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2010 Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München Zur Diskussion gestellt Charles B. Blankart und Erik R. Fasten, Jörn Axel Kämmerer und Hans-Bernd Schäfer, Jörg Asmussen, Christian Tietje, Michael Kühl und Renate Ohr Explodierende Staatsschulden, drohende Staats- bankrotte: Was kommt auf uns zu? Forschungsergebnisse Marc Piopiunik und Ludger Wößmann Volkswirtschaftliche Folgekosten unzureichender Bildung Daten und Prognosen Nick Hoffmann und Anja Rohwer DICE: Institutionelle Regelungen im internationalen Vergleich Manfred Schöpe Gesamtwirtschaftliche Effekte der Förderung von Biodiesel Im Blickpunkt Christian Breuer und Matthias Müller Staatsverschuldung in Europa: Status quo Marc Gronwald, Janina Ketterer und Jana Lippelt Kurz zum Klima: Klimaschutz im Accord ifo Schnelldienst 63. Jg., 7.–8. KW, 26. Februar 2010 4

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2010

Institut fürWirtschaftsforschungan der Universität München

Zur Diskussion gestelltCharles B. Blankart und Erik R. Fasten, Jörn Axel Kämmererund Hans-Bernd Schäfer, Jörg Asmussen, Christian Tietje,Michael Kühl und Renate OhrQ Explodierende Staatsschulden, drohende Staats-

bankrotte: Was kommt auf uns zu?

ForschungsergebnisseMarc Piopiunik und Ludger WößmannQ Volkswirtschaftliche Folgekosten unzureichender

Bildung

Daten und PrognosenNick Hoffmann und Anja RohwerQ DICE: Institutionelle Regelungen im internationalen

Vergleich

Manfred SchöpeQ Gesamtwirtschaftliche Effekte der Förderung von

Biodiesel

Im BlickpunktChristian Breuer und Matthias MüllerQ Staatsverschuldung in Europa: Status quo

Marc Gronwald, Janina Ketterer und Jana LippeltQ Kurz zum Klima: Klimaschutz im Accord

ifo Schnelldienst63. Jg., 7.–8. KW, 26. Februar 2010

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ISSN 0018-974 X

Herausgeber: ifo Institut für Wirtschaftsforschung e.V., Poschingerstraße 5, 81679 München, Postfach 86 04 60, 81631 München,Telefon (089) 92 24-0, Telefax (089) 98 53 69, E-Mail: [email protected]: Dr. Marga Jennewein.Redaktionskomitee: Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Werner Sinn, Dr. Christa Hainz, Annette Marquardt, Dr. Chang Woon Nam,Dr. Gernot Nerb, Dr. Wolfgang Ochel.Vertrieb: ifo Institut für Wirtschaftsforschung e.V.Erscheinungsweise: zweimal monatlich.Bezugspreis jährlich:Institutionen EUR 225,– Einzelpersonen EUR 96,–Studenten EUR 48,–Preis des Einzelheftes: EUR 10,–jeweils zuzüglich Versandkosten. Layout: Pro Design.Satz: ifo Institut für Wirtschaftsforschung.Druck: Majer & Finckh, Stockdorf.Nachdruck und sonstige Verbreitung (auch auszugsweise): nur mit Quellenangabe und gegen Einsendung eines Belegexemplars.

ifo Schnelldienst

Explodierende Staatsschulden, drohende Staatsbankrotte: Was kommt auf uns zu?

Seit Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise ist weltweit ein enormer Anstiegstaatlicher Defizite und Schuldenstände zu beobachten. Was bedeutet die Entwick-lung für die Europäische Währungsunion? Charles B. Blankart und Erik R. Fasten,Humboldt-Universität zu Berlin, finden es wünschenswert, »vom Nichtauslösungs-artikel auszugehen und diesen mit einem Verfahren wie dem des Eurostabilitätspak-tes zu verbinden. Die Mitgliedstaaten sagen Hilfe zur Restrukturierung zu. Aberwenn dies alles nichts fruchtet, so steht am Ende … nicht die Auslösung, sondernder Staatsbankrott«. Jörn Axel Kämmerer und Hans-Bernd Schäfer, Bucerius LawSchool, Hochschule für Rechtswissenschaft, Hamburg, sehen die Europäische Uni-on vor einem äußerst schmalen Grat. Die EU dürfe das Bail-out-Verbot nicht zumSchaden des Euro in einer Weise aufweichen, dass »die Ausnahme zur Regel« wer-de. Aber sie könne auch nicht untätig bleiben, da die Gefährdung des Gesamtsys-tems durch Turbulenzen, die erwachsen, wenn einem Staat die Unterstützung ver-weigert wird, im Bereich des Möglichen liege. Jörg Asmussen, Bundesministeriumder Finanzen, unterstreicht, dass sich der Stabilitäts- und Wachstumspakt als fiskal-politisches Koordinierungsinstrument bewährt habe. In der Wirtschafts- und Finanz-krise wurde einerseits die in dem Pakt angelegte Flexibilität genutzt, um angemes-sene fiskalpolitische Antworten zu ermöglichen. Auf der anderen Seite werden jetztdie Regeln wieder restriktiver angewandt. Dies bedeute, dass alle Mitgliedstaaten ih-re Haushalts- und/oder Strukturprobleme aus eigener Kraft in den Griff bekommenmüssen. Für Christian Tietje, Universität Halle-Wittenberg, bleibt es zunächst immerbei der Selbstverantwortung der Staaten der Eurogruppe für ihre Wirtschaftspolitik,finanzielle Solidaritätsmaßnahmen müssen die Ultima Ratio im Euroraum bleiben.Michael Kühl und Renate Ohr, Universität Göttingen, sind der Meinung, dass hoch-verschuldete Länder, wie z.B. Griechenland, selbst einen Weg finden müssen, ohnefinanzielle Unterstützung der Partnerländer ihre Staatsfinanzen zu konsolidieren.

Volkswirtschaftliche Folgekosten unzureichender Bildung: Eine makroökonomische ProjektionMarc Piopiunik und Ludger Wößmann

Wie die PISA-Studien belegen, zählt in Deutschland etwa jeder fünfte Jugendlichezur Gruppe der »Risikoschüler«, die nur unzureichende Bildung erhält. In einer ak-tuellen Studie, die das ifo Institut im Auftrag der Bertelsmann Stiftung verfasst hat,wurden die daraus erwachsenden volkswirtschaftlichen Folgekosten berechnet.Die Folgekosten unzureichender Bildung belaufen sich über den Lebenszeitraumder heute geborenen Kinder auf rund 2,8 Billionen € – mehr als das gesamte der-zeitige deutsche Bruttoinlandsprodukt von 2,5 Billionen €. Das gewaltige Ausmaßdieser Projektionsergebnisse verdeutlicht die Dringlichkeit des Reformbedarfs imdeutschen Bildungssystem.

DICE – eine Datenbank von institutionellen Regelungen im internationalen VergleichNick Hoffmann und Anja Rohwer

Regulierungen der öffentlichen Hand werden immer mehr zum entscheidendenStandortfaktor für Investitionen und wirtschaftliches Wachstum. Dem Defizit an ver-gleichbaren und analytisch konzipierten Informationen zu den institutionellen Regu-

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Forschungsergebnisse

Daten und Prognosen

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lierungen in der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten wollte das ifo Institutdurch den stufenweisen Auf- und Ausbau einer Datenbank begegnen. Seit demJahr 2001 werden zahlreiche Informationen gesammelt, aufbereitet – als Tabellen,Graphiken oder Kurzberichte – und dem Nutzer über das Internet unentgeltlich inder Datenbank DICE (DDatabase for IInstitutional CComparisons in EEurope) zur Verfü-gung gestellt. Gegenwärtig umfasst DICE über 2 200 Einträge zu ca. 8 000 Varia-blen. Rückmeldungen zeigen, dass die Strategie bislang erfolgreich war.

Gesamtwirtschaftliche Effekte der Förderung von BiodieselManfred Schöpe

Das Energiesteuergesetz von 2006 führte eine Besteuerung von Biodiesel alsReinkraftstoff ein, die von Jahr zu Jahr angehoben werden sollte. Mit einer derzeitgültigen Besteuerung von 18,6 Cent/Liter ist ein kostendeckender Absatz nichtmehr gewährleistet, so dass die Märkte weitgehend weggebrochen und beste-hende Produktionskapazitäten nicht mehr ausgelastet sind. Die aktuelle politischeDiskussion bewegt sich um die Problematik einer wirtschaftlich angemessenenBesteuerung. Der vorliegende Beitrag behandelt in diesem Kontext die Frage, in-wieweit die von der Wertschöpfungskette »Biodiesel« erbrachte volkswirtschaftli-che Leistung dazu beiträgt, die Steuermindereinnahmen auszugleichen.

Staatsverschuldung in Europa: Status quoChristian Breuer und Matthias Müller

Die Wirtschafts- und Finanzkrise hat in den Jahren 2008 und 2009 die staatlichenBudgetdefizite in vielen Ländern Europas anschwellen lassen. Infolge der staatli-chen Rettungsmaßnahmen im Bankensektor sind neben den automatischenBudgetwirkungen zudem weitere Belastungen auf viele Staaten Europas zuge-kommen, die den Schuldenstand erhöht haben. Der Beitrag zeigt die Schulden-standsquoten für 28 europäische Länder im dritten Quartal 2009.

Kurz zum Klima: Klimaschutz im AccordMarc Gronwald, Janina Ketterer und Jana Lippelt

Am Ende des Klimagipfels in Kopenhagen, der Anfang Dezember des vergange-nen Jahres stattfand, stand lediglich der so genannte »Copenhagen Accord«, dasich die Teilnehmer nicht auf einen völkerrechtlich bindenden Vertrag einigenkonnten. Vereinbart wurde, dass die Länder bis zum 31. Januar 2010 ihre Klima-ziele für das Jahr 2020 beim UN-Klimasekretariat vorlegen sollen. Nach Ablauf derFrist zeigt sich, dass die Länder sehr inhomogene Klimaziele angekündigt haben,dass wichtige Emittenten keine absoluten Reduktionsziele nennen und dass dieReduktionsziele vieler Länder nur sehr moderat sind. Vor diesem Hintergrundkann der Copenhagen Accord nicht als besonderer Erfolg gefeiert werden.

Die 61. Jahresversammlung des ifo Instituts findet am Mittwoch, den 23. Juni2010, in der Großen Aula der Ludwig-Maximilians-Universität München statt. AlsGastredner wird Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finanzen, erwartet. ImAnschluss daran wird eine Expertenrunde über »Haushaltskonsolidierung undSteuerreform« diskutieren. Die Tagesordnung wird rechtzeitig bekannt gegeben.

Im Blickpunkt

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Staatsbankrotte: Machtoder ökonomisches Gesetz?

Regierungen, die über ihre Verhältnissehaushalten, geht irgendwann das Geldaus. Sie unterliegen Kreditrationierung,ähnlich einem privaten Unternehmen.Doch Politiker versuchen sich demMarktmechanismus zu entziehen undrechtfertigen diesen Schritt mit dem sogenannten »Primat der Politik«.1 Irgend-wo muss Schluss sein mit dem Markt,sagen sie. Doch schon vor hundert Jah-ren schrieb der österreichische National-ökonom Eugen von Böhm-Bawerk in sei-ner berühmten Streitschrift »Macht oderökonomisches Gesetz?« (1914), Machtkönne sich eine Zeit lang behaupten,letztlich aber setze sich das ökonomi-sche Gesetz durch.

Auch in der Europäischen Union ver-suchen Politiker, die Ökonomie zu ver-drängen. Institutionen, die wie der Euro-Stabilitätspakt dazu geschaffen wurden,die Regierungen zur nachhaltigen Haus-haltspolitik anzuhalten, werden um po-litischer Vorteile willen geopfert. Stattstrikte Selbstverantwortung zu üben,verlässt sich jeder darauf, dass ihm imNotfall die anderen helfen werden. Alldas leistet einer riskanten Haushaltsfüh-rung Vorschub, und wenn es dann wirk-lich zu Finanzproblemen kommt, fälltnicht nur ein Staat, sondern, weil sichjeder auf jeden verlassen hat, zieht je-der den anderen mit sich, so dass amEnde die ganze Union in eine Finanz-krise gerät.

Das war nicht immer so. Im folgendenTeil dieses Aufsatzes wird dargelegt,dass der Staatsbankrott im Modell des»klassischen souveränen Staates«2 demökonomischen Gesetz zufolge nach ei-nem schematisch nachvollziehbaren Ver-fahren ablief, aus dem sich ein leidlichfunktionsfähiger Selbstheilungsmecha-nismus herausbildete. Im Anschluss wirddargelegt, warum dieser Mechanismusin einem Staatenverbund wie der Euro-päischen Union paralysiert wird, weshalbder Niedergang vertieft und die Kostenerhöht werden, ohne dass letztlich demökonomischen Gesetz entkommen wer-den könnte. Daher wird im abschließen-den Abschnitt darauf eingegangen, wieder Konkursmechanismus im Rahmender Europäischen Union verbessert wer-den könnte, so dass Krisen begrenztbleiben und sich nicht auf die ganze EUausdehnen.

Staatsbankrott im »klassischensouveränen Staat«

Im »klassischen souveränen Staat« kannein Staatsbankrott grob in einen Ablaufvon sieben Schritten aufgeteilt werden.

1. Regierungen haben hochfliegendePläne, die sie aus Steuermitteln nichtfinanzieren können oder wollen.

2. Um die Mittelbeschränkung zu über-winden, nehmen sie Kredite auf, undweil diese ihren Plänen auch in der Fol-ge nicht genügen, werden die Schul-den nicht zurückbezahlt, sondern durchimmer neue Schulden aufgestockt.

Was kommt auf uns zu?Explodierende Staatsschulden, drohende Staatsbankrotte:

Seit Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise ist ein weltweit enormer Anstieg staatlicher Defi-

zite und Schuldenstände zu beobachten. Im Euroraum sind die staatlichen Schulden zwischen

Anfang 2008 und dem dritten Quartal 2009 auf 77,6% des BIP gestiegen. Das Niveau der Staats-

verschuldung ist in Griechenland, Italien und Belgien besonders hoch. Was bedeutet die Entwick-

lung für die Europäische Währungsunion?

Charles B. Blankart*

Erik R. Fasten**

* Prof. Dr. Charles B. Blankart ist Leiter des Insti-tuts für Öffentliche Finanzen an der Humboldt-Uni-versität zu Berlin.

** Erik R. Fasten ist wissenschaftlicher Mitarbeiteram Institut für Öffentliche Finanzen an der Hum-boldt-Universität zu Berlin.

1 In Deutschland beispielsweise gilt: »Unzulässig istdas Insolvenzverfahren über das Vermögen desBundes oder eines Landes« (Art. 12 Abs. 1 InsO).

2 Hierunter sind die europäischen Nationalstaatendes 16. bis Mitte des 20. Jahrhunderts und heuteauch viele Entwicklungsländer sowie große Indus-triestaaten zu verstehen.

Zur Diskussion gestellt

3. Mit zunehmender Verschuldung reicht der Primärhaus-haltsüberschuss aus Steuern minus reinen Staatsaus-gaben (außerhalb des Schuldendienstes) nicht mehr aus,um die Zinszahlungen zu decken.3

4. Daher müssen die Zinsen aus Neuverschuldung finan-ziert werden. Es entsteht ein so genanntes Ponzi-Spiel,genannt nach dem italienischen Finanzjongleur CharlesPonzi, der in den 1920er Jahren seinen Kunden hoheRenditen versprach, diese aber nicht aus Erträgen, son-dern aus neuen Schulden finanzierte.

5. Sobald die Gläubiger das Ende des Ponzi-Spiels derStaatsverschuldung erkennen, sind sie nicht mehr be-reit, dem verschuldeten Staat weitere Kredite zu gewäh-ren. Die Angebotskurve nach Krediten wird völlig zins-unelastisch. Sie steigt senkrecht an, ja sie kann sich so-gar rückwärts neigen, wenn die Gläubiger dem Staatdie Neuauflage bestehender Kredite verweigern. Eskommt zur Kreditrationierung.

6. Um den Zahlungsverpflichtungen nachzukommen, gibtder klassische souveräne Staat, der auch das Geldan-gebot beherrscht, Papiergeld zu pari gegenüber der bis-herigen, z.B. gold- oder devisengebundenen Währungaus. Faktisch gibt es dann zwei Währungen: Devisenbzw. Gold einerseits und Papiergeld andererseits. Dieskann zunächst gut gehen. Doch bei weiterer Geldmen-generhöhung tendiert das Papiergeld, an Wert gegen-über der gold- oder devisengebundenen Währung zuverlieren. Hält die Regierung aber dennoch an der Pari-tät fest, so wird das seit dem Altertum bekannte und nachdem Berater der englischen Königin Elisatbeth I, Sir Tho-mas Gresham (1519–1579), benannte Greshamsche Ge-setz wirksam. Die Menschen versuchen, mit dem Pa-piergeld ihre Transaktionen zu tätigen und Gold und De-visen zurückzuhalten, so dass, wie Gresham voraussagt,das schlechte das gute Geld verdrängt. Als Folge stei-gen die Preise, und das Problem der hohen Staatsschuldwird teilweise durch Inflation gelöst.

7. Damit ist der Prozess aber nicht zu Ende. Vielmehr hatPeter Bernholz (2003; 2005) in umfassenden historischenStudien über Staatsbankrotte herausgefunden, dassnach der Verdrängung alles guten Geldes das so ge-nannte Thierssche Gesetz (nach dem französischen Po-litiker und Historiker Adolphe Thiers 1826) eintritt, nachwelchem nunmehr das gute das schlechte Geld ver-drängt, weil dieses von niemandem mehr angenommenwird: »Finally the bad money will be driven out of circu-lation, and the unstable money become worthless.«(Bern-holz 2003, 61). Dem Staat bleibt dann nur der Staats-bankrott, und die Gläubiger werden an den Kosten derSchuldenkrise beteiligt.

Nach diesem Muster gibt es also in souveränen Staaten ei-ne Art »unsichtbare Hand«, der die Regierungen in ihrer Haus-

haltspolitik unabhängig von ihrem Regierungssystem – sei-en es Monarchien oder demokratische Parteienherrschaf-ten – nicht entgehen können. Es gilt Eugen von Böhm-Ba-werk, dass sich langfristig nicht die Macht, sondern das öko-nomische Gesetz durchsetzt. Dies wird in historischen Bei-spielen immer wieder bestätigt.4

Spanien unter Philipp II war insofern ein Spezialfall, alsder König zwar insgesamt viermal einen Staatsbankrotterlitt, er es aber unterließ, auf der oben angeführten Stu-fe 6 Papiergeld einzuführen. Das Greshamsche undThierssche Gesetz kamen also nicht zur Anwendung,da sich die Gläubiger in vollem Wissen über die Risikenauf die Finanzierung der Armada einließen (Drelichmanund Voth 2010). Ferner war für Philipp der spanische Pe-so de ocho als Weltwährung, auf der Spaniens Seehan-del beruhte, viel zu wichtig, um ihn wegen seiner persön-lichen Zahlungsunfähigkeit zu gefährden. Folglich ent-schied er sich für den offenen Staatsbankrott (Bernholz2007). Dies zwang ihn, seine Staatsfinanzen nach erklär-ter Zahlungsunfähigkeit jeweils soweit wieder ins Gleich-gewicht zu bringen, dass er wieder kreditwürdig wurde,was ihm offenbar schon nach kurzer Zeit gelang. Inso-fern kann von einer selbstreinigenden Kraft der Krise ge-sprochen werden.

Zu einem verdeckten Staatsbankrott kam es in Frankreich,als der schottische Banker John Law im Jahr 1718 im Auf-trag des amtierenden Regenten, des Prinzen von Orléans,versuchte, die Staatsfinanzen durch Papiergeld zu sanieren.Nach einer Weile wurde Greshams Gesetz wirksam. Dochals immer mehr Papiergeld in Umlauf kam, durchschautendie Bürger die Geldillusion, und es entstand eine Hyperin-flation. Das Papiergeld verschwand, weil es niemand mehrwollte, und der Metallstandard setzte sich wieder durch(Bernholz 2003, 40).

Österreich begann im Jahr 1762 mit der zunächst be-schränkten und daher im Zahlungsverkehr auch akzep-tierten Papierwährung »Banco Zettel« im Verhältnis einszu eins gegenüber der silberbasierten Conventionsmün-ze. Doch während der napoleonischen Kriege wurde diePapierwährung gewaltig ausgedehnt und verdrängte ent-sprechend dem Greshamschen Gesetz mehr und mehrdie Conventionsmünze. Im Jahr 1816 schwang das Pen-del zurück. Entsprechend Thiers’ Gesetz setzte sich dieConventionsmünze wieder durch und bildete die Grund-lage der im gleichen Jahr als private Aktiengesellschaftgegründeten »Privilegierten Oesterreichischen National-bank«, die strikt zu einem Drittel durch Silber gedecktesPapiergeld herausbrachte (Satzinger 2006).

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3 Bei gegebener realer Wachstumsrate des BIP und gegebenem Zinssatz.4 Eine Vielzahl von Beispielen findet sich auch bei Manes (1919), dem »Klas-

siker zum Staatsbankrott«.

Zur Diskussion gestellt

Die »Privilegierte Oesterreichische Nationalbank« stellt einfrühes Beispiel einer unabhängigen Notenbank dar. Siesollte der Regierung den Zugang zum Geld versperrenund von ihr notfalls eher den offenen Staatsbankrott for-dern, als ihr den Ausweg zur Inflation zu eröffnen, wasihr bis zum Ersten Weltkrieg auch ganz gut gelang. Demfinanziellen Ansturm der Kriegsfinanzierung war sie dannnicht mehr gewachsen. Sie gab nach, druckte Papiergeldweit über die Metalldeckung hinaus und konnte nach demKrieg die Hyperinflation mit Staatsbankrott nicht ver-hindern.

Die Gefahr von hoher Inflation in Folge von steigenden Staats-schulden ist auch heute nicht vollends gebannt, wenngleicheine unabhängige Zentralbankpolitik in weiten Teilen der Wis-senschaft befürwortet wird (Kydland und Prescott 1977). Inden Vereinigten Staaten hat die aktuelle Krise zu einer riesi-gen Zunahme der Staatsverschuldung geführt und zum Be-dürfnis der Administration, sich der Geldpolitik verstärkt an-zunehmen. Nicht zuletzt unter diesem Aspekt ist die zöger-liche nochmalige Ernennung von Ben Bernanke zum Chefder Fed zu beurteilen.

Staatsbankrotte im Staatenverbund, insbesondere in der Europäischen Union

Im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/2009sind die meisten Eurostaaten in Haushaltskrisen geraten.Die Maastrichtschwelle von maximal 3% Haushaltsdefizitvom BIP wurde, wie zeigt, massiv überschritten. Nur Luxem-burg und Finnland bilden 2009 Ausnahmen. Reinhart undRogoff (2009) zeigen aus historischer Perspektive, dass aufgroße Finanzkrisen im Allgemeinen große Staatsschulden-krisen folgen und das Bedürfnis besteht, sich ihrer durchInflation zu entledigen.5

Dramatisch ist die Lage vor allem in Griechenland, das nochim April 2009 ein Haushaltsdefizit von 3,7% des BIP mel-dete, dann aber ein solches von 12,7% realisierte und da-mit einen Schuldenstand 125% des BIP 2010 erreichenwird.6 Auch Griechenlands Haushaltsprobleme stellen his-torisch gesehen keine außergewöhnliche Situation dar.7

Schon der Eintritt Griechenlands in die Währungsunion imJahr 2004 war durch eine Verletzung der Maastricht-Regelnüberschattet. Und seither hat Griechenland die Maastricht-Kriterien genau genommen nie eingehalten.8

Die unseriöse Haushaltspolitik blieb den Gläubigern Grie-chenlands nicht verborgen, wenngleich sie auf die Unter-stützung der EU-Mitgliedstaaten vertrauten und die Risiko-aufschläge am Anfang gering blieben. Unfundierte Geschen-ke der griechischen Regierung an die Sozialversicherten unddie öffentlich Bediensteten verschärften das Misstrauen desMarktes. Solche Faktoren dürften bei gleichzeitiger Steuer-hinterziehung und Schwarzarbeit von 28% des BIP9 dazubeigetragen haben, dass Griechenland heute nur mehr mitgroßen Zinsaufschlägen zu neuen Krediten kommt. AnfangFebruar 2010 stieg der erforderliche Zinsaufschlag gegen-über deutschen Bundesanleihen auf nahezu 400 Basispunk-te (vgl. Abb. 2). Mittlerweile ging auch die Zahlungsmoraldes Staates massiv zurück: Die Kommunen sind im Rück-stand mit der Bezahlung ihrer Bauarbeiten, und Kranken-häuser sind nicht mehr in der Lage, ihre Medikamente zubezahlen.10 Solche Zahlungsrückstände deuten auf eine Lü-cke, die die Regierung weder durch Steuern noch durchStaatsverschuldung mehr zu stopfen vermag: Ein Zeichen,dass Griechenland am Rande der Kreditrationierung auf Stu-fe 5 der Schritte zum Staatsbankrott steht.

Doch wie geht es weiter? Die im Grundmodell des souve-ränen Staates folgenden Schritte 6 von Papierwährung undGreshamschen zu 7 des Thiersschen Gesetzes werden

schon deswegen nicht folgen, weil Griechen-land Mitglied der Europäischen Währungs-union mit ihrer unabhängigen Zentralbank istund infolgedessen nur im Rahmen des ihmzugedachten Kontingents Noten drucken

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Prognostizierte Haushaltsdefizite in der Eurozone 2009–2011

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Quelle: Europäische Kommission, Herbstprognose 2009.

Abb. 1

5 Blankart und Fasten (2009) diskutieren die Rolle desStaates bei der Bewältigung der Finanzmarktkrise.

6 2011 wird der Schuldenstand voraussichtlich 135%des BIP betragen (Europäische Kommission 2009).

7 In einer bis ins 19. Jahrhundert zurückreichenden Stu-die zeigt Bernholz (2008), dass Griechenland mehr-fach seit seiner Gründung im Jahr 1830 zu den Instru-menten des Staatsbankrotts und der Inflation griff, umsich seiner Staatsschulden zu entledigen.

8 Vielmehr sind die Nominallöhne im privaten und öf-fentlichen Sektor in den letzten zehn Jahren in Grie-chenland ungefähr dreimal so schnell gestiegen wiein Deutschland und die Wettbewerbsfähigkeit hat mas-siv gelitten.

9 Aus Schneider (2007).10 Frankfurt Allgemeine Zeitung, Nr. 25 vom 30. Januar

2010, S. 12.

Zur Diskussion gestellt

darf.11 In Abweichung vom Standardmodell folgen daher hierstatt der Schritte 6 und 7 die für einen Staatenverbund ty-pischen Schritte 6S und 7S.

6S: Wo die Besteuerung und Kredit erschöpft und Geld-schöpfung nicht zulässig sind, da führt ein defizitärerHaushalt unausweichlich zur Insolvenz. Dies sieht auchdie Nichtauslösungsklausel von Art. 125 Abs. 1 (exArt. 103 Abs. 1) des Lissabon-Vertrags so vor. Dort steht,dass die Union nicht für die Verbindlichkeiten der Ge-bietskörperschaften und anderer öffentlich rechtlicherEinrichtungen haftet. Die Regierungen einigten sich aufdiesen Artikel, weil keine von ihnen in die Schuldenpro-bleme einer anderen hineingezogen werden wollte, wasfür jede von ihnen unabsehbare Konsequenzen hätte.Notfalls wäre ein Staatsbankrott aus ihrer Sicht besserals ein Rattenschwanz offener Verpflichtungen gegen-seitiger Hilfezahlungen.

7S: So ganz dezidiert scheinen die Mitgliedstaaten allerdingsnicht gewesen zu sein, als sie in den Verhandlungen zumMaastricht-Vertrag anfangs der neunziger Jahre dieNichtauslösungsklausel schufen. Sie fürchteten, dassdie Zahlungsunfähigkeit eines ihrer Mitgliedstaaten An-steckungseffekte hervorrufen und dann in einer Ket-tenreaktion einen Staat nach dem anderen in die Insol-venz stürzen könnte. Dabei geht es im Wesentlichen umdrei Transmissionskanäle:

Zum einen kann der Bankrott eines Staates über Handels-verflechtungen auf die Zahlungsfähigkeit eines anderen Staa-tes übergreifen. Rechnungen für vom einen in den anderenStaat gelieferte Produkte werden (insbesondere wenn sie an

den Staatsapparat gehen) nicht mehr bezahltoder Zahlungen werden per Staatseingriff zu-rückbehalten. Zum anderen können Anste-ckungseffekte über Finanzverflechtungen er-folgen. Beispielsweise halten die Banken ei-nes Landes Staatspapiere des bankrottenLandes, die nun wertlos werden. Weiter kön-nen Informationen zu Ansteckungen führen.So können die internationalen Finanzmarkt-akteure aus der Zahlungsunfähigkeit einesStaates auf den Ausfall eines anderen Staa-tes schließen, wenn sie dort ähnliche Krisen-symptome beobachten oder vermuten undihm Kredite versagen oder höhere Zinsen ab-verlangen.

Um es gar nicht so weit kommen zu lassen,haben die Mitgliedstaaten der EU schon inden Maastricht-Vertrag den heutigen Art. 126

Abs. 1 AEUV (ex Art. 104 EG) angefügt, der verlangt: »DieMitgliedstaaten vermeiden übermäßige öffentliche Defizite.«Konkret wurden die Maastricht-Schwellen geschaffen, dieein Mitgliedstaat nicht übertreten darf, und diese wurdendurch den Stabilitäts- und Wachstumspakt ergänzt, der fest-legt, was im Falle eines Überschreitens der Schwellen er-folgen soll. Auflagen, selbst Bußen sollen den säumigen Mit-gliedstaat zur Einhaltung der Maastricht-Grenzen bewegen.Eine Autorität, die die beschlossenen Maßnahmen durch-setzt, ist indessen nicht vorhanden. Das sollen Teamgeistund Gruppendruck (peer pressure) leisten. Sehr erfolgreichwar dieses Verfahren allerdings nicht. Derzeit halten nämlich24 der 27 Staaten die Maastricht-Kriterien nicht mehr ein.Bei der großen Zahl von Defizitsündern ist es schwer, einequalifizierte Mehrheit gegenüber einem spezifischen Delin-quenten zusammenzubringen (selbst wenn der betreffendeStaat nicht mit abstimmen darf).

Doch auch wenn die Regierung des Defizitstaates in Brüs-sel einwilligt, Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungenbei sich vorzunehmen, so muss sie diese zu Hause nochdurchsetzen. Im Falle Griechenlands scheint dies besondersschwierig zu sein. Griechenlands Defizitpolitik wurde überviele Jahre stillschweigend geduldet. Die Erstellung korrek-ter Statistiken, die die wahre Lage hätten aufdecken kön-nen, wurde von den EU-Ministern anlässlich des Gipfels von2005 abgelehnt. Der Eingriff in die nationale Souveränität seizu groß, wurde damals argumentiert. Darüber hinaus habenprivate Banken der griechischen Regierung immer wiederBrücken gebaut, beispielsweise indem sie Schulden in De-visentransaktionen umwandelten, die in den offiziellen Sta-tistiken nicht als Schulden erschienen, und hierbei rechtgut Geld verdient.12 Im Weiteren war auch die griechischeLeistungsbilanz seit Jahren negativ.

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Renditeabstand zehnjähriger Staatsanleihen der PIIGS-Staaten gegenüber

deutschen Bundesanleihen

Quelle: Thomson Financial Datastream.

in Basispunktenvom 1. Januar 2007 bis 15. Februar 2010

2008 2009 2010

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Abb. 2

11 Es gibt allerdings Stimmen, die dies bezweifeln und überhöhten Drucknicht ausschließen. Griechische Eurobanknoten, erkenntlich am Y, wer-den bekanntlich in Griechenland, genauer in der griechischen Staatsbank,gedruckt.

12 New York Times vom 13. Februar 2010: »Wall St. Helped to Mask DebtFueling Europe’s Crisis«.

Zur Diskussion gestellt

Wie konnte der griechische Wähler in seiner Mikrowelt er-kennen, dass die Makrodaten nicht stimmen? Oder umge-kehrt: Wie konnte das Bemühen Millionen von Griechen, sichtagtäglich über Wasser zu halten, im Gesamtzusammen-hang falsch sein? Jetzt solle das Steuer herumgeworfen wer-den und sie sollen sich einschränken? Sie sollen Einstel-lungsstopp, Nominallohn-, Pensionskürzungen und Steuer-erhöhungen (auf Alkohol, Tabak und Kraftstoffe) hinnehmen,wo doch ihr Lebensstandard ohnehin zu den niedrigsten inganz Europa zählt? Haben denn da die Gewerkschaftennicht recht, dass sie zu Streiks aufrufen? Deswegen wird diegriechische Regierung gar nicht umhin können, die Brüs-seler Beschlüsse (etwas) zu verwässern und ihren Bürge-rinnen und Bürgern eine mildere Dosis zu verabreichen. DerEU umgekehrt fehlen die Zwangsmittel, um ihre Beschlüs-se eins zu eins durchzusetzen.

