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Allgemeine Chemie

(Physikalische Chemie 0)

Markus Reiher

Skript, April 2009

Copyright © Prof. Dr. Markus Reiher, ETH Zürich

29. Juni 2009

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort IX

1 Erste Schritte zur Theorie der Chemie 11.1 Begriffsbildung und Naturgesetze 1

1.1.1 Die Atomidee 1

1.1.2 Das molekulare Programm und chemische Konzeptbildung 3

1.1.2.1 Ein Beispiele für Fortgeschrittene 3

1.1.2.2 Grundannahme der Theorie der Chemie 5

1.1.3 Elementare Abstraktion 6

1.1.3.1 Geschwindigkeit 6

1.1.3.2 Beschleunigung 8

1.1.3.3 Newtons Axiome 9

1.1.4 Elementare physikalische Begriffe 10

1.1.4.1 Impuls 10

1.1.4.2 Arbeit und Energie 11

1.1.4.3 Kinetische Energie 11

1.1.4.4 Potentielle Energie 14

1.1.4.5 Gesamtenergie 16

1.1.4.6 Potential und Feldstärke 17

1.1.4.7 Kugelkoordinaten 20

1.1.5 Einheiten 21

1.1.6 Ein klassisches Modell der chemischen Bindung? 24

1.2 Schlüsselexperimente 26

1.2.1 Präparation des Untersuchungsobjekts 27

1.2.2 Kathodenstrahlen und das Elektron 27

1.2.2.1 Anwendung elektrischer und magnetischer Feldern 29

1.2.3 Der Millikan-Versuch 31

1.2.4 Kanalstrahlen 32

1.2.5 Das Rutherfordsche Streuexperiment 33

1.2.6 Neutronen 34

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VI Inhaltsverzeichnis

1.2.7 Licht 35

1.2.7.1 Beugung und Interferenz 36

1.2.7.2 Quantennatur von Licht und der Welle–Teilchen-Dualismus 37

1.2.7.3 Elementarteilchen am Doppelspalt und die De BrogliescheMateriewelle 40

1.2.7.4 Der photoelektrische Effekt 42

1.2.8 Fraunhofersche Linien und das Bohrsche Atommodell 43

1.3 Radioaktivität und Kernstruktur 46

1.3.1 Zerfallsprozesse 46

1.3.1.1 α-Strahlen 47

1.3.1.2 β-Strahlen 47

1.3.1.3 γ-Strahlen 47

1.3.2 Kinetik radioaktiver Zerfälle 47

1.3.3 Nukleare Kettenreaktion 49

2 Einführung in die Quantenmechanik 512.1 Postulate 51

2.1.1 Postulat 0: Elementarteilchen in der Chemie 52

2.1.2 Postulat 1: Zustandsfunktion 54

2.1.3 Postulat 2: Bewegungungsgleichung 55

2.1.4 Postulat 3: Meßwerte 57

2.1.4.1 Ortsmessung, Wahrscheinlichkeitsinterpretation undNormierung 62

2.1.4.2 Erwartungswerte 65

2.1.5 Postulat 4: Kommutatorbeziehungen 67

2.2 Quantenmechanische Drehbewegung und Spin 69

2.2.1 Drehimpulse in der Quantenmechanik 69

2.2.2 Der Stern-Gerlach-Versuch 70

2.2.3 Spin als quantenmechanischer Drehimpuls 71

2.3 Einfache quantenmechanische Modellsysteme 72

2.3.1 Das Teilchen im Kasten 72

2.3.2 Der harmonische Oszillator 73

2.3.3 Das Wasserstoff-Atom 74

3 Die chemische Bindung 813.1 Quantenmechanik für viele Teilchen 81

3.1.1 Energieoperatoren für Vielelektronensysteme 81

3.1.2 Postulat 5: Das Pauli-Prinzip 82

3.1.3 Trennung der Elektronen- und Kernbewegung 83

3.1.4 Slater-Determinante und Orbitale 84

3.1.5 Mehrelektronenatome 87

3.1.5.1 Spezielle Form des Pauli-Prinzip 88

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Inhaltsverzeichnis VII

3.1.5.2 Termsymbole 89

3.2 Molekülorbitaltheorie 91

3.2.1 Quantenmechanische Gleichungen für Orbitale 91

3.2.2 Linearkombination von Atomorbitalen 92

3.2.3 Die Roothaan-Gleichung 93

3.2.4 Die chemische Bindung im Diwasserstoff 94

4 Chemische Konzepte 994.1 Ladungsverteilung und Partialladungen 99

Anhang 102

A Rechenregeln 103A.1 Infinitesimalrechnung 103

A.1.1 Totale und partielle Ableitung 103

A.1.2 Kettenregel 104

A.1.3 Produkt- und Quotientenregel 104

A.1.4 Partielle Integration 105

A.2 Differentialgleichungen 105

A.2.1 Gewöhnliche Differentialgleichungen 105

A.3 Eine Herleitung der Wellengleichung 106

Literatur 110

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Allgemeine Chemie.Copyright © Prof. Dr. Markus Reiher, ETH Zürich, HS 2008

IX

Vorwort

Dieses Skript versucht eine ergänzende Ausformulierung des konzeptionellenInhalts der Vorlesung “Allgemeine Chemie (PC)”. Es entsteht seit der Veran-staltung im Herbstsemester 2008 und versucht Ideen darzustellen, die in die-ser Ausführlichkeit nicht an die Tafel gebracht werden können. Dieses Skriptersetzt weder die Vorlesung, noch die Übungen; das Skript ist lediglich alsErgänzung gedacht. Es ist auch nicht vollständig hinsichtlich des Inhalts derVorlesung. Daher wird ebenfalls empfohlen, die relevanten Themen, die dieVorlesung besprach, ggf. in Lehrbüchern der Physikalischen Chemie [1–4] ge-zielt nachzulesen (für eine Einführung in die Physik kann das Buch von Tiplerempfohlen werden [5]). Ferner eignet sich das sehr gute, detaillierte und maß-geschneiderte Skript von Professor F. Merkt und Mitarbeitern als ideale Ver-tiefung des Vorlesungsstoffs, weil sich dort eine umfangreiche Sammlung anTabellen und Abbildungen findet, die in dem hier vorliegenden, eher narrati-ven Skript nicht auch noch geliefert werden konnte.

Die hier vorliegenden Notizen sind ein Versuch eines physikochemischenZugangs zur Einführung in die Theorie der Chemie, der gewöhnlich unterdem Begriff “Allgemeine Chemie” firmiert. Im Zuge der Standard-Darstellungkommt es oft zu vielen bewußt in Kauf genommenen Ungenauigkeiten, dieauch arglos in Lehrbüchern repetiert werden und später zu großer Verwir-rung führen können. Das Curriculum des Chemie-Studiums der ETH Züricherlaubt den hier beschrittenen Zugang. Angesichts der zeitlichen Limitierun-gen dieses Einführungskurses ist ein Ziel die Darstellung der essentiellentheoretischen Grundlagen der Chemie in maximaler Kürze, ohne dabei je-doch die notwendige Präzision der Darstellung zu opfern. Allerdings wirdes mir nicht gelingen in diesem ersten Versuch eines Skripts, alle Themen ingleicher, hinreichender Tiefe zu behandeln, trotzdem war es mir wichtig dieprinzipielle Struktur der Vorlesung abzubilden.

Falls sich Tippfehler in diesem Skript eingeschlichen haben sollten, obliegtes den LeserInnen, diese zu bemerken.

