVerhältnisses der beschreibenden zur erklärenden Psychologie über WAITZ

hinaus zu fordern.

Die erklärende Psychologie entstand aus der Zergliederung derWahrnehmung und der Erinnerung. Ihren Kern bildeten von Anfang anEmpfindungen, Vorstellungen, Lust- und Unlust gefühle als Elemente, sowiedie Prozesse zwischen diesen Elementen, insbesondere der Prozeß derAssoziation, zu welchem dann als weitere erklärende Vorgänge die A pperzep t i on und V e rschme lzung hinzutraten. So hat sie gar nichtdie ganze volle Menschennatur und deren inhaltlichen Zusammenhang zumGegenstand. daher stellte ich zu einer Zeit, in welcher diese Grenzen dererklärenden Psychologie noch schroffer als heute hervortraten, ihr den Begriffeiner Realpsychologie gegenüber (1865, NOVALIS, "Preußische Jahrbücher",Bd. 15, Seite 622), deren Beschreibungen die ganze Totalität desSeelenlebens, die in ihr bestehenden Zusammenhänge, und zwar nebenihren Formen auch ihre Inhaltlichkit zur Auffassung brächte. DieserInhaltlichkeit gehören Tatsachen an, deren Härte bisher keine überzeugendeZergliederung aufzulösen vermocht hat. Solche sind innerhalb unseres

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Gefühls- und Trieblebens das Streben nach Erhaltung und Erweiterungunseres Selbst, innerhalb unseres Erkennens der Charakter vonNotwendigkeit in gewissen Sätzen, und im Umkreis unsererWillenshandlungen das Sollen oder die absolut im Bewußtsein auftretendenNormen. Es bedarf einer psychologischen Systematik, in welcher die ganzeInhaltlichkeit des Seelenlebens Raum findet. So reicht dann auch diemächtige Wirklichkeit des Lebens, wie die großen Schriftsteller und Dichtersie aufzufassen bestrebt waren und sind, über die Grenzen unsererSchulpsychologie hinaus. Was dort intuitiv, im dichterischen Symbol, ingenialen Blicken ausgesprochen ist, muß eine solche den ganzen Inhalt desSeelenlebens beschreibende Psychologie festzustellen, an seinem Ortdarzustellen und zu zergliedern versuchen.

Daneben macht sich für den, der sich mit dem Zusammenhang derGeisteswissenschaften beschäftigt, ein anderer Gesichtspunkt geltend.Diese bedürfen einer Psychologie, welche vor allem fest und sicher ist, wasniemand der jetzigen erklärenden Psychologie nachrühmen kann, welchezugleich aber die ganze mächtige Wirklichkeit des Seelenlebens zurBeschreibung und, soweit möglich, zur Analysis bringt. Denn die Analyse derso komplexen gesellschaftlichen und geschichtlichen Wirklichkeit kann nurausgeführt werden, wenn diese Wirklichkeit zunächst in die einzelnenZwecksysteme zerlegt wird, aus denen sie besteht; jedes dieserZwecksysteme, wie Wirtschaftsleben, Recht, Kunst und Religion, gestattet

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dann vermöge seiner Homogeneität eine Zergliederung seinesZusammenhangs. Dieser Zusammenhang in einem solchen System ist aberkein anderer als der seelische Zusammenhang in den Menschen, welche indemselben zusammenwirken. Dementsprechend ist er schließlich einpsychologischer. Er kann daher nur von einer Psychologie verstandenwerden, welche gerade die Analysis dieser Zusammenhänge in sich faßt,und das Ergebnis einer solchen Psychologie ist für den Theologen, Juristen,Nationalökonomen oder Literaturhistoriker nur dann benutzbar, wenn nichtein Element von Unsicherheit, von Einseitigkeit, von wissenschaftlicherParteiung aus dieser Psychologie in die Erfahrungswissenschaften desGeistes dringt.

Offenbar stehen die beiden dargelegten Gesichtspunkte in einer innerenBeziehung zueinander. Die Betrachtung des Lebens selber fordert, daß dieganze unverstümmelte und mächtige Wirklichkeit der Seele von ihrenniedrigsten bis zu ihren höchsten Möglichkeiten gelant. Dies liegt innerhalbder Forderungen, welche die Psychologie selber an sich stellen muß, wennsie nicht hinter Lebenserfahrung und dichterischer Intuition zurückbleiben will.Eben dasselbe fordern die Geisteswissenschaften. In ihrer psychologischenGrundlegung müssen alle psychischen Kräfte, alle psychischen Formen, vonden niedrigsten bis zu den höchsten, bis zum religiösen Genius, bis zumReligionsstifter, dem geschichtlichen Heldung und dem künstlerischenSchöpfer, welche die Geschichte und die Gesellschaft vorwärts bewegen,