Dabei steht Griechenland nicht alleine da. Andere Staatenwie Italien, Spanien, Portugal und Irland haben ebenfalls gro-ße Defizitprobleme. Sie sehen einer möglichen Entschärfungdes Griechenland oktroyierten Sparprogramms hoffnungs-voll entgegen. Was Griechenland nicht erfüllen muss, bleibtauch ihnen erspart. Es ist nicht zufällig, dass diese Staatenim Verein mit Griechenland die Idee einer EU-Gemeinschafts-anleihe ins Spiel bringen, zu der sie selbst wenig beitragen,aber viel profitieren.13 Der neu formulierte Art. 122 (exArt. 100) des Lissabon-Vertrags weist den Weg: »Ist einMitgliedstaat aufgrund von Naturkatastrophen oder außer-gewöhnlichen Ereignissen, die sich seiner Kontrolle entzie-hen, von Schwierigkeiten betroffen oder von gravierendenSchwierigkeiten ernstlich bedroht, so kann der Rat auf Vor-schlag der Kommission [mit qualifizierter Mehrheit und oh-ne Zustimmung des Parlaments] beschließen, dem betref-fenden Mitgliedstaat unter bestimmten Bedingungen einenfinanziellen Beistand der Union zu gewähren.« Damit kanndie Nichtauslösungsklausel nach Art. 125 mehr oder weni-ger ausgehebelt werden. Es kann sogar die Kommissionan einer solchen Anleihe Gefallen finden, wenn sie dadurchverhindert, dass sich der IMF des notleidenden Staates an-nimmt und sie so einen Kompetenz- und Ansehensverlusterleidet14, obgleich der IMF über Jahrzehnte Erfahrung beider Staatskrisenbewältigung gesammelt hat. Die Gefahr,dass Griechenland EU-Kommission und IMF gegeneinan-der ausspielt, ist nicht auszuschließen.

Die Vielzahl der konkurrierenden Interessen in Europa führ-te daher auch zu gemischten Politikmaßnahmen. Einerseitsverabschiedeten die Euro-Finanzminister einen EinsparplanGriechenlands, der die oben angeführten Maßnahmen vor-sieht und über den periodisch Bericht zu erstatten ist. An-

dererseits wurde schon in Aussicht gestellt, dass Griechen-land Hilfe der EU-Staaten erhalten werde, falls es für seineSchulden nicht mehr aufkommen könne. Griechenland kannalso davon ausgehen, dass ihm ein Staatsbankrott erspartbleibt. »Wir lassen Griechenland nicht allein«, sagte der Vor-sitzende der Finanzminister der Eurogruppe Jean-ClaudeJuncker am 15. Februar 2010.15 Zu Kreditrationierung solles nicht kommen.

Klassische souveräne Staaten und Staaten imStaatenverbund im Vergleich

Zusammenfassend sei festgehalten: Der klassische souve-räne Staat ist auf sich selbst angewiesen. Ein in Finanznotgeratener Souverän wird zwar nichts unversucht lassen, ei-nen Staatsbankrott hinauszuschieben. Er wird im Regelfallauch vor einer inflationären Papiergeldvermehrung nichtzurückschrecken. Doch die von Thiers vorausgesagte Re-pudiation des Papiergeldes zwingt ihn schließlich, zu stabi-len Verhältnissen zurückzukehren. Es entsteht ein Zyklus vonNiedergang und Reform.

In einem Staatenverbund wie der Europäischen Union istdies anders. In Finanznot geratene Staaten können, wennsie wie Griechenland der Eurogruppe angehören, ihre Sta-bilisierungsmaßnahmen lange hinauszögern. Es kann Jah-re dauern, bis sich die anderen Mitgliedstaaten gegenüberdem Defizitstaat zu einem Defizitabbauprogramm durch-ringen. Auch wenn es einmal soweit ist, können sie das Pro-gramm verwaltungsmäßig nicht selbst durchsetzen, son-dern sie müssen darauf vertrauen, dass der überschuldeteStaat es selbst tut. Vor allem – und das ist der entschei-dende Punkt – wird von den Maastricht-Grenzen des Art.126 Abs. 1 AEUV (ex Art. 104 EG) in Verbindung mit demEurostabilitätspakt ausgegangen. Darin steht nur, was zutun ist, damit ein Staatsbankrott verhindert wird, aber nichtwas erforderlich ist, wenn ein solcher eintritt. Daher stehtim Hintergrund von Art. 126 Abs. 1 AEUV immer die Aus-lösung, wie aus Junckers Diktum: »Wir lassen Griechen-land nicht allein«, hervorgeht. Das gibt dem Schuldnerstaateinen Anreiz, die Strategie des moralischen Risikos zu fah-ren und auf eine Auslösung (einen Bail-out) von den übri-gen Staaten zu spekulieren.

Richtig wäre es, vom Nichtauslösungsartikel (dem No-Bail-out-Artikel) von Art. 125 Abs. 1 AEUV auszugehen und die-sen mit einem Verfahren wie dem des Eurostabilitätspakteszu verbinden. Die Mitgliedstaaten sagen Hilfe zur Restruk-turierung zu. Aber wenn dies alles nichts fruchtet, so stehtam Ende (anders als bei Art. 126 Abs. 1 AEUV) nicht dieAuslösung, sondern der Staatsbankrott. Anders gesagt: Dienackte Nichtauslösungsklausel von Art. 125 Abs. 1 AEUV

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13 Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 28 vom 3. Februar 2010, S. 9. 14 Am 3. März 2009 äußerte sich EU-Wirtschafts- und Währungkommissar

Joaquín Almunia in dieser Richtung: »Wenn eine solche Krise in einemEuro-Staat auftritt, gibt es dafür eine Lösung, bevor dieses Land beimInternationalen Währungsfonds um Hilfe bitten muss.« (Bloomberg Press,3. März 2009). 15 Handelsblatt, 16. Februar 2010.

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wirkt unglaubwürdig, weil ihr ein institutionalisiertes Verfah-ren fehlt. Es sieht so aus, als ob die Mitgliedstaaten einfachzusähen, wie ein anderer Mitgliedstaat in der Zahlungsun-fähigkeit versinkt. Mit einem detaillierten Verfahren wäre diesaber nicht der Fall. Es wird nur Hilfe zur Selbsthilfe gege-ben, wie sie vom IMF seit Jahren praktiziert wird. Die Letzt-verantwortung bleibt beim Mitgliedstaat.

Aus einer solchen Regel erwachsen Anreize in Richtung vonEx-ante- und Ex-post-Effizienz (vgl. Blankart und Fasten2009). Ex-ante-Effizienz erlangen die Wirtschaftssubjekte,indem sie in ihren Dispositionen einen Ausfall des Staatesals Gegenpartei nicht ausschließen. Beispielsweise werdensie Staatanleihen nicht bedenkenlos als sichere Reservenhalten. Dadurch wird die Gefahr von Ansteckungseffektenreduziert. Auch die Regierungen selbst werden vorsichtigersein, wenn sie die Schande eines Staatsbankrotts gewärti-gen müssen. Ex-post-Effizienz wird vor allem von der Seiteder Gläubiger angestrebt. Sie wollen wissen, was im Falleeines Staatsbankrotts geschieht.

Der Staatsbankrott erweist sich als die Stunde der Wahr-heit, an der das ökonomische Gesetz nicht mehr ignoriertwerden kann. Jedoch können Politiker ihre Macht dazu ein-setzen, den Bankrott zu verzögern. Dies gilt weniger beimsouveränen Staat als beim Staatenverbund. Jeder vertrautauf den anderen mit dem Ergebnis, dass, wenn einer fällt,die anderen auch in den Abgrund gezogen werden. Die so-zialen Kosten des Bankrotts erklimmen dann immer größe-re Höhen. Infolgedessen ist es wichtig, den Staatenver-bund so zu regeln, dass ein Bankrott eines einzelnen Staa-tes niemals gänzlich ausgeschlossen ist.

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Zur Diskussion gestellt

Staatsbankrotte als Herausforderung andas Völker- und Europarecht

Staatsbankrotte in den internationalen Beziehungen: Realität und Perspektiven

Wollte man eine Geschichte des Staatsbankrotts schreiben,so läse sie sich wie ein Who is Who der internationalen Ge-meinschaft. Nicht nur die in chronischer finanzieller Bedräng-nis lebenden Schwellenländer, sondern auch viele heutigeIndustriestaaten waren irgendwann im Laufe ihrer Historieeinmal oder auch mehrfach zahlungsunfähig. Während dieangelsächsisch geprägten Länder – mit der Ausnahme Süd-afrikas (1985) – vom Staatsbankrott in den vergangenen200 Jahren verschont blieben, ist dieser insbesondere in La-teinamerika und Afrika, aber auch Kontinentaleuropa keinseltenes Vorkommnis gewesen. Ein nüchterner Blick auf dieHistorie, die auch Frankreich, Russland und Deutschland alsBankrotteure ausweist, hätte all jene frühzeitig eines Bes-seren belehrt, die bis zur Finanzmarkt- und Wirtschaftskri-se der Jahre 2008 und 2009 glaubten, die Industriestaatendes Westens seien gegen Bankrott immun. Auf der Agen-da der internationalen Staatengemeinschaft stand die Insol-venz souveräner Staaten im Grunde längst schon, bevor diedamalige Vizepräsidentin des Internationalen Währungs-fonds, Anne Krueger, im Jahr 2001 den Entwurf eines »So-vereign Debt Restructuring Mechanism« unterbreitete, derRahmenregeln für ein geordnetes Insolvenzverfahren sou-veräner Staaten enthielt. Anlass für diesen Schritt bestanddurchaus. Denn im Umgang mit Staatsbankrotten überwiegtbis heute eine »A-la-carte-Mentalität«, und die jeweils ge-fundenen Rezepte haben sich – Stichwort »Schuldenfalle«– oft als wenig nachhaltig erwiesen.

Das Völkerrecht definiert den Begriff des Staatsbankrotts bisjetzt ebenso wenig wie den – eher verfahrensbezogenen –der Staateninsolvenz. Allgemein wird man einen Staat dannfür bankrott ansehen müssen, wenn er seine laufenden fi-nanziellen Verpflichtungen nicht mehr zu erfüllen vermag, al-so zahlungsunfähig ist. Hinter den geringen Fortschritten desVölkerrechts bei der rechtlichen Erfassung des Staatsbank-rotts und der Ordnung der Staateninsolvenz steht ein Ursa-chenbündel. Die zunehmende Komplexität der Gläubiger-struktur und die Differenzierung des Schuldtitelspektrumslassen Zweifel an der Effektivität eines »hoheitlichen« Bewäl-tigungsmechanismus aufkommen. Hinzu tritt die Schwierig-keit, eine Balance zwischen Effektivität des Verfahrens undRücksichtnahme auf staatliche Souveränität herzustellen.Das staatliche Recht – auch die deutsche Insolvenzordnung– lässt ein Insolvenzverfahren über Bund oder Länder auchdeshalb nicht zu, weil der Staat nicht als sein eigener Insol-venzverwalter in Erscheinung treten kann. Im überstaatli-chen Bereich wiederum begrenzt die staatliche Souveräni-tät den Aktionsspielraum: Ohne Einwilligung des Schuldner-staates kann die Umschuldung weder beginnen noch ab-geschlossen werden, wobei dieses dort nur auf vertraglicherBasis geschehen darf; die Verfahrensherrschaft darf nie-mand dem Schuldnerstaat vollständig entziehen; und dassam Ende des Prozesses nicht, wie bei einem Unterneh-men, die Liquidation stehen darf, steht außer Frage. Die Ini-tiative des IWF jedenfalls blieb zunächst ohne Nachhall, dasie auf den Widerstand der USA und auch mancher Schuld-nerstaaten stieß.

Die globale Finanzkrise brachte das Thema Staatsbankrottnicht nur auf die internationale Agenda zurück, sondern spül-te es erstmals seit den Römischen Verträgen auch auf dieeuropäische. Nachdem die finanzielle Lage von Ungarn undLettland so prekär geworden war, dass sie aus einem Not-fonds der Europäischen Union alimentiert werden muss-ten, und auch Griechenland ins Wanken geraten war, muss-te klar sein: Selbst Mitgliedschaft in der EU bietet gegenBankrott keine absolute Gewähr. Und zweitens: In einer Äraglobalisierter Finanz- und Wirtschaftsbeziehungen mit regio-nalen Verdichtungskernen ist Staatsbankrott immer wenigereine innere Angelegenheit des betroffenen Staates, sondernerfordert ein Handeln der internationalen ebenso wie der eu-ropäischen Staatengemeinschaft. Allerdings hat weder dieeine noch die andere wirkungsvolle Präventionsstrategienzu entwickeln vermocht, und auch bei der Bekämpfung dro-hender oder eingetretener Staatsbankrotte wird eine gewis-se Ratlosigkeit offenbar; abstrakte Maßstäbe und Grund-sätze treten hier allenfalls in Ansätzen und schemenhaft her-vor. Was die Frage der Prävention betrifft, mag die norma-tive Zurückhaltung noch verständlich erscheinen, da das po-tentielle Ursachenspektrum für Zahlungsunfähigkeit souve-räner Staaten breit ist. Während in Schwellenländern u.a.politische Instabilität, Währungsspekulation und mangelndeSteuerdisziplin, aber auch voreilige Liberalisierung des grenz-

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Jörn Axel Kämmerer* Hans-Bernd Schäfer**

* Prof. Dr. Jörn Axel Kämmerer ist Inhaber des Lehrstuhls für ÖffentlichesRecht I, Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht an der Bucerius LawSchool, Hochschule für Rechtswissenschaft, Hamburg.

** Prof. Dr. Hans-Bernd Schäfer war Direktor des Institus für Recht und Öko-nomik an der Universität Hamburg und hat eine Affiliate-Professur an derBucerius Law School, Hochschule für Rechtswissenschaft, Hamburg.

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überschreitenden Kapitalverkehrs mit der Gefahr plötzli-cher und unkontrollierbarer Devisenabflüsse, chronischeHaushaltsprobleme verursachen, waren die jüngsten Haus-haltskrisen westlicher Staaten in deren Banken- und Finanz-marktpolitik lediglich latent angelegt: Erst der politischeZwang zur Rettung des Bankensystems – zu einem staat-lichen Bail-out also – ließ die Staatsschulden explodieren.Dabei offenbarte sich zugleich die Wertlosigkeit der Netto-neuverschuldungsgrenze von 3% des BIP als Disziplinie-rungsmittel angesichts einer Situation, die den Mitgliedstaa-ten (was die Europäische Kommission auch nolens volensakzeptierte) keine andere Wahl als massives »deficit spen-ding« lässt.

Die Europäische Union im Dilemma: Sorge um dieUnionswährung zwischen Verbot und Notwendig-keit eines Bail-out

Für die EU-Mitgliedstaaten als Herren der europäischen Ver-träge war die Festlegung von Grundsätzen für den Umgangmit Staateninsolvenzen innerhalb der Gemeinschaft bzw.Union zu keinem Zeitpunkt ein Thema. Dass die Gefahr ei-nes Staatsbankrotts in Europa unterschätzt worden ist, kannkeineswegs als sicher gelten; lag doch bei Gründung derEWG das Londoner Schuldenabkommen, mit dem Deutsch-lands Verbindlichkeiten bereinigt worden waren, erst zweiJahre zurück. Eher ist anzunehmen, dass die Vertragsstaa-ten die E(W)G bzw. EU, jedenfalls anfangs nicht als adä-quates Forum für die Regelung staatlicher Schuldenpro-bleme betrachteten. Wohl nimmt das Unionsrecht auf Staats-schulden Bezug, doch tut es dies unter dem Vorzeichender Stabilität des Binnenmarktes, der Wirtschafts- und Wäh-rungsunion und damit des Euro. Überschreiten Nettoneu-und Gesamtverschuldung eines Staates die im Vertrag undim Stabilitäts- und Wachstumspakt festgeschriebenen De-fizitgrenzen, so vermögen Rat und Kommission Sanktions-maßnahmen in Gang zu setzen. Das äußerste Mittel, wel-ches der Vertrag dabei androht – die Geldbuße –, erscheintgegenüber einem hoch verschuldeten Staat eher kontrapro-duktiv, während verbindliche Ratsvorgaben, die bereits aufder vorherigen Stufe beschlossen werden können (eine Stu-fe, die Griechenland praktisch erreicht hat), durchaus Effi-zienz zeitigen können. Dies gilt, wie sich im Umgang mit Grie-chenland gezeigt hat, selbst dann, wenn die Maßnahmenerst das Stadium eines Vorschlags der Kommission erreichthaben. Ja selbst die Ächtung als »Defizitsünder« bleibt nichtohne Wirkung, und auch mit der Drohung, Unterstützungs-maßnahmen (wie aus dem Strukturfonds) auszusetzen, kanneine Disziplinierung des verschuldeten Mitgliedstaats erreichtwerden. Die Wirksamkeit aller dieser Maßnahmen setzt al-lerdings voraus, dass die Haushaltsprobleme des Adressa-ten tatsächlich vorwiegend aus mangelnder Budgetdiszip-lin herrühren und nicht primär Folgen einer globalen Krisesind, die durch Fehleinschätzungen über die notwendigen

Gegenmaßnahmen, durch wirtschaftspolitische Fehlent-scheidungen (beispielhaft steht dafür die Weigerung der USA,Lehman Brothers zu retten), noch vertieft worden ist. Diegleiche Wirkung können situativ unumgängliche Gegenmaß-nahmen (wie die Rettung »systemwichtiger« Unternehmen)zeitigen, wenn die Wirtschaftssektoren, die unterstützt wer-den müssen, gemessen an der Gesamtwirtschaft überdi-mensioniert sind. Staaten, die noch vor wenigen Jahren ei-nen ausgeglichenen Haushalt aufwiesen, sehen sich durchfinanzielle Anstrengungen belastet, die sie zur Rettung vonBanken und wichtigen Industriezweigen unternehmen müs-sen, also durch Bail-out-Maßnahmen zugunsten der eige-nen Wirtschaft.

Gegen eine solche Situation sind die europäischen Verträ-ge offenbar schlecht gewappnet. Schwierigkeiten von Mit-gliedstaaten bei der Erfüllung ihrer finanziellen Verbindlich-keiten lassen sich – so stellt der Vertrag sich dies vor – inder Regel durch Straffung von Budgets und Kürzung derStaatsausgaben beheben. Nicht zuletzt deshalb wird auchder Pflicht zum »Bail-out« für solche Verbindlichkeiten durchdie Union oder andere Mitgliedstaaten für den Regelfall ei-ne Absage erteilt (Art. 125 AEUV): Jeder Staat, so das Prin-zip, soll seine Schuldenlast selber schultern. Dieses Mottoaber kann sich als kontraproduktiv erweisen, wenn höhereAusgaben (die auch durch staatliche Beihilfen generiert wer-den können, welche im europarechtlichen Beihilfenkontroll-verfahren bereits gebilligt worden sind) unumgänglich sind,um den Zusammenbruch von Wirtschaftssektoren zu ver-meiden, der sich wiederum belastend auf den Binnenmarktauswirken würde. Die aus der jüngsten Krise geborenen Ver-schuldungsprobleme von Ungarn, Lettland und Irland ha-ben deutlich gemacht, dass die Union positiven Anstren-gungen, um Mitgliedstaaten vor dem Bankrott zu bewah-ren, kaum entgehen kann, und dies nicht nur um der Sta-bilität des Euro willen. Nur sind die Pforten, die das Vertrags-recht solchen Unterstützungsaktionen öffnet, außerordent-lich schmal: Bei Staaten, die nicht an der gemeinsamen Wäh-rung teilhaben, genügt eine Zahlungsbilanzkrise (Art. 143 f.),bei Staaten der Eurozone sind außergewöhnliche Ereignis-se Voraussetzung, die sich ihrer Kontrolle entziehen(Art. 122 II AEUV). Diese Bestimmung ist nicht zunächst aufHaushalts- und Wirtschaftskrisen gemünzt, und nur bei groß-zügiger Auslegung wird man sie auch dann zur Anwendungbringen können, wenn die Krise maßgeblich vom Schuld-nerstaat mit verursacht worden ist. In jedem Fall ist der »fi-nanzielle Beistand«, der, wie der Vertrag betont, im »Geisteder Solidarität« geleistet wird und an »Bedingungen« gekop-pelt sein muss, nur als Überbrückungsmaßnahme und nichtals Umschuldungsverfahren gedacht.

Die Union steht nun – rechtlich wie wirtschaftspolitisch –vor einem äußerst schmalen Grat. Sie darf das Bail-out-Verbot nicht zum Schaden des Euro in einer Weise aufwei-chen, dass die Ausnahme zur Regel wird. Aber sie kann auch

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nicht untätig bleiben, da die Geschäftsgrundlage des Ver-trages in einem wesentlichen Punkt lückenhaft ist: Die Ge-fährdung des Gesamtsystems durch Turbulenzen, die er-wachsen, wenn einem Staat die Unterstützung verweigertwird, lag offenbar außerhalb der Vorstellungswelt der Ver-tragsparteien. Sie liegt aber im Bereich des Möglichen, wennGriechenland Unterstützung verweigert wird: Spekulantenkönnten dann die Schuldpapiere anderer labiler Mitglied-staaten ins Visier nehmen und den befürchteten »Domino-Effekt« auslösen. Die EU wird daher jetzt in größeren undanderen Dimensionen denken und flexibler reagieren müs-sen, als die Vorschriften für das Defizitverfahren für den Nor-malfall vorsehen.

Insolvenzverfahren für Staaten?

Auf globaler Ebene hat sich der Umgang mit staatlichen undinternationalen Finanzkrisen seit dem 19. Jahrhundert imKern kaum gewandelt. In der Regel findet eine bloße Um-schuldung des Schuldnerstaates statt, über die getrenntmit privaten und staatlichen Gläubigern verhandelt wird.Wenn man überhaupt ein die Umschuldungsverfahren derletzten Dekaden begleitendes Kontinuum erkennen will,so in den Stand-by-Krediten, die der Internationale Wäh-rungsfonds – der zugleich als verfahrensleitendes Organauftritt – dem Schuldner gewährt. Während diese Notkre-dite nachweislich vorwiegend den Banken zufließen, musssich der Schuldnerstaat harten Auflagen unterwerfen, aberohne große Hoffnung, der berüchtigten »Schuldenfalle« dau-erhaft zu entrinnen. Solche Umschuldungsverfahren, auchsolche, die mit einem partiellen Schuldenerlass einherge-hen, ein Insolvenzverfahren zu nennen, wäre ein Euphemis-mus – weil sie keinen festen Regeln folgen und den Schuld-nerstaat von seinen Lasten meist nicht dauerhaft erleich-tern. Dabei hatte Adam Smith bereits 1776 in »The Wealthof Nations« die Notwendigkeit der staatlichen Insolvenzals Rechtsinstitut mit den folgenden Worten beschrieben.»Wenn es für den Staat notwendig wird, sich für bankrottzu erklären, ähnlich wie ein Individuum sich für bankrott er-klärt, dann bietet eine faire, offene und ausdrückliche In-solvenz stets das beste, für den Schuldner am wenigstenentehrende und für den Gläubiger am wenigsten schmerz-hafte Verfahren.«

Eine Kritik des Insolvenzverfahrens für Staaten lautet, Staa-ten könnten nicht wie Unternehmungen behandelt werden.Dahinter steht die irrige Annahme, ein Insolvenzverfahren er-zwinge eine solche Gleichbehandlung. Wie eingangs dar-gelegt, schließt bereits das Souveränitätsprinzip die Über-nahme mancher Elemente des staatlichen Verfahrens, wieVerfahrenszwang, Richterentscheidung und Liquidation, ka-tegorisch aus. Je enger der wirtschaftliche Verbund zwi-schen dem Schuldnerstaat und anderen Mitgliedstaateneiner Wirtschafts- und Finanzgemeinschaft ausfällt, desto

stärker wird zudem die überkommene Gläubiger-Schuldner-Polarität überlagert durch eine horizontale Lösung zwischenden Mitgliedern des Verbundes, unabhängig davon, ob siezugleich Gläubiger sind oder nicht. So gesehen, mag es kon-sequent erscheinen, wenn das deutsche InsolvenzrechtBund und Länder für nicht insolvenzfähig erklärt; denn ei-nen Teil ihrer Lasten übernehmen die anderen föderalen Glie-der ja kontinuierlich, und bei extremen Haushaltsnotlagensteht der Bund über Sonderbedarfs-Ergänzungszuweisun-gen dem Schuldnerland bei. Auch die EU wird sich in ihremDilemma zwischen dem rechtlichen Bail-out-Verbot und derwirtschaftspolitischen Bail-out-Notwendigkeit – die beide ansich zum Schutze des Euro gereichen – wohl dafür entschei-den müssen, Griechenland unter wohlwollender Auslegungder Ausnahmevorschriften Hilfen zu gewähren, um keinenVerfall der Unionswährung zu riskieren. Hier zeigt sich, dassbei der Gestaltung der Vorschriften über die Wirtschafts-und Währungsunion ein wesentliches Moment vergessenwurde, das eine ähnliche Funktion erfüllt wie die Liquidati-on oder jedenfalls ein Unbundling des insolventen Unterneh-mens: Um den Staatsbankrott als Gefahrenquelle für dieFinanzbeziehungen zu beseitigen, hätte die Möglichkeit ei-nes Ausschlusses oder wenigstens eines Austritts aus derEurozone vorgesehen werden müssen. Dies gilt umso mehr,als Griechenland sich die Einführung des Euro mit falschenHaushaltszahlen erschlichen hatte. Nach allgemeinen völ-kerrechtlichen Regeln, die auf die EU als »self-containedregime« allerdings nicht angewendet werden können, dürf-te ein solcher Betrug mindestens die Suspendierung derentsprechenden Regeln rechtfertigen. Der Versuch, Grie-chenlands Haushalt gleichsam unter die Aufsicht der EU zustellen, hat Züge eines vorgezogenen Insolvenzverfahrensunter den EU-Partnern (da Griechenland sich durch den Bail-out faktisch ihnen zum Schuldner macht), nur fehlt es auchhierfür an einer soliden vertraglichen Grundlage. Die Zuläs-sigkeit einer solchen Haushaltsaufsicht ließe sich jedochnoch eher begründen als die einer ebenfalls vorgeschlage-nen geordneten Inflation, welche den vertraglichen Defizit-regeln nicht nur in der Sache, sondern auch im Geiste dia-metral widersprechen würde.

Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat Europas Wehrlosigkeitgegenüber dem Staatsbankrott nicht nur insoweit offen ge-legt, als ihm ein Regelungskonzept fehlt, sondern auch, weildie globale Krise einen Flächenbrand zu entfachen droht,der für die Union durchaus zu existenziellen Bedrohung wer-den könnte: Staatsbankrott hat epidemisches Potential. Die-ser Erkenntnis müsste auch die internationale Staatenge-meinschaft Fortschritte zumindest bei der verfahrensrecht-lichen Bewältigung von Staatsbankrottstituationen folgenlassen, doch geben die jüngeren Ereignisse wenig Grund zuOptimismus. Nachdem das vom IWF entwickelte Konzepteines standardisierten »Sovereign Debt Restructuring Me-chanism« am Veto der USA gescheitert war, liefen gegeneine neue Initiative der G8 die Schwellenländer Sturm. Dass

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Beharrlichkeit, ja Indolenz, und geschicktes Taktieren mehrwert sein kann als die Sicherheit eines Regelkorsetts, hatArgentinien zwischen 2001 und 2005 vorexerziert. Doch istauch der Pampastaat noch nicht aus dem Schneider: Wäh-rend die novellierten Schuldverschreibungen irgendwanneinmal fällig werden, wird Buenos Aires die Bedienung derverbliebenen ursprünglichen Titel nicht ad infinitum verwei-gern können. Konsequenterweise wird gerade der »Erfolgs-fall Argentinien« als Kandidat für einen möglichen künftigenBankrott gehandelt.

Die Defizite der tradierten Umschuldungsmechanismen lie-gen zugleich auf der Hand: Einzelne Gläubiger haben esimmer wieder vermocht, auf Kosten der Gläubigergemein-schaft und des Schuldnerstaates die Bedienung von Kredi-ten in nationalen Gerichtsverfahren zu erzwingen. Vor allemwenn der Schuldnerstaat die Bedienung von Krediten aus-setzte, lieferten Gläubiger sich Wettrennen um pfändbareObjekte im Ausland; die Unübersichtlichkeit der Lage ver-schärfte nicht selten die bestehenden Wirtschaftskrisen. Zu-dem scheiterten in den 1990er Jahren mehrfach Versuche,den Abfluss von Auslandskapital aus dem Schuldnerstaatzu vermeiden, was die Schleifspuren der Krise in der realenWirtschaft schmerzlich vertiefte. Bereits von der Existenzdisziplinierender Regelungen könnte eine Steuerungswir-kung für potentielle Kreditgeber ausgehen. Schuldner, Ban-ken, Anleihegläubiger und Schuldnerstaaten haben bislangrecht unbekümmert investiert, weil sie damit rechnen konn-ten, von internationalen Organisationen wie dem Interna-tionalen Währungsfonds im Krisenfall mit Überbrückungs-krediten »herausgepaukt« zu werden. Ein Wegfall dieser fak-tischen Bail-out-Garantie zwänge Käufer von Staatsanlei-hen und Banken, Länderrisiken bei der Kreditvergabe wie-der stärker zu berücksichtigen – und veranlasste den Schuld-nerstaat zu einer realistischeren Steuer- und Fiskalpolitik.Was die Ausgestaltung des »Weltinsolvenzrechts« betrifft,streiten die Propagandisten eines »privatautonomen« be-kanntlich mit den Verfechtern eines völkerrechtlichen Mo-dells. Beim ersten Modell können qualifizierte Gläubiger-mehrheiten auf der Basis so genannter Collective ActionClauses über einen »stand still« und sogar die Herabsetzungdes geschuldeten Kreditbetrags beschließen. Sein Vorteilliegt auf der Hand: Die staatliche Souveränität bleibt formalunangetastet, die Gläubiger aber werden zu Herren des Ver-fahrens. Minderheiten werden zugleich Hold-up-Positionenebenso verwehrt wie das Boykottieren eines Schuldenerlas-ses, wenn dieser im Interesse der meisten Gläubiger liegt.Wirkliche Gleichheit der Gläubiger können aber auch CACnicht gewährleisten, weil sie nur Schuldverschreibungen derjeweils gleichen Art erfassen, und weil die Unterscheidungzwischen Forderungen Privater auf der einen und Forde-rungen der Staaten und des IWF – die in der bisherigenRechtspraxis privilegiert sind – erhalten bleibt. Daher ist –auch seitens der G8 – vorgeschlagen worden, eine interna-tionale Behörde (wie den IWF) zu ermächtigen, nach fest-

gelegten Kriterien Schuldenerlasse auch gegen den Willender Gläubiger zu beschließen. Auch dieser Vorschlag ist je-doch nicht ohne Tücke, da er einen Art umgekehrten Bail-out generiert: Kredite des IWF wurden in der Vergangenheitvielfach nicht zur Stabilisierung, sondern zum Herauspau-ken privater Gläubiger, insbesondere amerikanischer Ban-ken, benutzt. Wenn in Krisen eine »internationale Feuerwehr«wie der IWF bereitsteht, werden private Gläubiger einemErlass ihrer Schulden nicht zustimmen; schließlich könnensie darauf spekulieren, dass die internationale Staatenge-meinschaft ein Land nicht im Stich lässt, weil private Gläu-biger sich verweigern – und sorglos weiter Kredite verge-ben. »Feuerwehraktionen« des IWF auf den Finanzmärktenbleiben trotz dieser Fehlallokationsrisiken notwendig. Insge-samt sollte jedoch auf die Entstehung eines »gemischten In-solvenzsystems« hingewirkt werden, das auf völkerrechtli-cher Grundlage Elemente des privatrechtlichen Mechanis-mus integriert und dabei die Fehlanreize beider Systeme mi-nimiert. Privaten Gläubigern ist die Chance einzuräumen, aufAugenhöhe mit staatlichen Kreditgebern und dem IWF zuagieren, die bestehenden Verhandlungsforen (»Londoner«und »Pariser Club«) sollten fest in ein neues institutionellesGeflecht eingebaut werden. Der Doppelfunktion des IWF,der zugleich als Gläubiger und Regieführer auftritt, könnteeine »chinese wall« zwischen der Kredit- und der Insolvenz-sparte die Brisanz ein Stück weit nehmen, doch bleibt erselbst dort, wo keine eigenen Forderungen im Spiel sind,eher ein Vertreter von Gläubigerinteressen. Besser wäredaher die Gründung einer internationalen Insolvenzbehör-de, die – wenn aus völkerrechtlichen Gründen auch nur mitempfehlender Wirkung – einen Teilerlass anordnen würde.Umschuldungen, die vielfach auch einen »Haircut« (einenpartiellen Schuldenerlass, der auch in der Absenkung vonSchuldzinssätzen bestehen kann) umschließen, sollten durcheine unabhängige Instanz angestoßen, begleitet und über-wacht werden, eine Instanz, die auf Interessenausgleich zwi-schen den Gläubigern und dem Schuldnerland – und dasheißt auch: seinen Bürgern und Steuerzahlern – hinarbei-tet. Letzteren dürfen keine unerträglichen Lasten aufgrundvon Mehrabgaben und Einschränkungen wesentlicherStaatsfunktionen aufgebürdet werden.