Markus Reiher Zürich, April 2009

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Allgemeine Chemie.Copyright © Prof. Dr. Markus Reiher, ETH Zürich, HS 2008

1

1Erste Schritte zur Theorie der Chemie

1.1Begriffsbildung und Naturgesetze

Viele Erkenntnisse wurden in der Chemie durch geschicktes Experimen-tieren in Kombination mit einfachen, aber sehr weitreichenden Vorstellun-gen gewonnen. Der Ausbildungsprozeß einer tragfähigen Begrifflichkeit zurBeschreibung der Experimente ist langwierig und seine historische Nach-zeichnung nicht notwendigerweise nützlich, wie am grundlegendsten Be-griff, nämlich dem des Atoms veranschaulicht werden soll. Schon Proust hattebei Experimenten zu chemischen Reaktionen das Gesetz der konstanten Pro-

portionen gefunden, mit dem er den regelmäßigen Aufbau der entstandenenchemischen Verbindungen beschrieb, ein Faktum, das wir heute durch eineSummenformel ausdrücken, die die Zusammensetzung einer chemischen Ver-bindung aus Atomen angibt. Das Gesetz der konstanten Proportionen wurdedann verallgemeinert zum Gesetz der multiplen Proportionen, weil man erkannthatte, dass ein gegebener Satz an Atomsorten mehr als ein Molekül bildenkann. Schon bei der Beschreibung dieser Gesetze sind nun Grundvorstellun-gen über den Aufbau chemischer Verbindungen vorausgesetzt worden, dieeine Erklärung leicht machen, aber erst von Dalton um das Jahr 1803 formu-liert wurden.

1.1.1Die Atomidee

Dalton erklärte die zuvor entdeckten Gesetze über die Zusammensetzungchemischer Verbindungen durch die Adaption der Atomidee. Er formulier-te dazu drei Axiome aus denen sich die uns heute bekannte Molekülchemieableiten läßt:

1. Elemente bestehen aus Atomen. Alle Atome eines Elements sind (che-misch im wesentlichen) gleich, aber verschieden von denen anderer Ele-mente.

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2 1 Erste Schritte zur Theorie der Chemie

2. Bei chemischen Reaktionen werden Atome zu chemischen Verbindun-gen (zu Molekülen) oder Moleküle in Atome zerlegt.

3. Eine gegebene chemische Verbindung besteht stets aus denselben Atom-sorten im konstanten Mengenverhältnis.

Diese Definition ist nun noch keineswegs eine physikalische. So ist nicht klar,ob ein Sauerstoffatom in einem Wasser-Molekül tatsächlich gleich ist zu ei-nem Sauerstoffatom in einem Alkoholmolekül (tatsächlich ist dies nicht ein-mal heute ein triviales Problem). Die Anfänge der Chemie waren eher losge-löst von den Entwicklungen in der Physik. Die beiden Wissenschaften, die bei-de auf das Verständnis der Natur abzielten, kamen sich erst Jahrzehnte späternäher. Daltons Atom-Definition hat daher sicher mehr mit der Unteilbarkeits-idee der alten Griechen (Demokrit) zu tun, auf die der Atom-Begriff letztlichzurückgeführt wird.

Der Begriff des Atoms, des Unteilbaren, wird Demokrit zugeschrieben. Mansollte sich aber im klaren darüber sein, dass hier nur die Idee des Unteilbarenformuliert wurde. Die Atomvorstellung der alten Griechen könnte nicht ver-schiedener sein von derjenigen, die die Physik sorgfältig aufgrund von em-pirischen Befunden herausgearbeitet hat. Die Atom-Idee der alten Griechenbeschreibt im wesentlichen die zwei Optionen, die man hat, wenn man be-ginnt, Materie immer weiter zu teilen.

Besonders eindrücklich läßt sich dies zeigen für einen Kochsalzkristall.Kochsalz kristallisiert in großen Kuben, die man sukzessive zerkleinern kann.Zunächst sehen die kleinen Kochsalzkristalle immer noch kubisch aus, aberab einer bestimmten Größe erscheinen die Kristallite eher pulverartig, so wieman es von handelsüblichem Salz gewohnt ist. Betrachtet man diese Kristal-lite aber unter einem Lichtmikroskop, dann ist die kubische Kristallform im-mer noch erkennbar. Wenn man nun weiter zerkleinert — durch beispielswei-se Mörsern oder Mahlen der Kristallite — dann stellt sich die Frage, ob stetskleinere Kristallite entstehen oder ob man irgendwann eine kleine, nicht wei-ter teilbare Untereinheit vorfindet.

Experimente zeigten früh, dass letzteres der Fall ist. Man gelangt an Unter-heiten, die man Moleküle und Atome nennt. Solche und ähnliche Experimenteveranlassten Proust zur Formulierung generalisierender und zusammenfas-sender Gesetze, wie dem Gesetz der multiplen Proportionen. Vom Standpunktder modernen Atomidee aus werden diese Gesetze inzwischen als überflüs-sig betrachtet, weil sie aus den modernen Vorstellungen des molekularen Auf-baus der Materie abgeleitet werden können. Dalton brachte diese Beobachtun-gen zuerst auf den kleinsten gemeinsamen Nenner in seinen drei Axiomen.

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1.1 Begriffsbildung und Naturgesetze 3

1.1.2Das molekulare Programm und chemische Konzeptbildung

Theoriebildung in der Chemie folgt heute dem so erfolgreichen “molekularenProgramm” und beruht letztlich auf der physikalischen Beschreibung der ele-mentaren Bausteine der Materie. Daher werden im folgenden zunächst wich-tige elementare physikalische Konzepte eingeführt, bevor einige Schlüsselex-perimente diskutiert werden können, die uns die elementaren Bausteine derMaterie erkennen lassen. Schließlich wird die Theorie entwickelt, die die Dy-namik dieser Elementarteilchen beschreibt und die uns letztlich in die Lageversetzt, die chemische Bindung, chemische Reaktionen und Eigenschaftenvon Molekülen zu verstehen und vorherzusagen.

Die Chemie ruht daher auf einem Teil des Theoriegebäudes der Physik. Weildie Theorie von Vielteilchensystemen in der Physik nicht einfach zu hand-haben ist, gleichzeitig aber die Chemie Wege gefunden hat, dem komplexenmolekularen Geschehen durch einfache, den physikalischen Grundprinzipienangelehnte Begriffe näher zu kommen — typisch chemische Konzepte sindElektronegativität, Nukleophilität und Partialladung —, wurde oft die Frage ge-stellt, inwieweit die Chemie tatsächlich auf der Physik fußt. An einem Beispielsoll demonstriert werden, wie wichtig eine klare Ausarbeitung des physikali-schen Hintergrunds der Chemie für die chemische Argumentation ist. Für dasVerständnis der folgenden Paragraphen ist allerdings schon eine gute Allge-meinbildung in der Chemie Voraussetzung.