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ihre Darstellung und gleichsam ihre Lokalisierung finden. Und gerade indemman die Aufgabe so bestimmt, öffnet sich der Psychologie ein Weg, welchereinen viel höheren Grad an Sicherheit verspricht, als derjenige ist, den dieerklärende Psychologie nach ihrer Methode erreichen kann. Man gehe voneinem entwickelten Kulturmenschen aus. Man beschreibe denZusammenhang seines Seelenlebens, man lasse die hauptsächlichstenErscheinungen desselben mit allen Hilfsmitteln künstlerischerVergegenwärtigung so deutlich wie möglich sehen, man analysiere die indiesem umfassenden Zusammenhang enthaltenen Einzelzusammenhängetunlichst genau. Man gehe in dieser Zergliederung soweit wie möglich, manlasse das, was der Zergliederung widersteht, sehen wie es ist, man gebe vondem, dessen Zusammensetzung wir tiefer durchblicken können, dieErklärung seiner Entstehung, jedoch mit Angabe des Grades von Gewißheit,die dieser Erklärung zukommt, man ziehe überall vergleichende Psychologie,Entwicklungsgeschichte, Experiment, Analysis der geschichtlichen Produktehinzu: dann wird die Psychologie das Werkzeug des Historikers, desNationalökonomen, des Politikers und Theologen werden; dann wird sieauch den Menschenbeobachter und den Praktiker leiten können.

Von diesen Gesichtspunkten aus gestaltet sich nun der Begriff dererklärenden Psychologie, der Begriff der beschreibenden und das Verhältnisdieser beiden Darstellungen des Seelenlebens zueinander in der von dennächsten Kapitel bestimmten Weise.

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D ri t tes K ap i te lDie erklärende Psychologie

Wir verstehen unter erklärender Psychologie im Folgenden die Ableitung derin der inneren Erfahrung, dem Versuch, dem Studium anderer Menschen undder geschichtlichen Wirklichkeit gegebenen Tatsachen aus einer begrenztenZahl von analytisch gefundenden Elementen. Unter Element wird dann jederBestandteil der psychologischen Grundlegung, welcher zur Erklärung derseelischen Erscheinungen gebraucht wird, verstanden. Dementsprechend istder Kausalzusammenhang der seelischen Vorgänge nach dem Prinzip: causa aequa t e f fec tum [Ursache gleich Wirkung - wp], oder dasAssoziationsgesetz gerade so gut ein Element für die Konstruktion dererklärenden Psychologie wie die Annahme unbewußter Vorstellungen oderihre Verwertung.

Das erste Merkmal der erklärenden Psychologie ist also, wie schon WOLFF

und WAITZ annahmen, ihr synthetischer oder konstruktiver Gang. Sie leitet allein der inneren Erfahrung und in deren Erweiterungen auffindbaren Tatsachenaus einer begrenzten Zahl von eindeutig auffindbaren Elementen ab. DieEntstehung dieser konstruktiven Richtung in der Psychologie hängtgeschichtlich mit dem konstruktiven Geist der großen Naturwissenschaft des17. Jahrhunderts zusammen. DESCARTES und seine Schule wie SPINOZA und

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LEIBNIZ konstruierten von Hypothesen aus, unter der Voraussetzung dergänzlichen Durchsichtigkeit dieses Verhältnisses, die Beziehungen zwischenkörperlichen Prozessen und seelischen Vorgängen. LEIBNIZ hat dann zuerst,gleichsam hinter das gegebene Seelenleben greifend, die Beeinflussungdes bewußten Gedankenverlaufs durch den erworbenen Zusammenhang desSeelenlebens und die Reproduktion der Vorstellungen durch Hilfsbegriffe,welche er zur Ergänzung des Gegebenen ersann, zu konstruierenunternommen: das Prinzip der Stetigkeit und dadurch bedingt die Kontinuitätin den Gradverschiedenheiten der Bewußtseinszustände von unendlichkleinen Graden von Bewußtheit aufwärts waren solche Hilfsbegriffe, und manbemerkt leicht den Zusammenhang, in welchem sie mit seinenmathematischen und metaphysischen Erfindungen standen. Von derselbenkonstruktiven Richtung des Geistes, welche das im Seelenleben Gegebenedurch ergänzende Hilfsbegriffe zu ganz durchsichtiger Begreiflichkeiterheben zu können postulierte, ging der Materialismus aus. Ja, durch dieBewußtseinsstellung des konstruktiven Geistes sind entscheidende Züge derkonstruktiven Psychologie des 17. und beginnenden 18. Jahrhundertsbedingt, welche noch heute fortwirken. Einflußreiche Konzeptionen sindDerivate der konstruktiven Bewußtseinsstellung und Tendenz, indem mandiesen Beziehungen nachgeht, erfaßt man die geschichtliche Bedingtheit derkonstruktiven Psychologie: die in allen Zweigen des Wissens sich äußerendeMacht der Methoden und Grundbegriffe der Naturwissenschaft spricht sich inihr aus: von hier aus könnte sie auch einer geschichtlichen Kritik unterworfen

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werden.