IWF versus EU? – Zur Verfahrensherrschaft beiStaateninsolvenzen innerhalb Europas

Die Einführung einer verbindlichen internationalen Insolvenz-ordnung würde die Chancen von Schuldnerstaaten auf fi-nanzielle Erholung überall dort vergrößern und ihre Abhän-gigkeit von Notkrediten – und damit vom IWF – verringern,wo sie in keinen anderen Solidarkontext als den des allge-meinen Völkerrechts einbezogen sind. Wie eine solche Ord-nung mit regionalen Schicksalsgemeinschaften föderalerPrägung wie der EU koordiniert werden kann, ist indes völ-lig offen. Der EU kann an einer Intervention des IWF in den

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Binnenmarkt aus Autoritätsgründen nicht gelegen sein –und auch, weil der in Washington nicht nur ansässige, son-dern auch in starkem Maße amerikanischem Einfluss un-terworfene Währungsfonds für den Euro und seine Zukunftwenig Sensibilität aufbringen dürfte. Überdies gebietenhochgradig integrierte und komplexe Ordnungen wie dieEU – die völkerrechtlich als »self-contained regime« betrach-tet wird und damit allgemeinen völkerrechtlichen Regelnnicht unterliegt, soweit ihre Eigenart entgegensteht – ande-re Lösungsansätze, als sie die globale Völkerrechtsordnungbereithält. Am Beispiel Griechenlands wird sich erweisen,ob die EU rechtlich und tatsächlich zu eigenen Lösungs-strategien befähigt ist und ob die ihr vertraglich eingeräum-ten Instrumente ausreichen, um den Bankrott eines ihrerMitgliedstaaten abzuwenden, ohne dass die Unionswäh-rung Schaden nimmt. Die Fähigkeit der EU, die Krise selbstzu lösen, ist der Lackmustest für die Handlungsfähigkeit derWirtschafts- und Währungsunion. Scheitert die Union mitihrem Bemühen, wird dies zum Vorteil des IWF ausschla-gen, der bei dem Versuch, die Regie zu übernehmen, we-nig Rücksicht auf die Unionswährung nehmen wird, ande-rerseits aber Rückenwind für seine Forderung nach einerglobalen Insolvenzordnung für Staaten verspüren könnte.Zeitigt ein innereuropäisches Vorgehen Wirkung, ist dies alsDelegitimation eines solchen Projekts aufzufassen, das sei-nen Anspruch universeller Anwendbarkeit aufgeben muss,doch gewinnt umgekehrt die Union als »regionaler Insol-venzverwalter« an Profil, und der Euro wird sich als Wäh-rung auch auf globaler Ebene behaupten können. Zum Tri-but, den auch eine „europäische Lösung“ im Falle Griechen-lands fordert, könnte ein moderater und verkraftbarer »Hair-cut« bei dessen Gläubigern in Höhe von 300 Mrd. € gehö-ren. Dieser muss den Euro nicht schwächen, sondern wür-de Gläubigern zur Warnung gereichen, bei Auslandskredi-ten in den ökonomisch fragilen Zonen auch des Eurorau-mes Vorsicht walten zu lassen – und würde es Griechen-land zugleich schwerer machen, durch Aufnahme neuerKredite die Saat für eine weitere Krise zu legen. Im Ergeb-nis wären solche Signale der langfristigen Stabilität des Euroalso eher förderlich als hinderlich.

Finanz- und wirtschaftspolitische Herausforderungen für Deutschland und Europa

Seit Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise ist ein welt-weit enormer Anstieg staatlicher Defizite und Schuldenstän-de zu beobachten. In Deutschland lag das gesamtstaatli-che Defizit im Jahr 2009 bei 3,2% des Bruttoinlandsproduk-tes (BIP) und damit über dem Maastricht-Referenzwert von3%. 2010 erwartet die Bundesregierung einen Anstieg aufrund 5,5%, der Schuldenstand wird mittelfristig auf über 80%des BIP ansteigen. In der Europäischen Union steigen dieDefizite 2010 durchschnittlich auf rund 7,5%. Dahinter ver-birgt sich allerdings ein sehr heterogenes Bild. Während ei-nige Länder – darunter Deutschland – ihre Hausaufgabenin den vergangenen Jahren weitgehend gemacht haben undheute deutlich besser dastehen, gibt es andere, die jetztvor noch größeren finanz- und wirtschaftspolitischen Her-ausforderungen stehen. Aus dieser Entwicklung ergebensich zwei entscheidende Fragen. Erstens: Was sind die zent-ralen Elemente einer geeigneten fiskalischen Exitstrategie?Zweitens: Was bedeutet die Entwicklung für die Europäi-sche Währungsunion, was ist jetzt zu tun, welche Lehrenziehen wir daraus für die Zukunft?

Krisenbedingter Anstieg der Staatsverschuldung

In der gegenwärtigen Krise, die durch einen synchronen Ein-bruch der globalen Wirtschaftsleistung gekennzeichnet ist,bestand kurzfristig keine Alternative zu einer expansiven Fi-nanzpolitik. Um den Crash der Weltwirtschaft zu vermeiden,forderten internationale Organisationen wie IWF oder OECDund nahezu sämtliche Experten diskretionäre staatliche Maß-nahmen zur Belebung der Konjunktur. In Deutschland wur-de ein Paket von über 100 Mrd. € geschnürt. Durch diese

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Jörg Asmussen*

* Jörg Asmussen ist Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen.

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Konjunkturprogramme hat sich die staatliche Haushaltspo-sition, wie aber auch aufgrund sinkender Einnahmen ausSteuern und Abgaben sowie durch steigende Ausgabenfür staatliche Sozialleistungen verschlechtert. Im internatio-nalen Vergleich ist der Anteil der automatischen Stabilisa-toren in Deutschland – vor allem aufgrund der stark ausge-prägten sozialen Sicherungssysteme – relativ hoch. So istauch der Großteil des gestiegenen Staatsdefizits 2009 aufihr Wirken zurückzuführen. Das strukturelle, d.h. das umkonjunkturelle und sonstige temporäre Effekte bereinigteFinanzierungsdefizit erhöhte sich lediglich um 0,5 Prozent-punkte auf 1,5% des BIP. Im Jahr 2010 wird – bei voller Wirk-samkeit aller beschlossenen Maßnahmen, z.B. durch dasWachstumsbeschleunigungsgesetz – allerdings auch dasstrukturelle Defizit deutlich auf 4,5% ansteigen.

Mit den Konjunkturprogrammen konnte in der Tat dasSchlimmste abgewendet werden. Angesichts der engengrenzüberschreitenden Vernetzung der Volkswirtschaften,nicht nur in der EU, hat die internationale Koordinierung dernationalen Stabilisierungsmaßnahmen geholfen, die Wirkungder Programme zu erhöhen und die Gefahr des »Trittbrett-fahrens« einzudämmen.

Nachhaltige Haushaltskonsolidierung alternativlos

Wenn ein selbsttragender Aufschwung in Gang gekommenist, muss der nachhaltigen Konsolidierung der öffentlichenFinanzen rasch oberste Priorität eingeräumt werden.

Die Handlungsfähigkeit des Staates muss langfristig gesi-chert werden. Im Bundeshaushalt 2010 sind rund 12% al-ler Ausgaben für den Schuldendienst veranschlagt und dasbei historisch niedrigem Zinsniveau. Es ist möglich, dass dieenormen Liquiditätsspritzen der letzten Monate zu einem et-was erhöhten Inflationsdruck führen werden, was mittelfris-tig steigende Zinsen bedeuten könnte. Der Konsolidierungs-druck wird zusätzlich durch die demographische Entwick-lung verstärkt, da die Lasten der Verschuldung künftig vonimmer weniger Erwerbspersonen getragen werden müssen.Weitere fiskalische Herausforderungen, z.B. der Klimawan-del, tun ein Übriges.

Zudem muss das Vertrauen der Märkte in langfristig solideöffentliche Finanzen gestärkt werden. Einerseits spielen dieErwartungen der privaten Akteure eine zentrale Rolle für ih-re Konsum- und Investitionsentscheidungen. Andererseitshängen die staatlichen Refinanzierungskosten – über die ge-forderten Risikoprämien der Kapitalgeber – maßgeblich vomVertrauen in die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen ab.Aktuell beobachten wir ein deutliches Auseinanderdriften der»Spreads« zwischen deutschen Staatsanleihen und ver-gleichbaren Papieren anderer Mitgliedstaaten der Europäi-

schen Währungsunion. So lag der Zinsaufschlag für grie-chische Staatsanleihen mit zehnjähriger Laufzeit Anfang Feb-ruar 2010 bei über 300 Basispunkten gegenüber vergleich-baren deutschen Papieren.

Fiskalpolitische Exitstrategien

Niemand bezweifelt, dass die kurzfristig stark expansiv aus-gerichtete Finanzpolitik nicht in Einklang mit langfristig trag-fähigen öffentlichen Finanzen steht. Weniger klar ist dieAntwort auf die Frage, wie die Schuldenstände zurückge-führt werden sollten oder wann mit konkreten Einsparun-gen begonnen werden sollte. Denn ein verfrühtes und mög-licherweise synchrones Abziehen der Stützungsmaßnah-men birgt die Gefahr eines erneuten Einbruchs des Wirt-schaftswachstums.

Obwohl viele diskretionäre Stützungsmaßnahmen zeitlichbefristet sind und damit automatisch auslaufen, wird dieRückführung der strukturell angestiegenen Defizite weitereMaßnahmen, insbesondere deutliche Einschnitte bei denAusgaben, erforderlich machen. Diese Einsparungen soll-ten durch weitere Strukturreformen flankiert werden, um dasPotentialwachstum zu steigern, da eine erfolgversprechen-de Strategie zur Sicherung der Tragfähigkeit der öffentlichenFinanzen grundsätzlich an zwei Seiten ansetzt. Die Tragfä-higkeit hängt nicht nur vom langfristigen Verlauf der – expli-ziten und impliziten – Staatsverschuldung ab, sondern auchwesentlich von der Entwicklung der Leistungsfähigkeit einerVolkswirtschaft. Folgerichtig sollte sich eine langfristige Stra-tegie auf die quantitative Begrenzung der Neuverschuldungkonzentrieren, ohne dabei aber das Wachstumspotential ei-ner Volkswirtschaft außer Acht zu lassen. Auch der öffent-liche Sektor hat hier Potential – Stichwort mehr Effizienz undEffektivität.

Bei der quantitativen Begrenzung der Staatsverschuldungkann ein geeigneter institutioneller Rahmen entscheidendzum Erfolg beitragen. In Deutschland beschränkt die neue,im Grundgesetz verankerte Schuldenregel die strukturelleNeuverschuldung des Bundes künftig eng auf 0,35% desBIP, die Länder müssen in Zukunft sogar strukturell ausge-glichene Haushalte vorlegen. Die Regelung wird dazu füh-ren, dass die Schuldenstandsquote des Gesamtstaates kon-tinuierlich absinken wird, und das schon bei moderatenWachstumsraten. Die nationale Schuldenregel steht dabeivoll in Einklang mit den Bestimmungen des Stabilitäts- undWachstumspaktes. Sie sichert auch, dass das deutsche De-fizit – wie im Defizitverfahren gefordert – im Jahr 2013 un-ter dem Referenzwert des Maastricht-Vertrages von 3%liegen wird.

Durch eine Reform des institutionellen Rahmens können Re-gierungen heute schon einen Abbaupfad der strukturellen

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Defizite festlegen. Fiskalregeln bieten den Vorteil, dass siedas Vertrauen in die Staatsfinanzen erhöhen und damit dieErwartungen der Marktteilnehmer positiv beeinflussen kön-nen. Dabei wird zugleich das Risiko minimiert, den Auf-schwung durch verfrühte Konsolidierungsschritte zu gefähr-den. Dieser positive Effekt von Fiskalregeln besteht allerdingsnur dann, wenn sie glaubwürdig sind, d.h. wenn die priva-ten Akteure darauf vertrauen, dass die Regeln eingehaltenwerden. Die Glaubwürdigkeit der deutschen Schuldenregelwird durch ihren verfassungsrechtlichen Status gesichert. InAnbetracht der krisenbedingten Ausgangssituation wurdenlängere Übergangsfristen festgelegt (der Bund muss die0,35%-Grenze bis 2016 erreichen, für die Länder greift dieRegel vollständig ab 2020). Die Übergangsfristen wurdenteilweise kritisiert. Aus unserer Sicht tragen aber auch siezur Glaubwürdigkeit der Regel bei. Denn: Wie glaubwürdigwäre eine Regel, bei der von vorne herein klar ist, dass sienicht sofort einzuhalten sein wird?

Für Deutschland lässt sich festhalten: Die Haushaltspositi-on hat sich zwar krisenbedingt deutlich verschlechtert, aberdie Richtung unserer Finanzpolitik stimmt. Mit dem durchdie Schuldenregel und den Stabilitäts- und Wachstumspaktvorgegebenen Konsolidierungspfad kehren wir auf den lang-fristigen Pfad der Tugend zurück – die Schuldenstands-quote mittelfristig wird deutlich absinken. Die Kapitalmärk-te honorieren bereits jetzt die Solidität deutscher Finanzpo-litik: Wir gehören weltweit zu den Staaten, von denen dieniedrigsten Risikoprämien verlangt werden.

Europäische Union

Zum 31. Dezember 2009 verzeichnete die EU ein durch-schnittliches gesamtstaatliches Defizit von 6,9%, wobei dieEinzelwerte stark differieren (z.B. 0,8% bei Bulgarien und12,7% bei Griechenland). Auch für 2010 sind Defizite in die-ser Größenordnung zu erwarten. Dementsprechend wer-den auch die Schuldenstandsquoten deutlich ansteigen.Die hohen Defizite sind Ausdruck der die Nachfrage stüt-zenden Maßnahmen und des Wirkens der automatischenStabilisatoren. Zum Vergleich: Ende des Jahres 2008 wur-de in der EU noch ein durchschnittliches Defizit von 2,3%festgestellt.

Zwar haben die Mitgliedstaaten ihre eigenständige Geld-politik aufgegeben, die Finanzpolitik liegt aber nach wie vorin nationaler Kompetenz. Das schließt auch die vorrangigeEigenverantwortung für die Korrektur finanzpolitischer Fehl-entwicklungen ein. Daneben kommt in der Währungsunionder Koordinierung der nationalen Finanzpolitiken eine be-sondere Bedeutung zu, denn durch die gemeinsame Wäh-rung kann sich das Fehlverhalten einzelner Mitgliedstaatenin punkto Haushaltsdisziplin direkt – etwa über eine Schwä-chung des Euro – auf andere Länder auswirken. Gerade aus

diesem Grund wurden im Maastricht-Vertrag Defizitober-grenzen festgelegt. Um die Defizite der Mitgliedstaaten wie-der unter den Maastricht-Referenzwert zurückzuführen,kommt einer europäisch koordinierten Exitstrategie großeBedeutung zu.

Der für Wirtschaft und Finanzen zuständige ECOFIN-Rat hatam 20. Oktober 2009 Grundsätze für einen Exit aus den dis-kretionären Konjunkturmaßnahmen im Zuge der Finanz- undWirtschaftskrise formuliert. Eine Ausstiegsstrategie solltedemnach im Rahmen der konsequenten Anwendung desStabilitäts- und Wachstumspakts länderübergreifend koor-diniert werden. Der ECOFIN-Rat fordert weiterhin, dass dis-kretionäre Maßnahmen zurückgenommen und strukturelleAbbauschritte von wenigstens 0,5% des BIP pro Jahr er-reicht werden. Falls die Prognosen der EU-Kommission er-kennen lassen, dass ein selbsttragender Aufschwung exis-tiert, sollten alle Mitgliedstaaten spätestens 2011 mit derHaushaltskonsolidierung beginnen. Gemäß dem Ergebnisder Ratstagung ist länderspezifischen Besonderheiten Rech-nung zu tragen. Einige Staaten werden demnach ihre Haus-halte bereits früher konsolidieren (z.B. weil sie sich kon-junkturell besser entwickeln als andere Mitgliedstaaten). InAnbetracht der Herausforderungen sollte für den durch-schnittlichen strukturellen Defizitabbau gemäß ECOFIN-Ratein ehrgeiziges Tempo veranschlagt werden, das in den meis-ten Mitgliedstaaten beträchtlich über dem Referenzwert vonkonjunkturbereinigten 0,5% des BIP pro Jahr liegen müss-te. Zu den wichtigsten Begleitmaßnahmen des fiskalpoliti-schen Ausstiegs gehören – wie im Stabilitäts- und Wachs-tumspakt hervorgehoben – laut ECOFIN-Rat die Verstär-kung der nationalen Haushaltsrahmen zur Verbesserung derGlaubwürdigkeit der Konsolidierungsstrategien sowie Maß-nahmen zur Unterstützung der langfristigen Tragfähigkeit deröffentlichen Haushalte. Deutschlands neue Schuldenregelkann hier als Beispiel dienen.

In Umsetzung der Exitstrategie wurden im Rahmen von Ver-fahren gegen exzessive Defizite nationale Abbauempfehlun-gen durch den ECOFIN-Rat bei 21 Staaten verabschiedet,wozu auch Deutschland zählt. Dabei stehen die Abbauemp-fehlungen für Deutschland in Einklang mit den Vorgaben derdeutschen Schuldenbremse.

Der ECOFIN-Rat richtete an Griechenland am 16. Febru-ar 2010 im Rahmen eines verschärften Verfahrens Emp-fehlungen mit dem Ziel, das gesamtstaatliche Defizit bis2012 wieder unter den Referenzwert von 3% zu senken.Für das laufende Jahr wird ein nominaler Abbauschritt von4 Prozentpunkten des BIP gefordert. Darüber hinaus istjetzt eine regelmäßige vierteljährliche Überprüfung der um-gesetzten Maßnahmen vorgesehen. Geplant sind u.a. einEinfrieren der Löhne im öffentlichen Dienst für 2010 undgrundsätzliche, pauschale Ausgabenkürzungen im Staats-haushalt um 10%. Griechenland ist aufgefordert, erst-

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mals zum 16. März 2010 gegenüber EU-Kommission undECOFIN-Rat über getroffene Maßnahmen zum Erreichendes Defizitziels in diesem Jahr zu berichten und den Be-richt zu veröffentlichen. Gleichzeitig mit den Empfehlun-gen für das Defizitverfahren hat die Kommission einen Ent-wurf für eine Verwarnung mit Empfehlungen für Struktur-reformen vorgelegt. Bei dem informellen Treffen der Staats-und Regierungschefs am 11. Februar 2010 unterstrichGriechenland seine Absicht, den notwendigen und rigo-rosen Sparkurs umzusetzen.

In letzter Zeit wird manchmal diskutiert, dass in Schwierig-keiten geratene Mitgliedstaaten aus der Währungsunion aus-treten könnten, um ihr eigenständiges geldpolitisches Instru-mentarium zurückzugewinnen. Dieses Szenario scheint al-lerdings sehr unwahrscheinlich, denn Griechenland und an-dere Länder v.a. Südeuropas haben enorm von der Wäh-rungsunion profitiert. Sowohl die langfristigen Zinsen als auchdie Risikoaufschläge auf Staatsanleihen sind nach dem Bei-tritt drastisch gesunken. Wirtschaftlich setzte ein enormerAufholprozess ein. Durch einen Austritt würde der aktuellvorhandene Vertrauensimport von der Europäischen Zen-tralbank aufgegeben werden, was die Kosten der Refinan-zierung nochmals deutlich erhöhen dürfte. Insofern dürftees der richtige Weg sein, entschlossene Fiskalreformen undwirtschaftliche Strukturreformen voranzutreiben.

Fazit

In der Europäischen Union hat sich der Stabilitäts- undWachstumspakt als fiskalpolitisches Koordinierungsinstru-ment bewährt. In der Wirtschafts- und Finanzkrise wurdeeinerseits die im Stabilitäts- und Wachstumspakt angeleg-te Flexibilität genutzt, um in dieser Extremsituation ange-messene fiskalpolitische Antworten zu ermöglichen. Auf deranderen Seite werden jetzt – in der Logik des Systems –Regeln wieder restriktiver angewandt. Dies bedeutet letzt-lich: Alle Mitgliedstaaten stehen vor enormen Herausfor-derungen und müssen alles dafür tun, ihre Haushalts-und/oder Strukturprobleme aus eigener Kraft in den Griffzu bekommen.

Akropolis Adieu?Möglichkeiten und Grenzen des Rechtsim Falle eines (drohenden) Staats-bankrotts

Die Szenarien

Die Szenarien scheinen bekannt zu sein. Island, Ukraineund jetzt Griechenland – mit diesen (und anderen) Staa-ten verbindet die Öffentlichkeit, jedenfalls so weit man dieMedienberichterstattung verfolgt, mehr oder weniger ak-tuelle Situationen eines Staatsbankrotts, also einer einge-tretenen oder konkret drohenden Zahlungsunfähigkeit ei-nes Staates. Hin und wieder bleibt es in der öffentlichenDebatte zwar nicht nur bei diesen aktuellen Fällen, son-dern immerhin der Staatsbankrott Argentiniens in den Jah-ren 2001/20021 ist noch in Erinnerung. Nahezu vollstän-dig übersehen wird indes, dass das Phänomen des Staats-bankrotts wahrlich keine Erscheinung der heutigen Zeitoder spezifisch mit der aktuellen globalen Finanz- und Wirt-schaftskrise verbunden ist. Schon die wenigen folgendenZahlen mögen die historische Dimension des Staatsbank-rotts verdeutlichen: In der Zeit zwischen dem 16. und dem19. Jahrhundert setzte allein Spanien 13-mal seine Schuld-verpflichtungen aus. In derselben Zeit erklärten Frankreichachtmal sowie Portugal und die deutschen Staaten jeweilssechsmal, dass sie ihre Schulden nicht mehr erfüllen könn-ten. Das 20. Jahrhundert ist dann nahezu kontinuierlich

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Christian Tietje*

* Prof. Dr. Christian Tietje, LL.M. (Michigan) ist Direktor des Instituts fürWirtschaftsrecht und der Forschungsstelle für Transnationales Wirtschafts-recht sowie Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Europarecht undinternationales Wirtschaftsrecht an der Juristischen und Wirtschaftswis-senschaftlichen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

1 Zu Einzelheiten siehe z.B. Bickel, Die Argentinien-Krise aus ökonomischerSicht: Herausforderungen an Finanzsystem und Kapitalmarkt, Halle 2005,verfügbar unter: http://www.jura.uni-halle.de/telc/publikationen.html; sie-he zum Phänomen des Staatsbankrotts im Überblick allgemein u.a. Ohler, JZ 2005, 590 ff.

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von bis zu zehn Fällen einer Staateninsolvenz pro Jahr-zehnt geprägt.2

Der zunächst ernüchternde Blick auf die Geschichte desStaatsbankrotts darf allerdings nicht dazu verleiten, diesemPhänomen im internationalen Wirtschaftssystem eine neue,aktuelle rechtliche Relevanz abzusprechen. Aus juristischerSicht sind gerade mit der aktuellen Finanzlage Griechen-lands und weiterer krisengeschüttelter Staaten der so ge-nannten Eurozone zahlreiche neue Herausforderungen ver-bunden. Die rechtlichen Besonderheiten des drohendenStaatsbankrotts in der Eurozone sind dabei zusammen mitjuristischen Aspekten zu sehen, die seit der Argentinien-Krise im internationalen Wirtschaftsrecht diskutiert werden.Insgesamt steht u.a. der Fall Griechenland damit für einekomplexe juristische Gemengelage aus EU-Recht und in-ternationalem Recht.

Der Staatsbankrott im internationalen Recht

Die drohende oder bereits eingetretene Zahlungsunfähigkeiteines Staates berührt im internationalen Bereich zunächstdie bekannten Hilfsmechanismen des Internationalen Wäh-rungsfonds (IWF) und ggf. der Weltbank sowie mögliche Um-schuldungs- oder gar Schuldenerlassverhandlungen im Rah-men des so genannten Pariser und Londoner Clubs. Hier-auf soll an dieser Stelle ebenso wenig näher eingegangenwerden wie auf die rechtlich zur Verfügung stehenden Mög-lichkeiten von Gläubigern, unilateral mit Hilfe einer staatli-chen Rechtsordnung Ansprüche gegenüber dem Schuld-nerstaat feststellen und ggf. zwangsweise durchsetzen zulassen.3 Vielmehr ist es ausreichend, schon auf die genann-ten internationalen und innerstaatlichen Mechanismen be-zogen festzustellen, dass sich der Staatsbankrott nicht imrechtsfreien Raum bewegt.

Während sich hingegen lange Zeit das juristische Interessedarauf konzentrierte, wie einem insolventen Staat geholfenwerden kann und welche Rechtsschutzinstrumente denGläubigern in der Staateninsolvenz zur Verfügung stehen,muss heute eine dritte Dimension mit in den Blick genom-men werden: Der finanziell notleidende Staat kann die Ent-scheidung über den Umgang mit der Krise im Sinne z.B.eines radikalen Sparkurses nicht mehr autonom treffen. Viel-mehr sind heute letztlich alle Staaten dieser Welt in ein eng-maschiges Netz völkerrechtlicher Verpflichtungen den ei-genen Bürgern sowie ausländischen Investoren gegenübereingebunden. Die Konsequenzen dieser weitreichendenRechtsbindungen lassen sich am Beispiel Argentiniens gut

nachvollziehen. Argentinien ist heute, nachdem es in denJahren 2001/2002 drastische – ob sinnvolle oder nicht seidahingestellt – Maßnahmen zur Abwehr der schlimmstenFolgen des Staatsbankrotts ergriffen hatte, mit einer Flut vonmindestens 46 öffentlich bekannten Klagen von ausländi-schen Investoren vor internationalen Schiedsgerichten kon-frontiert. Schon jetzt, nach Abschluss erst weniger der ge-nannten Verfahren, wurde Argentinien zu mehreren 100 Mil-lion US-Dollar Schadensersatz verurteilt. Da Argentinien dieAnsprüche der Kläger aus den abgeschlossenen Verfahrenbislang – rechtswidrig – nicht befriedigt, setzen sich die Strei-tigkeiten juristisch und auch politisch fort.

Allerdings schützt das heutige Völkerrecht nicht nur Inves-toren gegenüber wirtschaftspolitischen Maßnahmen einesGaststaates, sondern auch den eigenen Staatsbürgern ste-hen Menschenrechte zu, die der jeweilige Staat bei seinenwirtschaftspolitischen Maßnahmen in einer Finanz- bzw. Wirt-schaftskrise beachten muss. Konkret heißt dies, dass auchein finanziell angeschlagener Staat immer seiner responsi-bility to protect gerecht werden muss. Hiernach sind »thestate authorities … responsible for the functions of protectingthe safety and lives of citizens and promotion of their wel-fare«.4 Ein radikaler Sparkurs der öffentlichen Hand, deru.a. weite Teile der öffentlichen Daseinsvorsorge zum Erlie-gen bringen würde, kann mit dieser Verpflichtung unverein-bar sein. Zugleich ist es allerdings nicht ausgeschlossen,dass ein Staat sich gerade mit Blick auf seine Pflicht zur Si-cherung elementarer individueller und gesellschaftlicher Be-lange gegenüber ausländischen Investoren und Gläubigernfür einzelne wirtschaftspolitische Maßnahmen zur Krisenbe-wältigung rechtfertigen kann. Im Übrigen ist es auch nichtausgeschlossen, wenngleich im Einzelfall doch mit erhebli-chen juristischen Schwierigkeiten verbunden, sich als Staatin einer akuten Finanz- und Wirtschaftskrise auf einen sog.Staatsnotstand zu berufen, um sich von völkerrechtlichenVerpflichtungen vorübergehend zu lösen.5

Insgesamt zeigt sich damit, dass die weitreichende Einbin-dung eines Staates in die Rechtsordnung der internatio-nalen Gemeinschaft unmittelbare Konsequenzen für deneinzelstaatlichen Umgang mit einem (drohenden) Staats-bankrott hat. Bei Krisenbewältigungsmaßnahmen hat einStaat legitime Erwartungen ausländischer Investoren so-wie menschenrechtliche Garantien seiner eigenen Staats-angehörigen zu achten. Zugleich hat der Staat auch inder Krise ein Mindestmaß an Daseinsvorsorge seiner Be-völkerung gegenüber sicher zu stellen, selbst wenn er sich

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2 Zu diesen Zahlen und weiteren Einzelheiten siehe Tietje, Die Argentinien-Krise aus rechtlicher Sicht: Staatsanleihen und Staateninsolvenz, Halle2005, verfügbar unter: http://www.jura.uni-halle.de/telc/publikationen.html.

3 Siehe hierzu umfassend Szodruch, Staateninsolvenz und private Gläubi-ger, Berlin 2008.

4 Report of the International Commission on Intervention and State Sover-eignty, The Responsibility to Protect, December 2001, para. 2.15, ver-fügbar unter: http://www.iciss.ca; siehe in diese Richtung auch die ab-weichende Meinung von Richterin Lübbe-Wolff in BVerfGE 118, 124, 146(161 f.); sowie Tietje/Szodruch, Zeitschrift für Bankrecht und Bankwirt-schaft 2007, 498 (502 f.).

5 Zu Einzelheiten siehe Szodruch (Anm. xxx), 315 ff.

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ggf. in einer Finanz- und Wirtschaftskrise auf einen Staats-notstand berufen kann. Dabei steht einem Staat natürlichein weiter politischer Beurteilungsspielraum zu; was genauaus den menschenrechtlichen Handlungspflichten für ei-nen Staat folgt, lässt sich also nicht abstrakt, sondern nurin Bezug auf den jeweiligen Einzelfall unter Berücksichti-gung der wirtschaftlichen Gesamtlage und den geplantenMaßnahmen festlegen. Entscheidend ist indes, dass diegenannte rechtsprinzipielle Verpflichtung in einer konkre-ten Entscheidungssituation mit beachtet wird. Auf die ak-tuelle Situation Griechenlands bezogen bedeutet dies, dassHinweise darauf, dass Forderungen nach einem radikalenSparkurs des griechischen Staates schnell an Grenzen des-sen, was die Bevölkerung bereit ist zu akzeptieren, sto-ßen werden, einen konkreten rechtlichen Hintergrund ha-ben. Die Intensität öffentlicher Einsparmaßnahmen wirdrechtlich determiniert.

Der Staatsbankrott in der Eurozone

Zusätzlich zu dem ohnehin schon für sich komplexenRahmen, in dem sich der Staatsbankrott aus der Sichtdes internationalen Rechts bewegt, folgen aus demRecht der Europäischen Union Vorgaben, die den Um-gang mit der Krise bestimmen. Das gilt zunächst für ele-mentare Grund- und Menschenrechte in ihrer dargestell-ten Bedeutung, da diese umfassend auch von der Eu-ropäischen Menschenrechtskonvention sowie dem Uni-onsrecht selbst geschützt werden. Besondere, aus deröffentlichen Diskussion der jüngeren Zeit mit Blick aufGriechenland bekannte Probleme stellen sich zusätz-lich aufgrund von Rechtsvorgaben des Vertrages überdie Arbeitsweise der EU (AEUV), die für die Staaten derEurogruppe im Hinblick auf die Wirtschafts- und Wäh-rungspolitik gelten (Art. 119 ff. AEUV). Konkret geht esdabei in erster Linie um die Frage, ob und ggf. wie dieEU sowie ihre Mitgliedstaaten auf eine akute Finanz- undWirtschaftskrise in einem Staat der Eurozone reagierenkönnen und sollten.

Die rechtlichen Vorgaben des AEUV zur Sicherung der Sta-bilität des Euro sind in der Systematik relativ klar. Der Ver-trag regelt die Mechanismen der Koordinierung der Wirt-schaftspolitik der Eurostaaten und unverbindliche Einfluss-möglichkeiten hierauf durch Kommission und Rat (Art. 121Abs. 4 AEUV), das sog. Defizitverfahren im Hinblick auf dieHaushaltsdisziplin der Mitgliedstaaten einschließlich derMöglichkeit verbindlicher Beschlüsse zum Defizitabbau(Art. 126 Abs. 9 AEUV), ein grundsätzliches Verbot der fi-nanziellen Unterstützung eines einzelnen Mitgliedstaatsdurch die EU oder andere Mitgliedstaaten (Art. 125 AEUV)sowie ein entsprechendes Verbot der Zentralbankfinanzie-rung (Art. 123 AEUV) und Ausnahmen hierzu bei Notlagen(Art. 122 AEUV). Der am 1. Dezember 2009 in Kraft getre-

tene Vertrag von Lissabon hat dieses System im Wesent-lichen unberührt gelassen und nur kleinere Modifikationenu.a. im Hinblick auf eine gestärkte Rolle der Kommission impräventiven Bereich der Kontrolle der mitgliedstaatlichenWirtschaftspolitik (Art. 121 Abs. 4 AEUV) vorgenommen.Interessant ist, dass genau diese modifizierten Rechtsre-geln in Verbindung mit dem bekannten Defizitverfahren Mit-te Februar 2010 auf Griechenland bezogen erstmals seitInkrafttreten des Vertrags von Lissabon zur Anwendung ka-men.6 Damit hat die EU gezeigt, dass sie bereit und in derLage ist, unmittelbar (Art. 126 Abs. 9 AEUV) und mittelbar(Art. 121 Abs. 4 i.V.m. Art. 126 Abs. 9 AEUV) rechtlich ver-pflichtend weitreichenden Einfluss auf die Finanz- und Wirt-schaftspolitik eines einzelnen Mitgliedstaats zu nehmen. ImInteresse der Stabilität und Glaubwürdigkeit des Euro ins-gesamt ist das zu begrüßen.

Über unionsrechtliche Vorgaben für die einzelstaatliche Fi-nanz- und Wirtschaftspolitik hinausgehend stellt sich die viel-diskutierte Frage, ob einem Mitglied der Eurogruppe, wiegegenwärtig Griechenland, auch finanziell geholfen werdenkann und sollte. Unabhängig von der ökonomischen Bewer-tung einer solchen möglichen Hilfe – die hier nicht weiter dis-kutiert werden soll –, ist in den letzten Wochen oftmals zuhören gewesen, dass das EU-Recht einen Bail-out verbie-te und es hierzu keine Ausnahme gäbe. Diese Auffassungmag sich bei einem schlichten Blick in Art. 125 AEUV, derdas Bail-out-Verbot enthält, aufdrängen. Bei näherer Be-trachtung überzeugt das Argument eines absoluten Bail-out-Verbotes indes nicht.

Um sich der Frage nach vorhandenen Spielräumen für fi-nanzielle Hilfen für Griechenland und ggf. andere Euro-staaten zu nähern, ist zunächst nach der Ratio des Bail-out-Verbotes des Art. 125 AEUV zu fragen. Im Kern gehtes hierbei darum, nachhaltiges Vertrauen auf den inter-nationalen Finanzmärkten für den Euro zu gewinnen undzu sichern. Mit dem Bail-out-Verbot soll klar signalisiertwerden, dass der Euro auf einer soliden Finanz- und Wirt-schaftspolitik der Staaten der Eurozone beruht und inso-fern ein Einstehen für Verbindlichkeiten eines Mitgliedstaa-tes von vornherein nicht notwendig ist. Damit im Zusam-menhang steht die klare Signalwirkung des Bail-out-Ver-bots im Hinblick auf die wirtschafts- und finanzpolitischeEigenverantwortlichkeit der Mitglieder der Eurozone.7

Überdies wird durch Art. 125 AEUV allerdings auch sig-nalisiert, dass die EU und ihre Eurozone kein staatsähn-liches Gebilde ist. Im föderalen Staat ist das gegenseiti-ge Einstehen auch im Bereich der Staatshaushalte fester

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6 Siehe Council of the European Union, 6501/10 (Presse 30) vom 16. Feb-ruar 2010.