1.1.2.1 Ein Beispiele für Fortgeschrittene

Das erste Beispiel soll die moderne Biochemie und die Molekularbiologieder Zelle liefern. Der genetische Code liegt in materieller Form als Desoxy-ribonukleinsäure (DNS) vor. Er kann genweise umgeschrieben (transkribiert)werden in die Form einer Ribonukleinsäure (RNS). Jedoch kodiert nicht je-der DNS-Abschnitt für ein Protein. Manche Abschnitte erzeugen kurze RNS-Stränge, die für sehr komplizierte Regelungsprozesse unterschiedlichster Spe-zifität verantwortlich sind. Wie kann man nun die Stabilität der DNS oderdie der RNS-Anlagerungen verstehen? Hier kann nur eine Theorie der Che-mie helfen. Diese muß erklären, was die DNS-Doppelhelixstruktur so stabilmacht oder wann Basenpaarung fehlerhaft sein kann. In der Regel laufen al-le diese Erklärungen über energetische Größen. Ein molekulares Objekt mitgeringerem Energieinhalt wird als günstig und daher stabil im Vergleich zuhöher energetischen molekularen Anordnungen angesehen (die Thermody-namik lehrt uns, dass diese Betrachtungen eigentlich komplizierter sind, da soeine Aussage von den thermodynamischen Randbedingungen (Druck, Tem-peratur, Volumen) und auch von nicht nutzbaren ‘Energiebeiträgen’, der tem-peraturgewichteten Entropie, abhängt).

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4 1 Erste Schritte zur Theorie der Chemie

Lassen wir themodynamische Betrachtungen zunächst außen vor und neh-men wir an, dass wir einem Molekül eine Energie zuordnen können. Schnellist man bei der Hand mit einer Erklärung, die eine Energieerniedrigung auf-grund der Ausbildung bestimmter Wechselwirkungen, die die Chemie oftBindungen nennt, feststellen will. Im Falle der DNS wird man sagen, dasswir seit den Arbeiten von Linus Pauling wissen, wie Wasserstoffbrückenbin-dungen große Biomoleküle stabilisieren können. Woher aber kennen wir eineBindungsenergie für eine Wasserstoffbrücke in einem DNS-Basenpaar? Diesewird sicherlich von der genauen Anordnung der Basen zueinander abhängen,die sich durch das Bewegungs- und Schwingungsverhalten der Doppelhelixändern wird. Wenn ein Basenpaar durch drei Wasserstoffbrücken zusammen-gehalten wird, kann man ferner kaum eine einzelne dieser Bidnungen bre-chen, um so auf die Bindungsenergie zu schließen. Abgesehen davon machenwir nun implizit schon die Annahme, dass eine Wechselwirkung zweier Mo-leküle — zweier Basen in diesem Fall — tatsächlich auf nur die bindungs-aufbauenden Atome reduziert werden kann. Tatsächlich wird diese Annah-me nicht von der noch zu entwickelnden Theorie gedeckt. Die Verwendungdes Begriffs ‘Wasserstoffbrückenbindung’ ist bereits eine dramatische Verein-fachung der tatsächlich auftretenden Wechselwirkungen in einem Basenpaar.

Wir können a priori nicht einmal sagen, ob eine Wasserstoffbrücke in ei-nem Basenpaar einzeln betrachtet werden kann oder ob in einem Basenpaaroder im gesamten DNA-Doppelstrang viele Wasserstoffbrücken kooperativund daher schwer in einzelne Bindungsbeiträge zerlegbar sind.

Die genaue Analyse der Doppelhelix-Stabilität wird noch dadurch er-schwert, dass es neben den Wasserstoffbrücken andere Bindungstypen gibt,die man berücksichtigen muß (wenn wir der Einfachheit davon absehen,dass jede solche Bindungsklassifikation zwangsläufig eine konzeptionelle Ver-einfachung ist, um mit molekularen Wechselwirkungen sprachlich kompaktumgehen zu können). Experimente zeigen nämlich, dass zum Beispiel zweiBenzol-Moleküle oder zwei Naphthalin-Moleküle in der Gasphase einanderanziehen und Dimere bilden können. Wenn solche Beobachtungen im Expe-riment zuerst gemacht werden, belegt die Phänomenologie der Chemie diesemit neuen konzeptionellen Begriffen, die oft hilfreich zur Klassifizierung deschemischen Wissens sind, deren Bedeutung aber leicht überstrapaziert wer-den kann. In unserem Fall spricht man von π–π-Anziehung der π-Elektronender Benzolringe (selbstverständlich setzt dies voraus, dass man zunächst ver-standen hat, was π-Elektronen überhaupt sein sollen). Dieses Phänomen derπ–π-Anziehung wird sich sicherlich auf die Wechselwirkung von aromati-schen Purin- und Pyrimidin-Basen in der Sequenz von Paaren in der DNSübertragen lassen. Doch in welchem Verhältnis steht dieser Stabilisierungsef-fekt zu dem der Wasserstoffbrückenbindungen? Die Beurteilung der Situationwird noch weiter erschwert dadurch, dass die DNS in eine Lösungsmittel-

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1.1 Begriffsbildung und Naturgesetze 5

umgebung eingebettet ist, die das DNS-Molekül ebenfalls beeinflußt. Was-serstoffbrückenbindungen der Basen zu Lösungsmittelmolekülen treten inKonkurrenz zu denen der Basenpaarung. Selbst wenn die Wasserstoffbrückenzu den Wassermolekülen energetisch schwächer als die der Basenpaare wä-ren, könnte dies durch eine größere Zahl an Lösungsmittelmolekülen wiederkompensiert werden.

Wie könnten wir die energetische Stabilisierung in der DNS-Doppelhelixmessen? Vielleicht gelingt es uns, einen experimentellen Aufbau zu finden,der es uns erlaubt, die zwei Stränge auseinanderzuziehen, wobei aber sicher-lich auch Energie für die Verzerrung des DNS-Rückgrats aufgewendet werdenmuß. Aber selbst dann würden wir die erhaltene Energie noch nicht in eineenergetische Beziehung zu alternativen DNS-Strukturen setzen können. Hät-ten wir dagegen eine Theorie, die es uns erlauben würde, dem DNS-Moleküleine Energie zuzuordnen, dann könnten wir auch anderen DNS-Strukturen ei-ne Energie zuordnen und so besser verstehen, was die uns bekannte Doppel-helix so besonders macht. Entsprechend können wir fortfahren und schließ-lich besser verstehen, wie es um die Basenpaarung in der RNS steht.

1.1.2.2 Grundannahme der Theorie der Chemie

Als Ausgangspunkt unserer Betrachtung gehen wir von der Erkenntnis aus,daß die Objekte der chemischen Forschung aus einer recht kleinen Zahl vonelementaren Teilchen aufgebaut sind, die von der Physik durch geschicktesExperimentieren entdeckt wurden. Dieser Startpunkt ist einzig und alleindurch seinen Erfolg gerechtfertig. Es hat sich gezeigt, daß sich die Chemiefolgend dieser Maxime nicht nur verstehen, sondern sogar quantitativ berech-nen und vorhersagen läßt. Dem molekularen Programm folgend können heu-te Reaktionswärmen, molekulare Strukturen und Eigenschaften basierend aufphysikalischer Theorie vorhergesagt werden. Der Kern dieser Theorie ist dieAnnahme, dass wir lediglich das Bewegungsverhalten und die Interaktionen der

elementaren Teilchen beschreiben müssen, um die gesamte unseren Sinnen zu-gängliche Erfahrungswelt beschreiben und verstehen zu können. Dies ist eineunglaublich starke Forderung, die durch unzählige Studien belegt ist:

Die physikalische Theorie der Chemie erlaubt es, sämtli-che chemische Reaktionen, Strukturen und Eigenschaftenvon Molekülen, sowie die chemische Bindung allein auf-grund einer Theorie des Bewegungsverhaltens von Ele-mentarteilchen zu beschreiben.