Eine begrenzte Anzahl von eindeutig bestimmten Elementen, von denen ausalle Erscheinungen des Seelenlebens konstruierbar sein sollen: das ist alsodas Kapital, mit welchem die erklärende Psychologie wirtschaftet. DieHerkunft dieses Kapitals ist nun aber eine verschiedene. In diesem Punktunterscheiden sich die älteren Schulen der Psychologie von der heuteherrschenden. Leitete die ältere Psychologie noch bis auf HERBART,

DROBISCH und LOTZE einen Teil dieser Elemente aus der Metaphysik ab, sogewinnt die moderne Psychologie - diese Seelenlehre ohne Seele - dieElemente für ihre Synthesen nur aus der Analysis der psychischenErscheinungen, in ihrer Verbindung mit den physiologischen Tatsachen.Dementsprechend besteht die strenge Durchführung eines modernenerklärenden psychologischen Systems aus der Analysis, welche in denseelischen Erscheinungen die Elemente auffindet, und der Synthesis oderKonstruktion, welche aus ihnen die Erscheinungen des Seelenlebenszusammensetzt und so ihre Vollständigkeit erprobt. Der Inbegriff und dasVerhältnis dieser Elemente macht die Hypothese aus, durch welche dieseelischen Erscheinungen erklärt werden.

Das Verfahren des erklärenden Psychologen ist also ganz dasselbe, dessensich auf seinem Gebiet der Naturforscher bedient. Die Ähnlichkeit imVerfahren beider wird dadurch noch größer, daß das Experiment jetzt Dank

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einem bemerkenswerten Fortschritt, das Hilfsmittel der Psychologie aufvielen ihrer Gebiete geworden ist. Und diese Ähnlichkeit würde weiterzunehmen, wenn irgendeiner der Versuche gelungen wäre, quantitativeBestimmungen nicht nur in den Außenwerken der Psychologie, sondern inihrem Inneren selber zur Anwendung zu bringen. Für die Einordnung einesSystems in die erklärende Psychologie ist es natürlich gleichgültig, in welcherReihenfolge diese Elemente eingeführt werden. Nur darauf kommt es an,daß der erklärende Psychologe mit dem Kapital einer begrenzten Zahleindeutiger Elemente wirtschaftet.

Mittels dieses Merkmals kann nun von einigen der einflußreichstenpsychologischen Werke der Gegenwart nachgewiesen werden, daß siedieser erklärenden Richtung der Psychologie zugehörig sind; zugleichkönnen von diesem Merkmal aus die Hauptrichtungen der modernenerklärenden Psychologie verständlich gemacht werden.

Bekanntlich fand nach dem Voranschreiten von HUME (1739/40) und HARTLEY

(1746) die englische Psychologie ihre erste umfassende Darstellung in demgroßen Werk von JAMES MILL "Analysis der Erscheinungen des menschlichenGeistes". Dieses Werk legt die Hypothese zugrunde, daß sich das ganzeSeelenleben in seinen höchsten Äußerungen aus einfachen, sinnlichenElementen in einem Inneren, in welchem die Assoziationsgesetze wirken, mitkausaler Notwendigkeit entfaltet. Das Beweisverfahren dieser erklärenden

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Psychologie liegt in der Zergliederung und Zusammensetzung, im Nachweis,daß die aufgezeigten Elemente die höchsten Vorgänge des Seelenlebenszureichend erklären. Der Sohn von JAMES MILL und der Erbe seinerGedanken, JOHN STUART MILL, beschreibt in seiner Logik die Methode derPsychologie als ein Zusammenwirken von induktiver Auffindung derElemente und synthetischer Erprobung derselben ganz in Übereinstimmungmit dem Verfahren des Vaters.

Aber er entwickelt bereits mit dem größten Nachdruck den logischen Werteines Denkmittels, daß sich in dieser Psychologie der beiden MILL alserforderlich herausstellte. Er nimmt eine psychische Chemie an; wenneinfache Ideen oder Gefühle sich zusammensetzen, so können sie einenZustand erzeugen, welcher für die innere Wahrnehmung einfach und zugleichqualitativ ganz verschieden von den Faktoren ist, welche ihn hervorgebrachthaben. Die Gesetze des Geisteslebens sind mitunter mechanischen,mitunter aber auch chemischen Gesetzen vergleichbar. Wenn vieleEindrücke oder Vorstellungen im Geist zusammenwirken, so findet mitunterein Hergang statt, der einer chemischen Verbindung ähnlich ist. Wenn manEindrücke so oft in Verbindung erfahren hat, daß jeder von ihnen leicht undaugenblicklich die ganze Gruppe hervorruft, so verschmelzen jene Ideenbisweilen miteinander und erscheinen nicht mehr als mehrere, sondern als e i ne Idee; in derselben Weise wie die sieben Farben des Prisma, wennsie dem Auge in rascher Folge vorübergeführt werden, den Eindruck der