7 Zur Ratio des bail-out-Verbots statt vieler Häde, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.),EUV/EGV, 3. Aufl., München 2007, Art. 103 EGV Rn. 1 f.; Bandilla, in: Grab-itz/Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 15. EL, München 2000,Art. 103 EGV Rn. 1.

Zur Diskussion gestellt

Bestandteil der Bundesstaatlichkeit und insofern, zumin-dest in Deutschland, verfassungsrechtlich abgesichert (Art.20 Abs. 1 GG).8 Der spezifische Solidaritätsgedanke derBundesstaatlichkeit sollte aber, so zumindest die Vorstel-lung bei der Schaffung des Kapitels über die Wirtschafts-und Währungsunion durch den Vertrag von Maastricht(1992/93), auf die EU als supranationaler Integrations-verbund gerade keine Anwendung finden; jede Staats-nähe oder Staatsähnlichkeit sollte auch mit Blick auf diegemeinsame Währung vermieden werden. Es scheint da-her konsequent, eine Ausnahme von Bail-out-Verbot nurfür ganz außergewöhnliche Situationen im Sinne von Na-turkatastrophen zuzulassen (Art. 122 Abs. 2 AEUV). Letzt-lich ist das Bail-out-Verbot des Art. 125 AEUV also auchAusdruck einer gewissen Angst vor der eigenen Coura-ge. Die Schaffung einer einheitlichen Währung sollte nichtauch noch durch eine umfassende Solidaritätspflicht imWährungsraum den Eindruck staatsähnlicher Strukturenverstärken. Damit deutet sich bereits an, dass über reinwährungspolitische Vorstellungen hinausgehend auch ver-tragsrhetorische Gesichtspunkte dem Bail-out-Verbot zu-grunde liegen.

Der Vertrag von Lissabon übernimmt die dem Unionsrechtohnehin schon immer als Zielvorgabe bekannte Verpflich-tung zur Solidarität unter den Mitgliedstaaten (vgl. Art. 1Abs. 3 EU a.F.; Art. 3 Abs. 3 EUV n.F.) nunmehr explizit inden Bereich der Wirtschaftspolitik. Der heutige Art. 122Abs. 1 AEUV spricht – anders als noch nach der Rechts-lage vor dem 1. Dezember 2009 – explizit davon, dass beiNotlagen »im Geiste der Solidarität zwischen den Mitglied-staaten über die der Wirtschaftslage angemessenen Maß-nahmen« beschlossen werden kann. Beispielhaft (»ins-besondere«) wird zur Umschreibung einer entsprechen-den Notlage auf »gravierende Schwierigkeiten in der Ver-sorgung mit bestimmten Waren, vor allem im Energiebe-reich« hingewiesen. Auch der Hinweis auf den Energie-bereich ist erst durch den Vertrag von Lissabon aufge-nommen worden.

Aus juristischer Perspektive stellt sich natürlich die Fra-ge, ob Art. 122 Abs. 1 AEUV als Kompetenzgrundlagefür einen Beschluss des Rates der EU über finanzielle Hil-fen an einen Mitgliedstaat, der sich in einer massiven Fi-nanz- und Wirtschaftskrise befindet, dienen kann.9 Hier-gegen könnte insbesondere der systematische Vergleichmit Art. 122 Abs. 2 AEUV sprechen. Diese Vorschrift lässt

finanziellen Beistand bei Schwierigkeiten »aufgrund vonNaturkatastrophen oder außergewöhnlichen Ereignissen«zu. Es liegt auf der Hand, dass eine Haushaltsnotlage ei-nes Mitgliedstaates nicht oder nur unter größter juristi-scher Mühe mit einer Naturkatastrophe oder einem ähn-lichen Ereignis gleichgesetzt werden kann. Überzeugen-der erscheint es vielmehr zu realisieren, dass die beidenAbsätze des Art. 122 AEUV ganz unterschiedliche Rege-lungsinhalte und -ziele haben. Bei Art. 122 Abs. 2 AEUVgeht es um Hilfe in einer Notsituation, die in erster Linieeinen Mitgliedstaat im Inneren trifft. Demgegenüber zieltArt. 122 Abs. 1 AEUV, wie der dortige Solidaritätsverweisdeutlich macht, auf die Wirtschaftslage in der Eurozoneinsgesamt im Wechselverhältnis zu einer innerstaatlichenSituation ab. Es geht hier also nicht um zweckfreie Soli-darität im Sinne einer Hilfe in der Not eines einzelnen Mit-gliedstaates, sondern vielmehr um Solidarität im Gesamt-interesse der Eurogruppe. Zu den in Art. 122 Abs. 1 AEUVgenannten »der Wirtschaftslage angemessenen Maßnah-men«, um die es in Art. 122 Abs. 2 AEUV gerade nichtgeht, kann daher auch eine finanzielle Hilfeleistung zäh-len. Durch diese Auslegung läuft das grundsätzliche Bail-out-Verbot auch nicht leer, da nach dem klaren Wortlautdes Art. 122 Abs. 1 AEUV der Wirtschaftslage eines Mit-gliedstaates angemessene Solidaritätsmaßnahmen nur inganz außergewöhnlichen (»gravierenden«) Situationen er-griffen werden dürfen. Es bleibt insofern unabdingbar zu-nächst immer bei der Selbstverantwortung der Staatender Eurogruppe für ihre Wirtschaftspolitik. Finanzielle So-lidaritätsmaßnahmen müssen die Ultima Ratio im Euro-raum bleiben. Über sie ist, wie sich aus der Systematikdes AEUV sowie der dargestellten Völkerrechtslage ergibt,immer in strenger Abwägung mit dem Ziel der Währungs-stabilität sowie der Sicherung elementarer Grundbedürf-nisse der Bevölkerung zu entscheiden; es muss also, umes nochmals zu betonen, um deutlich mehr gehen alsHilfe aus reiner Solidarität heraus für einen einzelnen Mit-gliedstaat. Schließlich wird man aus dem Zusammenspielder Artikel 125 und 122 AEUV auch folgern müssen, dassMaßnahmen nach Art. 122 AEUV nie so ausgestaltet seindürfen, dass bestehende Finanzmarktverbindlichkeiten ei-nes Mitgliedstaats von der EU oder anderen Mitgliedstaa-ten übernommen oder für diese Garantien abgegebenwerden. Insofern geht es bei Art. 122 AEUV auch gar nichtum ein Bail-out im eigentlichen Wortsinne, sondern nurum die Möglichkeit einer direkten Kreditvergabe an einenMitgliedstaat der Eurogruppe, der sich in einer gravieren-den Krise befindet. Nur diese Auslegung des Vertragesentspricht dem Grundgedanken der Eigenverantwortlich-keit in der Währungsunion. Bei einem Bail-out wird einStaat aus der Verantwortung entlassen; bei einer direk-ten Kreditvergabe (verbunden mit entsprechenden wirt-schaftspolitischen Auflagen) wird Verantwortlichkeit undVerantwortung im Interesse der Eurostabilität insgesamtbegründet und gestärkt.

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8 Siehe nur BVerfGE 116, 327 (387).9 Siehe zum Gesamtproblem auch ausführlich Häde, EuZW 2009, 399 (400

ff.); zur Möglichkeit finanzieller Hilfe nach Art. 122 Abs. 2 AEUV sieheauch Zehnpfund/Heimbach, Finanzielle Hilfen für Mitgliedstaaten insbe-sondere nach Artikel 122 des Vertrages über die Arbeitsweise der Euro-päischen Union, Wissenschaftliche Dienste, Deutscher Bundestag, Az.:WD 11 – 3000 – 30/10, verfügbar unter: http://www.gerhardschick.net/images/stories/Europa/s-30-10%20finanz-hilfen%20nach%20122%20aeuv_gutachten%20wd.pdf.

Zur Diskussion gestellt

Ausblick

Dieser kurze Beitrag konnte die rechtliche Komplexität des(drohenden) Staatsbankrotts nur andeuten. Über juristischeGesichtspunkte hinausgehend ist natürlich auch auf ord-nungspolitische Aspekte einzugehen, um eine fundierte Ant-wort auf die Frage geben zu können, ob mit dem aktuellenStichwort »Griechenland« eine »griechische Tragödie« oderein Beispiel für eine besonnene Solidaritätspolitik in der Eu-ropäischen Union zu verbinden ist. Eine abschließende Be-wertung dieser Frage soll hier bewusst nicht erfolgen. Zuwarnen ist indes vor juristischen und/oder ökonomischenSchnellschüssen in die eine oder andere Richtung sowie voreinem zu leichtfertigen Umgang mit der nicht von vornhe-rein ausgeschlossenen Möglichkeit finanzieller Hilfemaßnah-men. Es kann hier immer nur um eine ganz besondere Aus-nahmesituation gehen, die sich durch eine Gefahr für dieStabilität des Euro insgesamt auszeichnet. Exzessive Staatsdefizite – die Achilles-

ferse der Europäischen Währungsunion

Die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise hat mittlerweile– vor allem in den Industrieländern – zu einem starken An-stieg der Staatsverschuldung geführt. So wird vom IWF prog-nostiziert, dass der durchschnittliche Schuldenstand der In-dustrieländer im Jahr 2010 auf ca. 106% des BIP steigenwird, während er 2007, also vor der Krise, noch bei durch-schnittlich 78% lag. Dieser Anstieg ist ganz wesentlich aufdirekt durch die Rezession bedingte Einnahmenausfälle undAusgabenerhöhungen sowie auf die zusätzlich aufgelegtenKonjunkturprogramme zurückzuführen. Die aktuellen gra-vierenden Ausweitungen der Budgetdefizite werden daherin den meisten Ländern vorrangig konjunkturellen und nichtstrukturellen Faktoren zugeschrieben: Eine rasche unddurchschlagende Bekämpfung der Rezession erschien alsvordringliches Ziel, dem das Ziel solider Staatshaushalte da-her zunächst untergeordnet werden müsse. Erst seit dieHaushaltslage Griechenlands in den Blickpunkt der Öffent-lichkeit geriet, da die Ratingagenturen diese zum Anlass nah-men, die Bewertung griechischer Staatspapiere herunter-zustufen, tritt das Risiko exzessiver Staatsverschuldung wie-der verstärkt in den Vordergrund. Parallel zur Diskussion umeinen möglichen »Staatsbankrott« Griechenlands sind mitt-lerweile aber auch Länder wie Irland, Spanien oder Portu-gal, die 2009 ähnlich hohe Staatsdefizite wie Griechenlandaufweisen, in den Fokus der Betrachtung gerückt, indem ih-nen ebenfalls gewisse Ausfallrisiken angelastet werden. Indiesem Zusammenhang stellt sich dann natürlich auch dieFrage, inwieweit der Euro davon betroffen wäre, wenn ei-nem oder mehreren Mitgliedsländern der Europäischen Wäh-rungsunion ein Staatsbankrott drohen würde.

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Michael Kühl* Renate Ohr**

* Dr. Michael Kühl ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Volks-wirtschaftslehre, insbesondere Wirtschaftspolitik, an der Universität Göt-tingen.

** Prof. Dr. Renate Ohr ist Inhaberin der Professur für Volkswirtschaftslehre,insbesondere Wirtschaftspolitik, an der Universität Göttingen.

Zur Diskussion gestellt

Staatsbankrott: Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung?

Doch wann kann man genau von einem Staatsbankrottsprechen? Die betriebswirtschaftliche Abgrenzung einermit »Bankrott« beschriebenen Insolvenz kennt zwei Tat-bestände: eine bereits eingetretene oder drohende Zah-lungsunfähigkeit sowie die Überschuldung. Zahlungsun-fähigkeit bedeutet hier, dass der Staat (bzw. seine Re-gierung) nicht mehr in der Lage ist, seinen Zahlungsver-pflichtungen im Rahmen von Zins und Tilgung nachzu-kommen. Der Tatbestand der Überschuldung tritt im be-triebswirtschaftlichen Sinne ein, wenn die Fremdkapital-titel die Forderungen überschreiten, d.h. das Vermögenkleiner ist als die Verbindlichkeiten. Dies ist bei Staatenschwieriger zu operationalisieren. Während die Verbind-lichkeiten, also der Schuldenstand, zu erfassen ist, ist dasVermögen des Staates nicht so leicht abzugrenzen. Ausdiesem Grund wird der Begriff Staatsbankrott in der Re-gel für die Zahlungsunfähigkeit eines Staates verwen-det. Diese wiederum ist aber auch mit dem Schulden-stand verknüpft, da bei insolventen Staaten zumeist derSchuldendienst einen bedeutenden Anteil am Staatshaus-halt ausmacht.1

Des Weiteren spielt eine ganz entscheidende Rolle, obdie Staatsverschuldung primär eine Inlandsverschuldungoder aber eine Auslandsverschuldung ist. Bei vorrangi-ger Inlandsverschuldung ist die Volkswirtschaft in der La-ge, die hohen Staatsausgaben selbst zu finanzieren – esgeschieht eben nur nicht zwangsweise durch Steuern,sondern freiwillig über Kredite. Die privaten Wirtschafts-subjekte sparen genug, um neben den privaten Investi-tionen auch den defizitären Staatshaushalt zu finanzie-ren. Diese Ersparnis könnte im Notfall auch über Steuer-erhöhungen abgeschöpft werden, falls der Schulden-dienst zu hoch wird. Anders ist dies im Falle einer hohenAuslandsverschuldung. Hier müssen die ausländischenKreditgeber weiterhin geneigt sein, dem Staat (freiwillig)Finanzmittel zukommen zu lassen. Werden nun gegen-über den ausländischen Gläubigern Zinsverpflichtungennicht mehr geleistet oder die Staatsschuld nicht termin-gerecht abgelöst, so ist dies zugleich eine Zahlungsun-fähigkeit der gesamten Volkswirtschaft gegenüber aus-ländischen Gläubigern. In der Regel geht eine solche Si-tuation mit einem so genannten Zwillingsdefizit einher, in-dem neben dem Staatsdefizit auch ein hohes Leistungs-bilanzdefizit auftritt. Dies bedeutet, dass die inländische– private und staatliche – Absorption höher ist als die in-ländische Wertschöpfung.

Zur aktuellen Situation Griechenlands

Vor diesem Hintergrund weist Griechenland äußerst kritischeEntwicklungen auf: Das Staatsdefizit beträgt im Jahr 200912,7% des BIP. Der Schuldenstand ist 2009 auf über 112%des BIP angewachsen und wird für 2010 auf knapp 125%prognostiziert. Hierdurch machen allein die Zinszahlungenauf die ausstehende Staatsschuld 2009 schon 5% des BIPaus und für 2010 werden sogar 6,5% prognostiziert. Rund80% der griechischen Staatsschulden sind mittlerweile Aus-landsschulden (Bank of Greece 2010). Diese machen zu-gleich rund 55% der gesamten Auslandsverschuldung dergriechischen Volkswirtschaft aus. Die mit der steigendenAuslandsverschuldung einhergehenden Kapitalbilanzüber-schüsse spiegeln sich in entsprechend hohen Leistungsbi-lanzdefiziten, die in den letzten Jahren durchgängig im zwei-stelligen Bereich zwischen 10 und 14% des BIP lagen. An-gesichts dieser Fakten ist es nicht erstaunlich, dass grie-chische Staatstitel einen Risikoaufschlag gegenüber deut-schen Bonds in Höhe von ca. 250 bis fast 300 Basispunk-ten tragen müssen. Auch wenn durch die Mitgliedschaft inder Währungsunion kein nationales Wechselkursrisiko mehrbesteht, so preisen die Kapitalmärkte offensichtlich mittler-weile ein gewisses nationales Ausfallrisiko ein.

Auswirkungen auf die Partnerländer in der EWU

Falls es für Griechenland nun zunehmend schwieriger wür-de, Neuemissionen zu platzieren, und die geplanten Steu-ererhöhungen und Ausgabenkürzungen nicht hinreichendgreifen, könnte Griechenland Probleme bekommen, seineZins- und Tilgungsverpflichtungen zu leisten. Dies würde na-türlich keinen vollständigen Ausfall aller Auslandsverbind-lichkeiten bedeuten, doch könnte auch ein teilweiser Aus-fall Liquiditätsprobleme bei den Gläubigerbanken bewir-ken. Bei Griechenland sind es vor allem Banken in Frank-reich, der Schweiz und Deutschland, die davon betroffenwären. Allein durch diesen Dominoeffekt könnten somit auchandere EWU-Länder durch die Griechenland-Pleite ange-steckt werden. In diesem Fall würden auch die Risikoprä-mien der EWU-Partner aufgrund steigender Risikoaversiondes Marktes neu kalkuliert werden, was zum einen zu stei-genden Zinsen im gesamten Euroraum führen und zum an-deren auch den Euro unter Druck setzen könnte.

Eine solche Entwicklung ist umso wahrscheinlicher, je mehrandere Länder der Währungsunion in eine ähnliche fiskali-sche Schieflage geraten. Hier werden oftmals die LänderIrland, Spanien, Portugal und auch Italien genannt (sog.PIIGS-Staaten). Allerdings sind dabei signifikante Unter-schiede festzustellen. So ist der Gesamtschuldenstand inIrland, Spanien und Portugal deutlich geringer als in Grie-chenland. Nur Italien weist einen ähnlich hohen Schulden-stand auf. Auch die Leistungsbilanzdefizite sind – außer

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1 Eine gewisse Verbindung besteht dabei natürlich auch zur Frage der Nach-haltigkeit der Staatsfinanzen. Diese zielt jedoch primär auf die Entwick-lung der Schulden ab. Als nachhaltig wird eine Situation angesehen, inder die Summe aller (abdiskontierten) Einnahmen die Summe aller (abdis-kontierten) Ausgaben übersteigt, d.h. die intertemporale Budgetbeschrän-kung eingehalten ist (vgl. z.B. Bohn 2007).

Zur Diskussion gestellt

bei Portugal – deutlich geringer. Nimmt man die drei Krite-rien Schuldenstand, Haushaltsdefizit und Nettozinszah-lungen des öffentlichen Sektors (jeweils in Prozent des BIP)2,so zeigt sich, dass Griechenland bei allen drei Kriterienhöchst bedenkliche Werte aufweist. In Irland ist zwar dasStaatsdefizit aktuell sehr hoch und die Nettozinszahlungenbetragen mittlerweile über 5% des BIP, doch ist der Schul-denstand mit knapp 66% des BIP noch moderat. Hinzukommt ein Leistungsbilanzdefizit, das mit etwas über 3%des BIP tragbar ist. In Spanien ist der Schuldenstand nochgeringer und ebenso die Nettozinsbelastung. Allerdings ge-rät der Immobilienmarkt sehr stark unter Druck, welcher inden letzten Jahren eine Stütze der wirtschaftlichen Entwick-lung war. Stark ansteigende Arbeitslosenzahlen könnten dieaktuelle Situation verschärfen. In Portugal ist das laufendeStaatsdefizit »nur« 8% des BIP und der Schuldenstand mitetwas über 77% nicht überdurchschnittlich. Italien schließ-lich weist zwar einen noch höheren Schuldenstand auf alsGriechenland (114,6% des BIP) und entsprechend hoheZinszahlungen, doch ist das laufende Staatsdefizit mit 5,3%im europäischen Vergleich derzeit eher gemäßigt. Zudemweist Italien auch nur ein relativ geringes Leistungsbilanz-defizit auf, und der Auslandsanteil der Staatsverschuldungist mit etwas über 50% deutlich geringer als in Griechen-land. Letzteres trifft auch auf Spanien zu, das sogar nur ei-ne Auslandsverschuldung des öffentlichen Sektors von cir-ca 44% der Gesamtverschuldung verzeichnet.

Ein Überschwappen der Vertrauenskrise gegenüber Grie-chenland auf diese Staaten ist somit nicht ökonomischzwingend, was sich auch in ihren geringeren Renditespre-ads gegenüber Deutschland zeigt (vgl. hierzu auch Man-gelli und Wolswijk 2007). So weichen die Renditen portu-giesischer, spanischer und italienischer Staatspapiere nurum 50 bis 100 Basispunkte von den Renditen deutscherStaatspapiere ab. In Irland beträgt der Spread bis zu150 Basispunkte. Das Vertrauen in diese Länder und ih-re Staatshaushalte sollte deshalb höher als gegenüberGriechenland sein, da Griechenland schon beim Beitrittzur EWU mit falschen Zahlen operiert hatte, auch in denFolgejahren der EU vielfach falsche Daten übermittelte undsich von Anfang an nicht an die Neuverschuldungsgren-ze von 3% des Stabilitäts- und Wachstumspaktes hielt.Da griechische Staatspapiere allerdings stark von Bankenund Versicherungen gehalten werden, kann ein Zahlungs-ausfall hier über den Anstieg der Risikoaversion und dar-aus folgenden Umschichtungseffekte auch auf die PIIGS-Staaten Rückwirkungen haben. Sollte der Finanzmarkt so-dann (sei es fundamentalbasiert oder aufgrund von Über-treibungseffekten) die Haushaltslage bei einigen PIIGS-Staaten neu bewerten, könnte sich auch dort die Situati-on verschärfen.

Zur Rolle des Stabilitäts- und Wachstumspaktes

Gerade vor dem Hintergrund möglicher Effekte auf diePIIGS-Staaten können sich bedeutende Auswirkungen ei-nes griechischen Staatsbankrotts auf die gemeinsameWährung ergeben. Dabei spielt die richtige Reaktion derPartnerstaaten in der Währungsunion eine ganz entschei-dende Rolle für die Frage, ob die griechischen Instabilitä-ten auch den Euro schwächen. Die Problematik zu hoherStaatsdefizite in einem oder mehreren Ländern einer Wäh-rungsgemeinschaft wurde ja schon vor dem Start der Eu-ropäischen Währungsunion ausführlich diskutiert und hat-te schließlich zur Einführung des Stabilitäts- und Wachs-tumspaktes geführt.

Über die dort verankerten Höchstwerte für die staatlicheNeuverschuldung von 3% des BIP sollte verhindert wer-den, dass die Mitgliedsländer über ausufernde Staatsdefi-zite die Zinsen in der gesamten Währungsgemeinschafthochtreiben und das Vertrauen in die gemeinsame Währungschwächen würden. Bekanntermaßen war und ist der Haupt-konstruktionsfehler des Paktes, dass bei Fehlverhalten kei-ne automatischen Sanktionen greifen, sondern jeweils vonFall zu Fall die »potentiellen Sünder« über die »aktuellen Sün-der« urteilen. Die Folge war, dass selbst in »normalen« Zei-ten temporär bis zur Hälfte der Mitgliedsländer eine Neu-verschuldung von über 3% aufwiesen und schließlich derStabilitätspakt reformiert wurde. Die Reform bestand in ei-ner Ausweitung der Ausnahmeregelungen für ein zu hohesStaatsdefizit und einer Verlängerung der zulässigen Anpas-sungszeiten bei Überschreiten der Defizitgrenze. Mit dieserAufweichung des Stabilitätspaktes wird es noch schwieri-ger, Sanktionsdrohungen glaubwürdig zu machen. Offen-sichtlich kann dieses Instrument somit die Staatsverschul-dung in der EWU nicht wirksam begrenzen. Umso wichti-ger ist daher, dass wenigstens die im Vertrag von Maastrichtvereinbarte »No-Bail-out«-Klausel eingehalten wird, so dassMitgliedsländer mit exzessiven Staatsdefiziten zumindest ihrnational verursachtes Länderrisiko auch selbst tragen müs-sen. Anderenfalls wird nur ein Moral-hazard-Verhalten vonLändern mit unsoliden Staatshaushalten unterstützt. Dieswürde das Vertrauen in die Stabilität der Gemeinschaftswäh-rung nachhaltig untergraben.

Hilfen für Griechenland?

Eine Übernahme der griechischen Schulden durch die EU,die EZB oder einzelne Mitgliedstaaten ist somit (eigentlich)verboten. Da jedoch das exzessive Staatsdefizit Griechen-lands schon allein über den hohen Anteil der Auslandsver-schuldung den Bankensektor in den anderen EWU-Ländernmit betrifft, muss schnell über mögliche Maßnahmen nach-gedacht werden, falls der griechische Staat tatsächlich zah-lungsunfähig würde. Eine Möglichkeit der Mitgliedstaaten

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2 Deren Zusammenspiel wird in IWF (2009) im Hinblick auf eine zu hoheStaatsverschuldung untersucht.

Zur Diskussion gestellt

der EWU – abseits der No-Bail-out-Klausel – Griechenlandfinanziell zu unterstützen, wäre das Emittieren einer gemein-samen Anleihe. Eine solche »Euro-Anleihe« würde den Zins-satz, zu dem sich der griechische Staat finanzieren kann,senken, da für eine solche Anleihe alle beteiligten Länderhaften würden. Auch hier gibt es natürlich ein Moral-hazard-Problem, da die (wenigen) Länder, die einen stabilitätsori-entierten Staatshaushalt praktizieren, letztlich für die Schul-den der anderen Länder gerade stehen müssten. Damitbestünde selbst für diese Länder ein Anreiz, ihre solide Haus-haltspolitik aufzugeben.

Um die No-Bail-out-Klausel zu umgehen, aber trotzdem eu-ropäische Hilfeleistung anzubieten, könnten auch zusätzli-che Zahlungen aus den europäischen Regional- und Struk-turfonds angedacht werden. Die EU-Strukturfonds sind da-für vorgesehen, ökonomisch rückständige Regionen zu för-dern und den Konvergenzprozess zu unterstützen. Für denZeitraum 2007–2013 ist Griechenland bereits flächende-ckend Empfängerland, hat allerdings die Höchstgrenze von4% des BIP für derartige Zuwendungen noch nicht ausge-schöpft. Nun wäre es theoretisch denkbar, dass mit Hilfesolcher EU-Gelder laufende Ausgaben des griechischenStaatshaushaltes kofinanziert werden. Dies widerspricht je-doch dem Prinzip der Additionalität, das verlangt, dass ge-förderte Projekte zusätzlicher und nicht substitutiver Art sind.Zudem würde auch diese Form der Umgehung der No-Bail-out-Klausel die Finanzmärkte allenfalls kurzfristig beruhigen,mittel- und langfristig würde es jedoch das Vertrauen in ei-nen stabilitätsorientierten Euroraum schwächen, da auf die-sem Weg unsolide Haushaltspolitik nicht sanktioniert, son-dern finanziert wird. Auch wenn der Euro derzeit vielleichtin etwas unsicheres Fahrwasser geraten ist, sollte dies da-her nicht zum Anlass für Maßnahmen genommen werden,die das Vertrauen in eine stabilitätsorientierte Währungsge-meinschaft nachhaltig untergraben.

Optionen für Griechenland

Damit bleiben für Griechenland nur zwei Optionen: Entwe-der bleibt Griechenland sich selbst überlassen mit der Ge-fahr, dass tatsächlich ein Staatsbankrott entsteht, oder eswird eine Hilfe akzeptiert, die von außerhalb der Währungs-union kommt. Hierfür ist naturgemäß der IWF die geeigne-te Instanz. Nur der IWF hat die Kompetenz, hinreichend fi-nanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen und sie mit einementsprechenden Forderungskatalog bezüglich binnenwirt-schaftlicher Reformen zu verbinden. Zugleich ist der IWFeher fähig, notwendige Sanktionen auch auszusprechen unddurchzusetzen. Hinzu kommen die langjährigen Erfahrun-gen des IWF im Zusammenhang mit Umschuldungspro-grammen. Mit dem IWF sind glaubwürdige und bindendeStrategien der Finanzhilfe verbunden, wie sie die EU oderdie EWU nicht vermitteln könnte.

Insgesamt zeigt sich, dass Griechenland eigentlich nicht hät-te in die Währungsunion eintreten dürfen. Wenn Griechen-land trotzdem in der Währungsunion bleiben soll, muss eseinen Weg finden, ohne finanzielle Unterstützung der Part-nerländer seine Staatsfinanzen zu konsolidieren. Fatal wä-re es dagegen, wenn die europäischen Partner – allen War-nungen zum Trotz – direkte Finanzhilfen leisten würden. Indiesem Fall wären die ersten zehn Jahre des Euro seine bes-ten gewesen.

Exitstrategie für die expansive Fiskalpolitik notwendig

Schließlich ist aber auch noch zu beachten, dass derzeit janahezu alle EU-Länder einen stark expansiven Staatshaus-halt aufweisen, begleitet von einer ebenfalls expansiven Geld-politik. Auch die anderen EU-Länder müssen also mittel-fristig die Staatsverschuldung wieder reduzieren. Gelingt diesnicht durch staatliches Sparen, so besteht die Gefahr, dassdie Idee einer »kontrollierten Inflation« zur Reduktion des Re-alwerts der Staatsverschuldung Verbreitung findet. Wenndie EWU aber eine Stabilitätsgemeinschaft bleiben will, somüssen bald möglichst alle Mitgliedsländer glaubwürdigeExitstrategien hinsichtlich ihrer expansiven Fiskalpolitik vor-legen. Zugleich müsste der Stabilitäts- und Wachstumspaktwieder verschärft und mit glaubwürdigen Sanktionen verse-hen werden.3 Vielleicht kann Griechenland mit seinen eska-lierenden Verschuldungsproblemen ja dann sogar zum An-stoß werden, damit auch die anderen EWU-Partnerländersich wieder auf die Notwendigkeit solider Staatshaushaltefür eine funktionierende Währungsunion und einen stabilenEuro zurück besinnen.

Literatur

Bohn, H. (2007), »Are stationarity and cointegration restrictions really neces-sary for the intertemporal budget constraint?«, Journal of Monetary Econo-mics 54, 1837–1847.IWF (2009), »The state of public finances cross country fiscal monitor«, IMFStaff Position Note SPN 09/25, November 2009.Manganelli, S. und G. Wolswijk (2007), »Market discipline, financial integra-tion and fiscal rules. What drives spreads in the euro area government bondmarket?«, ECB Working Paper Series, No. 745.Ohr, R. und A. Schmidt (2006), »Institutionelle Alternativen in der Europäi-schen Union: Das Beispiel des Stabilitäts- und Wachstumspaktes«, Zeitschriftfür Wirtschaftspolitik 55, 127–149.

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3 Alternativ wäre auch die Einführung so genannter Verschuldungsrechtedenkbar (vgl. Ohr und Schmidt 2006).

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Wie hängen Bildungskompetenzenund Wirtschaftswachstum zusammen?

In den letzten beiden Jahrzehnten hat ei-ne umfangreiche wirtschaftswissenschaft-liche Literatur die Ursachen dafür unter-sucht, warum einige Länder soviel schnel-ler wachsen als andere (vgl. etwa Aghionund Howitt 2009). Die Ergebnisse habenunser Wissen um die enorme volkswirt-schaftliche Bedeutung von Bildung erwei-tert: Die Forschungsergebnisse belegen,dass Unterschiede in Bildungskompeten-zen einen großen Teil der internationalenUnterschiede im Wirtschaftswachstum er-klären können.2

Zur Quantifizierung der volkswirtschaftli-chen Kosten unzureichender Bildung istes unabdingbar, die Größe des Zusam-menhangs zwischen Bildung und Wirt-schaftswachstum zu kennen. Dazu grei-fen wir auf die Ergebnisse der Arbeitenvon Hanushek und Wößmann (2008;2009) zurück, die die langfristigen volks-wirtschaftlichen Wachstumseffekte von

kognitiven Testleistungen empirisch ge-schätzt haben. Um die durchschnittlichenBildungskompetenzen der Bevölkerungin möglichst vielen Ländern zu messen,haben sie die Leistungen aller 36 interna-tionalen Vergleichstests von Schülerleis-tungen in Mathematik und Naturwissen-schaften, die zwischen 1964 und 2003durchgeführt wurden, mit empirischenKalibrierungsmethoden auf eine gemein-same Skala gebracht. Anhand dieser Da-tenbasis ist es möglich, die durchschnitt-lichen schulischen Leistungen der Bevöl-kerung in 50 Ländern abzubilden, für dieinternational vergleichbare Daten überdas langfristige Wirtschaftswachstumvorliegen.

Das Maß der schulischen Leistungen er-weist sich als zentraler Bestimmungsfak-tor langfristigen volkswirtschaftlichenWachstums: Je besser die Leistungen inden internationalen Schülerleistungstests,desto höher ist das zwischen 1960 und2000 gemessene durchschnittliche Wachs-tum des realen Bruttoinlandsprodukts proKopf. Der im Folgenden für die Projektio-nen verwendete Wachstumskoeffizient be-sagt, dass 100 zusätzliche PISA-Punktelangfristig mit einem zusätzlichen jährlichenWachstum von 1,265 Prozentpunkten ein-hergehen. Der Einfluss der kognitiven Leis-tungen auf das Wirtschaftswachstum ist al-so beträchtlich: Langfristig gehen 50 zu-sätzliche PISA-Punkte – grob der Abstandzwischen Deutschland und den PISA-Spit-zenreitern Finnland, Korea oder Hongkong– mit einem zusätzlichen jährlichen Wachs-tum von gut 0,6 Prozentpunkten einher.