Diese Behauptung ist gleichermaßen weitreichend wie verblüffend. IhrWahrheitsgehalt und die volle Tragweite werden erst im Laufe der noch anzu-stellenden Diskussionen offenbar. Es ist allerdings jetzt schon klar, das nur eineinziges Gegenbeispiel, also ein einziges chemisches Phänomen, das nicht auf

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6 1 Erste Schritte zur Theorie der Chemie

die physikalische Theorie reduzierbar ist, ausreicht, um das Gedankengebäu-de ins Wanken zu bringen. Offene Fragen sind aber zunächst zum einen, wasdie für die Chemie relevanten Elementarteilchen sind, und zum anderen, wiedie physikalische Theorie aussieht, die ihr dynamisches Verhalten beschreibt.

Die physikalische Theorie, die wir zur Beschreibung und zum Verständnisder Chemie benötigen, soll nun schrittweise erarbeitet werden. Dabei werdenwir uns allerdings auf das Minimum physikalischer Begriffe beschränken, umletzlich dem Ziel der Beschreibung der Moleküle und der Erklärung der che-mischen Bindung zügig näher zu kommen. Der Physik ist es gelungen, dieseBegriffe in sehr allgemeine Theorien einzubetten, auf die wir in diesem Rah-men aber nicht eingehen können.

1.1.3Elementare Abstraktion

Ein erster Schritt zur Theoriebildung ist die Präzisierung von Begriffen, dieaus der Umgangssprache zur Beschreibung von dynamischen Prozessen be-kannt sind. Dies ist der Weg zur Formulierung einer Theorie der Bewegung,die man klassische Mechanik nennt. Dazu ist es nützlich den Bewegungszu-stand eines makroskopischen Objekts, wie zum Beispiel eines Autos, quanti-tativ beschreiben und vorhersagen zu können. Die folgenden Betrachtungensind bewußt sehr einfach gehalten. Ziel der Beschreibung ist es, zu zeigen, wieman spielerisch mit den Begriffen physikalischer Theorie in einem mathemati-schen Zusammenhang umgeht. Auch soll man mit möglichst wenig Vorkennt-nissen auskommen können. Es geht nicht darum, eine Liste von in Stein ge-meißelten Naturgesetzen herunterzubeten. Vielmehr soll explizit vorgeführtwerden, wie theoretische Begriffe und mathematisch formulierte Gesetzmä-ßigkeiten ersonnen werden. Nur so kann die physikochemische Formulierungchemischer Phänomene und Gesetzmäßigkeiten als von Menschen gemachtesVorstellungs- und Ideengebäude verstanden und durchdrungen werden.

1.1.3.1 Geschwindigkeit

Es wird sicherlich notwendig sein, Begriffe wie “Schnelligkeit” oder “Ge-schwindigkeit” in mathematische Form zu gießen. Dazu bedient man sich imersten Schritt der eigenen Anschauung. Offensichtlich ist die Geschwindigkeitvx mit der man von einem Ort x1 zu einem Ort x2 gelangt gleich dem Wegun-terschied ∆x = x2 − x1 dividiert durch die dafür benötigte Zeit ∆t = t2 − t1,

vx ≡∆x

∆t(1.1)

(das Zeichen ‘≡’ soll explizit andeuten, dass es sich um eine besondere Gleich-heit von linker und rechter Seite handelt, nämlich um eine Definition).

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1.1 Begriffsbildung und Naturgesetze 7

Auf dem Weg zum Ziel am Orte x2 kann man jedoch mal schneller, mallangsamer gelangt sein, also beschleunigt und gebremst (negativ beschleu-nigt) haben. Daher ist bei langen Fahrzeiten ∆t mit obiger Gleichung besten-falls eine mittlere Geschwindigkeit definiert, was durch den Querbalken kennt-lich gemacht ist.

Hier wurde nun eine Bewegung in nur einer Richtung beschrieben, und wirwählten die x-Richtung aus. Diese Wahl ist willkürlich und daher läßt sich ei-ne entsprechende Gleichung für jede der anderen beiden Richtungen y undz, die zu x orthogonal sind, formulieren. Wenn wir die Richtung allgemein α

nennen und α ∈ {x, y, z}, dann können wir allgemein für eine der drei Rich-tungen schreiben,

vα =∆α

∆t(1.2)

Weil eine solche Gleichung für jede Richtung unabhängig von den anderengilt, schreibt man diese auch kompakt in vektorieller Form

v =∆r

∆t(1.3)

wobei der Ortsvektor definiert ist als r = (rx, ry, rz) = (x, y, z) und der Ge-schwindigkeitsvektor als v = (vx, vy, vz). Generell werden solche mehrkom-ponentigen Größen hier und im folgenden durch fette Buchstaben gekenn-zeichnet. Der Einfachheit halber betrachten wir aber weiterhin nur eine Bewe-gung in x-Richtung.

Oft ist es wichtig zu wissen, was die aktuelle Geschwindigkeit, die soge-nannte Momentangeschwindigkeit, ist (zum Beispiel, wenn die Polizei eine Ge-schwindigkeitsübertretung feststellen will). Offensichtlich reduziert sich derMittelungscharakter obiger Gleichung, wenn man die Weglänge in möglichstkurzen Zeitabständen mißt, so dass Änderungen der aktuellen Geschwindig-keit durch Beschleunigungen nicht ins Gewicht fallen. Im Extremfall ist kon-sequenterweise der Zeitunterschied zwischen Startzeit t1 und aktueller Zeitt2 unendlich klein zu wählen. Mathematisch können wir dies als Grenzwert(Limes) schreiben,

vx ≡ lim∆t→0

∆x

∆t≡ dx

dt(1.4)

Weil das Schreiben des Limes auf die Dauer zu umständlich wäre, werden diemit einem griechischen ∆ markierten Orts- und Zeitunterschiede durch eininfinitesimales “d” abgekürzt. Der elementar eingeführte Differenzenquotient

∆x/∆t ist so durch den Limesprozeß zu einem Differentialquotienten dx/dt ge-worden. Weil dies komponentenweise für alle x-, y- und z-Komponenten gilt,können wir auch kompakt in vektorieller Form für alle Komponenten gleich-

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8 1 Erste Schritte zur Theorie der Chemie

zeitig schreiben

v =dr

dt⇔

vx

vy

vz

=

dx/dt

dy/dt

dz/dt

(1.5)

Mathematisch gesprochen ist also die Momentangeschwindigkeit gleich derersten Ableitung des Ortes nach der Zeit. Ableitungen nach der Zeit wer-den oft durch Punkte über der abzuleitenden Funktion geschrieben, hier alsodx/dt = x.

Letztlich wurde durch diese Art der Betrachtung von Newton und Leib-niz die Infinitesimalrechnung, also das Rechnen mit unendlich kleinen Grö-ßen, in die Mathematik eingeführt. Sie ist auch unter dem Namen Differential-und Integralrechnung bekannt. Mathematik und Physik haben sich in der Ge-schichte oft gegenseitig befruchtet. Während hier die Physik die Definition dernotwendigen mathematischen Werkzeuge erforderte, gab es aber auch physi-kalische Entdeckung (wie die der Quantentheorie), die auf schon entwickeltemathematische Theorien (gewöhnliche und partielle Differentialgleichungen,Funktionenräume) zurückgreifen konnte, wie wir noch sehen werden.