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weißen Farbe hervorbringen. Es ist klar, die Annahme eines solchen ganzallgemeinen und unbestimmten Satzes, welcher sonderbar mit derGenauigkeit wirklicher Naturgesetze kontrastiert, muß dem erklärendenPsychologen sein Geschäft ausnehmend erleichtern. Denn er verdeckt dieMängel der Ableitung. Er gestattet, sich an gewisse regelmäßigeAntezedenzien [Vorausgehendes - wp] zu halten und die Lücke zwischenihnen und dem folgenden Zustand durch psychische Chemmie auszufüllen.Sie muß aber zugleich den ohnehin schon niederen Grad vonÜberzeugungskraft, welcher dieser Konstruktion und ihren Ergebnissenzukommt, auf Null herabdrücken.

Über diese psychologische Schule erhob sich in England HERBERT SPENCER.Im Jahre 1855 erschienen die beiden Bände seiner Psychologie zum erstenMal und sie erlangten einen großen Einfluß auf die europäischepsychologische Forschung. Das Verfahren dieses Werkes war sehrverschieden von dem, welches die beiden MILL angewandt hatten. SPENCER

bediente sich nicht nur der naturwissenschaftlichen Methode, wie jene beidengetan hatten, sondern er schritt dazu fort, im Einverständnis mit COMTE, diepsychischen Phänomene dem realen Zusammenhang der physischenPhänomene, und dann die Psychologie der Naturwissenschaftunterzuordnen. Und zwar begründete er die Psychologie auf die allgemeineBiologie. In dieser aber führte er die Begriffe von Anpassung der Lebewesenan ihr Milieu, Evolution der ganzen organischen Welt und Parallelismus der

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Vorgänge im nervösen System mit den inneren oder seelischen Vorgängendurch. Er interpretierte also die inneren Zustände und ihren Zusammenhangmittels des Studiums des Nervensystems, der vergleichenden Betrachtungder äußeren Organisationen in der Tierwelt und der Verfolgung derAnpassung an die Außenwelt. So treten von Neuem in die erklärendePsychologie deduktiv bestimmte Erklärungselemente ein, ganz wie dies beiWOLFF, HERBART und LOTZE der Fall gewesen war. Nur daß dieselbennunmehr nicht aus der Metaphysik stammen, sondern, der Veränderung derZeiten entsprechend, aus der allgemeinen Naturwissenschaft. Auch unterdiesen neuen Bedingungen ist und bleibt das Werk SPENCERs eineerklärende Psychologie. Sogar in ihrer äußeren Anordnung zerfällt diesePsychologie in zwei Teile, der erste leitet aus dem Studium desNervensystems, der vergleichenden Übersicht über die Tierwelt und derinneren Erfahrung durch konvergierende Schlüsse eine Verbindung vonHypothesen ab, der zweite Teil legt dann diese Hypothesen dem erklärendenVerfahren zugrunde. Nur daß SPENCER dieses Verfahren auf dieUntersuchung des menschlichen Verstandes einschränkte. Die Erklärung deremotionellen Zustände erschien ihm zur Zeit unausführbar. "Wenn man etwasdurch die Sonderung seiner Teile und eine Untersuchung der Art und Weise,wie dieselben miteinander verknüpft sind, erklären will, so muß dies etwassein, was wirklich unterscheidbare und in bestimmter Art verbundene Teilebesitzt. Haben wir es aber mit einem Gegenstand zu tun, der zwaraugenscheinlich zusammengesetzt ist, dessen verschiedenartige Elemente

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aber so durcheinander gemengt und verschmolzen sind, daß sie sich nichteinzeln scharf erkennen lassen, so ist von vornherein anzunehmen, daß derVersuch einer Analyse wenn nicht völlig fruchtlos bleiben, so doch nur zuzweifelhaften und unzulänglichen Folgerungen führen wird. Dieser Gegensatzbesteht nun in der Tat zwischen den Formen des Bewußtseins, die wir alsintellektuelle und emotionale unterschieden haben."

In diesem Zusammenhang In diesem Zusammenhang entstehen nun fürSPENCER folgende weitere Denkmittel der erklärenden Psychologie. Erüberträg von der äußeren auf die innere Entwicklung der animalischen Weltein Prinzip der zunehmenden Differenzierung der Teile und Funktionen undder Integration, d. h. der Herstellung höherer und feinerer Verbindungenzwischen diesen differenzierten Funktionen, und nun bedient er sich zurErklärung von Problemen, welche die Individualpsychologie nicht hatteüberzeugend lösen können, vor allem des Problems vom Ursprung des apriori, dieses Prinzips der Entwicklung, das innerhalb des ganzenanimalischen Reiches wirksam ist. Alsdann erläutert er aus der Struktur desNervensystems, seiner Nervenzellen und verbindenden Nervenfäden dieGliederung des seelischen Lebens, seiner Elemente und der zwischen ihnenbestehenden Beziehungen. Schließlich kann dann aufgrund der Hypothesevom psycho-physischen Parallelismus, da wo der psychischeZusammenhang Lücken zeigt, der physiologische Zusammenhangeingeschaltet werden.