Eine makroökonomische Projektion

Marc Piopiunik und Ludger Wößmann

Volkswirtschaftliche Folgekosten unzureichender Bildung:

Wie die PISA-Studien belegen, zählt in Deutschland etwa jeder fünfte Jugendliche zur Gruppe der

»Risikoschüler«, die nur unzureichende Bildung erhält. In einer aktuellen Studie, die das ifo Insti-

tut im Auftrag der Bertelsmann Stiftung verfasst hat (Wößmann und Piopiunik 2009), haben wir

die daraus erwachsenden volkswirtschaftlichen Folgekosten berechnet. Die Folgekosten unzurei-

chender Bildung belaufen sich über den Lebenszeitraum eines heute geborenen Kindes auf rund

2,8 Billionen € (2 800 000 000 000 €) – mehr als das gesamte derzeitige deutsche Bruttoinlands-

produkt von 2,5 Billionen €. Das gewaltige Ausmaß dieser Projektionsergebnisse, die im vorlie-

genden Beitrag zusammengefasst werden, verdeutlicht die Dringlichkeit des Reformbedarfs im

deutschen Bildungssystem. Die Kosten von bildungspolitischem Nichtstun oder wirkungslosem Ak-

tionismus sind riesig, wenn man die langfristigen Wachstumseffekte von Bildungsinvestitionen

berücksichtigt. Deshalb benötigt nachhaltige Bildungspolitik einen langfristigen Horizont, so wie

er in der Klimapolitik mittlerweile selbstverständlich ist.1

1 Der vorliegende Artikel basiert auf der Studie »Wasunzureichende Bildung kostet: Eine Berechnungder Folgekosten durch entgangenes Wirtschafts-wachstum«, die das ifo Institut im Auftrag der Ber-telsmann Stiftung verfasst hat und die unterwww.bertelsmann-stiftung.de/bildung-wirtschafts-wachstum verfügbar ist. Wir danken der Bertels-mann Stiftung für die Finanzierung der Studie, demPakt für Forschung und Innovation der Leibniz-Ge-meinschaft für die finanzielle Unterstützung des Ver-fassens der vorliegenden Zusammenfassung so-wie Gabriela Schütz und Antje Funcke für ihre An-merkungen.

2 Vgl. Wößmann (2009) für eine kurze Zusammen-fassung und weiterführende Verweise.

Forschungsergebnisse

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Der signifikante und robuste Zusammenhang zwischen Bil-dungsleistungen und Wirtschaftswachstum ist noch nicht not-wendigerweise ein Beweis dafür, dass es sich dabei um ei-nen kausalen Effekt der Bildungskompetenzen auf das Wachs-tum handelt. Prinzipiell könnte ja auch eine umgekehrte Kau-salität vorliegen, oder der Zusammenhang könnte aufgrundvon weiteren, im Modell nicht berücksichtigten Faktoren zu-stande kommen. Zahlreiche zusätzliche in Hanushek undWößmann (2009) berichtete Untersuchungen legen aber na-he, dass es sich bei der Korrelation tatsächlich auch um ei-nen kausalen Effekt der Bildungskompetenzen handelt.

Die Methodik der Projektionsanalyse

Wir nutzen diese Befunde, um die wirtschaftlichen Aus-wirkungen zu projizieren, die eine weitgehende Beseiti-gung der derzeit in Deutschland vorhandenen unzurei-chenden Bildung am unteren Ende der Bildungsverteilunghätte. Dazu wird eine makroökonomische Perspektive ein-genommen, die die Kosten in Form von entgangenemWirtschaftswachstum ausdrückt, also durch den Vergleichder sich im derzeitigen Status quo ergebenden wirtschaft-lichen Entwicklung mit derjenigen, die sich ergeben wür-de, wenn die Bildung nicht unzureichend wäre. So ist esmöglich zu berechnen, wie viel Wirtschaftsleistung derdeutschen Volkswirtschaft langfristig entgeht, weil ein nen-nenswerter Anteil der Bevölkerung keine ausreichende Bil-dung erhält.

Unter unzureichender Bildung wird das Nicht-Erreichen ei-nes Grundbildungsniveaus verstanden. Die PISA-Studiensprechen in diesem Zusammenhang von der Gruppe der »Ri-sikoschüler«: Wer nicht zumindest über die unterste Kompe-tenzstufe (von 420 PISA-Punkten) hinauskommt, der kannals 15-Jähriger beispielsweise maximal auf Grundschulni-veau rechnen (vgl. Baumert et al. 2002; PISA-KonsortiumDeutschland 2008). Ihm fehlen wesentliche Fähigkeiten, dieGrundbedingung für eine erfolgreiche Beteiligung am spä-teren Berufsleben und für gesellschaftliche Teilhabe sind.

In Deutschland zählen 23,7% der Schüler zu dieser Grup-pe der Risikoschüler (Spalte 1 in Tab. 1).3 Dieser Anteil va-riiert erheblich zwischen den einzelnen Bundesländern.Bayern hat mit 16,2% den niedrigsten Anteil an Risikoschü-lern, während Nordrhein-Westfalen mit 28,2% den höchs-ten Anteil aufweist.

Es muss der Anspruch der Bildungspolitik sein, dass mög-lichst alle Schüler ein solches Mindestniveau an Basiskom-petenzen von 420 PISA-Punkten erreichen. Die Projektionmodelliert dementsprechend eine Bildungsreform, die dieunzureichende Bildung zwar nicht vollständig beseitigt, aberimmerhin – beginnend in diesem Jahr – im Laufe der kom-menden zehn Jahre das Ausmaß an unzureichender Bildungum 90% verringert.

Tab. 1 Unzureichende Bildung und ihre volkswirtschaftlichen Folgekosten

Bildungskompetenzen: ohne Reform und

Anstieg durch Reform

Folgekosten unzureichender Bildung über die

nächsten 80 Jahre

Anteil Risiko-schüler (in %)

PISA-Mittelwert

Anstieg des Mittelwerts

durch Reform

Zusätzliches BIP

(in Mrd. )

In % des heutigen BIP

Zusätzliches BIP pro Kopf

(in )

(1) (2) (3) (4) (5) (6)

Baden-Württemberg 19,6 510,5 11,5 353,1 97 32 635

Bayern 16,2 521,6 9,1 343,4 77 27 274

Brandenburg/Berlin 25,9 485,3 15,3 168,0 118 28 508

Hessen 27,5 488,1 16,1 286,8 130 47 218

Mecklenburg-Vorpommern 25,3 486,5 14,6 36,8 103 22 532

Niedersachsen/Bremen 26,9 485,2 16,3 312,2 129 36 291

Nordrhein-Westfalen 28,2 483,3 18,0 790,9 146 44 118

Rheinland-Pfalz 24,9 491,4 14,7 125,0 116 30 975

Saarland 23,2 493,4 13,4 31,4 101 30 582

Sachsen 18,1 511,3 10,1 67,2 71 16 191

Sachsen-Anhalt 24,4 488,5 13,9 48,0 89 20 512

Schleswig-Holstein/Hamburg 26,6 489,7 15,8 214,3 131 46 342

Thüringen 20,3 501,4 11,3 36,9 74 16 488

Deutschland 23,7 496,1 14,1 2 807,7 113 34 255

Anteil Risikoschüler: Anteil der Schüler, die nicht über 420 Punkte hinauskommen. Anstieg des Mittelwerts durch Reform: 90% des Anstiegs des PISA-Mittelwerts, wenn alle Schüler unter 420 Punkten die Lücke zum Schwellenwert 420 schließen. Folgekosten unzureichender Bildung: Summe des entgangenen Bruttoinlandsprodukts (BIP) über die nächsten 80 Jahre,

wenn das Ausmaß der unzureichenden Bildung nicht durch eine Bildungsreform um 90% reduziert wird. Alle Angaben zu Bildungskompetenzen beziehen sich auf Durchschnitte der Mathematik- und Naturwissenschaftsleistungen in PISA 2000 und PISA 2003.

Quelle: Wößmann und Piopiunik (2009), Was unzureichende Bildung kostet, Bertelsmann Stiftung, Gütersloh.

3 Diese Berechnung wie auch alle weiteren PISA-Berechnungen basierenauf dem Mittelwert der Mathematik- und Naturwissenschaftsergebnissein PISA 2000 und PISA 2003.

Forschungsergebnisse

i fo Schne l ld ienst 4/2010 – 63. Jahrgang

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Dazu haben wir anhand der Mikrodatensätze der deutschenPISA-Erweiterungsstichproben berechnet, wie stark sich derderzeitige PISA-Mittelwert (Spalte 2 in Tab. 1) im Bundes-durchschnitt und in den einzelnen Bundesländern verbes-sern würde, wenn alle Schüler, die in den PISA-Tests unter420 Punkten abschneiden, auf 420 Punkte angehoben wer-den. Der Reformeffekt ergibt sich dann als 90% der Diffe-renz zwischen dem tatsächlichen PISA-Mittelwert und demneuen, hypothetischen PISA-Mittelwert nach der Reform(Spalte 3).

Der Reformeffekt beträgt für Gesamtdeutschland 14,1 PISA-Punkte. Der gesamtdeutsche PISA-Mittelwert würde sichalso von bisher 496,1 Punkten auf dann 510,2 Punkte er-höhen. Dies entspräche etwa dem derzeitigen Niveau vonFrankreich, läge aber zum Beispiel noch deutlich hinter derSchweiz (derzeit 516 Punkte) und wäre von den Niederlan-den (531 Punkte) und vom internationalen Spitzenreiter Finn-land (542 Punkte) noch weit entfernt.

Der Reformeffekt variiert zwischen den einzelnen Bundes-ländern stark. Naturgemäß ist er für Bundesländer mit ei-nem hohen Anteil an Risikoschülern besonders groß. Des-halb werden diese Länder in Form höheren Wirtschafts-wachstums auch mehr von einer erfolgreichen Bildungsre-form profitieren als Bundesländer, die nur wenige Risiko-schüler haben. Während sich Bayern durch die modellierteReform »nur« um 9,1 PISA-Punkte verbessern würde, wä-re die Kompetenzverbesserung in Nordrhein-Westfalen mit18,0 Punkten doppelt so groß.

Ziel der Projektion der Folgekosten unzureichender Bildungist es, die volkswirtschaftlichen Gesamtkosten zu berech-nen, die Deutschland aufgrund der unzureichenden Bildungentstehen. Dazu haben wir im hier berichteten Basisszena-rio berechnet, wie viel Euro zusätzliches Bruttoinlandspro-dukt (BIP) eine Bildungsreform, die im Jahr 2010 beginntund schrittweise im Laufe der nächsten zehn Jahre die un-zureichende Bildung weitgehend beseitigt, während der Le-bensdauer eines heute geborenen Kindes generieren wür-de. Da die Lebenserwartung eines heute geborenen Kin-des 80 Jahre beträgt, entspricht dies einem Betrachtungs-horizont bis zum Jahr 2090. Spiegelbildlich entspricht derso berechnete Reformeffekt dem bis 2090 anfallenden Ver-lust (»Kosten«) an BIP, der entsteht, weil es die unzurei-chende Bildung gibt.

Um eine gewisse Verzögerung in der bildungspolitischenUmsetzung abzubilden, wird dabei davon ausgegangen,dass die Reform nicht sofort komplett greift, sondern erstnach zehn Jahren; bis dahin steigt der Reformeffekt line-ar an. Die stetige Verbesserung der Schülerleistungen bil-det ab, dass Schüler, die am Ende der zehnjährigen Re-formumsetzung die Schule beenden, schon zehn Jahrevon der Reform profitiert haben, während Schüler, die im

ersten Jahr nach Reformbeginn von der Schule abgehen,das reformierte Schulwesen nur ein einziges Jahr lang be-sucht haben.

Eine erfolgreiche Bildungsreform entfaltet aber erst dann zu-sätzliche Wachstumseffekte in der Volkswirtschaft, wenn diebesser gebildeten Jugendlichen in den Arbeitsmarkt einge-treten sind. Da die durchschnittliche Dauer des Erwerbsle-bens in Deutschland etwa 40 Jahre beträgt, scheidet jedesJahr ein Vierzigstel der bisherigen Erwerbsbevölkerung ausdem Berufsleben aus und wird durch eine neue Arbeits-marktkohorte ersetzt.4

Insgesamt dauert dieser Prozess also 50 Jahre: Die Bildungs-reform benötigt zehn Jahre, bis sie vollständig wirkt, unddie heutige arbeitende Bevölkerung wird erst nach weite-ren 40 Jahren vollständig ausgetauscht sein. Erst 50 Jahrenach Reformbeginn wird also die ganze Erwerbsbevölke-rung aus besser ausgebildeten Schülerkohorten bestehenund der volle Wachstumseffekt wirksam werden. Bis dahinsind die Wachstumseffekte kleiner. Sie nehmen durch dassich kontinuierlich verbessernde Kompetenzniveau der Er-werbsbevölkerung vom Beginn der Reform bis zum Endeder Übergangsphase stetig zu.

Um die volkswirtschaftlichen Kosten unzureichender Bil-dung zu berechnen, muss die Entwicklung des BIP sowohlohne als auch mit Bildungsreform projiziert werden. OhneBildungsreform wächst das BIP jedes Jahr mit der Poten-tialwachstumsrate, die gemäß vergangenen Werten mit1,5% pro Jahr angenommen wird. Mit Bildungsreformwächst das BIP mit der Potentialwachstumsrate zuzüg-lich des durch die Reform erzeugten Wachstumseffektes.Darüber hinaus wird in beiden Fällen die vom StatistischenBundesamt (bis 2050) prognostizierte Bevölkerungsent-wicklung berücksichtigt, indem das jeweils projizierte BIPpro Kopf mit der Bevölkerungszahl des betreffenden Jah-res multipliziert wird. Um den Reformeffekt zu ermitteln,wird anschließend in jedem Jahr nach Beginn der Reformdie Differenz zwischen dem BIP mit und dem BIP ohne Re-form gebildet.

Um zukünftig anfallende Erträge in heutigen Geldeinheitenauszudrücken, werden diese in wirtschaftlichen Langfrist-projektionen üblicherweise abdiskontiert. Dadurch wird wei-ter in der Zukunft anfallenden Erträgen weniger Gewicht bei-gemessen als in der Gegenwart verfügbaren Erträgen. DasBasisszenario verwendet dazu eine Diskontrate von 3%, diein Projektionen und Forschungsarbeiten in Deutschland so-wie weltweit standardmäßig verwendet wird.

4 Siehe Abschnitt 3.5 in Wößmann und Piopiunik (2009) für eine ausführli-che Begründung der Wahl der Modellparameter. Da für die Parameter ge-nerell eher konservative Werte verwendet werden, ist davon auszugehen,dass die Folgekosten unzureichender Bildung in der berichteten Pro-jektion tendenziell noch unterschätzt werden.

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Sämtliche jährlichen, durch die Reform erzeugten Erträge– die Differenz zwischen BIP mit und BIP ohne Reform –werden auf das Jahr des Reformbeginns (2010) abdiskon-tiert, um den Barwert in heutigen Geldeinheiten zu erhal-ten. Der in Euro ausgedrückte Gesamteffekt der Reform er-gibt sich schließlich als Summe aller Barwerte, die im Lau-fe des Lebens eines heute geborenen Kindes (2010 bis2090) entstehen.

Das Ergebnis des Basisszenarios: Die volks-wirtschaftlichen Kosten unzureichender Bildung

Abbildung 1 veranschaulicht zunächst, um wie viel Prozent dasBruttoinlandsprodukt (BIP) durch die Bildungsreform in jedemJahr der Betrachtungsperiode höher wäre als im Szenarioohne Bildungsreform. Es wird deutlich, dassin den ersten zehn Jahren nach Reformbeginnkaum wirtschaftliche Effekte auftreten, da dieSchüler erst einmal das verbesserte Schulsys-tem durchlaufen müssen und zunächst nochnicht in den Arbeitsmarkt eingetreten sind. Aberschon im Jahr 2035 wäre das BIP durch dieBildungsreform um 1% höher als ohne Reformund im Jahr 2044 um 2%.

Dass die wirtschaftlichen Erträge erfolgrei-cher Bildungsreformen auch schon in der nä-heren Zukunft beachtlich sind, verdeutlichtein Vergleich mit dem Bildungsbudget. Der-zeit liegen die gesamten öffentlichen Bil-dungsausgaben im Elementar- und allge-meinbildenden Schulbereich bei rund 2,6%des BIP. Wie aus Abbildung 1 hervorgeht,liegt das BIP aufgrund der Reform ab demJahr 2048 um mindestens 2,6% höher alsohne die Reform. Mit anderen Worten: Blie-

be das Bildungsbudget als Anteil am (stetigsteigenden) BIP konstant, dann könnten alle öffentlichen Ausgaben für Elementar- undSchulbildung allein durch das zusätzlich er-zeugte BIP finanziert werden.

Die Abbildung verdeutlicht aber auch, dassdie wirtschaftlichen Erträge erst danach rich-tig stark ansteigen. Denn erst dann nähertman sich dem Zeitpunkt, zu dem die gesam-te arbeitende Bevölkerung durch das refor-mierte Bildungssystem gegangen ist und fastkeine unzureichende Bildung mehr aufweist.So liegt das BIP aufgrund der Bildungsre-form im Jahr 2070 um 6,5%, im Jahr 2080um 8,4% und im Jahr 2090 um 10,3% überdem BIP, das in diesen Jahren ohne die Bil-dungsreform erreicht würde.

All dies ist aber nur eine jährliche Betrachtung. Der Gesamt-effekt der Bildungsreform ergibt sich, indem wir alle im Lau-fe des Lebens eines heute geborenen Kindes anfallendenErträge aufsummieren und in heutigen Geldwerten aus-drücken. Wie in Abbildung 2 dargestellt, belaufen sich derGesamteffekt der Bildungsreform und damit die Folgekos-ten unzureichender Bildung in Deutschland bis zum Jahr2090 auf insgesamt 2,8 Billionen € (vgl. Spalte 4 in Tab. 1).Um diesen Betrag, ausgedrückt in heutigen Euro, wäre dasdeutsche BIP unter den Annahmen des Basisszenariosdurch die Bildungsreform bis zum Jahr 2090 insgesamt hö-her als das BIP ohne eine derartige Reform. Das ist mehrals das gesamte heutige jährliche Bruttoinlandsprodukt vonDeutschland in Höhe von 2,5 Billionen € (113%). Damit lie-ßen sich 28-mal die gewaltigen Konjunkturpakete finan-zieren, die die Bundesregierung in der derzeitigen Krise in

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2010 2020 2030 2040 2050 2060 2070 2080 2090

Prozentuale Erhöhung des jährlichen Bruttoinlandsprodukts

Quelle: Wößmann und Piopiunik (2009), Was unzureichende Bildung kostet , Bertelsmann Stiftung, Gütersloh.

%

BIP mit Bildungsreform relativ zum BIP ohne Reform in jedem Jahr nach Beginn der Reform. Aufgrund des Vergleichs innerhalb eines jeden Jahres ist diese Betrachtung identisch für den Fall des absoluten BIP und des BIP pro Kopf in dem jeweiligen Jahr.

Abb. 1

2010 2020 2030 2040 2050 2060 2070 2080 2090

Folgekosten unzureichender Bildung durch entgangenes Wirtschafts-

wachstum

Folgekosten unzureichender Bildung als Summe des bis zum jeweiligen Jahr entgangenen Bruttoinlands-produkts (BIP) in Mrd. Euro, wenn das Ausmaß der unzureichenden Bildung nicht durch eine Bildungsreform um 90 Prozent reduziert wird, abdiskontiert auf den heutigen Zeitpunkt (vgl. Wößmann und Piopiunik 2009

a) Öffentliche Bildungsausgaben im Elementar- und allgemeinbildenden Schulbereich.

bis 2090:2 808 Mrd. €

das 28-fache unserer Konjunkturpakete

bis 2074:1 746 Mrd. €

mehr als unsere heutige Staatsverschuldung

bis 2043:311 Mrd. €

mehr als unser heutiger Bundeshaushalt

Entgangenes Bruttoinlandsprodukt

a)heutigen Bildungsausgaben

mehr als unsere69 Mrd. €

bis 2030:

Quelle: Wößmann und Piopiunik (2009), Was unzureichende Bildung kostet , Bertelsmann Stiftung, Gütersloh.

für Details).

Abb. 2

Forschungsergebnisse

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einer Gesamthöhe von 100 Mrd. € aufgelegt hat. Schon mitden bis ins Jahr 2074 anfallenden Erträgen ließe sich theo-retisch die gesamte heutige Staatsverschuldung von rund1,7 Billionen € komplett tilgen. Und bereits die bis zum Jahr2043 anfallenden Erträge in Höhe von 311 Mrd. € würdenausreichen, um den heutigen Bundeshaushalt komplett zufinanzieren.

Pro Kopf der heutigen Bevölkerung entspricht dieser Ge-samteffekt der Bildungsreform einem Wert von 34 255 € anzusätzlichem BIP pro Kopf (vgl. Abb. 3 und Spalte 6 in Tab. 1).Anders ausgedrückt, entgeht jedem heute geborenen Kindim Laufe seines Lebens aufgrund der unzureichenden Bil-dung ein Wert von 34 255 €, wobei die Berechnungen schonberücksichtigen, dass das BIP in Zukunft aufgrund der sin-kenden Bevölkerungszahl niedriger ausfallen wird.

Die Folgekosten unzureichender Bildung variieren zwischenden einzelnen Bundesländern erheblich.5 Das zusätzlicheBIP pro Kopf der heutigen Bevölkerung liegt zwischen16 191 € in Sachsen und 47 218 € in Hessen. Weitere Bun-desländer, die von einer erfolgreichen Bildungsreform starkprofitieren würden, sind Schleswig-Holstein/Hamburg, Nord-rhein-Westfalen und Niedersachen/Bremen.

Die Unterschiede zwischen den Bundesländern ergebensich dabei aus Unterschieden im Ausgangsniveau des BIP,in der Bevölkerungsentwicklung und vor allem im Ausmaßder unzureichenden Bildung. Diejenigen Bundesländer, dieeinen hohen Anteil an Risikoschülern aufweisen, profitierenwirtschaftlich am meisten von einer erfolgreichen Bildungs-reform. Denn ein hoher Anteil an Risikoschülern bedeutet

eben auch, dass sich die durchschnittlicheTestleistung in diesem Bundesland beson-ders stark erhöht, wenn ein Großteil der Schüler den PISA-Schwellenwert von420 Punkten erreicht.

Aufgrund der unterschiedlichen Bevölke-rungsgröße variiert der Gesamteffekt der Re-form noch weit stärker zwischen den Bun-desländern (vgl. Spalte 4 in Tab. 1). Beim Ge-samteffekt liegen die bevölkerungsreichstenBundesländer Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Bayern vorne und die be-völkerungsärmsten Bundesländer hinten. InNordrhein-Westfalen, das nicht nur das be-völkerungsreichste Bundesland ist, sondernauch dasjenige mit dem höchsten Anteil anRisikoschülern (28,2%), belaufen sich die Fol-gekosten der unzureichenden Bildung bis2090 auf 791 Mrd. €.

Betrachtet man den Gesamteffekt der Bildungsreform rela-tiv zum heutigen BIP der jeweiligen Bundesländer (vgl. Spal-te 5 in Tab. 1), so ist er mit 146% am größten in Nordrhein-Westfalen, gefolgt von Schleswig-Holstein/Hamburg, Hes-sen und Niedersachsen/Bremen. Am niedrigsten fällt er inSachsen (71%) und Thüringen (74%) aus, wo neben einemrelativ niedrigen Anteil an Risikoschülern auch ein relativ star-ker Bevölkerungsrückgang prognostiziert wird, gefolgt vonBayern (77%), dem Bundesland mit dem geringsten Anteilan Risikoschülern.

Die bundesländerspezifischen Berechnungen verdeutlichen,dass selbst die Bundesländer mit den niedrigsten Anteilenan Risikoschülern wirtschaftlich in ganz erheblichem Maßeprofitieren würden, wenn sie die unzureichende Bildung weit-gehend beseitigen. Noch weit größer sollte der Ansporn inden Bundesländern sein, die ein noch größeres Wachstums-potential durch die Bildungsreform aufweisen.

Einige alternative Projektionen

In der ausführlichen Studie (Wößmann und Piopiunik 2009)berichten wir neben diesem Basisszenario noch zahlreichealternative Szenarien, von denen im Folgenden einige kurzerläutert werden sollen. So werden die Folgekosten unzu-reichender Bildung für unterschiedliche zeitliche Horizonteberechnet. Da sie vom Jahr 2010 bis 2090 stark ansteigen,hängt der Gesamteffekt der Bildungsreform entscheidendvom gewählten Zeithorizont ab. Betrachtet man etwa nurdie volkswirtschaftlichen Erträge, die die Reform bis zumJahr 2050 hervorbringt, und ignoriert alle weiteren Erträge,so ergibt sich ein gesamter Reformeffekt von »nur«530 Mrd. € oder rund ein Fünftel des heutigen BIP (vgl.Abb. 2). Dies entspricht nur 19% der Reformeffekte, die noch

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Thüringen

Pro-Kopf-Effekt der Reform in den Bundesländern

Durch die Bildungsreform bis zum Jahr 2090 zusätzlich erzeugtes Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf in Euro.

BIP pro Kopf in €

Quelle: Wößmann und Piopiunik (2009), Was unzureichende Bildung kostet , Bertelsmann Stiftung, Gütersloh.

Abb. 3

5 In allen bundesländerspezifischen Berechnungen wurden die Stadtstaa-ten Berlin, Bremen und Hamburg aufgrund der besonderen räumlichenNähe und Mobilität mit ihren jeweils angrenzenden Flächenstaaten Bran-denburg, Niedersachsen bzw. Schleswig-Holstein zusammengelegt.

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während der Lebenszeit eines heute geborenen Kindes bis2090 anfallen. Bei einem Zeithorizont bis 2060 liegt der Ge-samteffekt bei 958 Mrd. €, bis 2070 bei 1,5 Billionen € undbis 2080 bei 2,1 Billionen €. Diese Berechnungen verdeut-lichen, dass Bildungsreformen sehr langfristig wirkende Maß-nahmen sind.

Im Basisszenario wird angenommen, dass zehn Jahre be-nötigt werden, bis die Bildungsreform vollständig umgesetztist und die 90%ige Reduktion der unzureichenden Bildungunter den Schülern erreicht wird. Wie ändert sich der Ge-samteffekt, wenn es der Politik schneller oder langsamer ge-lingt, die vollständige Umsetzung zu erreichen? Szenarienmit alternativen Reformdauern zeigen, dass sich schnellesHandeln auszahlt: Benötigt man für die Umsetzung der Re-form nur fünf statt der bisher angenommenen zehn Jahre,erhöht sich der Reformeffekt um rund 280 Mrd. €. Dauertdie Umsetzung hingegen 20 Jahre, verliert man knapp500 Mrd. € im Vergleich zur Zehnjahresreform.

Ein alternatives Szenario, in dem das Ausmaß unzureichen-der Bildung im unteren Bereich auf das in Finnland derzeitbereits erreichte Niveau abgesenkt würde, ergibt für Ge-samtdeutschland mit einem Reformeffekt von 2,4 Billionen €annähernd das Niveau des Basisszenarios. Würde es hin-gegen gelingen, die gesamte deutsche Bevölkerung imDurchschnitt auf das finnische Durchschnittsniveau anzu-heben, so beliefen sich die Erträge dieser Reform sogar auf9,6 Billionen €. Auch eine Anhebung aller Bundesländer aufdas derzeitige Durchschnittsniveau Bayerns, das über dieverschiedenen PISA-Tests gesehen am besten abgeschnit-ten hat, würde bereits 5,2 Billionen € an wirtschaftlichenErträgen erbringen.

Im Basisszenario wird implizit angenommen, dass höheredurchschnittliche Kompetenzen der Erwerbsbevölkerung miteinem Wachstumseffekt einhergehen, der unabhängig davonist, ob die Verbesserung bei den besten oder bei den schlech-testen Schülern stattfindet. Die Beseitigung unzureichenderBildung am unteren Ende der Bildungsverteilung könnte fürdas Wirtschaftswachstum eines Landes aber wichtiger seinals die Durchschnittskompetenzen, wenn in diesem Bereichbeispielsweise externe Effekte in Form von Kriminalitätsver-meidung und Stärkung der Demokratie auftreten, die sozia-len Sicherungssysteme besonders stark entlastet werden unddie Fähigkeit zu inkrementeller Innovation in der Wirtschaft be-sonders wichtig ist. Deshalb haben wir schließlich in einem al-ternativen Wachstumsmodell den Einfluss von Basiskompe-tenzen und Spitzenleistungen auf das langfristige Wirtschafts-wachstum separat geschätzt. Die Ergebnisse dieses kombi-nierten Wachstumsmodells, die sich für Deutschland bereitsbei einem niedrigeren Schwellenwert unzureichender Bildungvon 400 Punkten auf 2,6 Billionen € belaufen, legen nahe,dass die Spezifikation des Basisszenarios die tatsächlichenReformeffekte deutlich unterschätzt.

Hanushek und Wößmann (2010) stellen mehrere Projektio-nen, die mit den hier vorgestellten vergleichbar sind, für dieGesamtheit der OECD-Länder an und finden Gesamtkos-ten unzureichender Bildung, die für die gesamte OECD inden dreistelligen Billionenbereich reichen.

Schlussbemerkungen

Die volkswirtschaftlichen Kosten unzureichender Bildungsind gewaltig. Die Befunde unseres Basisszenarios zeigen,dass sich die volkswirtschaftlichen Kosten unzureichenderBildung in Deutschland in einer Größenordnung von 2,8 Bil-lionen € bewegen. Diese Kosten – die spiegelbildlich dievolkswirtschaftlichen Erträge einer Bildungsreform darstel-len, die die unzureichende Bildung im Bereich der Risiko-schüler um 90% verringert –, umfassen die im Zeithorizontdes Lebens eines heute geborenen Kindes anfallendenWachstumseffekte.

Die in den Projektionen dargestellten enormen Erträge er-folgreicher Bildungsreformen müssen natürlich den gege-benenfalls anfallenden Kosten solcher Reformen gegenüber-gestellt werden. Eine einfache Überschlagsrechnung kannaber verdeutlichen, dass die Erträge die Kosten jeder übli-cherweise angedachten Bildungsreform bei weitem über-steigen dürften: Selbst wenn wir zur Erreichung des Zielseiner Verringerung der unzureichenden Bildung um 90%die Bildungsausgaben für jeden der heutigen Risikoschülerdauerhaft verdoppeln müssten, würden diese Kosten derReform immer noch nur ein Viertel ihrer wirtschaftlichen Er-träge der Bildungsreform ausmachen (vgl. Wößmann undPiopiunik 2009).

Die Wachstumsprojektionen verdeutlichen den dynamischenCharakter der volkswirtschaftlichen Bedeutung einer gutenBildung. Bessere Bildungskompetenzen ermöglichen ei-nen Pfad der stetigen wirtschaftlichen Verbesserung, so dassheute erfolgreich umgesetzte Bildungsreformen in der Zu-kunft ansteigende wirtschaftliche Effekte haben. Um die vol-len Konsequenzen verbesserter Schulbildung darstellen zukönnen, müssen die eintretenden Effekte bis weit in die Zu-kunft berücksichtigt werden. Dementsprechend sind es vorallem unsere Kinder und Enkelkinder, die im Laufe ihres Le-bens von der baldigen Beseitigung unzureichender Bildungprofitieren würden. Bildungspolitik bedarf also der Betrach-tung langer Zeithorizonte. In der Klimapolitik wird dies be-reits generell akzeptiert. In der Bildungspolitik muss dasgenauso sein.

Angesichts der immensen Folgekosten unzureichender Bil-dung, die sich aus der langfristigen Dynamik der Volkswirt-schaft ergeben, wird es höchste Zeit, dass Deutschland ech-te Bildungsreformen angeht. Das Ausmaß, in dem der Ein-zelne sowie die Gesellschaft insgesamt von besserer Bil-

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dung profitieren würden, sollte einen gewaltigen Ansporndarstellen, unser Bildungssystem zu verbessern. Bliebe dieunzureichende Bildung hingegen weiterhin in unveränder-tem Maße bestehen, so würde dies die Zukunft unserer Kin-der und Enkelkinder mit enormen volkswirtschaftlichen undgesellschaftlichen Kosten belasten.

Literatur

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»Warum haben weltweit nur einige hun-dert Millionen Menschen ein sehr hohesPro-Kopf-Einkommen, während Milliar-den unterernährt sind oder sich in der Nä-he des Subsistenzeinkommens bewe-gen?« (Voigt 2002, 17). Warum haben sichdie einzelnen Länder der Welt so unter-schiedlich entwickelt? Wie hat es bei-spielsweise Europa geschafft, sich soweitüber das Subsistenzniveau zu erheben,während andere Länder, wie China oderIndien, erst jetzt diesen Vorsprung auf-holen? Eine Antwort darauf liefern Insti-tutionen.

Institutionen und regelnde Eingriffe desStaates in die Wirtschaft stellen Rahmen-bedingungen dar, innerhalb derer dieWirtschaftssubjekte Entscheidungen tref-fen. Die Qualität dieser Rahmenbedin-gungen und die von ihnen ausgehendenAnreize erklären zu einem erheblichen Teilden wirtschaftlichen Erfolg eines Landesim Vergleich zu anderen Ländern. So be-gann laut Wagener (2010) der europäi-sche Wachstumsprozess, der sich danndurch die industrielle Revolution noch be-schleunigte, bereits im Mittelalter. Aus-schlaggebend waren institutionelle Fak-toren, wie unternehmerische Handlungs-freiheit, klar definierte Eigentumsrechteund weitere Rahmenbedingungen, die inanderen wirtschaftlichen Regionen sonicht zur Geltung kamen und sich erst miteiner zeitlichen Verzögerung durchsetzenkonnten.