Die Art, wie hier die Geschwindigkeit eingeführt wurde, haben Lindsayund Margenau [6] elementare Abstraktion genannt. Damit soll der ‘natürliche’Zugang zur rigorosen quantitativen Beschreibung von Prozessen in der vomMenschen wahrgenommenen Umgebung gemeint sein. Inwieweit die reinePräzisierung alltäglicher Beobachtungen und umgangssprachlicher Begriffs-vorbildungen ausreicht zur Mathematisierung der Welt wird sich noch erwei-sen müssen. Allein das Vorgehen der elementaren Abstraktion setzt schon ei-nige Grundannahmen voraus, die wir nicht explizit erklärt haben — nämlichVorstellungen von Raum und Zeit. Hier halten wir es zunächst mit Immanu-el Kant, der glaubte, dass diese allen Menschen gemein sind (und tatsächlichscheint die moderne Hirnforschung hierfür auch Indizien in Form speziali-sierter Nervenzellen gefunden zu haben).

1.1.3.2 Beschleunigung

Wenn wir die Geschwindigkeit eines Objekts (wie das Auto im obigen Fall)ändern wollen, dann muß eine Kraft wirken. Diese Kraft kann eine (positi-ve oder negative) Beschleunigung hervorrufen, die schließlich zu einer Ge-schwindigkeitsänderung führt. Diese Geschwindigkeitsänderung wiederumkönnen wir im Sinne der elementaren Abstraktion ebenso gut zur Definitionder Beschleunigung ax verwenden,

ax ≡ lim∆t→0

∆vx

∆t=

dvx

dt(1.6)

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1.1 Begriffsbildung und Naturgesetze 9

oder in vektorieller Form für alle drei Raumrichtungen in einer Gleichung,

a =dv

dt(1.7)

wobei wir direkt die Momentanbeschleunigung an Stelle eines Mittelwertsangeben. Damit wird die Beschleunigung zur zweiten Ableitung des Ortesnach der Zeit,

a = v =d (dr/dt)

dt=

d2r

dt2 = r (1.8)

1.1.3.3 Newtons Axiome

Der Kraftbegriff wurde oben bereits im Zusammenhang mit der Beschleuni-gung verwendet, ein Zusammenhang der von Newton erkannt wurde unddie Basis seiner drei Axiome der klassischen Mechanik ist:

1. Existenz von Inertialsystemen (Trägheitsprinzip):Es gibt Bezugssysteme (Koordinatensysteme), sogenannte Inertialsyste-me, in denen die kraftfreie Bewegung eines (Punkt)teilchens durch einekonstante Geschwindigkeit beschrieben wird. Die läßt sich mathema-tisch ausdrücken als

v = const. =⇒ v = 0 (1.9)

2. Newtonsche Bewegungsgleichung in Inertialsystemen:Die Bewegung eines Teilchens in einem Interialsystem unter dem Ein-fluß einer Kraft F wird beschrieben durch die Newtonsche Bewegungs-gleichung,

F = m a (1.10)

Hier wird implizit eine Masse m (die Trägheit des Teilchens als Propor-tionalitätskonstante eingeführt) angenommen, die unabhängig von derGeschwindigkeit ist und daher nicht von der Zeit abhängt. Die wirken-de Kraft kann stets als vektorielle Summe aller wirkenden EinzelkräfteF i geschrieben werden, F = ∑i F i. Aus der Bewegungsgleichung läßtsich bei gegebenen Anfangsbedingungen, d.h. bei einem Ort r0 ≡ r(t0)zu einer Zeit t0 und zugehöriger Geschwindigkeit v0 ≡ v(t0), jeder Ortin der Zukunft tz (und auch in der Vergangenheit) r(tz) berechnen. Diezeitlich geordnete Sequenz dieser Orte r(t) nennt man Bewegungsbahn

oder auch Trajektorie.

3. Prinzip von Actio=Reactio:Zu jeder Kraft (actio) F12, mit der ein (Punkt)teilchen 1 auf ein anderes

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10 1 Erste Schritte zur Theorie der Chemie

(Punkt)teilchen 2 wirkt, gibt es eine Gegenkraft (reactio) F21 von glei-chem Betrag aber entgegengesetzter Richtung, mit der Teilchen 2 aufTeilchen 1 wirkt,

F12 = −F21 (1.11)

Dieses Prinzip stellt ein generelles Prinzip der Physik und der Naturwis-senschaften allgemein dar. Ohne dieses Prinzip könnte ein abgeschlos-senes System von Teilchen, also eine Ansammlung von Objekten, dienicht mit einer Umgebung wechselwirken, gesamthaft Geschwindigkeitaufnehmen, Kräfte ausüben und Energie produzieren. Dies wird aberexperimentell nicht beobachtet.

1.1.4Elementare physikalische Begriffe

Bevor wir Experimente diskutieren können, die uns Aufschluß über die Zu-sammensetzung von Atomen und Molekülen geben, müssen einige grund-legende physikalische Begriffe der Mechanik, der Elektrostatik und des Ma-gnetismus eingeführt werden. Dazu sind zwei Dinge entscheidend: die richti-ge Vorstellung, die man sich von einem physikalischen Prozeß, wie etwa derBewegung eines Teilchens, macht, und die Formulierung der Definitionen inForm mathematischer Gleichungen. Um letztere wird man nicht herumkom-men, aber im Prinzip sind sie, wenn Schritt für Schritt erklärt, genauso leichtoder schwierig wie eine chemische Strukturformel. Die landläufige Meinung,daß ChemikerInnen oft nicht gut in Mathematik sind, kann nicht stimmen,wenn man sich anschaut, mit welcher abstrakten Formelsprache man in derChemie arbeitet. Wahrscheinlich ist eher, dass man lediglich mehr Zeit in dasErlernen der chemischen als in das der mathematischen Formelsprache inve-stiert hat. Daher ist die folgende Darstellung recht explizit und nahe an demMaterial, das die Theorie der Chemie dann in späteren Kapiteln benötigt.

1.1.4.1 Impuls

An Stelle der bisher verwendeten Geschwindigkeit wird oft die massebehaf-tete Geschwindigkeit, der sogenannte Impuls p,

p ≡ m v (1.12)

verwendet, weil für ihn ein Erhaltungssatz gilt. Mit obiger Definition des Im-pulses können wir Newtons Bewegungsgleichung auch schreiben als

F =dp

dt=

d(m v)

dt= v

dm

dt︸ ︷︷ ︸

=0 wenn m=const.

+mdv

dt= m

dv

dt(1.13)

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1.1 Begriffsbildung und Naturgesetze 11

1.1.4.2 Arbeit und Energie

Wenn in x-Richtung über eine Strecke ∆x = xend − xstart eine konstante KraftFx wirkt, dann wurde eine Arbeit ∆W = Fx∆x an dem Teilchen geleistet, umseine Geschwindigkeit zu ändern. Wenn nun die Kraft über die Strecke va-riiert, dann muß man wiederum zu dem schon bekannten Trick greifen, umnicht mittlere Kräfte verwenden zu müssen: Man wähle die Streckenelementeso klein, dass die Kraft sicher als konstant angenommen werden kann, also in-finitesimal klein: ∆x → dx. Wenn über eine infinitesimal kurze Strecke dx eineKraft Fx wirkt, können wir die verrichtete Arbeit schreiben als dW=Fx dx. Diegesamthaft geleistete Arbeit W kann durch Integration, d.h. durch Summationder infinitesimalen Arbeitsbeiträge dW, erhalten werden,

W =∫ xend

xstart

dx Fx =∫ Eend

Estart

dW = Eend − Estart (1.14)

Die skalare Größe W, die einem Teilchen zu- oder abgeführt wurde, ändertden Wert eines Reservoirs an “Arbeit”, das man Energie nennt. Der Anfangs-zustand dieses Reservoirs Energie, bevor es durch die verrichtete Arbeit ge-ändert wird, sei die Energie Estart, während der energetische Endzustand Eendgenannt sei. Energie wird oft definiert als die Fähigkeit Arbeit zu verrichten.Kräfte, die auf ein Teilchen wirken, können seine Energie ändern.