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Augenscheinlich nähert sich diese erklärende Psychologie SPENCERs inmanchen Punkten der Lebendigkeit des seelischen Zusammenhangs mehr,als dies in der Schule der MILLs erreicht worden war. Auch gibt dieEinordnung mittels der Lehre vom psycho-physischen Parallelismus machtnun die so bedingte erklärende Psychologie zur Sache einerwissenschaftlichen Partei. Sie gibt ihr das Gepräge eines verfeinertenMaterialismus. Diese Psychologie ist für den Juristen oder Literaturhistorikernicht eine gesicherte Grundlage, sondern eine Gefahr. Die ganze weitereEntwicklung hat gezeigt, wie in politischer Ökonomie, Kriminalrecht,Staatslehre dieser verschleierte Materialismus der erklärenden Psychologie,wie sie SPENCER gestaltet hat, zersetzend gewirkt hat. Und diepsychologische Rechnung selbst, sofern sie mit inneren Wahrnehmungenoperiert, wird durch die Einführung einer weiteren Hypothese doch nochunsicherer gemacht.

Diese erklärende Psychologie der SPENCER'schen Richtung breitete sichunaufhaltsam auch über Frankreich und Deutschland aus. Sie verband sichvielfach mit dem Materialismus. Dieser ist in all seinen Schattierungenerklärende Psychologie. Jede Theorie, welche den Zusammenhang in denphysischen Vorgängen zugrunde legt und diesem die psychischen Tatsachennur einordnet, ist Materialismus. Vom Materialismus beeinflußt, am strärkstendoch von SPENCER bedingt, trat die Psychologie des größten

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wissenschaftlichen französischen Schriftstellers der letzten Generationhervor. Das erste Stück, welches SPENCER aus seiner Psychologieveröffentlicht hatte, war schon 1853 erschienen, vor der Veröffentlichung desganzen Werkes (1855), und es hatte die Untersuchung über die Grundlageunseres Verstandes zum Gegenstand. 1864 erschien nun dasphilosophische Hauptwerk von HIPPOLYTE TAINE über den menschlichenVerstand. Es ruhte vorwiegend auf SPENCER, unter Benutzung der beidenMILL. SPENCER selbst schreibt über die Ausbreitung seiner psychologischenGedanken: "In Frankreich hat Herr TAINE Gelegenheit genommen, in seinemWerk "de l'intelligence" einige derselben allgemeiner bekannt zu machen."Aber auch TAINE hat den Methoden der erklärenden Psychologie etwashinzugefügt. Das Studium der anomalen psychischen Tatsachen wurdedamals in Frankreich bevorzugt, und es bestand die Neigung, dieErscheinungen, welche der Irrenarzt, der Nervenarzt, der Magnetiseur undder Kriminalist gesammelt und interpretiert hatten, für das Studium derGesetze des Seelenlebens zu verwerten. Die Lehre von der Verwandtschaftdes Genies mit dem Wahnsinn ist eine echt französische Erfindung; wiedurchweg die französischen Erfindungen fand sie Beifall in Italien. TAINE warnun der erste erklärende Psychologe, welcher diese Erweiterung derpsychologischen Methoden durch das Studium der anomalen seelischenTatsachen in die eigentliche Psychologie aufnahm. Die sonderbareHypothese, welche er, hierdurch bedingt, den Annahmen der erklärendenPsychologie hinzufügte, braucht hier nicht erwähnt zu werden, da sie keinen

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durchgreifenden Einfluß gewonnen hat. "Die Natur erzeugt mit Hilfe vonWahrnehmungen und Bildergruppen nach Gesetzen Phantome in uns, die wirfür äußere Objekte halten und meist ohne uns zu täuschen, denn es sind inder Tat ihnen entsprechende äußere Objekte vorhanden. Die äußerenWahrnehmungen sind wahre Halluzinationen." Aber ein allgemeineresInteresse bietet doch die Beobachtung des verhängnisvollen Einflusses,welchen diese Theorie auf die Geschichtsschreibung TAINEs geübt hat. Wiedie einseitige erklärende Psychologie der MILL große historische Talente wieGROTE und BUCKLE höchst nachteilig beeinflußt hatte, so hat der PhilosophTAINE, welcher uns alle zu beständigen Halluzinanten macht, dem HistorikerTAINE seine Darstellung SHAKESPEAREs und seine Auffassung derfranzösischen Revolution als einer Art von Massenverrückung eingegeben. -RIBOT schloß sich dann an TAINE an.