Seit Beginn der achtziger Jahre setzte imZuge der Europäisierung der Wirtschafteine Debatte um Vor- und Nachteile

Europas als Wohn- und Arbeitsort genau-so wie als Standort für Unternehmensnie-derlassungen ein. Im Rahmen dieser De-batte wurde den unterschiedlichen Regu-lierungen innerhalb der EU, und insbeson-dere im Vergleich mit den VereinigtenStaaten, große Aufmerksamkeit ge-schenkt. Internationale Organisationen,wie die OECD oder die Europäische Kom-mission, unterstützen einzelne Länder inihren Bemühungen, internationale Verglei-che durchzuführen und bewährte Regu-lierungsansätze zu identifizieren (Bench-marking). Institutionelle Regelungen, diesich andernorts bewährt haben, müssenaber noch daraufhin geprüft werden, obsie sich zur Lösung eigener Probleme eig-nen und übernommen werden können.Um das zu ermöglichen, müssen die ent-sprechenden Informationen in länderver-gleichender Form vorliegen. Die immergrößer werdende Bedeutung des Bench-marks von Institutionen ergibt sich ausverschiedenen Faktoren. Als ein Ergebnisder zunehmenden Globalisierung wird derWettbewerb »vor der eigenen Haustür«immer intensiver. Regulierungen des Staa-tes gewinnen immer mehr an Wichtigkeit.So stehen mittlerweile nicht mehr nur Un-ternehmen in einem internationalen Wett-bewerb, sondern auch Staaten. Wichtigfür die Entwicklung eines Landes ist es,so attraktiv wie möglich nach außen zuerscheinen, damit Unternehmen, aberauch qualifizierte Arbeitskräfte sich imRahmen ihrer »Standortwahl« für das je-weilige Land entscheiden.

im internationalen Vergleich1

Nick Hoffmann und Anja Rohwer

DICE – eine Datenbank von institutionellen Regelungen

Regulierungen der öffentlichen Hand werden im Zuge der Europäisierung der Wirtschaft immer

mehr zum entscheidenden Standortfaktor für Investitionen und wirtschaftliches Wachstum. Die

einzelnen nationalen Regulierungssysteme sind hoch komplex, für Außenstehende meist unzu-

reichend transparent oder vergleichbar und darüber hinaus in schnellem Wandel begriffen. Dem

Defizit an vergleichbaren und analytisch konzipierten Informationen zu den institutionellen Re-

gulierungen in der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten wollte das ifo Institut durch

den stufenweisen Auf- und Ausbau einer Datenbank begegnen. Seit dem Jahr 2001 werden zahl-

reiche Informationen gesammelt, aufbereitet – als Tabellen, Graphiken oder Kurzberichte – und

dem Nutzer über das Internet unentgeltlich in der Datenbank DICE (Database for Institutional Com-

parisons in Europe) zur Verfügung gestellt. Gegenwärtig umfasst DICE über 2 200 Einträge zu ca.

8 000 Variablen.

1 DICE – DDatabase for IInstitutional CComparisons inEEurope.

Daten und Prognosen

Die einzelnen nationalen Regulierungssys-teme sind komplex, für Außenstehendemeist unzureichend transparent oder ver-gleichbar und darüber hinaus in schnellemWandel begriffen. So ist beispielsweise dieFinanzkrise nicht zu verstehen, »wenn mannicht weiß, was regressfreie Kredite sind,wie strukturierte Wertpapiere gebildet wer-den, was im Community Reinvestment Actfestgelegt wurde, wie die Rechnungsle-gungsvorschriften des IFRS2 ausgestal-tet sind, wie das Basel-II-System funktio-niert und welche Haftungsschranken fürBanken bestehen« (Sinn 2009). Die Defi-zite an vergleichbaren und analytisch kon-zipierten Informationen zu den institutio-nellen Regulierungen in der EuropäischenUnion und ihren Mitgliedstaaten sind er-heblich. Die DICE Datenbank will diese De-fizite zum Nutzen deutscher und internationaler Interes-senten beseitigen, indem sie institutionelle Vergleiche er-möglicht und den Ländern Benchmarks aufzeigt, nachdenen sie streben können, um sich im internationalenWettbewerb behaupten zu können.

Seit 2001 versucht das ifo Institut, mit der DICE Daten-bank diese Informationslücke zu schließen, und bietet der-zeit (Stand: Februar 2010) über 2 200 international verglei-chende Einträge zu den Themenbereichen Arbeitsmarkt,Bildung, Energie, Finanzmärkte, Gesundheitspolitik, Inno-vation, Migration, Öffentlicher Sektor (Haushalt, Steuerein-nahmen, Verschuldung), Sozialpolitik, Umweltschutz, Rah-menbedingungen für Unternehmen, Wettbewerbspolitik so-wie die Wertvorstellungen der Bevölkerung in den Indus-trieländern.

Was genau ist unter dem Begriff »Institutionen«zu verstehen? – Der Versuch einer Definition

Der Begriff »Institutionen« ist sehr vielschichtig und des-halb schwer zu definieren. Institutionen beziehen sich aufsehr viele, verschiedene Dinge »wie den Staat, die Ver-fassung, den Vertrag, das Unternehmen, die Schule, dieEhe, die Sprache, das Geld, die Marktwirtschaft, die Ge-werbefreiheit, die Mitbestimmung, die Menschenrechte,das Schuldverhältnis, das Eigentum, die Justiz und nochvieles andere mehr …« (Göbel 2002, 1, vgl. auch North1990). Allgemein ausgedrückt sind Institutionen »die Spiel-regeln einer Gesellschaft« (North 1992, 3), da sie Richt-linien schaffen für menschliche Interaktion. Dank ihnenwissen wir, wie wir uns verhalten müssen, wenn wir aufder Straße Freunde begrüßen, Einkaufen gehen oder ein

Unternehmen gründen wollen. Eine allgemein gültige De-finition versuchen Erlei et al. (1999, 23) zu geben. Lautden Autoren entspricht eine Institution einer Regel odereinem Regelsystem, einem Vertrag oder einem Vertrags-system, durch den oder die das Verhalten von Individu-en beeinflusst wird.

Neben den formellen Regeln, wie Spielregeln im Mann-schaftssport3, können auch informelle Regeln, wie Gepflo-genheiten oder ungeschriebene Verhaltenskodices4 zum Be-griff »Institutionen« gezählt werden (Unterscheidung nachdem Grad der Formalität). Des Weiteren können Institutio-nen auch nach verschiedenen Stufen in der Hierarchie odernach Kategorien unterschieden werden (vgl. Jütting 2003,11, siehe Abb. 1).

Die Einteilung von Institutionen nach einer Hierarchieord-nung geht zurück auf Williamson (2000). Institutionen derStufe 1 beinhalten Traditionen, soziale Normen und Bräu-che. Das Ziel der 2. Stufe von Institutionen ist es, Eigentums-rechte zu definieren und durchzusetzen. Institutionen im Be-reich der Staatsführung werden der Stufe 3 zugeordnet.Die Stufe 4 beinhaltet Institutionen, welche die Ressour-cenallokation determinieren.

Des Weiteren lassen sich mehrere Kategorien von Institu-tionen unterschieden:

1. ökonomische Institutionen,2. politische Institutionen,3. rechtliche Institutionen und 4. soziale Institutionen.

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2 IFRS – International Financial Reporting Standards.

Abb. 1

Was verstehen wir unter »Institutionen«?

Quelle: Darstellung des ifo Instituts.

Institutionen

FormalitätenFormal

Informal (Traditionen,Bräuche)

HierarchieStufe 1 Stufe 2 Stufe 3 Stufe 4

Kategorien Ökonomisch

PolitischRechtlich

Sozial

3 Zu den formellen Regeln gehören beispielsweise schriftlich niedergelegteRegeln.

4 In diesem Beispiel etwa die Regel, einen Spieler der gegnerischen Mann-schaft nicht vorsätzlich zu verletzen.

Daten und Prognosen

Zu den ökonomischen Institutionen zählen Regeln, die denProduktions-, Allokations- und Verteilungsprozess von Gü-tern und Dienstleistungen definieren (vgl. Bowles 1998). In-dikatoren, die Details über Wahlen, politische Systeme, Par-teien der Regierung und der Opposition sowie über die po-litische Stabilität beschreiben, werden im Bereich der poli-tischen Institutionen abgebildet. Im Bereich der rechtlichenInstitutionen geht es um die Definition und Durchsetzungvon Eigentumsrechten. Die sozialen Institutionen beschäf-tigen sich mit dem Zugang zu Gesundheits-, Bildungs- undsozialen Sicherungseinrichtungen.

Wie es zur Entstehung von Institutionen kommt, ist eine an-dere Frage. Man kann laut Furubotn und Richter (1996) zwi-schen zwei Extremfällen unterscheiden: Zum einen kön-nen Institutionen spontan entstehen, d.h. auf der Grundla-ge des Eigeninteresses des Einzelnen. Zum anderen kön-nen Institutionen das Ergebnis eines zielgerichteten Ent-wurfs sein, d.h. dass eine befugte Instanz (beispielsweiseein Parlament oder ein Unternehmen) imstande sein kann,eine bestimmte, ihr angemessen erscheinende institutio-nelle Ordnung einzuführen. Hier ist dann oft auch die Re-de von Institutionen im Sinne von objektivem Recht (z.B.das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland) odervon Institutionen im Sinne von subjektivem Recht (wie kon-krete Ansprüche aus einem freiwillig geschlossenen Arbeits-vertrag).

Weder die formellen noch die informellen Regeln einer Ge-sellschaft sind vollkommen. Menschen handeln im wirkli-chen Leben nicht immer rational, außerdem sind Menschenauch nur begrenzt fähig, Informationen zu erlangen und zuverarbeiten. Defizite in den formellen Rahmenbedingungenkönnen aber durch informelle Regeln behoben werden undumgekehrt.

Wie gestaltet man eine Datenbank?

Fokus der DICE Datenbank

Die DICE Datenbank liefert systematisch geordnete In-formationen in englischer Sprache zu Institutionen undRegulierungen des wirtschaftlichen Lebens in den 27 Mit-gliedstaaten der EU und in weiteren wichtigen Industrie-ländern (vgl. Box 1). Auch ökonomische Auswirkungenbestimmter Regulierungen werden teilweise erfasst, soz.B. die Auswirkungen der mit der Liberalisierung des Te-lekommunikationsmarktes einhergehenden Regulierungauf die Verbindungspreise des Netzes oder der Besteue-rung der Arbeit und der Finanzierung der Sozialsystemeauf die Arbeitskosten.

Die Datenbank enthält Einträge in Form von Tabellen (als Ex-cel- oder als PDF-Dateien), Graphiken und Kurzberichten

(vgl. Abb. 2). Die aufgeführten Tabellen versuchen, institu-tionelle Regelungen über die Zeit hinweg vergleichbar zumachen, oder geben einen detaillierten Überblick von Re-gulierungen über ein Jahr. In den Kurzberichten werden ei-nige der institutionellen Regelungen ausführlicher beschrie-ben, und es wird versucht, die Auswirkungen einzelner Re-gulierungsmaßnahmen herauszuarbeiten. Die bereitgestell-ten Informationen sind in der Regel auch aus anderen Quel-len zu erhalten, aber nicht immer leicht zugänglich oder sosystematisch aufgebaut, dass ein internationaler Vergleichmöglich ist. Einige Informationen basieren aber auch auf em-pirischen Arbeiten des ifo Instituts.5 Die DICE Datenbankist frei zugänglich.6

Derzeit existieren weltweit viele Datenbanken im Netz, diedem Nutzer Informationen über institutionelle Regelungenliefern. Diese Datenbanken sind in der Regel, wie zum Bei-spiel Social Security Systems Throughout the World von derInternational Social Security Association, Doing Businessvon der Weltbank oder die European Health for all Databa-se der Weltgesundheitsorganisation, auf ein bestimmtes,

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Box 1

Welche Länder werden betrachtet?

Belgien Kroatien Bulgarien Mazedonien Dänemark Deutschland Norwegen Estland Schweiz Finnland Türkei Frankreich Griechenland Australien Großbritannien Japan Irland Kanada Italien Neuseeland Lettland Vereinigte Staaten Litauen Luxemburg Malta Niederlande Österreich Polen Portugal Rumänien Schweden Slowakische Republik Slowenien Spanien Tschechische Republik Ungarn Zypern Im Einzelnen werden auch weitere Länder, wie Liechtenstein im Bereich von Bankenregulierungen oder Korea und Mexiko, im Institutionenindex für OECD-Län-der miteinbezogen.

5 Die Forschung des ifo Instituts ist auf Europa fokussiert und strebt eineländervergleichende Betrachtung an.

6 Die DICE Datenbank ist zugänglich über die ifo Internetseite: http://www.cesifo-group.de/portal/page/portal/ifoHome/a-winfo/d3iiv.

Daten und Prognosen

genau umrissenes Themenfeld – wie z.B. so-ziale Sicherungssysteme, Institutionen denLebenszyklus von Unternehmen betreffend(Gründung, Geschäftstätigkeit, Konkurs), dasGesundheitssystem – fokussiert. Viele An-gebote sind kostenpflichtig oder für die All-gemeinheit nur schwer zugänglich. Das Be-sondere an der DICE Datenbank im Vergleichmit anderen institutionellen Datenbanken be-steht darin, dass DICE versucht, möglichstviele unterschiedliche Institutionenfelder ab-zudecken und zusätzlich auch qualitative, dieeinzelnen institutionellen Regelungen be-schreibende Informationen bereitzustellen.Darüber hinaus kann DICE als frei zugängli-che Datenbank als besonders transparentund nutzerfreundlich gelten.

Struktur der institutionellen Felder

Die einzelnen Institutionenfelder, die die DICE Datenbank abbilden, gliedern sich in acht Themenfel-der (vgl. Box 2 für eine detaillierte Auflistung):

• Business and Financial Markets: Dieser Bereich decktdie Finanz- und Produktmärkte ab, beschreibt die Wett-bewerbs- und Industriepolitik und gibt einen Überblicküber das regulatorische Umfeld von Unternehmen undVorschriften zur formalen Unternehmensgestaltung. DerBenutzer der DICE Datenbank erfährt u.a., wie der Ban-kensektor eines Landes reguliert ist, welche bürokrati-schen Hindernisse in einzelnen Bereichen der Wirtschaftüberwunden werden müssen oder wie lange es dauert,ein Unternehmen zu gründen, und welche Kosten da-durch verursacht werden.

• Education and Innovation: Hier stehen neben der Be-schreibung von Regeln auch die Bildungsausgaben, dieStruktur der Bildungssysteme, die Nutzung und der Out-put des Systems – wie z.B. Schüler-, Studenten- und Ab-solventenzahlen, die Dauer der durchschnittlichen Bil-dungskarriere – sowie die Förderung von Innovationenund der Schutz geistigen Eigentums – wie Patentrege-lungen – im Fokus.

• Energy and Natural Environment: Die Besteuerungvon Energie, die Aufgaben von Regulierungsbehördenund die Ausgaben für die Forschung und Entwicklungim Energiebereich werden in diesem Bereich darge-stellt. Auch finden sich hier die Einspeisevergütungenvon Strom aus erneuerbaren Energiequellen. Danebenwerden Regelungen aus der Umweltpolitik – wie Grenz-werte von Emissionen, Emissionshandel sowie spe-zielle Politikbereiche (z.B. Gewässerschutz) dargestellt.In diesem Bereich werden ebenfalls Ressourcenum-fänge, wie die von Erdöl, Erdgas oder Steinkohle, auf-gezeigt.

• Infrastructure: Der Bereich »Infrastructure« behandelt dieThemen Telekommunikation und Verkehrswesen. Hier er-hält man u.a. Informationen zu Liberalisierungsprozes-sen, zu Regulierungsbehörden im Telekommunikations-sektor und über die Zugangsregulierungen für das Tele-fonfestnetz wie auch für das Mobilnetz. Des Weiterenwerden die institutionellen Regelungen für die Binnen-schifffahrt, für die Luftfahrt und für den Straßen- und Ei-senbahnverkehr erfasst.

• Labour Market and Migration: In diesem Bereich wer-den die staatliche Arbeitsmarktpolitik – von der Bezugs-dauer des Arbeitslosengeldes, über Instrumente der ak-tiven Arbeitsmarktpolitik bis hin zu den Themen Besteue-rung der Arbeit und Arbeitskosten – aber auch Themenwie industrielle Beziehungen sowie Aus- und Weiterbil-dung dargestellt. Daneben finden sich unter »Migration«institutionelle Regelungen zu den Themen Arbeitsmigra-tion – von der Freizügigkeit innerhalb der EU bis hin zubilateralen Übereinkünften für bestimmte Berufsgrup-pen – und zur Integration von Migranten. Darüber hin-aus werden institutionelle Regelungen zu weiteren Wan-derungsbewegungen (Flüchtlinge, Familienzusammen-führungen) beleuchtet.

• Public Sector: In diesem Bereich erfährt der Nutzer ge-naueres über die Ausgestaltung des Steuersystems ei-nes Landes, die Höhe der öffentlichen Ausgaben undihre Verwendung. Ein weiterer Themenbereich ist dieStaatsverschuldung und die Ansätze zu ihrer Reduzie-rung. Darüber hinaus wird auf Fragestellungen eingegan-gen, die aufzeigen, wie transparent öffentliche Unterneh-men sind, wie genau die Gesetzgebung eines Landes(Anzahl der Akteure, beteiligte Ebenen) ausgestaltet ist,ob die zurzeit amtierende Regierung eher links oder rechtsausgerichtet ist oder wie weit verbreitet die Korruption ineinem Land ist.

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Abb. 2

Beispiele für Tabellen, Graphiken und Berichte …

Daten und Prognosen

• Social Policy: Dieses Institutionenfelddeckt die Bereiche Gesundheits-, Fa-milien- und Rentenpolitik ab und be-trachtet darüber hinaus die Grundsiche-rung. Im Bereich Gesundheitspolitik fin-den sich Informationen über Gesund-heitsausgaben, die Struktur von Versi-cherungssystemen und deren Finanzie-rung, die zur Verfügung stehenden Res-sourcen (Personal, Technik und weite-re Infrastruktur, wie die Anzahl der Kran-kenhausbetten usw.) und Regulierun-gen des Pharmamarktes. Der BereichFamilienpolitik umfasst Regulierungender Kinderbetreuung, liefert Informatio-nen über die finanzielle Unterstützungvon Familien und gibt einen Überblickdarüber, wie das Verhältnis von Arbeitund Familie im internationalen Vergleichgestaltet ist. Die Rentenpolitik betrach-tet demographische Faktoren genausowie die Ausgestaltung des Rentensys-tems und die Bemessung von Rentenansprüchen. DasFeld der Grundsicherung deckt die Bereiche der Ar-beitsunfähigkeit, der Ausgestaltung der Sozialversi-cherung sowie die Themen Einkommensverteilung undArmut ab.

• Values: Die Meinungen von Haushalten zu Fragestellun-gen der wirtschaftlichen, privaten und politischen Umwelteines Landes werden hier beleuchtet. Beispielsweise er-fährt man, für wie korrupt die Bürger eines Landes ihrLand halten oder wie viel Vertrauen die Bürger ihrer Re-gierung entgegenbringen.

Die Kategorie »Other Topics« liefert Informationen zu denwirtschaftlichen Grundlagen der betrachteten Länder (Brut-toinlandsprodukt, Bevölkerungszahlen etc.) genauso wie zuallgemeinen Themen (Finanzierung von Parteien, Verbrau-cherschutz etc.). Darüber hinaus finden sich hier die Er-gebnisse des Institutionenindex wieder, den das ifo Institutentwickelt hat.

Die einzelnen Themenfelder werden jährlich gesichtet. Da-zu zählen u.a. die Aktualisierung bereits vorhandener Infor-mationen sowie das Bereitstellen neuer institutioneller Re-gelungen. Für die Bearbeitung werden einschlägige Quel-len, wie Working Paper Series verschiedener Organisatio-nen7, Fachzeitschriften8 oder auch Buchveröffentlichungen9,zu Rate gezogen.10

DICE Special

Eine weitere Leistung der DICE Datenbank ist die Rubrik »DICE Special«. Hier werden Tabellen, Graphiken und kur-ze Berichte zu Themen der aktuellen Wirtschaftspolitik zu-

sammengestellt, wie beispielsweise zur Finanzmarktkrise,zur Abwanderung von Wissenschaftlern oder zum Klima-wandel (vgl. Abb. 3).11

Weitere Leistungen

Weitere Leistungen der DICE Datenbank umfassen

• eine Liste aller Regulierungen in alphabetischer Ordnung,• eine Suchoption,• eine Liste aller neuen Einträge in die DICE Datenbank,

aktualisiert immer am Anfang eines Monats und• eine Übersetzungshilfe in die Sprachen der EU-Mitglieds-

länder.

Der CESifo DICE Report

Der CESifo DICE Report ist eine vierteljährliche englischspra-chige Zeitschrift des ifo Instituts. Die Zeitschrift enthält vor

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7 Beispielsweise von der OECD oder von der World Bank.8 Wie European Journal of Law and Economics.9 Zum Beispiel »Babies and Bosses«, von der OECD herausgegeben. 10 Das ifo Institut führt für den Ausbau der DICE Datenbank selbst keine in-

ternationalen Umfragen durch, noch steht der Datenbank ein internatio-nales Expertenteam zur Verfügung. Allerdings verfügt der Bereich »Inter-nationaler Institutionenvergleich« des ifo Instituts über Experten auf demGebiet der Institutionenökonomik, die sich in einschlägigen Veröffentli-chungen mit der Frage befassen, ob institutionelle Regelungen von an-deren Einrichtungen wie der OECD, der Weltbank, den Vereinten Natio-nen oder Transparency International adäquat erfasst werden.

11 Des Weiteren werden DICE-Informationen auch im Bereich der ifo Spe-zialthemen mit aufgenommen, siehe http://www.cesifo-group.de/portal/page/portal/ifoHome/B-politik. Hierfinden sich u.a. Informationen zu Mindestlöhnen oder Bankenregulie-rungen.

Abb. 3

DICE Special

Daten und Prognosen

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Business and Financial Markets

Competition Policy Enterprise Environment Antitrust Policy Conduct Regulations Dominance Entry Regulations Merger Control Exit Regulations Performance Small & Medium Enterprises Financial Markets Industrial Policy Asset Markets, Stock Exchange Others Bank Regulation and Supervision Research & Development Banking State Aid Corporate Finance Law, Corporate Governance Product Markets (under construction) Product Markets Regulations Education and Innovation Education Innovation Early Childhood Education and Care Innovation Policies Education Glossary Knowledge Creation and Innovation Performance Financial and Human Resources Legal Framework Invested in Education R&D Resources Individual and Labour Market Outcomes of Education Learning Environment and Organisation of Schools Learning Outcomes of Education Mobility Participation in Education Student Performance Tests Energy and Natural Environment Energy Natural Environment Descriptive Data Environmentally Motivated Subsidies Energy Policy Environmentally Related Taxes, Fees and Energy Taxes Charges Market Regulation Instruments by Environmental Domains R&D/Technology-Policy Other Policy Instruments and Topics Renewable Energy Regulatory Instruments Securing Energy Supply State of the Environment Tradable Permits Voluntary Approaches Infrastructure Communication Networks Transport Cable Networks Airplane Descriptive Data Descriptive Data Fixed-Line: Access Regulation General Transport Policy Liberalisation Process Inland Waterways Mobile Networks Maritime Transport (under construction) Regulatory Authority Railways Road Transport Labour Market and Migration Labour Market Migration Active Labour Market Policies Descriptive Data Earnings Dispersion, Wage Flexibility Integration of Immigrants Employment Labour Migration Employment Protection Non-labour Migration Labour Force Participation Taxation of Labour, Wage Subsidies Training Unemployment Unemployment Benefit Schemes Unions, Wage Bargaining, Labour Relations Working Time

Box 2Die Institutionenfelder der DICE Datenbank

Daten und Prognosen

allem Beiträge, in denen institutionelle Regelungen und wirt-schaftspolitische Maßnahmen in einer ländervergleichendenWeise dargestellt und analysiert werden. Ein wichtiges Zielder Zeitschrift ist es, wirtschaftspolitische Reformen an-zuregen.

Der CESifo DICE Report bietet Forschern aus dem ifoInstitut, dem CESifo-Netzwerk und anderen Institutio-nen ein Diskussionsforum zu institutionellen Fragen. DiePublikation liefert relevante Informationen für die wirt-

schaftspolitische Debatte, ohne dabei ein rein akademi-sches Journal zu sein. Sie richtet sich vielmehr an eineinteressierte Öffentlichkeit aus Journalisten, Entschei-dungsträgern aus Politik, Verwaltung und Wirtschaft so-wie Wissenschaftlern.

Die verschiedenen Sektionen der Zeitschrift haben unter-schiedliche Schwerpunkte. Im »Forum« wird eine spezi-fische institutionelle Fragestellung unter verschiedenenAspekten von mehreren Autoren betrachtet und disku-

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Other Topics

Basic Country Characteristics Miscellaneous Gross Domestic Product and its Anti-discrimination

Components Consumer Protection Inflation Measures European Union Legislation Institutions Climate Index Financing of Political Parties

International Trade and Payments, Exchange Rates Monetary Policy

Population Weight of Nations Public Sector

Public Enterprises/Privatisation (under construction) State-owned Enterprises

Public Finance Public Governance and Law Public Debt Budget Practices

Public Expenditures Corruption Public Revenues (without Taxes) Human Resources Management Taxes Judiciary System

Political and Administrative System Regulatory Management

Social Policy Basic Protection Family

Employment Injuries Child Care Guaranteeing Sufficient Resources Family Statistics Invalidity Financing Family Policies

Poverty, Income Distribution Monetary Assistance to Families Social Protection: Expenditure, Funding Work-Family-Balance

Health Pensions Expenditures Benefits Health Care Systems Demographics

Health Outcomes Finances Pharmaceuticals Retirement Resources: Hospitals, Physicians System Characteristics

Sick Leave, Lost Working Days Waiting Lists

Values Economic Values Personal Values

Economy Family Values Environment Private Values Science and Technology

Work Political Values

Confidence in Institutions Equality and Basic Needs Politics and Policy

Fortsetzung Box 2:

Daten und Prognosen

tiert. In der Sektion »Research Reports« finden sich Arti-kel zum Aufbau und zu den Auswirkungen von ganz ver-schiedenen Institutionen. Institutionelle Reformprojekteeinzelner Länder werden in der Sektion »Reform Models«vorgestellt. Neue Einträge in die DICE Datenbank werdenmit einem kurzen Bericht, der über das Umfeld der ent-sprechenden Regel informiert, in »Database« präsentiert.Im abschließenden »News«-Teil wird der Leser über Kon-ferenzen, neue Studien, aktuelle Literatur und For-schungsvorhaben auf dem Feld der Institutionenforschunginformiert.

Der Institutionenindex für OECD-Länder

Über viele Jahrzehnte hinweg wurden Unterschiede imWirtschaftswachstum auf die Zunahme der Ausstattungmit Produktionsverfahren und auf den technischen Fort-schritt zurückgeführt. Erst seit der bahnbrechenden Ar-beit von Douglas North und Robert Thomas im Jahr 1973wuchs die Erkenntnis, dass Institutionen, das heißt ins-besondere staatliche Regulierungen, das Wirtschafts-wachstum ebenfalls in starkem Maße beeinflussen. »DieSpezifizierung der Institutionen war und ist ausschlag-gebend dafür, ob eine Gesellschaft sich positiv entwickelt,stagniert oder im Vergleich zu anderen Nationen zurück-fällt« (North 1988).12 An die Hypothese von North schließtsich somit unmittelbar die Frage an, welche der institu-tionellen Regelungen eines Landes diejenigen Eigenschaf-ten aufweisen, mit denen erfahrungsgemäß ein hohesWachstum des Pro-Kopf-Einkommens erreicht werdenkann. Eine solche Einschätzung kann mit dem Institutio-nenindex vorgenommen werden, welcher vom BereichInternationaler Institutionenvergleich des ifo Instituts inZusammenarbeit mit Theo Eicher von der University ofWashington in Seattle entwickelt worden ist. Dieser In-dex liefert einen Maßstab, um die Qualität der Institutio-nen eines Landes zu bewerten. Er basiert auf einem Ver-fahren, mit dem solche Institutionen identifiziert werden,die in hohem Maße zum Wachstum des Pro-Kopf-Ein-kommens beitragen.13

Aber warum ist es für die Öffentlichkeit interessant, Ran-kings zu erstellen? Zum einen finden Rankings aufgrundder Verdichtung komplexer Zusammenhänge auf einfachePositionsangaben großen Anklang. Zum anderen wird aufRankings zurückgegriffen, um eine bestimmte Institutionoder eine bestimmte Wirtschaftspolitik einem Benchmar-

king mit anderen Ländern zu unterziehen. Aufgrund derzunehmenden Globalisierung der Wirtschaft stehen Re-gierungen im Wettbewerb miteinander. Damit eine Re-gierung einschätzen kann, welche Position ihr Land be-züglich der Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Ver-gleich einnimmt und bei welchen wirtschaftspolitischenFeldern Handlungsbedarf besteht, sind solche Verglei-che notwendig. Rankings liefern aber nur erste Hinweise.Der »Corruption Perceptions Index« von TransparencyInternational misst beispielsweise den Grad der bei Be-amten und Politikern wahrgenommenen Korruption. Da-durch ist es möglich, ein Land mit einem anderen Landim Bereich der herrschenden Korruption zu vergleichen.Um aber detailliertere Informationen über die Korruptionin einem Land zu erhalten, reichen Indizes/Rankings nichtaus. Rankings geben keine Auskunft, um welche Art vonKorruption es sich handelt. Dafür muss man weiter ins De-tail gehen. »Vielfach gelingt ökonomische Erkenntnis erstnach dem Studium rechtlicher Wirkungsmechanismen,die sich zwar durch Worte verständlich beschreiben las-sen, sich aber einer rein numerischen Analyse entziehen«(Sinn 2009).

Damit die Rankings die richtigen Signale aussenden, müs-sen sie gewissen Anforderungen entsprechen. Dazu zäh-len u.a. die Auswahl und Gewichtung von Indikatoren. DieAuswahl der Indikatoren sollte auf einem theoretisch begrün-deten und empirisch belegten Zusammenhang zwischenden Indikatoren und dem Tatbestand, den das Ranking mes-sen soll, beruhen. In der Regel ist es notwendig, eine Stan-dardisierung der verwendeten Daten vorzunehmen. Bei derAggregation der Indikatoren zu einem Gesamtindex mussman sich die Frage stellen, ob alle verwendeten Indikatorengleich wichtig sind für den Index. Die Gewichte der Indika-toren reflektieren ihre relative Bedeutung im Gesamtindex(vgl. Ochel und Röhn 2008, 238). Deshalb sollte die Wahlder Gewichtung auf einer theoretischen Grundlage ba-sieren.14

Der Institutionenindex für OECD-Länder hat gegenüber an-deren Verfahren von Länder-Rankings (vgl. hierzu Ochel undRöhn 2008) den Vorteil, dass die für das Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens wichtigen institutionellen Determinan-ten und ihre Gewichte ökonometrisch ermittelt wurden. An-dererseits ließe sich die Qualität des Index weiter verbes-sern, wenn zusätzliche Zeitreihen über institutionelle Rege-lungen zur Verfügung stünden und Mängel in der Erfassungvon Institutionen beseitigt würden.

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12 Eine Vielzahl von Untersuchungen hat diesen Zusammenhang in der Zwi-schenzeit belegt (einen Überblick der relevanten Literatur liefern Eicherund Röhn 2007).

13 Seit der Erkenntnis, dass Institutionen zum Wirtschaftswachstum einesLandes beitragen, wurde eine Vielzahl an Untersuchungen vorgenommen,die über die Zeit und verschiedene Länder hinweg die fundamentalenGründe für Wirtschaftswachstum beleuchten (vgl. Ochel und Osterkamp2007, 50).

14 Oftmals fehlt die theoretische Grundlage, weshalb auf eine Gleichge-wichtung zurückgegriffen wird. Statistische Verfahren können, auch oh-ne theoretische Kenntnisse, eine Gleichgewichtung oder ein willkürlichesGewichtungsschema vermeiden. Statistische Methoden können die in denDaten innewohnenden Informationen nutzen und eine Gewichtung en-dogen bestimmen. Gewichte können mit Hilfe der Regressionsanalyseoder mit faktoranalytischen Verfahren genauso wie mit der Hauptkompo-nenten-Analyse berechnet werden (vgl. Ochel und Röhn 2008, 239).

Daten und Prognosen

Ausblick

Die DICE Datenbank des ifo Instituts hat sich zum Ziel ge-setzt, in Europa Quelle für diejenigen zu sein, die an wis-senschaftlich fundierten, aktuellen und international ver-gleichenden Informationen zu Institutionen und institutionel-len Reformen interessiert sind. Dazu wurden seit 2001 zahl-reiche Informationen gesammelt, aufbereitet (als Tabellen,Graphiken oder Kurzberichte) und dem Nutzer über das In-ternet unentgeltlich zur Verfügung gestellt. Rückmeldun-gen zeigen, dass die Strategie bislang erfolgreich war. Dieseit Jahren konstant steigenden Nutzerzahlen deuten diesebenfalls an. So weist die DICE Datenbank Besucherzah-len von ca. 4 000 bis 5 000 pro Monat aus. Die Zahl derDownloads beträgt ca. 60 000 bis 80 000 pro Monat. Auchweiterhin werden die vorhandenen Informationen ständigaktualisiert und um neue ergänzt. Wenn nötig werden auchneue Themenbereiche aufgenommen.15

Literatur

Bowles, S. (1998), »Endogenous Preferences: The Cultural Consequencesof Markets and other Economic Institutions«, The Journal of Economic Literature 36(1), 75–111.Eicher, T. und O. Röhn (2007), »Institutional Determinants of Economic Per-formance in OECD Countries – An Institutions Climate Index«, CESifo DICEReport 5(1), 38–49.Erlei, M., M. Leschke und D. Sauerland (1999), Neue Institutionenökonomik,Schäffer-Poeschel, Stuttgart.Furubotn, E. und R. Richter (1996), Neue Institutionenökonomik – Eine Ein-führung und kritische Würdigung, J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen.Göbel, E. (2002), Neue Institutionenökonomik – Konzeption und betriebswirt-schaftliche Anwendungen, Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH, Stutt-gart.Jütting, J. (2003), »Institutions and Development: A Critical Review«, OECDDevelopment Centre, Working Paper No. 210.North, D. C. (1988), Theorie des institutionellen Wandels, J.C.B. Mohr (PaulSiebeck), Tübingen.North, D. C. (1990), Institutions, Institutional Change and Economic Perfor-mance, Cambridge University Press, Cambridge.North, D. C. (1992), Institutionen, institutioneller Wandel und Wirtschaftsleis-tung, J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen.North, D. C. und R. Thomas (1973), The Rise of the Western World, Cam-bridge University Press, Cambridge.Ochel, W. und R. Osterkamp (2007), »What does the Institutions Climate In-dex for OECD Countries Tell us about Institutional Change and Economic Po-licy Reforms?«, CESifo DICE Report 5(1), 50–62.Ochel, W. und O. Röhn (2008), »Indikatorenbasierte Länderrankings«, Pers-pektiven der Wirtschaftspolitik 9(2), 226–251.Sinn, H.-W. (2009), »Der richtige Dreiklang der VWL«, Frankfurter Allgemei-ne Zeitung Nr. 141, 22. Juni, 12.Voigt, S. (2002), Institutionenökonomik, Wilhelm Fink Verlag GmbH & CoKG, München.Wagener, H.-J. (2010), »Warum gerade Europa? Langfristige Wirtschafts-entwicklung und Institutionen« in: U. Vollmer (Hrsg.), Institutionelle Ursachendes Wohlstands der Nationen, Schriften des Vereins für Socialpolitik, Dun-cker & Humblot, Berlin, 15–67.Williamson, O. E. (2000), »The New Institutional Economics: Tacking Stock,Looking Ahead«, The Journal of Economic Literature 38(3), 595–613.