1.1.4.3 Kinetische Energie

Für die bisher besprochenen Fälle bewegter Teilchen definiert man daher alsrelevante Energiegröße die kinetische oder auch Bewegungsenergie, die manmal als Ekin, mal als T abkürzt. Um einen Ausdruck für diese Bewegungsener-gie zu erhalten, studieren wir den einfachen Fall eines ruhenden Teilchens,der keine kinetische Energie hat. Wenn wir also ein ruhendes Teilchen mitkonstanter Kraft beschleunigen, so entspricht die dabei aufgewendete Arbeitgenau der dem Teilchen zugeführten Bewegungsenergie. Generell gilt für denin einem Zeitintervall ∆t zurückgelegten Weg (s. Erklärung in Schema 1.1),

xend = xstart + vx,start∆t +12

ax,start(∆t)2 (1.15)

wobei wir um den Punkt xstart entwickelt und die Ableitungen des Ortes nachder Zeit direkt durch die entsprechenden Ausdrücke für die Geschwindigkeitund die Beschleunigung am Start-Ort, um den wir entwickeln, ersetzt haben.Der obige Ausdruck vereinfacht sich für das zu Beginn ruhende Teilchen —vx,start = 0 — zu

∆x ≡ xend − xstart =12

astart(∆t)2 (1.16)

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12 1 Erste Schritte zur Theorie der Chemie

Die Endgeschwindigkeit des Teilchens in x-Richtung errechnet sich einfachaus der konstanten Beschleunigung ax = ax,start,

vx,end = ax ∆t(1.10)=

Fx

m∆t =

W

∆x m∆t (1.17)

woraus wir letztlich eine Gleichung für die kinetische Energie erhalten

T ≡ Ekin ≡ W = vx,end m∆x

∆t= m vx,end vx (1.18)

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1.1 Begriffsbildung und Naturgesetze 13

Schema 1.1 Reihenentwicklung: Jede Funktion läßt sich als Summe von Entwicklungspa-rametern ak multipliziert mit der k-ten Potenz ihrer Variablen, hier xk, schreiben.

Wenn man die Existenz einer Funktion vermutet, diese aber nicht in geschlossener Form (wie z.B.eine Exponentialfunktion y(x) = exp x) kennt, dann kann man stets eine Potenzreihenentwicklungansetzen,

y(x) =∞

∑k=0

ak xk

(

im Falle der e−Funktion : y(x) =∞

∑k=0

xk

k!

)

wobei wir um den Nullpunkt der Variable x entwickeln. Die Variable x sei eine beliebige Varia-ble (es ist also nicht die Ortskoordinate in x-Richtung meint; x kann auch die Zeit sein, wie imHaupttext benötigt). Im Experiment kann man die noch unbekannten Entwicklungskoeffizientenak durch eine Anpassung an Meßdaten erhalten — z.B. durch die Methode der kleinsten Feh-lerquadrate (least-squares fit) oder Singulärwertzerlegung (singular value decomposition). Wennk = 1, dann spricht man von einem linearen Fit und verwendet zur Anpassung die lineare Regres-sion, ein Verfahren, das sich aus einem least-squares Fit ableiten läßt.Eine Potenzreihenentwicklung läßt sich noch genauer spezifizieren. Wenn die Potenzreihe amUrsprung, x = 0, l-mal abgeleitet wird, so erhalten wir einen expliziten Ausdruck für den l-tenKoeffizienten(

dly(x)

dxl

)

x=0

=

(

dl ∑∞k=0 ak xk

dxl

)

x=0

=∞

∑k=0

ak

(

dlxk

dxl

)

x=0︸ ︷︷ ︸

=0 wenn k 6=l

= al l!

wobei alle Ableitungen für k < l verschwinden, während für k > l die Monome xk → l!xk−l Nullwerden am Ursprung, so dass nur der Term für k = l überlebt.Mit dem Wissen, jeden Entwicklungskoeffizienten als Ableitung ausgewertet am Entwicklungs-punkt schreiben zu können, können wir die Potenzreihe explizit schreiben als sogenannte Taylor-Reihe

y(x) =∞

∑k=0

1k!

(

dky

dxk

)

x=0

xk

oder entwickelt um einen beliebigen Punkt xstart,

y(xend) = y(xstart) +

(dy

dx

)

x=xstart

∆x +12

(d2y

dx2

)

x=xstart

(∆x)2 + · · ·

angeben, wobei ∆x = xend − xstart. Diese Reihenentwicklung läßt sich auf Funktionen verallge-meinern, die von mehr als einer Variablen abhängen.Die Taylor-Reihenentwicklung kann man sich wie folgt anschaulich vorstellen (s.a. Bild unten):Angenommen man hat beliebige Informationen über eine Größe y an einem Punkt xstart undkennt insbesondere ihre Steigung (erste Ableitung), Krümmung (zweite Ableitung), sowie allehöheren Ableitungen an diesem Entwicklungspunkt, so kann man die Funktion an einem Ortxend, an dem wir diese Informationen nicht besitzen, beliebig genau annähern (vorausgesetzt,die Reihe konvergiert, was nicht immer garantiert werden kann).

x startxend

xend x start x start xend x start

x starty(x)sämtliche Ableitungen von y bekannt

x

Funktionswert hier gesucht

y( ) y( ) + y’( ) ( − )

an diesem Punkt seien y( ) sowieIn nullter Näherung isty(xstart) ≈ y(xend), eine Verbes-serung erlaubt die Ausnutzungder Steigung (1. Ableitung),die im Bild eingezeichnet ist.Weitere Verbesserungen kön-nen durch sukzessive höhereAbleitungen entsprechend derTaylor-Reihe erhalten werden.

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14 1 Erste Schritte zur Theorie der Chemie

Weil sich die Geschwindigkeit konstant ändert durch die wirkende Kraft,ist ∆x/∆t nicht gleich der Endgeschwindigkeit, sondern eben nur die mittlereGeschwindigkeit. Die mittlere Geschwindigkeit ist aber leicht zu ermitteln. Dazu Beginn die Geschwindigkeit Null ist und dann linear wächst entsprechendGl. (1.17) muß die mittlere Geschwindigkeit gleich der halben Endgeschwin-digkeit sein,

vx =12

vx,end (1.19)

und damit ergibt sich die kinetische Energie zu

Ekin =12

m v2x,end (1.20)

Dieses Ergebnis kann man auch direkt erhalten, wenn man das Zeitintervalin vx,end = ax ∆t [Gl. (1.17)] ersetzt durch einen Ausdruck, den man durchUmstellen von Gl. (1.16) erhält,

∆t = ±√

2∆x

ax(1.21)

so dass sich ergibt

vx,end = ±ax

2∆x

ax= ±

2ax∆x(1.10)= ±

2F∆x

m= ±

2W

m(1.22)

was nach Quadrieren und Umstellen genau Gl. (1.20) ergibt.Dieser Ausdruck läßt sich auf drei Dimensionen verallgemeinern (indem

man dieselbe Betrachtung auch für die y- und z-Richtungen anstellt, so dassdie gesamte Bewegungsenergie die Summe der Bewegungsenergien in diedrei Raumrichtungen ist,

T = Tx + Ty + Tz =12

mv2x +

12

mv2y +

12

mv2z (1.23)

die sich wiederum kompakt unter Ausnutzung der skalaren Multiplikationvon zwei Vektoren (hier Geschwindigkeit, v · v = v2, beziehungsweise Im-puls, p · p = p2) schreiben läßt als

T =12

mv2 =p2

2m(1.24)

wobei man anstelle der Vektoren auch direkt die Beträge (Längen) der Vekto-ren verwenden darf, also v2 = v2 oder p2 = p2.