In Deutschland hatte inzwischen HERBART eine erklärende Psychologieausgebildet, welche sich besonders in Österreicht und Sachsen derKatheder bemächtigte. Ihre außerordentliche Bedeutung für den Fortschrittder erklärenden Psychologie lag nun darin, daß sie mit den methodischenAnforderungen, welche in der Aufgabe einer Erklärung nach dem Vorbild derNaturwissenschaften enthalten sind, strengen wissenschaftlichen Ernstmachte. Soll die erklärende Psychologie den Zusammenhang der seelischenVorgänge ausnahmslos begreiflich machen, so muß sie die Voraussetzungdes Determinismus zugrunde legen. Von dieser Voraussetzung aus wird sie

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aber nur dann hoffen dürfen, die Schwierigkeiten der Instabilität psychischerVorgänge, ihrer individuellen Verschiedenheiten und der engen Grenzen derBeobachtung zu überwinden, wenn sie wie die physikalischenWissenschaften quantitative Bestimmungen in ihre erklärende Rechnungeinzuführen vermag. dann wird sie auch den Gesetzen eine strengereFassung zu geben vermögen: eine Mechanik des Seelenlebens kannentstehen. Gelang nun das HERBART in seinen eigenen Arbeiten nichtwirklich, so setzte dann doch FECHNER diese Richtung fort; indem er dieVersuche ERNST HEINRICH WEBERs verwertete, stellte er ein quantitativesVerhältnis zwischen der Zunahme der Stärke von Sinnesreizen und demWachstum der Empfindungsgrößen auf. Und es wurde für die Einführung vonMessen und Zählen in das psycho-physische und psychische Gebiet ebensowichtig, daß er nun bei diesen Untersuchungen die Methoden derMinimaländerungen, der mittleren Abstufungen, der mittleren Fehler, derrichtigen und falschen Fälle entwickelte. Noch von einem anderen Punkt auseröffnete sich die quantitative Betrachtung den Zugang zu den seelischenVorgängen. Der deutsche Astronom BESSEL stieß bei der Vergleichung derZeitbestimmungen verschiedener Astronomen über denselben Vorgang aufdie Entdeckung der persönlichen Differenz der Astronomen. Die Zeit, inwelcher ein Stern etwa den Meridian passiert, wird von verschiedenenBeobachtern verschieden bestimmt. Dies ist durch den Unterschied in derZeitdauer bedingt, welche das Zustandekommen der Sinneswahrnehmungund ihrer Registrierung beansprucht. Astronomen und Biologen bemerkten

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die psychologische Tragweite dieser Tatsache. Versuche entstanden, dieZeit zu messen, welche der Ablauf der verschiedenen psychischen Vorgängebeansprucht.

Indem sich nun aber diese Arbeiten zugleich auch als psychologische undpsycho-physische Experimente darstellten, wirkten sie in der Richtung aufeine experimentelle Psychologie, zusammen mit den großen Analysenunserer Gesichts- und Tonwahrnehmung, durch welche besondersHELMHOLTZ dem Experiment einen anderen Weg in das Seelenleben hineineröffnete. So wurden hierdurch in Deutschland die Denkmittel dererklärenden Psychologie durch die Ausbildung des psycho-physischen undpsychologischen Experiments außerordentlich erweitert. Dies war einVorgang, welcher von den 60er Jahren unseres Jahrhunderts ab Deutschlanddie unbestrittene Herrschaft in der psychologischen Wissenschaft verschaffthat. Mit der Einführung des Experiments wuchs zunächst die Macht dererklärenden Psychologie außerordentlich. Eine grenzenlose Aussichteröffnete sich. Durch die Einführung des Versuchs und der quantitativenBestimmung konnte nach dem Vorbild der Naturwissenschaft die erklärendeSeelenlehre eine feste Grundlage in experimentell gesicherten undzahlenmäßig bestimmten, gesetztlichen Verhältnissen gewinnen. Aber indieser entscheidenden Situation trat nun das Gegenteil von dem ein, was dieEnthusiasten der experimentellen Methode erwartet hatten.

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Der Versuch führte auf dem psycho-physischen Gebiet zu einer höchstwertvollen Zergliederung der menschlichen Sinneswahrnehmung. Er erwiessich als das unentbehrliche Instrument der Psychologen für die Herstellungeiner genauen Beschreibung innerer psychischer Vorgänge, wie der Engedes Bewußtseins, der Geschwindigkeit seelischer Prozesse, der Faktorendes Gedächtnisses, des Zeitsinnes, und es wird gewiß der Geschicklichkeitund der Geduld der Experimentatoren gelingen, auch für die Behandlunganderer inner-psychischer Verhältnisse Angriffspunkte für den Versuch zugewinnen. Aber zur Erkenntnis von Gesetzen auf inner-psychischem Gebiethat er schlechterdings nicht geführt. Er hat sich also für Beschreibung undAnalyse höchst nützlich erwiesen. Dagegen hat er die Hoffnungen, welchedie erklärende Psychologie auf ihn setzte, bisher getäuscht.