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15 Bei der Weiterentwicklung von DICE ist uns konstruktive Kritik jederzeitwillkommen: Diese ist zu richten an Nick Hoffmann ([email protected]) oderAnja Rohwer ([email protected]).

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Problemstellung und Vorgehens-weise

Bereits in den Jahren 2002 und 2006hatte das ifo Institut die gesamtwirt-schaftlichen Auswirkungen, die von derWertschöpfungskette »Biodiesel« aus-gehen, unter verschiedenen förderpo-litischen Rahmenbedingungen und un-terstellten Wachstumsschritten analy-siert.1 Statistische Grundlage sind dieInput-Output-Tabellen des StatistischenBundesamtes, die die Verflechtungs-struktur der verschiedenen Sektorender Wirtschaft untereinander sowie imHinblick auf den Staat und das Auslandwiedergeben. Während die unmittelba-ren Größen, d.h. volkswirtschaftlichenKennwerte wie Produktion, Beitrag zurinländischen Wertschöpfung, Beschäf-tigung usw. eines Wirtschaftszweigesbzw. einer definierten Wertschöpfungs-kette weitgehend bekannt sind, erlaubt

dieser Ansatz auch, die indirekten Wir-kungen zu quantifizieren. Indirekte Ef-fekte resultieren beispielsweise daraus,dass Investitionsgüter nachgefragt wer-den, kontinuierlich Vorleistungen ande-rer Wirtschaftsbereiche beanspruchtwerden, entstandene Einkommen undGewinne zum Teil in den Konsum flie-ßen usw. Es werden also weitere Wirt-schaftsaktivitäten induziert aufgrundder Tatsache, dass eine Wertschöp-fungskette »Biodiesel« existiert bzw.ausgedehnt wird. Dabei ist es von be-sonderer Bedeutung für die politischeDiskussion, dass auch die direkten so-wie die zurechenbaren indirekten Aus-wirkungen auf die öffentlichen Haushal-te (Steuern, Sozialversicherung) quan-tifiziert werden. Damit stehen einer er-folgreichen staatlichen Förderung im-mer auch Mehreinnahmen im Bereichder Steuern und Sozialversicherung ge-genüber.

Während bei Untersuchungen, die sichauf die Entstehungsphase der Wert-

Manfred Schöpe

Gesamtwirtschaftliche Effekte der Förderung von Biodiesel

Die industrielle Erzeugung und der Absatz von Biodiesel begannen in den neunziger Jahren und

entwickelten sich, nicht zuletzt dank der Befreiung von der Mineralölsteuer, zügig. Für die Land-

wirte eröffnete dieser neue Wirtschaftszweig eine Nutzungsalternative für stillgelegte Ackerflä-

chen, für die überfließenden Agrarmärkte eine Entlastung, und im Hinblick auf die zunehmend stär-

ker betonten energiepolitischen Ziele hin zum Einsatz von mehr Bioenergie stellte er eine unmit-

telbar umsetzbare Strategie dar. Dennoch blieb die Förderung immer unter kritischer Beobach-

tung, fürchtete man doch eine Überkompensation der Nachteile, nämlich der im Vergleich zu kon-

ventionellem Dieselkraftstoff höheren Gestehungskosten. Ein sicherer Absatzmarkt wurde die-

sem jungen Wirtschaftszweig eröffnet, als im so genannten Biokraftstoffquotengesetz die Beimi-

schung zum fossilen Dieselkraftstoff ab 2007 verbindlich festgeschrieben wurde. Das Energiesteu-

ergesetz von 2006 führte eine Besteuerung von Biodiesel als Reinkraftstoff (B-100) ein, die von

Jahr zu Jahr angehoben werden sollte. Mit einer derzeit gültigen Besteuerung von 18,6 Cent/Li-

ter (eigentlich hätte sie schon über 24 Cent/Liter liegen müssen) ist ein kostendeckender Absatz

nicht mehr gewährleistet, so dass die Märkte für B-100 weitgehend weggebrochen und bestehen-

de Produktionskapazitäten nicht mehr ausgelastet sind.

Die aktuelle politische Diskussion bewegt sich um die Frage einer wirtschaftlich angemessenen

Besteuerung. Der vorliegende Beitrag behandelt in diesem Kontext die Frage, inwieweit die von

der Wertschöpfungskette “Biodiesel” erbrachte volkswirtschaftliche Leistung dazu beiträgt, die

Steuermindereinnahmen auszugleichen. Da darüber hinaus mehrere Wirkungszusammenhänge zum

Tragen kommen, der Quotenhandel zur Erfüllung der Vorgaben des Biokraftstoffquotengesetzes

sowie ein möglicher Rückgang der Auslandsbetankung im Lkw-Verkehr, wird in der Gesamtschau

zutage kommen, dass die Förderung des Wirtschaftszweiges Biodiesel aus Sicht der Staatskas-

sen ausgesprochen lohnend sein kann.

1 ifo Schnelldienst 6/2002 sowie ifo Schnelldienst17/2006.

Daten und Prognosen

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schöpfungskette »Biodiesel« bezogen hatten, die WirtschaftDeutschlands ohne Existenz einer auf inländischen Ressour-cen beruhenden Biodieselproduktion als Referenzsituationdienen konnte, handelt es sich in der gegenwärtigen Pha-se um einen bereits voll in das Wirtschaftsgeschehen inte-grierten Wirtschaftszweig, der infolge einer förderpolitischenKehrtwende der Bundesregierung mit beachtlichen Über-kapazitäten belastet ist. Als sich in den neunziger Jahren en-gagierte Vertreter aus der Landwirtschaft, dem Bereich derÖlmühlen und der landwirtschaftlichen Verbände für die Ent-wicklung und den Aufbau der Wertschöpfungskette »Bio-diesel« einsetzten, erwartete man beachtliche direkte undindirekte Effekte an verschiedenen Stellen der betroffenenWirtschaftsbereiche: Entlastung der seinerzeit stark über-schüssigen EU-Getreidemärkte und damit der Interventions-kosten, Rückführung stillgelegter Ackerflächen in eine ge-regelte Produktion, dadurch zusätzliche Wertschöpfung undEinkommen in der Landwirtschaft, dem Landhandel und derÖlsaatenverarbeitung, indirekte positive Effekte auf die Ge-samtwirtschaft infolge des Aufbaus eines neuen Wirtschafts-zweiges, der nicht oder nur sehr eingeschränkt in Konkur-renz zu bestehenden inländischen Wirtschaftszweigen steht,und nicht zuletzt der teilweise Ersatz von Importen (fossilerKraftstoff, Eiweißfuttermittel) durch inländische Produktions-leistung.

Für die aktuelle Untersuchung bilden die wirtschaftlichen Ge-gebenheiten, wie sie sich 2008 für die Wertschöpfungsket-te »Biodiesel« darstellen, das Ausgangsszenario. Dabei wirddeutlich, inwieweit diese junge Branche mit der gesamtenWirtschaft verflochten ist und welchen Beitrag sie gesamt-wirtschaftlich leistet, auch hinsichtlich der Einnahmen deröffentlichen Kassen. Die für 2010 entwickelten Szenariendienen u.a. der Beantwortung der aktuellen Frage, was eskostet, wenn der Absatz von Biodiesel als Reinkraftstoff(B 100) weiterhin (in unterschiedlichen Ausgestaltungsfor-men) gefördert wird und wie hoch die Rückflüsse in die öf-fentlichen Kassen zu veranschlagen sind.

Szenarien 2010

Als Folge der progressiven Besteuerung von Biodiesel alsReinkraftstoff hat sich der B-100-Markt seit 2008 sehr starkrückläufig entwickelt. Auch eine nachträgliche Korrekturder Besteuerungspolitik wird nach Einschätzung der Praxiskaum dazu beitragen, die Märkte wieder in voller Höhe zu-rückgewinnen zu können. Die Gründe sind sicher vielfältig,u.a. ist das Tankstellennetz (2007 ca. 1 900 Stationen) zwi-schenzeitlich weitgehend weggebrochen und neue Pkwserhalten seit 2004 von ihren Herstellern keine Freigaben fürBiodiesel mehr. Der Einsatz von Biodiesel bleibt daher imWesentlichen auf den Transportsektor beschränkt, da fürNutzfahrzeuge nach wie vor Freigaben bestehen und beientsprechend nachhaltigem Kundeninteresse auch weiter-

hin erteilt werden. Der Absatz von Biodiesel als Reinkraft-stoff ist somit auf die Nachfrage von Seiten der Nutzfahrzeu-ge ausgerichtet, einen Teilmarkt, der in etwa der Hälfte desinländischen Dieselabsatzes entspricht. Entscheidend fürden Einsatz in Nutzfahrzeugen ist jedoch die wirtschaftlicheAttraktivität des Kraftstoffes.

Den für 2010 zu analysierenden Szenarien liegen dahervorsichtige Mengenannahmen zugrunde. Das erste alseinigermaßen realistisch anzunehmende Szenario gehtvon der gegenwärtig praktizierten Besteuerung, wie siedem Wachstumsbeschleunigungsgesetz entspricht(18,6 Cent/Liter), aus und unterstellt eine B-100-Nach-frage von 300 000 Tonnen.

In einem weiteren Szenario wird eine Senkung der Besteue-rung auf 10 Cent/Liter unterstellt, wodurch der B-100-Ab-satz auf 700 000 Tonnen steigen könnte. Ergänzende An-nahmen sind, dass zur Erfüllung der Biokraftstoffquote600 000 Tonnen via Quotenhandel nachversteuert werden2

und dass der B-100-Absatz insgesamt zu einer Verminde-rung des so genannten Tanktourismus führt. Praxisschät-zungen zufolge würde die Betankung im Inland in einem Um-fang dazu gewinnen, der etwa einem Drittel des unterstell-ten B-100-Absatzes entspricht. Eine weitere Variante gehtdavon aus, dass angesichts vorhandener Kapazitäten inDeutschland zusätzlich Biodiesel für das benachbarte Aus-land produziert wird. Beschränkt man die Betrachtung aufpflanzenölbasierten Biodiesel, so könnte man von Nettoex-porten und damit von einer inländischen Mehrproduktionvon 300 000 ausgehen.

Behandlung des Agrarsektors im Kontext der für2010 zu analysierenden Szenarien

Nach ersten Meldungen über die Herbstbestellung 2009 (zurErnte 2010) haben die deutschen Landwirte im Vergleichzu 2008 die Anbauflächen für Winterraps ausgedehnt. Danicht von einer nennenswerten Zunahme der Ackerflächeninsgesamt zur Ernte 2010 ausgegangen werden kann, wirdes dadurch zu Einschränkungen beim Anbau anderer Acker-früchte, zum Beispiel Weizen oder Gerste, kommen. Durchdiesen Vorgang gewinnt zwar die Rapserzeugung für dieBiodieselproduktion einen größeren Anteil innerhalb der land-wirtschaftlichen Wertschöpfung. Es lässt sich aus diesemZusammenhang jedoch nicht herleiten, dass dadurch dieWertschöpfung in der Landwirtschaft insgesamt zunehmenwürde. Das wäre nur der Fall, wenn bisher ungenutzte An-bauflächen in nennenswertem Umfang in Kultur genommen

2 Das Biokraftstoffquotengesetz verpflichtet die Mineralölwirtschaft, einenfesten und anwachsenden Mindestanteil von Biokraftstoffen in Verkehr zubringen. Diese Quote liegt für 2010 bei 6,25% über alle Kraftstoffarten ge-rechnet. Die Quote kann durch Beimischung und/oder den Vertrieb vonreinen Biokraftstoffen erfüllt werden. Diese Verpflichtung kann auch perVertrag an Dritte übertragen werden, den so genannten Quotenhandel.

Daten und Prognosen

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würden oder wenn der Anbau von Raps einen deutlich hö-heren Deckungsbeitrag aufweisen würde als verdrängteAckerfrüchte. Letzteres für 2010 zu unterstellen, wäre je-doch reine Spekulation. Überschlägige Vergleiche der durch-schnittlichen Deckungsbeiträge für Winterweizen und Rapsin Bayern für 2009 ergaben für keine der beiden Fruchtar-ten einen nennenswerten Vorteil, wenn man den so genann-ten Vorfruchtwert von Raps mitberücksichtigt. Somit füh-ren Änderungen der Förderpolitik bei dem derzeit erreich-ten Niveau der Ackerflächennutzung zu keinen vorherseh-baren oder gar prognostizierbaren Veränderungen der Wert-schöpfung im landwirtschaftlichen Sektor. Das ist bei dendurchzuführenden Input-Output-Rechnungen zu berück-sichtigen.

Mengengerüst 2008

Gegenstand der aktuellen Untersuchung ist die Wertschöp-fungskette »Biodiesel«, basierend auf der inländischen Pro-duktion. Methylester sind zwar in einem hohen Maße Ge-genstand von Außenhandelsaktivitäten, für 2008 ergab sichjedoch ein positiver Außenhandelssaldo von 29 800 Ton-nen (AMI). Damit kam es auch unter förderpolitischen Ge-sichtspunkten nicht zu einer steuerlichen Begünstigung voneingeführtem Biodieselkraftstoff.

Eine weitere Einschränkung betrifft Methylester aus Altspei-sefetten und tierischen Fetten (AME) und (TME), deren Er-zeugung sich 2008 nach Branchenschätzungen auf ca.130 000 Tonnen belief. Für diese Produktgruppen wärenkomplett andere Kostenstrukturen zu berücksichtigen, fürdie kurzfristig keine Daten zur Verfügung stehen. Außer-dem geht man in der Praxis davon aus, dass derartige Me-thylester zum großen Teil in den Export gehen, da sie nichtohne Beimischung zu anderen Methylestern die im Ener-giesteuergesetz und Bundesimmissionsschutzgesetz vor-gegebene Anforderungsnorm für Biodiesel – DIN EN 14214– erfüllen. Die im Rahmen der vorliegenden Untersuchungzu analysierende Wertschöpfungskette ist daher begrenztauf ausschließlich pflanzenölbasierte Biodieselproduktionin Deutschland.

Die so definierte inländische Erzeugung von pflanzenöl-basiertem Methylester lässt sich mit folgendem Rechen-gang bestimmen: Bekannt ist der Inlandsabsatz von Bio-diesel, man rechnet die Nettoexporte hinzu und reduziertgleichzeitig um die für AME/TME unterstellten Erzeugungs-mengen.

Das zur Biodieselproduktion eingesetzte Pflanzenöl kannprinzipiell aus importierten Pflanzenölen sowie aus Ölliefe-rungen von inländischen Ölmühlen stammen, die wieder-um heimische und/oder importierte Rohstoffe eingesetzt ha-ben können. Es erleichtert die Analyse, dass sich für das

Jahr 2008 nach Angaben des Verbands der Ölsaaten ver-arbeitenden Industrie rechnerisch jedoch keine Nettoimpor-te von Raps- oder Sojaöl ergaben.

In deutschen Ölmühlen wurden 2008 3,4 Mill. t Sojaboh-nen verarbeitet. Angesichts der GVO-Problematik ist da-von auszugehen, dass das Öl nicht im Nahrungsmittelsek-tor eingesetzt wurde. Es wurde daher komplett der Biodie-selerzeugung zugerechnet. Bei der Mengenkalkulation wur-de auch berücksichtigt, dass der Prozess der Ölraffinationin geringem Maße Mengenverluste mit sich bringt. Für dieAufteilung der eingesetzten Rapssaat nach den beiden mög-lichen Herkünften Inland und Import wurde der Anteil impor-tierter Ware (38,7%) an der Verarbeitung in deutschen Öl-mühlen insgesamt (2008) zugrunde gelegt. Es ergibt sich für2008 das in Übersicht 1 dargestellte Mengengerüst, diffe-renziert nach Herkünften und Verarbeitungsstufe.

Mengengerüst 2010

Bei der Kalkulation des Mengengerüsts für 2010 sind zweiVeränderungen zu berücksichtigen: Die Beimischung wur-de auf 7 Vol% erhöht, damit steigt der Einsatz von Biodie-sel in diesem Marktsegment. Auf der anderen Seite hat diedeutsche Landwirtschaft den Anbau von Winterraps zur Ern-te 2010 im Vergleich zu 2008 ausgedehnt (StaBu; UFOP)und kann daher mehr im Inland erzeugte Rohstoffe für dieBiodieselerzeugung bereitstellen (Flächenzunahme zuguns-ten der Biodieselerzeugung: + 96 000 ha).

In Anlehnung an die Verhältnisse von 2008 wird unterstellt,dass der Importbedarf von Rohstoffen in Form von Sojaboh-nen und Rapssaat gedeckt wird, die im Inland verarbeitetwerden. Dabei wird mangels anderer Anhaltspunkte das Ver-hältnis von Rapsöl zu Sojaöl, das sich für 2008 ergab, für

Übersicht 1 Mengengerüst 2008, Angaben in Tsd. Tonnen

Inlandsabsatz Biodiesel 2 695 zzgl. Nettoexporte Biodiesel 31 abzgl. Erzeugung AME, TME 130

Inlandserzeugung pflanzenölbasierter Biodiesel

2 595

Einsatz raffinierter Pflanzenöle 2 595 entspr. Öleinsatz nicht raffiniert 2 703 Sojabohnen in dt. Ölmühlen verarbeitet 3 400 Öl zur Verarbeitung aus Soja 649 Öl zur Verarbeitung aus Rapssaat 2 054

davon aus inländischer Rapssaat 1 260 aus importierter Rapssaat 794

Einsatz inländischer Rapssaat für Biodiesel 3 149 Einsatz importierter Rapssaat für Biodiesel 1 985

Daten und Prognosen

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die Deckung des Importbedarfs 2010 beibehalten (55% desÖls aus importierter Rohware ist rapsstämmig).

Entsprechend den dargestellten Szenarien werden für 2010insgesamt vier Varianten gerechnet: Eine erste Variante,das Szenario »2010-A«, geht von der hypothetischen Vor-stellung aus, es würde kein B-100-Markt in Deutschlandexistieren. Die vorgeschriebene Beimischung würde damitden einzigen Absatzmarkt darstellen. Die Variante »2010-B« unterstellt, dass die gegenwärtig vorgesehene Besteue-rung laut Wachstumsbeschleunigungsgesetz zu einer B-100-Nachfrage von 300 000 Tonnen führen würde. Va-riante »2010-C« bildet eine Situation ab, die sich unterförderpolitischen Gesichtspunkten als sehr günstig für dieBiodieselwirtschaft erweisen würde. Es wird unterstellt,dass es zu einer steuerlichen Entlastung kommt, die zueiner verbleibenden Besteuerung von 10 Cent/Liter Bio-diesel führt. Diese Förderung würde dann einen Anstiegdes B-100-Absatzes auf 700 000 Tonnen bewirken. Etwaein Drittel des erwarteten B-100-Absatzes sei darauf zu-rückzuführen, dass die Auslandsbetankung deutscher Spe-ditionsfahrzeuge als Folge eines günstigen Biodieselange-bots abnehme.

In den bisher vorgestellten Varianten wurde nicht explizit voneinem Exportüberschuss pflanzenölbasierten Biodiesels aus-gegangen. In der Praxis wird jedoch mit einer Produktionvon ca. 150 000 Tonnen TME und AME für 2010 gerech-net, die überwiegend exportiert werden. Aus den weiter obenerläuterten Gründen bleibt dieser Teil des Marktes unberück-sichtigt. Die Variante »2010-D«, die auf dem Datengerüst derVariante »2010-C« aufbaut, sieht Nettoexporte in Höhe voninsgesamt 450 000 Tonnen vor, was nach Abzug der fürTME/AME unterstellten Mengen zu einer zusätzlichen in-ländischen Mehrproduktion von 300 000 Tonnen Biodieselführt. Die dafür notwendigen Rohstoffe werden annahme-gemäß als Sojabohnen und Raps eingeführt.

Kostenstrukturen und Erträge

Eine differenzierte Aufgliederung der Vorleistungs- und Kos-tenstruktur ist für die Integration der Wertschöpfungskette»Biodiesel« in das Input-Output-Tabellarium von ausschlag-gebender Bedeutung. Es wurden dazu verschiedene Quel-len, zum Teil Firmendaten, herangezogen, die betriebswirt-schaftliche Kennwerte für die Ölerzeugung sowie für die Pro-zessstufe Umesterung enthielten. Angesichts des Vorhan-denseins erheblicher Überkapazitäten für die Biodieseler-zeugung ist bei der Kostenposition Abschreibung im Rah-men einer volkswirtschaftlichen Betrachtung – anders alsbei einem betriebswirtschaftlichen Ansatz – der gesamte An-lagenbestand abzuschreiben. So wurde, ausgehend vonzwei unterschiedlichen Kalkulationsansätzen, für die Pro-zesskette Ölmühle-Biodieselherstellung für 2008 eine Ab-schreibung von 40 €/t Biodiesel unterstellt.

Erträge entstehen durch den Verkauf von Biodiesel für diebeiden Einsatzzwecke Beimischung und Verwendung alsReinkraftstoff sowie aus dem Verkauf der NebenprodukteRaps- und Sojaschrot, Glycerin, großteils zu Pharmaglyce-rin weiterverarbeitet, und Kaliumsulfat. Die Preise für 2008sind statistische Durchschnittswerte, für 2010 wurden an-gesichts der Unmöglichkeit, auf derart volatilen Märkten zuverlässlichen Vorausschätzungen kommen zu können, diezum Zeitpunkt der Untersuchung aktuellen Preise von En-de Januar/Anfang Februar verwendet.

Substitutionsbeziehungen und Außenhandels-beziehungen

Substitutionsbeziehungen werden nur insoweit berücksich-tigt, wie sie durch die Veränderungen von 2008 bis 2010infolge der die verschiedenen Szenarien kennzeichnendenAnnahmen wirksam werden. Im Einzelnen handelt es sich

Übersicht 2 Mengengerüste 2010, Angaben in Tsd. Tonnen

2010-A 2010-B 2010-C 2010-D Inlandsabsatz konventioneller Dieselkraftstoff 31 300 31 300 31 300 31 300

darin enthalten Biodiesel beigemischt 2 295 2 295 2 295 2 295 Inlandsabsatz B 100 0 300 700 700 Außenhandelssaldo (Unterstellung) 0 0 0 300 Inlandserzeugung pflanzenölbasierter Biodiesel 2 295 2 595 2 995 3 295 Einsatz raffinierter Pflanzenöle 2 295 2 595 2 995 3 295 entspr. Öleinsatz nicht raffiniert 2 391 2 708 3120 3 433 Einsatz inländischer Rapssaat für Biodiesel 3 510 3 510 3 510 3 510 Öl zur Verarbeitung aus inländischem Raps 1 404 1 404 1 404 1 404 Öl zur Verarbeitung aus importiertem Raps 543 715 944 1 116 Öl zur Verarbeitung aus Soja 444 584 772 913 Einsatz importierter Rapssaat für Biodiesel 1 357 1 787 2 360 2 790 Einsatz von Sojabohnen 2 325 3 061 4 042 4 778

Daten und Prognosen

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um folgende quantitativen Zusammenhänge, die für den Fallder Produktionseinschränkung sowie in umgekehrtem Sin-ne für den Fall der Produktionsausdehnung (Szenarien»2010-C« und »2010-D«) gelten:

• Wird die Biodieselerzeugung verringert, reduziert sich da-durch der Rohstoffbedarf. Es werden folglich weniger So-jabohnen und Rapssaaten eingeführt. Analoges gilt fürden Fall der Ausdehnung.

• Werden als Folge der reduzierten Biodieselerzeugung we-niger Ölsaaten zu Öl verarbeitet, fallen auch entsprechendweniger Schrote an. Bei unterstellungsgemäß gleich-bleibender inländischer Nachfrage von Seiten der Futter-mittelindustrie und der Landwirtschaft müssen mehrSchrote eingeführt werden. Im Rahmen der durchgeführ-ten Kalkulationen wird von Sojaschrotimporten zum Aus-gleich des ausgefallenen inländischen Raps- und Soja-schrotaufkommens ausgegangen. Im umgekehrten Fallwerden Sojaschrotimporte verdrängt.

• Wird die inländische Rapserzeugung zur Verwendung alsRohstoff für die Biodieselerzeugung ausgedehnt, so re-duziert sich dadurch ebenfalls der Importbedarf von So-jabohnen und Rapssaaten.

• Der B-100-Absatz verringert die Inlandsnachfrage nachkonventionellem Dieselkraftstoff. Bei der Kalkulation istder unterschiedliche Energiegehalt entsprechend zu be-rücksichtigen. Nachdem Deutschland 2009 ohnehin Net-toexporteur von Dieselkraftstoff war, erhöhen sich da-

durch rechnerisch die Exporte von Dieselkraftstoff. An-gesichts der gegebenen Mengenrelationen ist von einerProduktionseinschränkung bei konventionellem Diesel-kraftstoff nicht auszugehen.

• Folgt man der Annahme, dass als Folge eines preisgüns-tigeren Angebots von Biodiesel als Reinkraftstoff in ge-ringerem Umfang im Ausland getankt wird, fällt der Nach-fragerückgang bei konventionellem Dieselkraftstoff persaldo entsprechend geringer aus.

Volkswirtschaftliche Leistung der Wertschöpfungskette »Biodiesel«

Die volkswirtschaftliche Leistung eines Wirtschaftszweigesoder einer ganzen Wertschöpfungskette lässt sich durch de-ren Beitrag zu den maßgeblichen volkswirtschaftlichen Kenn-werten beschreiben: Das sind u.a. die Produktionsleistung,der Beitrag zur inländischen Wertschöpfung, zur Beschäf-tigung usw. Übersicht 4 gibt einen Überblick über die volks-wirtschaftlichen Leistungen der Wertschöpfungskette »Bio-diesel«, wobei nach direkten sowie indirekten, aber zure-chenbaren Leistungen, unterschieden werden kann. Letz-tere entstehen als Folge bestimmter Multiplikatorwirkungen.Die direkten Wirkungen ergeben sich aus der Wirtschafts-tätigkeit der Wertschöpfungskette selbst einschließlich derbezogenen Vorleistungen (Leontief-Ansatz). Zu den Multipli-katorwirkungen gehören die Wirkungsfolgen, die durch den

privaten Verbrauch und durch Investitionstä-tigkeit hervorgerufen werden (KeynesscherMultiplikator, Akzelerator).

Um die Auswirkungen der gegenwärtig dis-kutierten förderpolitischen Maßnahmen bes-ser erkennen zu können, empfiehlt es sich,zunächst ein weiteres Basisszenario für2010 zu definieren: Diese Variante siehtüberhaupt keinen B-100-Absatz vor, son-dern nur die Bereitstellung von Biodiesel zurErfüllung der Beimischungsquote von7 Vol%. Damit würde der inländische Ab-satz von Biodiesel 400 000 Tonnen unterdem Niveau von 2008 liegen. Das hätte zurFolge, dass in geringerem Maße auf impor-tierte Rohstoffe zurückgegriffen werdenmüsste, allerdings müssten auf der ande-ren Seite zur Versorgung der Tierprodukti-on mehr Eiweißfuttermittel (Sojaschrot) ein-geführt werden. Die WertschöpfungsketteBiodiesel leistet nicht nur ihren Beitrag zurvolkswirtschaftlichen Produktionsleistungsowie zu den verschiedenen Komponentender Wertschöpfung und der Beschäftigung,sie trägt auch zur Generierung von Einnah-men für die Staatskassen und die Sozial-versicherung bei. Dieser Zusammenhang

Übersicht 3 Substitutionseffekte und Außenhandelsveränderungen als Folge ver-änderter Mengenrelationen: Vergleich zwischen den verschiedenen für 2010 analysierten Varianten und der Situation von 2008

2010-A 2010-B 2010-C 2010-D

Tsd. Tonnen Importe von Rapssaat – 628 – 198 375 805 Importe von Sojabohnen

– 1 076 – 339 642 1 378

Importe von Sojaschrot

334 104 – 202 – 431

Mill. Euro Importe von Rapssaat – 179 – 57 107 230 Importe von Sojabohnen

– 321 – 101 192 411

Importe von Sojaschrot

61 19 – 37 – 79

Tsd. Tonnen Exporte von Dieselkraftstoff

– 322 0,3 430 430

dito bei Verminderung Tanktourismus

213 213

Mill. Euro Exporte von Dieselkraftstoff

– 157 0,1 210 210

dito bei Verminderung Tanktourismus

121 121

Zur Erläuterung: Negatives Vorzeichen bedeutet »Abnahme«; kein Vorzeichen »Zunahme« der jeweiligen Außenhandelsbewegung.

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wird jedoch wegen seiner Bedeutung für die förderpoliti-sche Diskussion separat beleuchtet. Die Auswirkungen derverschiedenen förderpolitischen Ansätze und Mengenkon-stellationen werden jeweils mittels Differenzbildung an die-ser Basisvariante »2010-A« gemessen.

Für die Basisvariante »2010-A« ergibt sich ein Beitrag zurnationalen Wertschöpfung in Höhe von 2,64 Mrd. €, wo-bei knapp ein Drittel von der Wirkung der Multiplikatorenherrührt. Wichtigste Komponenten der Wertschöpfungsind Arbeitnehmerentgelte, Nettobetriebsüberschüsse undAbschreibungen. Die um die Subventionen vermindertenGütersteuern und Produktionsabgaben können negativeWerte aufweisen, wenn die Subventionen sehr stark insGewicht fallen. Das ist bei einer Wertschöpfungskette derFall, die in der landwirtschaftlichen Produktion beginnt, daz.B. auch die EU-Direktzahlungen an die Landwirtschaftin diesem Kontext mit einfließen. Weitere Kenngrößen dervolkswirtschaftlichen Leistung sind das Produktionsauf-kommen und die Beschäftigung, die der gesamten Wert-schöpfungskette zuzurechnen sind. Es wird auch ausge-wiesen, inwieweit Importe zur Wirtschaftsleistung beige-tragen haben.

Förderpolitische Maßnahmen und Mengenkonstellatio-nen, die von der Basisvariante »2010-A« abweichen, füh-ren zu einem veränderten Beitrag der Wertschöpfungs-kette »Biodiesel« zu den volkswirtschaftlichen Kennwer-ten. Sie stellen sich als »Erfolge« der Förderpolitik dar.Übersicht 5 zeigt die Veränderungen auf, die sich alsFolge der unterschiedlich definierten Szenarien für 2010ergeben würden, und zwar immer im Vergleich zur Ba-sisvariante 2010-A.

Auswirkungen auf die öffentlichen Haushalte

Jeder Wirtschaftszweig, so er erfolgreich betrieben wird,trägt zur Wertschöpfung und letztlich auch zu staatlichenEinnahmen bei. Überproportional im Hinblick auf staatli-che Einnahmen fallen die Leistungen von solchen Wirt-schaftssparten aus, deren Erzeugnisse mit einer beson-deren Steuer, wie zum Beispiel der Energiesteuer, belegtsind. So ist die steuerliche Förderung des Biodieselabsat-zes als teilweiser Verzicht des Staates auf Energiesteuerdefiniert. Im Jahre 2008, als die beiden Absatzmärkte »Bei-mischung« und der steuerlich begünstigte B-100-Absatz

Übersicht 4 Die volkswirtschaftlichen Leistungen der Wertschöpfungskette Biodiesel 2008 und 2010 (Basisszenario 2010-A)

Realsituation 2008 Basisszenario 2010

Inländische Produktion (Mill. €) Insgesamt 8 929 7 898 Direkt 6 608 5 845 Multiplikator 2 321 2 053

Inländische Wertschöpfung (Mill. €) Insgesamt 3 996 2 644 Direkt 2 716 1 809 Multiplikator 1 281 835

– Arbeitnehmerentgelt im Inland Insgesamt 1 813 1 204 Direkt 1 248 837 Multiplikator 565 368

– Nettobetriebsüberschüsse Insgesamt 1 345 877 Direkt 999 651 Multiplikator 346 226

– Abschreibungen Insgesamt 1 004 651 Direkt 825 534 Multiplikator 179 117

– Gütersteuern, Produktionsabgaben Insgesamt – 166 – 88 abzügl. Subventionen Direkt – 356 – 213 Multiplikator 191 124

Importnachfrage (Mill. €) Insgesamt 1 119 738 Direkt 654 435 Multiplikator 464 302

Beschäftigung (in Tsd.) Insgesamt 100 89 Direkt 80 71 Multiplikator 21 18

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nebeneinander existierten, rief die Wertschöpfungskette»Biodiesel« direkt und indirekt staatliche Einnahmen her-vor, die – nach Abzug der in diesen Wirtschaftszweig ge-flossenen Subventionen – noch 310 Mill. € ausmachten.Die Einnahmen der Sozialkassen, die direkt oder indirektdurch die Wertschöpfungskette »Biodiesel« hervorgeru-fen wurden, beliefen sich sogar auf 618 Mill. €, und, wür-de man die Arbeitsplätze mit den Einsparungen bei derAuszahlung von Arbeitslosengeld bewerten, würden sichdiese auf 1,5 Mrd. € belaufen. Nun ist es ein Merkmal ei-nes jeden Wirtschaftszweiges, dass Menschen beschäf-tigt werden und somit nicht Anspruch auf Transferleis-tungen wegen Beschäftigungslosigkeit haben. Von da-her hat die letztgenannte Größe keinen originären Infor-mationswert, sie ist lediglich relevant für Vergleiche zwi-schen verschiedenen Szenarien, Branchen und gegebe-nenfalls Zeiträumen.