1.1.4.4 Potentielle Energie

Die Definition einer Kraft entsprechend Gl. (1.10) oder Gl. (1.13) beschreibtihre Auswirkung auf ein Teilchen mit Trägheit m (d.h. die Beschleunigung

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1.1 Begriffsbildung und Naturgesetze 15

dieses Teilchens). Es fehlen also noch Gleichungen, die die Quelle also das“Entstehen” (und nicht die Auswirkung) von Kräften beschreiben. Dazu be-trachten wir zwei Beispiele: das Gravitationsgesetz und das Coulomb-Gesetz.Experimentell kann man mittels einer Gravitationswaage nachweisen, daßsich zwei Massen anziehen. Um also zwei Massen m1 und m2 auf einen Ab-stand r12 — berechenbar aus den Positionen der beiden Massen als Betrag desDifferenzvektors r12 = |r1 − r2| — zueinander zu bringen, muß eine Kraftaufgewendet werden, die der Gravitationskraft entgegen wirkt. Dabei wirdArbeit verrichtet, die in Form von Lageenergie gespeichert wird. Die Lageener-gie, auch potentielle Energie genannt und in der Regel mit dem Symbol V be-legt, hängt natürlich von der Natur der herrschenden Kraft ab. Im Falle derGravitationsanziehung zwischen zwei Teilchen findet man experimentell eineKraft, die proportional zum Produkt der Massen und invers proportional zumQuadrat des Abstands ist. Für den Betrag der Kraft können wir also schreiben

FG = −Gm1m2

r212

und dann für die Lageenergie VG = −Gm1m2

r12(1.25)

wobei wir berücksichtigen, dass die beim Aufeinanderzubewegen verrichteteArbeit zu einer Abnahme der potentiellen Energie führen muß, also

Epot = −∫ rend

rstart

drFr (1.26)

Die Proportionalitätskonstante G heißt Gravitationskonstante und kann durchMessung an einer Gravitationswaage experimentell bestimmt werden, G =6, 67 · 10−11 N m2/kg2 (s. weiter unten bzgl. der verwendeten Einheiten). DenAbstand berechnet man, wie schon erwähnt, aus den Positionen der beidenMassen, r1 = (x1, y1, z1) und r2 = (x2, y2, z2) als

r12 = |r1 − r2| =√

(x1 − x2)2 + (y1 − y2)2 + (z1 − z2)2 (1.27)

entsprechend den Vorschriften der Vektorrechnung.Der in Gl. (1.25) angegebene Ausdruck für den Betrag der Kraft drückt le-

diglich die experimentelle Beobachtung aus, dass die Anziehungskraft (nega-tives Vorzeichen), die zwei Massen aufeinander ausüben, jeweils proportionalzum Betrag der Massen und umgekehrt proportional vom Quadrat ihres Ab-stands ist. Wir nutzen also bei dieser elementaren Abstraktion den ‘radialen’Charakter der Gravitationskraft aus (sie hängt nur vom Abstand der Massenund nicht von deren Orientierung im Raum ab), eine Tatsache, die wir in Ab-schnitt 1.1.4.7 noch genauer, d.h. durch Definition eines problemangepaßtenKoordinatensystems, ansehen werden. Wenn wir den vektoriellen Charakterder Kraft rekonstruieren möchten, dann müssen wir durch einen Einheitsvek-tor die Richtung angeben. Dieser Vektor er12 der Länge Eins zeigt von einer

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16 1 Erste Schritte zur Theorie der Chemie

Masse zur anderen und kann definiert werden als

er12 ≡r1 − r2

r12=

r1 − r2

|r1 − r2|(1.28)

so dass sich die (vektorielle) Gravitationskraft schreiben läßt als

FG = −Gm1m2

r212

er12 = −Gm1m2r1 − r2

|r1 − r2|3(1.29)

Interessanterweise findet man experimentell für zwei ruhende, miteinanderim Vakuum wechselwirkende elektrische Ladungen (elektrostatische) Gesetz-mäßigkeiten, die von derselben Form wie das Newtonsche Gravitationsgesetzsind. D.h. die elektrostatische Kraft, auch Coulomb-Kraft FC genannt, und dieelektrostatische Lageenergie sind

FC =1

4πǫ0

q1q2

r212

und VC =1

4πǫ0

q1q2

r12(1.30)

wobei anstelle der Gravitationskonstante der für die Elektrostatik gemesseneProportionalitätsfaktor, 1/4πǫ0, eingeführt wurde (dieser hat nur in den so-genannten SI-Einheiten diese Form, s. unten). Die Konstante ǫ0 heißt Dielek-trizitätskonstante des Vakuums. Da wir zu guter letzt die Wechselwirkungvon Elementarteilchen, also den kleinsten Bestandteilen der Materie, studie-ren wollen, herrscht zwischen diesen zwangsläufig Vakuum, also materiefrei-er Raum. Eine allgemeinere Form des Kraftgesetzes, das auch für Medien, indenen die elektrostatische Wechselwirkung dann erfolgt, gilt, wird nicht be-nötigt.

Es gibt noch einen wichtigen Unterschied zwischen Gravitationskraft undelektrostatischer Kraft. Die Gravitationskraft ist stets eine anziehende Kraft,weil Massen stets positiv sind. Es gibt aber zwei verschiedene Sorten Ladun-gen, die wir positiv und negativ nennen, wie sich experimentell gezeigt hat.Entsprechend können q1 und q2 positiv oder negativ sein. Ihr Produkt ist dannpositiv, wenn beide Ladungen gleichnamig sind. In diesem Fall resultiert einpositives Vorzeichen und die beiden Ladungen stoßen sich ab. Wenn die bei-den Ladungen aber entgegengesetztes Vorzeichen haben, also nicht gleichna-mig sind, dann entsteht bei Produktbildung eine negative Zahl, die zur An-ziehung zwischen den beiden Ladungen führt.

1.1.4.5 Gesamtenergie

Die Gesamtenergie eines abgeschlossenen Systems von Teilchen bleibt erhal-ten. Anschaulich muß diese Eigenschaft aus ähnlichen Gründen gelten, diewir bereits bei Newtons drittem Axiom aufgeführt haben. Die Energie einesTeilchens hängt nun nicht nur von seinem Bewegungszustand ab (kinetischeEnergie T), sondern auch von seiner Lage gegenüber anderen Teilchen, die

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1.1 Begriffsbildung und Naturgesetze 17

mit ihm wechselwirken. Besteht ein System nun aus N Teilchen, so ist seineGesamtenergie laut der Newtonschen Mechanik die Summe der kinetischenEnergien, sowie die Summe der nicht doppelt gezählten Lageenergien,

Egesamt = T1 + T2 + · · ·+ TN + V12 + V13 + · · ·+ V1N + V23 + V24 + · · ·+V2N + V34 + V35 + · · ·+ V3N + · · ·+ V(N−1)N (1.31)

=N

∑i=1

Ti +N−1

∑i=1

N

∑j>i

Vij (1.32)

wobei wir nur elektrostatische Kräfte zulassen wollen und die Indices jeweilsangeben, für welche Teilchen die Ausdrücke für die kinetische und für diepotentielle Energie zu schreiben sind,

Ti =p2

i

2miund Vij =

14πǫ0

qiqj

|ri − r j|(1.33)

Der Ausdruck für die Gesamtenergie in Gl. (1.31) kann zu einem beliebigenZeitpunkt mit den dann geltenden Orten und Impulsen ausgewertet werden.In einer viele Jahre nach Newton gefundenen Neuformulierung der klassi-schen Mechanik von Hamilton und Lagrange, die auf skalaren Energiegrößenstatt vektoriellen Kräften basiert, kommt der Gesamtenergie Egesamt eine be-sondere Bedeutung zu, weshalb sie einen weiteren Namen bekommen hat.Man nennt sie auch Hamilton-Funktion H ≡ Egesamt.