Unter diesen Umständen zeigt die gegenwärtige deutsche Psychologie zweimerkwürdige Erscheinungen in Bezug auf die Benutzung der erklärendenMethode.

Eine einflußreiche Schule geht auf dem Weg der Unterordnung derPsychologie unter das Naturerkennen mittels der Hypothese vomParallelismus der physiologischen und psychischen Vorgänge entschiedenweiter (4). Grundlage der erklärenden Psychologie bildet das Postulat: keinpsychisches Phänomen besteht ohne ein begleitendes physisches. Soentsprechen einander im Vorgang des Lebens die Reihe der

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physiologischen Prozesse und die der psychischen Begleiterscheinungen.Die physiologische Reihe bildet einen geschlossenen, lückenlosen undnotwendigen Zusammenhang. Dagegen lassen sich die psychischenVeränderungen, wie sie in die innere Wahrnehmung fallen, nicht zu einemsolchen Zusammenhang verbinden. Welches Verhalten folgt nun hieraus fürden erklärenden Psychologen? Er muß den notwendigen Zusammenhang,den er in der physischen Reihe findet, auf die psychische übertragen. Näherwird seine Aufgabe so bestimmt: "Die Gesamtheit der Bewußtseinsinhalte inihre Elemente zu zerlegen, die Verbindungsgesetze und einzelneVerbindungen dieser Elemente festzustellen und für jeden elementarenpsychischen Inhalt empirisch die begleitende physiologische Erregungaufzusuchen, um aus der kausal verständlichen Koexistenz und Sukzessionjener physiologischen Erregungen die rein psychologisch nicht erklärbarenVerbindungsgesetze und Verbindungen der einzelnen psychischen Inhaltemittelbar zu erklären." Hiermit ist doch der Bankrott einer selbständigerklärenden Psychologie ausgesprochen. Ihre Geschäfte werden von derPhysiologie in die Hand genommen. Für die Interpretation psychischerTatsachen sind nun dem mit Psychologie beschäftigten Naturforscher höchstausgiebige Hilfsmittel gegeben. Wo in der inneren Erfahrung zwischen denBedingungen und der Wirkung keine Gleichung besteht, braucht derselbe nurphysiologische Zwischenglieder einzuschalten, welche kein psychischesÄquivalent haben. Diese erklären dann leicht dasjenige, was aus denangenommenen psychischen Erklärungselementen in einer Erscheinung wie

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der Willenshandlung nicht erklärbar ist.

Überblickt man den Inbegriff der so ausgebildeten Denkmittel einererklärenden Psychologie, so bilden schließlich den Gegenstand einersolchen erklärenden Psychologie nur Möglichkeiten, und ihr Ziel ist nurirgendeine Probabilität.

Der Gang der experimentellen Untersuchung hat aber zugleich zu eineranderen höchst beachtenswerten Wendung geführt. WILHELM WUNDT, welcherzuerst unter allen Psychologen das Ganze der experimentellen Psychologieals einen besonderen Wissenszweig abgrenzte, ein Institut in großem Stil fürdieselbe schuf, von dem der stärkste Anstoß zum systematischen Betriebder experimentellen Psychologie ausging, und welcher dann in seinemLehrbuch die Ergebnisse der experimentellen Psychologie zuerstzusammenfaßte, fand sich durch den Verlauf seiner umfassendenexperimentellen Erfahrungen selber genötigt, zu einer Auffassung desSeelenlebens überzugehen, welche den bis dahin vorherrschendenStandpunkt der Psychologie verläßt. "Als ich", so erzählt er, "zum ersten Malan psychologische Probleme herantrat, teilte ich das allgemeine demPhysiologen nahe liegende Vorurteil, daß die Bildung derSinneswahrnehmung lediglich ein Werk der physiologischen Eigenschaftenunserer Sinnesorgane ist. Ich lernte zuerst an den Leistungen desGesichtssinns jenen Akt schöpferischer Synthese begreifen, der mir