Übersicht 7 stellt dar, mit welchen zusätzlichen Einnah-men die öffentlichen Haushalte in Abhängigkeit von denjeweils unterstellten Szenarien zu rechnen haben. Das Sze-

nario »2010-B« zum Beispiel, das von einem B-100-Ab-satz in Höhe von 300 000 Tonnen ausgeht, würde im Ver-gleich zur Ausgangssituation ohne inländische B-100-Ver-käufe (Szenario »2010-A«) 29,4 Mill. € Einnahmen in dieStaatskassen (nach Abzug der Subventionen, die zum gro-ßen Teil EU-Gelder sind) bringen, dazu Einnahmen in Hö-he von 53,6 Mill. € für die Sozialkassen, und die zusätz-liche Beschäftigung würde sich in einer Einsparung von50,8 Mill. € Arbeitslosenunterstützung niederschlagen. Al-les in allem würde sich der Vorteil der öffentlichen Kas-sen auf 133,8 Mill. € belaufen.

Die förderpolitisch bedingten Einnahmeverluste errechnensich aus den B-100-Verkäufen, multipliziert mit dem maß-geblichen oder unterstellten Satz der Steuermäßigung undder anteiligen MwSt. Im Falle des Szenarios »2010-B« han-delt es sich um 300 000 Tonnen B-100, versteuert mit18,6 Cent/Liter. In den Szenarien »2010-C« und »2010-D«werden bei einer verbleibenden Besteuerung von nur10 Cent/Liter unterstelltermaßen 700 000 Tonnen B-100 inden Markt gebracht, von denen jedoch 600 000 Tonnen via

Übersicht 5 Veränderung der volkswirtschaftlichen Leistungen in Abhängigkeit von förderpolitischen Maßnahmen und Mengenentwicklungen

Basisvariante Veränderungen gegenüber 2010-A

2010-A 2010-B 2010-C 2010-D

Inländische Produktion (Mill. €) Insges. 7 898 1 032 2 409 3 441 Direkt 5 845 764 1 782 2 546 Multiplik. 2 053 268 626 894

Inländ. Wertschöpfung (Mill. €) Insges. 2 644 346 806 1 152 Direkt 1 809 237 552 788 Multiplik. 835 109 255 364

– Arbeitnehmerentgelt im Inland Insges. 1 204 157 367 525 Direkt 837 109 255 365 Multiplik. 368 48 112 160

– Nettobetriebsüberschüsse Insges. 877 115 267 382 Direkt 651 85 199 284 Multiplik. 226 30 69 98

– Abschreibungen Insges. 651 85 199 284 Direkt 534 70 163 233 Multiplik. 117 15 36 51

– Gütersteuern, Produktionsab- Insges. – 88 – 12 – 27 – 39 gaben abzügl. Subventionen Direkt – 213 – 28 – 65 – 93

Multiplik. 124 16 38 54

Importnachfrage (Mill. €) Insges. 738 96 225 321 Direkt 435 57 133 190 Multiplik. 302 40 92 132

Beschäftigung (in Tsd.) Insges. 89 12 27 39 Direkt 71 9 22 31 Multiplik. 18 2 5 8

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Quotenhandel nachversteuert werden. Damit fallen per sal-do Steuermindereinnahmen lediglich für 100 000 TonnenBiodiesel an. Das Szenario »2010-D« sieht darüber hinauseine den inländischen Verbrauch übersteigende Erzeugungvor, die per saldo zu einem Export von 300 000 Tonnen pflan-zenölbasierten Biodiesels führen würden.

Fazit

Die ausgewählten Szenarien markieren weit auseinanderliegende Konstellationen: Das Szenario »2010-A«, dasüberhaupt keinen B-100-Markt vorsieht und damit zu kei-nen steuerlichen Einnahmeverlusten seitens des Staatesführt, sowie die Szenarien »2010-C« und »2010-D«, die dieursprüngliche Vorstellung der CDU/CSU-Fraktion wider-

spiegeln, mit dem sie seinerzeit in die Ko-alitionsverhandelungen gegangen war. Die-ses Konzept, das von der Biodieselwirt-schaft begrüßt worden war, hätte dem in-ländischen B-100-Markt mit einem erwar-teten Absatz von 700 000 Tonnen neuenSchwung geben können. Mittlerweile wirdin der politischen Diskussion ein Vorschlagbewegt, der sich dazwischen befindet,nämlich eine verbleibende Besteuerung vonB-100 in Höhe von 14 Cent/Liter, die, vor-sichtigen Schätzungen zufolge, einen B-100-Absatz von 500 000 Tonnen ermögli-chen könnte. Eine solche Konstellation wür-de steuerliche Einnahmeverluste von223 Mill. € mit sich bringen, denen positi-ve Effekte (Summe der Einnahmen/Einspa-rungen) in einer Größenordnung von gut220 Mill. € gegenüberstehen würden. Wirdder in den Markt gebrachte B-100-Kraft-

stoff via Quotenhandel nachversteuert, so hat der Staatüberhaupt keine Einnahmeausfälle und profitiert anderer-seits von den positiven Effekten.

Die Fachwelt geht davon aus, dass eine wiedererlangte preis-liche Attraktivität des B-100-Angebots dazu beitragen könn-te, das Ausmaß der Auslandsbetankung von Fahrzeugen in-ländischer Spediteure zu verringern. Unterstellt man z.B.,dass bei den Szenarien »2010-C« und »2010-D« ein Drittelder B-100-Nachfrage der rückläufigen Auslandsbetankungzu verdanken wäre, würde allein das veränderte Tankverhal-ten zu einer steuerlichen Mehreinnahme von gut 117 Mill. €führen.

Als Fazit der Analyse lässt sich feststellen, dass die durchdie Förderung des B-100-Absatzes verur-sachten Steuermindereinnahmen in aller Re-gel durch die ermittelten positiven Effektekompensiert werden. Die Vorteile aus Sichtder öffentlichen Haushalte überwiegen ge-nerell, wenn weitere Sachzusammenhängezum Tragen kommen, wie z.B. die Nachver-steuerung im Zuge des Quotenhandels undgegebenenfalls eine Reduzierung der Aus-landsbetankung.

Für das Szenario »2010-D«, das einzigeSzenario, das Exporte pflanzenölbasiertenBiodiesels in einem größeren Umfang(300 000 Tonnen netto) vorsieht, errechnensich die höchsten Beträge für die staatli-chen Einnahmen und Einsparungen. Die fürdie Erzeugung notwendigen Rohstoffimpor-te rufen erfahrungsgemäß Kritik hervor,wenn auch mit unterschiedlichen Begrün-dungen. Aus Sicht der öffentlichen Haus-

Übersicht 6 Beitrag der Wertschöpfungskette »Biodiesel« zu den Einnahmen/Einsparungen der öffentlichen Kassen

Realsituation

2008

Basis-szenario

2010

Insgesamt 310 225 direkt – 23 8

Abgaben, Steuern, abzüglich Subventionen (Mill. €)

Multiplikator 332 217

Sozialbeiträge (Mill. €) Insgesamt 618 410 direkt 427 286 Multiplikator 192 125 Insgesamt 584 388 direkt 402 270

Einsparung Arbeitslosenunterstützung (Mill. €)

Multiplikator 182 119

Insgesamt 1512 1024

direkt 806 564 Einnahmen/Einsparungen zugunsten der öffent-lichen Kassen (Mill. €)

Multiplikator 706 460

Übersicht 7 Veränderung der Einnahmen/Einsparungssituation der öffentlichen Kassen in Abhängigkeit von förderpolitischen Maßnahmen und Mengenentwicklungen

Veränderungen

gegenüber 2010-A

Basisvariante

2010-A 2010-

B

2010-

C

2010-

D

Insges. 225 29 69 98 Abgaben, Steuern, abzügl. Subventionen (Mill. )

direkt 8 1 3 4

Multipl. 217 28 66 94

Sozialbeiträge (Mill. ) Insges. 410 54 125 179

direkt 286 37 87 124

Multipl. 125 16 38 54

Insges. 388 51 118 169 Einsparung Arbeitslosen- unterstützung (Mill. )

direkt 270 35 82 117

Multipl. 119 16 36 52

Insges. 1 024 134 312 446

direkt 564 74 172 246

Einnahmen/Einsparungen zugunsten der öffentlichen Kassen (Mill. )

Multipl. 460 60 140 200

Daten und Prognosen

i fo Schne l ld ienst 4/2010 – 63. Jahrgang

48

halte ist jedoch festzustellen, dass, soweit es sich bei denRohstoffimporten um Rapssaaten und Sojabohnen han-delt, die in Deutschland weiterverarbeitet werden, kein Un-terschied hinsichtlich der wirtschaftlichen Leistung und derfinanziellen Auswirkungen besteht. Werden jedoch impor-tierte Pflanzenöle als Rohstoffe eingesetzt, reduziert sichdie inländische Wertschöpfung entsprechend um diese ei-ne Verarbeitungsstufe.

Übersicht 8 Gegenüberstellung von Einnahmeverlusten und Einnahmen/Einsparungen der öffentlichen Haushalte jeweils im Vergleich zur Basisszenario »2010-A « (Mill. €)

2010-B 2010-C 2010-D

Abgaben, Steuern, abzügl. Subventionen 29 69 98

Sozialbeiträge 54 125 179 Einsparung Arbeitslosenunterstützung 51 118 169

Summe der Einnahmen/Einsparungen 134 312 446 Einnahmeverluste Energiesteuer – 150 – 351 – 351 Inklusive MwSt

Nachversteuerung via Quotenhandel 150 301 301

Saldo der Einnahmeverluste 0 – 50 – 50 Nettogewinne öffentlicher Haushalte

aus der Biodieselförderung 134 262 396 zusätzliche Einnahmen bei reduzierter Auslandsbetankung 117 117

63. Jahrgang – i fo Schne l ld ienst 4/2010

49

Im Rahmen der Wirtschafts- und Finanzkrise sind diestaatlichen Schulden im Euroraum zwischen Anfang2008 und dem dritten Quartal 2009 von 66,0% des BIPauf 77,6% gestiegen. Eine Verletzung der Maastricht-Kriterien, die eine Verschuldungsquote von 60% erfor-dern, ist somit auf lange Sicht in vielen Ländern vor-programmiert. Das Niveau der Staatsverschuldung ist inGriechenland, Italien und Belgien besonders hoch. Al-lerdings sind auch viele westeuropäische Länder von ra-sant steigender Neuverschuldung betroffen. Neben Grie-chenland weisen vor allem Irland und Großbritannien,aber auch die Niederlande und Lettland eine beson-ders hohe staatliche Neuverschuldung aus.

Die Wirtschafts- und Finanzkrise hat in den Jahren 2008und 2009 die staatlichen Budgetdefizite in vielen LändernEuropas anschwellen lassen. Infolge der staatlichen Ret-tungsmaßnahmen im Bankensektor sind neben den auto-matischen Budgetwirkungen zudem weitere Belastungenauf viele Staaten Europas zugekommen, die den Schul-denstand erhöht haben.

Im Rahmen dieser zunehmenden Staatsverschuldung ge-raten einige kleinere und stark ver-schuldete Länder Europas zuneh-mend in Bedrängnis. Der drohen-de Staatsbankrott Griechenlandsstellt dabei die Währungsunion voreine bis dato ungewohnte Heraus-forderung.

Auch für andere Länder, insbeson-dere an der südlichen PeripherieEuropas, stellen die steigendenSchuldenlasten eine stetig wach-sende Sorge dar. So werden häufigPortugal, Irland, Italien, Griechenlandund Spanien (PIIGS) als von Schul-denproblemen betroffene Länderbezeichnet.

Fraglich ist, wie sich die aktuelle Si-tuation Griechenlands im Vergleichzu anderen Staaten Europas dar-stellt. Dabei können die von Euro-stat veröffentlichten Entwicklungender Schuldenstände der einzelnenLänder bis zum dritten Quartal 2009verglichen werden.1 Jedoch ist darauf hinzuweisen, dass die hierausgewiesene Bruttoverschuldung

ökonomisch schwer vergleichbar ist, da etwa Aktiva desStaates und die implizite Verschuldung aus Pensionsver-pflichtungen unberücksichtigt bleiben (vgl. Sachverständi-genrat 2007).

So stiegen die staatlichen Schuldenstände seit dem erstenQuartal 2008 in nahezu allen Staaten Europas an. Der staat-liche Schuldenstand betrug in der gesamten EuropäischenUnion (27 Länder) Ende des dritten Quartals 2009 bereits71,6% des Bruttoinlandsprodukts. Im Eurowährungsge-biet (16 Länder) betrug die Verschuldungsquote sogar77,6%.

Zu Beginn des Jahres 2008 lag die Verschuldungsquote inder Europäischen Union noch bei 58,8% (27 Länder) bzw.bei 66,0% im Euroraum (16 Länder).

Die Maastricht-Kriterien des Stabilitäts- und Wachstums-paktes fordern jedoch einen staatlichen Schuldenstand vonmaximal 60% des BIP. Nachdem in der Vergangenheit die-ses Kriterium nur von einigen Ländern – darunter Deutsch-land – überschritten wurde, wird nun das Einhalten diesesKriteriums zunehmend zur Ausnahme. Aktuell liegen nur ein-

Christian Breuer und Matthias Müller

Staatsverschuldung in Europa: Status quo

Quelle: Eurostat 2009.

Abb. 1Schuldenstandsquoten in Europa im dritten Quartal 2009

1 Allerdings wird gerade in Bezug auf Grie-chenland die Aussagekraft bzw. Vergleich-barkeit der Meldung des gesamtstaatlichenSchuldenstandes angezweifelt.

Im Blickpunkt

i fo Schne l ld ienst 4/2010 – 63. Jahrgang

50

zelne kleinere Staaten – vor allem in Nord- und Osteuropa– unterhalb der Grenze von 60%.

Abbildung 1 stellt die Schuldenstände in 28 europäischenStaaten geographisch dar. Es zeigt sich, dass neben Ita-lien und Griechenland auch Belgien einen besonders ho-hen Schuldenstand aufweist. Allerdings haben auch die gro-ßen europäischen Kernstaaten – wie Deutschland undFrankreich – sowie Ungarn und Portugal eine Schulden-quote über 70% des BIP erreicht. Günstiger erscheint dieLage in Nordeuropa und auch den meisten Staaten Ost-europas, wo derzeit noch Schuldenstandsquoten von 40%verzeichnet werden.

Die Entwicklung der staatlichen Schulden in Europa zeigt,dass nicht nur die so genannten PIIGS-Staaten von der zu-nehmenden staatlichen Verschuldung betroffen sind. Na-hezu alle Länder Europas haben sich seit Anfang 2008 zu-nehmend verschuldet (vgl. Abb. 2 bis 6).

Abbildung 2 zeigt, dass gerade die ehemals kaum ver-schuldeten Staaten Westeuropas wie Irland, Spanien unddas Vereinigte Königreich besonders von der rasant anstei-genden Staatsverschuldung betroffen sind. Diese Länderwaren verstärkt von Banken- und Immobilienkrisen betrof-fen, weshalb insbesondere hier die Bankenrettungspro-gramme neben dem staatlichen Budgetdefizit über steigendeNettoneuverschuldung finanziert wurden.

Insbesondere in Irland hat sich die Schuldenquote in nur sie-ben Quartalen um 37% des Bruttoinlandsprodukts erhöht.Nunmehr ist Spanien das einzige Land Westeuropas (in un-serer Abgrenzung), welches noch ein Verschuldungsniveauunterhalb der 60%-Grenze aufweist. Aufgrund der Immobi-lienkrise und der hohen Arbeitslosenquote gilt Spanien je-doch ebenfalls als instabil.

Auch die mitteleuropäischen Staaten sind von der anstei-genden Staatsverschuldung betroffen, wenn auch nicht sostark wie die westeuropäischen Länder (vgl. Abb. 3). Aller-dings werden etwa im Fall Deutschlands besonders hoheBudgetdefizite erst für die Jahre 2010 und 2011 erwartet(vgl. Carstensen et al. 2009).

Günstiger erscheint die Situation in den nordeuropäischenLändern zu sein. Hier liegen die staatlichen Schuldenstän-de weiterhin bei lediglich etwa 40% des BIP (vgl. Abb. 4).

Auch die Staaten Osteuropas sind noch vergleichsweisegering verschuldet (vgl. Abb. 5). Allerdings ist die Situa-tion auch an der östlichen Peripherie Europas ebenfallskeineswegs stabil. In Ungarn, das Anfang des Jahres2009 in Folge eines heftigen Anstiegs der Staatsver-schuldung als besonders gefährdet galt, hat sich die Si-tuation am aktuellen Rand leicht verbessert. Auch in den

Ländern des Baltikums – in Litauen und vor allem Lett-land – ergibt sich ein rasanter Anstieg der Staatsver-schuldung, wenn auch noch auf verhältnismäßig niedri-gem Niveau.

Besonders hoch verschuldet sind die Länder Südeuropas(vgl. Abb. 6). Gerade Griechenland und Italien haben be-reits im Jahr 2007 Schuldenquoten von etwa 100% des

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Frankreich

EU (27 Länder)

Portugal

Vereinigtes Königreich

Irland

Spanien

Schuldenstandsquoten in Westeuropa

in % des BIP

Quelle: Eurostat 2009.

1. Quartal 2007 bis 3. Quartal 2009

2007 2008 2009

Abb. 2

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I.Q. II.Q. III.Q. IV.Q. I.Q. II.Q. III.Q. IV.Q. I.Q. II.Q. III.Q.

Belgien

Deutschland

EU (27 Länder)

Österreich

Niederlande

Tschechische Republik

Luxemburg

Schuldenstandsquoten in Mitteleuropa

in % des BIP

Quelle: Eurostat 2009.

1. Quartal 2007 bis 3. Quartal 2009

2007 2008 2009

Abb. 3

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Norwegen

Dänemark

EU (27 Länder)

Schweden

Finnland

Schuldenstandsquoten in Nordeuropa

in % des BIP

Quelle: Eurostat 2009.

1. Quartal 2007 bis 3. Quartal 2009

2007 2008 2009

Abb. 4

63. Jahrgang – i fo Schne l ld ienst 4/2010

Im Blickpunkt

BIP ausgewiesen. Die hinzukommenden krisenbedingtenDefizite bringen diese Länder nun in eine Zwangslage.

Dennoch sind diese Länder nicht die einzigen Schulden-sünder in Europa. Auch andere Länder in West- und Mittel-europa nähern sich der 100%-Quote (Belgien) oder zeich-nen sich durch zunehmend hohe Neuverschuldungsquo-ten aus (Großbritannien und Irland),die erwarten lassen, dass einestaatliche Schuldenquote von100% kein mediterranes Problembleiben wird.

Die Länder Großbritannien, Irland,Niederlanden und Lettland sind amstärksten von der Neuverschuldungseit Anfang 2008 betroffen (vgl.Abb. 7). Aber auch in anderen eu-ropäischen Ländern, wie in Frank-reich, Italien, Belgien, Spanien, Un-garn und Dänemark, sind die staat-lichen Schuldenquoten seit Beginndes Jahres 2008 um mehr als 12%des BIP gestiegen.

Fraglich ist, wie lange diese Ent-wicklung in Europa fortgesetztwerden kann und wann ein Rück-zug aus den steigenden Staats-defiziten erfolgen wird. Die zuneh-mende Sorge vor staatlichen Ver-schuldungsproblemen setzt in vie-len Ländern Europas zunehmendKonsolidierungsprozesse in Be-wegung. Aus konjunktureller Sichtist dies mit Vorsicht zu betrachten,da diese staatliche Kontraktion ei-ne bremsende Wirkung auf die europäische Wirtschaft entfaltendürfte.

Dies würde vor allem dann der Fall sein, wenn viele Staatenparallel – etwa aufgrund von Verschuldungsproblemen – ineinen Konsolidierungskurs einschwenken und insofern ei-ne simultane Kontraktion erfolgen würde. Mittelfristig ist je-doch eine Rückkehr zu ausgeglichenen Staatshaushaltenunumgänglich – auch wenn dieser Weg, wie das BeispielGriechenlands zeigt, sehr unangenehm ist.

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I.Q. II.Q. III.Q. IV.Q. I.Q. II.Q. III.Q. IV.Q. I.Q. II.Q. III.Q.

Ungarn

Polen

Slowakei

EU (27 Länder)

Lettland

Litauen

Rumänien

Estland

Schuldenstandsquoten in Osteuropa

in % des BIP

Quelle: Eurostat 2009.

1. Quartal 2007 bis 3. Quartal 2009

2007 2008 2009

Abb. 5

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I.Q. II.Q. III.Q. IV.Q. I.Q. II.Q. III.Q. IV.Q. I.Q. II.Q. III.Q.

Italien

Griechenland

EU (27 Länder)

Malta

Zypern

Slowenien

Bulgarien

Schuldenstandsquoten in Südeuropa

in % des BIP

Quelle: Eurostat 2009.

1. Quartal 2007 bis 3. Quartal 2009

2007 2008 2009

Abb. 6

Quelle: Eurostat 2009.

Abb. 7Veränderung der Schuldenstandsquoten (viertes Quartal 2007 bis drittes Quartal 2009)

Im Blickpunkt

i fo Schne l ld ienst 4/2010 – 63. Jahrgang

Literatur

Carstensen et al. (2009), »ifo Konjunkturprognose 2010: Deutsche Wirtschaftohne Dynamik«, ifo Schnelldienst 62(24), 17–64.Eurostat (2009), »Datenbank Wirtschaft und Finanzen«, http://epp.eurostat.ec.europa.eu/portal/page/portal/statistics/search_data-base, Download am 18. Februar 2010.Sachverständigenrat (2007), »Staatsverschuldung wirksam begrenzen«, Ex-pertise im Auftrag des Bundesministers für Wirtschaft und Technologie,März 2007.

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63. Jahrgang – i fo Schne l ld ienst 4/2010

53

Das Ergebnis des Klimagipfels in Kopenhagen, der An-fang Dezember des vergangenen Jahres stattfand, wirdgemeinhin als Enttäuschung bewertet. Aus welchen Grün-den das Treffen ohne Einigung zu Ende ging, wurde ananderen Stellen hinlänglich debattiert. Fakt ist, dass sichdie Teilnehmer nicht auf einen völkerrechtlich bindendenVertrag einigen konnten. Am Ende stand lediglich der so genannte »Copenhagen Accord«, der von den ver-sammelten Ländern aber nur »zur Kenntnis« genommenwurde.

In diesem Beitrag aus der »Kurz-zum-Klima«-Reihe soll aufeinen interessanten Aspekt dieses Accords hingewiesenwerden. Vereinbart wurde, dass die Länder bis zum 31. Ja-nuar 2010 ihre Klimaziele für das Jahr 2020 beim UN-Kli-masekretariat vorlegen sollen. Dabei handelt es sich le-diglich um nationale Absichtsbekundungen, die nicht bin-dend sind. Nach Aussagen des UN-Klimasekretariats ha-ben 65 Länder entsprechende Angaben gemacht. Hiervonsind 38 so genannte Annex-I-Länder (inklusive der 27 EU-Staaten), die Kyoto-Ziele für das Jahr 2012 formuliert ha-ben. Problematisch ist, dass diese Länder zwar Reduk-tionsziele für den Ausstoß von Treibhausgasen angegeben,aber oft unterschiedliche Basisjahre verwendet haben. Umdiese Angaben vergleichbar zu machen, wurden sie für die-sen Beitrag auf das einheitliche Bezugsjahr 1990 umge-rechnet (vgl. dazu die obere Karte in Abb. 1). Diese Be-rechnungen zeigen beispielsweise, dass sich die Ziele derUSA, Kanadas und Australiens bei Umrechnung auf dasBasisjahr 1990 in eine geringe Reduktion oder sogar leich-te Steigerung der Emissionen verwandeln. Wenig überra-schend ist, dass die Länder der Europäischen Union undNorwegen mit ihren Reduktionszielen weltweit an der Spit-ze liegen. Russlands Ziel liegt in vergleichbarer Größen-ordnung, da die russischen Emissionen nach 1990 zu-nächst drastisch eingebrochen und vor diesem Hintergrundzu bewerten sind.

Länder, wie China oder Indien, haben keine absoluten Re-duktionsziele angegeben, sondern lediglich Verbesserun-gen der Treibhausgasintensität ihres Sozialprodukts ange-kündigt (bezeichnet als »Intensitätsziele«). Da es sich bei die-sen Ländern um sehr stark wachsende Volkswirtschaftenhandelt, ist nicht davon auszugehen, dass es tatsächlich Re-duktionsziele im engeren Sinne sind. Länder, wie Mexiko,Brasilien oder Südkorea, legen zudem ihre Ziele mit Bezugauf die erwarteten Emissionen im Jahr 2020 fest (diese Län-der sind durch die Kategorie »projektionsbasierte Ziele« ge-kennzeichnet). Die meisten kleineren Nicht-Annex-I-Staatenhaben verbale Ziele, wie beispielsweise die Erhöhung desAnteils erneuerbarer Energien oder die Durchführung vonAufforstungsmaßnahmen, formuliert. Einige Länder, wie Bhutan und Costa Rica, wollen CO2-neutral werden; globalkönnen deren Emissionen allerdings als vernachlässigbarbezeichnet werden.

Es ist lohnenswert, diese Zahlen und den Copenhagen Ac-cord vor dem Hintergrund des »grünen Paradoxons« zu dis-kutieren, auf welches Hans-Werner Sinn (2008) hingewie-sen hat. Die globale Klimapolitik sollte darauf zielen, den Ver-brauch kohlenstoffhaltiger Ressourcen so weit wie möglichin die Zukunft zu verlagern. Dazu werden verschiedensteumwelt- und klimapolitische Maßnahmen angestrengt. Esbesteht aber die Gefahr, dass diese Bemühungen zum »grü-nen Paradoxon« führen. Denn sehen sich die Ressourcen-eigentümer einer ständig »grüner« werdenden Umweltpoli-tik gegenüber, werden sie die Extraktion ihrer Ressourcennicht, wie gewünscht, in die Zukunft verlagern, sondern vor-ziehen. Die grüner werdende Umweltpolitik wirkt für die Ei-gentümer der Ressourcen wie eine größere Enteignungs-wahrscheinlichkeit. Ein Vorziehen der Extraktion führt aberzu einer Verschärfung des Klimawandels.

Der Ausweg besteht in der Verabschiedung eines globalenEmissionshandelssystems, das die Nachfrage nach Koh-lenstoff beschränkt und den Ressourceneigentümern ge-genüber wie ein Nachfragekartell wirkt. Offensichtlich ist esin Kopenhagen nicht zu einer globalen Einigung gekommen.Besonders problematisch ist es in diesem Zusammenhang,wenn nur ein Teil der Länder entsprechende Maßnahmenankündigt (vgl. Sinn 2008). Dann senkt die Nachfragere-duktion nach der Ressource zwar den Preis – dies hilft aberden Ländern, die ihre Nachfrage nicht einschränken wol-len. Kann nun der Copenhagen Accord die Wirkung einesNachfragekartells erreichen?

Nach dem Ablaufen der Frist am 31. Januar 2010 gab dasUN-Klimasekretariat bekannt, dass die Länder, die ihre Re-duktionsziele für 2020 übermittelt haben, für ca. 80% derweltweiten Emissionen verantwortlich seien. Dies erscheintzunächst als beträchtlicher Zuwachs, verglichen mit den bis-herigen Vertragsstaaten des Kyoto-Protokolls.

Allerdings besteht zu Begeisterung noch kein Anlass. Dieuntere Karte in Abbildung 1 stellt den Anteil der einzelnenLänder an den weltweiten Emissionen des Jahres 2006dar. Das Diagramm fasst die Anteile gemäß der im oberenTeil verwendeten Länderklassifizierung zusammen. Dem-nach sind die Länder, die explizite quantitative Redukti-onsziele angekündigt haben, lediglich für 50% der welt-weiten Emissionen im Jahr 2006 verantwortlich, Indien undChina hingegen allein für ca. 27%. Auf die Staaten mit pro-jektionsbezogenen Zielen fallen ca. 6% der weltweitenEmissionen.

Es ist ersichtlich, dass die Länder sehr inhomogene Kli-maziele angekündigt haben und dass wichtige Emitten-ten wie China keine absoluten Reduktionsziele nennen.Weiterhin zeigen die oben angeführten Berechnungen, dassdie Reduktionsziele vieler Länder nur sehr moderat sind.Die Abbildung gibt zudem nur die bedingten Emissions-

Marc Gronwald, Janina Ketterer und Jana Lippelt

Kurz zum Klima: Klimaschutz im Accord

Im Blickpunkt

i fo Schne l ld ienst 4/2010 – 63. Jahrgang

54

Anteil am Weltausstoß 2006

>15%

11-15%

6-10%

0,6-5%

0,2-0,5%

0-0,1%

keine Angabe

Emissionszielebis 2020

-40%

-39 - -20%

-19 - -10%

-9 - 0%

+1-5%

Verbale Ziele

Projektionsbasierte Ziele

Intensitätsziele

CO2-Neutralität

keine Angabe

Emissionsziele und Emissionen Abb. 1Emissionsziele und Emissionen

Quelle: World Resources Institute (2006); UNFCCC (1990; 2000; 2005).

63. Jahrgang – i fo Schne l ld ienst 4/2010

Im Blickpunkt

ziele an, bei denen vorausgesetzt wird, dass sich alle gro-ßen Emittenten an Maßnahmen zum Klimaschutz beteili-gen. Viele Länder haben Ziele, die nicht an eine Bedingunggeknüpft sind, formuliert – diese liegen allerdings deutlichunter den bedingten Zielen. In Europa variieren diese bei-den Ziele um 10 Prozentpunkte. Das bedingte Ziel vonAustralien ist eine Emissionsreduktion um 6% im Vergleichzu 1990, das unbedingte Ziel würde hingegen eine Stei-gerung um 19% zulassen. Das wesentliche Problem die-ser Klimaversprechen ist allerdings, dass sie keinen bin-denden Charakter aufweisen und das Verfehlen der An-gaben ohne jede Konsequenz bleibt.

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen kann der Copen-hagen Accord nicht als besonderer Erfolg gefeiert werden.

Literatur

Boden, T.A., G. Marland und R.J. Andres (2009), Global, regional and National Fossil Fuel CO2 Emissions, Carbon Dioxide Information Analysis Center, http://cdiac.ornl.gov/trends/emis/overview.html.Houghton, R.A. (2008), Carbon Flux to the Atmosphere from Land-UseChanges: 1850–2005, TRENDS: A Compendium of Data on Global Change.Carbon Dioxide Information Analysis Center, http://cdiac.ornl.gov/trends/landuse/houghton/houghton.html.International Energy Agency (IEA) (2008), CO2 Emissions from Fuel Com-bustion, Paris.Sinn, Hans-Werner (2008), Das grüne Paradoxon, Econ, Berlin.U.S. Energy Information Administration (EIA) (2008), International EnergyAnnual 2006, Washington.U.S. Environmental Protection Agency (EPA) (2006, revised), Global Anthropogenic Emissions of Non-CO2 Greenhouse Gases 1990–2020, Washington.World Bank (2010), World Development Report 2010: Development and Climate Change, Washington.

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DICE – Die Datenbank des ifo Instituts für den Institutionenvergleich

Die Datenbank für den europäischen Institutionenvergleich DICE (Database for Institutional Comparisons in Europe) ist ein zusätzliches Informationsangebot des ifo Instituts. DICE liefert systematisch geordnete Informatio-nen in englischer Sprache zu Institutionen und Regulierungen des wirtschaftlichen Lebens in den Mitgliedsländernder Europäischen Union und einigen anderen wichtigen Industrieländern (z.B. Japan, USA). Auch ökonomischeAuswirkungen von Regulierungen werden erfasst. Die Informationen werden dem Nutzer in Form von Tabellen,Graphiken und Kurzberichten präsentiert. Neben aktuellen Übersichten stehen auch archivierte Einträge mit Infor-mationen aus vergangenen Jahren und Zeitreihen, die die Beobachtung von Entwicklungen über die Zeit ermög-lichen, zur Verfügung. Die DICE Datenbank ist frei zugänglich.

Seit 2001 sammelt das ifo Institut mit der DICE Datenbank diese Informationen und bietet derzeit über 2 200 in-ternational vergleichende Einträge zu den Themenbereichen Arbeitsmarkt, Bildung, Energie, Finanzmärkte, Ge-sundheitspolitik, Innovation, Migration, Öffentlicher Sektor (Haushalt, Steuereinnahmen, Verschuldung), Sozialpo-litik, Umweltschutz, Rahmenbedingungen für Unternehmen, Wettbewerbspolitik sowie zu den Wertvorstellungender Bevölkerung in den Industrieländern.

DICE ist zu finden unter www.cesifo-group.de/dice im Internetangebot der CESifo Gruppe.

CESifo DICE

im Internet: http://www.cesifo-group.de

ifo Institut für Wirtschaftsforschung