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allmählich der Führer wurde, um auch der Entwicklung der höherenPhantasie- und Verstandesfunktionen ein psychologisches Verhältnisabzugewinnen, für das mir die alte Psychologie keine Hilfe geboten hatte." Erbestimmte nunmehr das Prinzip des Parallelismus näher dahin, "daß derpsycho-physische Parallelismus immer nur auf die elementaren psychischenProzesse,denen eben allein bestimmt abgegrenzte Bewegungsvorgängeparallel gehen, nicht aber auf beliebig komplizierte, erst aus einer geistigenFormung des sinnlichen Stoffs hervorgegangene Produkte des geistigenLebens oder gar auf die allgemeinen, intellektuellen Kräfte, aus denen mandiese Produkte ableitet, angewandt werden kann." (Menschen- undTierseele, Seite 487, vgl. "Psychische Kausalität und Prinzip despsychischen Parallelismus, bes. Seite 38f) Er gab ferner die Geltung des causa aequa t e f fec tum für die geistige Welt auf; er erkannte dieTatsache der schöpferischen Synthese an; "unter ihr verstehe ich dieTatsache, daß die psychischen Elemente durch ihre kausalenWechselwirkungen und Folgewirkungen Verbindungen erzeugen, die zwaraus ihren Komponenten psychologisch erklärt werden können, gleichwohlaber neue qualitative Eigenschaften besitzen, die in den Elementen nichtenthalten waren, wobei namentlich auch an diese neuen Eigenschafteneigentümliche, in den Elementen nicht vorgebildete Wertbestimmungengeknüpft werden. Insofern die psychische Synthese in allen solchen Fällenein Neues hervorbringt, nenne ich sie eben eine schöpferisch"; im Gegensatzzum Gesetz der Konstanz der physischen Energie ist nach ihm in der

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"Verkettung schöpferischer Synthesen zu einer progressivenEntwicklungsreihe" ein "Prinzip des Wachstums geistiger Energie" enthalten(a. a. O., Seite 116). Noch stärker als WUNDT betonen JAMES in seiner"Psychologie" und SIGWART in den neuen Kapiteln seiner Logik über dieMethode der Psychologie, in denen er auch die Pflege der beschreibendenPsychologie empfiehlt, das Freie und Schöpferische im Seelenleben. In demMaße, als diese Bewegung fortschreitet, muß die erklärende undkonstruktive Psychologie an Einfluß verlieren.

Das erste Merkmal der erklärenden Psychologie war in der Ableitung auseiner abgegrenzten Zahl eindeutiger Erklärungselemente gelegen. Durchdieses ist innerhalb der modernen Psychologie als ein zweites Merkmalbedingt, daß die Verbindung dieser Erklärungselemente nur den Charaktereiner Hypothese hat. Dies ist schon von WAITZ anerkannt worden. Überblicktman nun den Gang der erklärenden Psychologie, so fällt besonders diebeständige Zunahme der Zahl der erklärenden Elemente und der Denkmittelauf. Dies geht naturgemäß aus dem Streben hervor, die Hypothesen derLebendigkeit des seelischen Vorgangs immer mehr anzunähern. Es hat aberzugleich die beständige Zunahme des hypothetischen Charakters dererklärenden Psychologie zur Folge. In demselben Maß, wie dieErklärungselemente und die Denkmittl gehäuft werden, nimmt der Wert ihrerErprobung an den Erscheinungen ab. Zumal die Denkmittel der psychischenChemie und der Ergänzung psychischer Reihen durch physiologische

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Zwischenglieder, welche keine Repräsentation in der inneren Erfahrunghaben, eröffnen der Erklärung ein Feld unbegrenzter Möglichkeiten. Damit istdann der eigentliche Kern der erklärenden Methode, die Erprobung derhypothetischen Erklärungselemente an den Erscheinungen, aufgelöst.

LITERATUR: Wilhelm Dilthey, Ideen über eine beschreibende und zergliederndePsychologie, Sitzungsberichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaftenzu Berlin, vorgetragen am 22. Februar und am 7. Juni 1894, Berlin 1894

A nm erk ungen1) SCHMOLLER hat in seiner Abhandlung über Volkswirtschaft,Volkswirtschaftslehre und deren Methode im neuen Handwörterbuch derStaatswissenschaften überzeugend an der politischen Ökonomie die Abhängigkeiteiner einzelnen Geisteswissenschaft, sofern dieselbe dem praktischen Leben Zielevorschreiben soll, von einem umfassenderen Zusammenhang dargelegt. Er bringtauch zur Anerkennung daß nur ein teleologischer Zusammenhang diese Aufgabelösen kann. Die folgende Abhandlung will nun zeigen, wie in der beschreibendenPsychologie die Mittel für eine allgemeingültige Erkenntnis eines solchen denGeisteswissenschaften zugrunde liegenden Zusammenhangs gegeben ist.2) Zur Ergänzung dieser kurzen Darlegung verweise ich auf die scharfsinnigeUntersuchung von CARL STUMPF über Psychologie und Erkenntnistheorie in denAbhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.3) WOLFF gab die Sonderung zuerst im "Discursus praeliminaris logices", § 112,dann nachdem THÜMING ihm in der Ausführung zuvorgekommen war, erschienseine empirische Psychologie1 1732, die rationale 1734. 4) Das Verfahren dieser Schule ist am einfachsten aus MÜNSTERBERGs Schriftüber die "Aufgaben und Methoden der Psychologie" zu ersehen. Dieser Schriftkommt das Verdienst einer sehr klaren Präzisierung des betreffenden Standpunkteszu.