Als Beispiel sei die Gesamtenergie eines abgeschlossenen Systems zweierwechselwirkender elektrischer Ladungen q1 und q2 mit den zugehörigen Mas-sen m1 und m2 gegeben,

Egesamt =p2

12m1

+p2

22m2

+1

4πǫ0

q1q2

|r1 − r2|=

2

∑i=1

p2i

2mi+

14πǫ0

q1q2

|r1 − r2|(1.34)

wobei die Orte und die Impulse zu einem willkürlichen Zeitpunkt bestimmtwerden können.

1.1.4.6 Potential und Feldstärke

Wenn man nur eine Ladung (oder nur eine Masse) betrachtet, dann möchteman die Möglichkeit der Wechselwirkung mit anderen Ladungen (oder Mas-sen) ausdrücken, ohne diese jedoch explizit zu verwenden. Letztere Ladun-gen (oder Massen) werden auch Probegrößen genannt, weil sie in einem Ex-periment eine Eigenschaft — die Ladung (oder die Masse) — unserer Aus-gangsladung (oder Ausgangsmasse) proben. Es bietet sich daher eine weitereAbstraktionsebene an. Wenn wir zum Beispiel eine Aussage über die Masseunserer Erde hinsichtlich ihrer Anziehungskraft treffen wollen ohne ein mas-sebehaftetes Teilchen als Probe für die Messung der potentiellen Energie oder

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18 1 Erste Schritte zur Theorie der Chemie

der Gravitationskraft zu verwenden, dann geben wir einfach diejenigen Teileder Gravitationsenergie oder Gravitationskraft an, die nicht von Eigenschaf-ten einer solchen Probegröße abhängen. Wir lassen also die Probeeigenschaft(die zweite Masse) einfach weg, d.h. wir reduzieren die Energie- und Kraft-Gesetze um die Probegröße. Aus der potentiellen Energie wird so das Potential

und aus der Kraft so die Feldstärke.Leider werden die Begriffe “Potential” und “potentielle Energie” oft syn-

onym gebraucht, obwohl sie nicht dasselbe meinen. Oft geht allerdings ausdem Zusammenhang hervor, ob die Lageenergie oder das zugehörige Poten-tial gemeint ist.

Gravitationspotential und elektrisches Potential lauten dann

PG(r) = −Gm1

|r − r1|und PC(r) =

14πǫ0

q1

|r − r1|(1.35)

wobei die ursprüngliche Position der Probegröße nun zu einem beliebigenOrt wird, r2 → r, an dem die Eigenschaft geprobt werden kann. Der Abstanddes Meßpunktes r vom Ort der Feldquelle, r1 ist nun so gewählt worden, dassman einen positiven radialen Abstand erhält, wenn man die Quellenladungq1 in den Nullpunkt des Koordinatensystems verschieben würde, r1 → 0, also|r1 − r| = |r − r1| → |r − 0| = |r| = r.

Man beachte die durchgängige formale Analogie dieser Gleichungen zuGravitation und Elektrostatik (hier: das Potential ist stets Konstante multipli-ziert mit Materialeigenschaft dividiert durch den Abstand des Teilchens zumMeßpunkt). Die Feldstärken für Gravitation und Elektrostatik ergeben sichdann als negative Ableitung der Potentialausdrücke nach den Raumkoordi-naten zu

G(r) = −Gm1r − r1

|r − r1|3und E(r) =

q1

4πǫ0

r− r1

|r− r1|3(1.36)

wobei vektorielle, also gerichtete Größen entstehen, weil man ja nach den drei

Raumkoordinaten ableiten muß. Die Nenner sind jedoch stets skalare Größen,da die Beträge (Längen) von Differenzvektoren zu verwenden sind. Dies istkonsistent mit der Tatsache, daß eine Kraft, also die Feldstärke multipliziertmit der Probegröße, natürlich auch eine vektorielle Größe ist (vgl. Gl. (1.29).Der Vektor der elektrischen Feldstärke E(r) = E(x, y, z) darf nicht mit demnicht fett geschriebenen Buchstaben für die Energie E, die eine skalare Größeist, verwechselt werden.

Um zu sehen, wie man auf die beiden Gleichungen für die Feldstärkekommt, leiten wir die Potentialausdrücke explizit ab. Diese Ableitung hat fürjede der drei kartesischen Koordinaten r = (x, y, z) separat zu erfolgen. Al-lerdings wird nicht die totale Ableitung, wie im Zusammenhang mit der Ge-schwindigkeit für die Zeit geschrieben, sondern die partielle Ableitung benö-

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1.1 Begriffsbildung und Naturgesetze 19

tigt (s. Anhang A.1.1). Weil in der Newtonschen Mechanik die Zeit stets un-abhängig von den Raumkoordinaten ist (erst in der genaueren EinsteinschenMechanik wird sich dies ändern), sind partielle und totale Zeitableitung einermechanischen Größe gleich. Da dies unabhängig gilt von der physikalischenGröße, die abgeleitet wird, ist es nützlich die Operation ‘Zeitableitung’ ohneAngabe dieser Größe zu schreiben als,

ddt

Newton=

∂t(1.37)

Diese mathematischen Objekte nennt man auch Ableitungsoperatoren. DerBegriff Operator bezeichnet also einen Satz mathematischer Operationen, diean einer Funktion vorzunehmen sind. Die Gleichheit von partieller und totalerAbleitung gilt allerdings nicht für die Ortsvariablen.

Für Richtungsableitungen an einem Ort r ist es lediglich notwendig die Ab-leitung nach einer Richtung unter Festhalten der Variablen der anderen Rich-tung zu bilden. Da auch die Ortsableitungen von verschiedenen physikali-schen Größen berechnet werden können, gehen wir wieder vor wie bei derZeitableitung und schreiben die Operationen der einzelnen partiellen Ablei-tungen nach den Ortskoordinaten als

∂/∂x , ∂/∂y , ∂/∂z (1.38)

Die Richtungsableitung ergibt sich dann als Vektor dieser Ableitungen undwird Gradient oder Nabla-Operator genannt,

∇ ≡

∂/∂x

∂/∂y

∂/∂z

(1.39)

Potential P und Feldstärke E stehen in derselben Beziehung wie potentielleEnergie Epot und Kraft F: Die Feldstärke ist der negative Gradient des Poten-tials.

F = −∇Epot und E = −∇P (1.40)

Also ist wie oben bereits besprochen der Gradient, also der Vektor der Ab-leitungen, auf die skalare Größe Potential anzuwenden, wobei der VektorFeldstärke entsteht. Am Beispiel des elektrischen Potentials, rechte Seite inGl. (1.35), ergibt sich zunächst für die partielle Ableitung nach x durch An-wendung der Kettenregel (s. Anhang) und Berücksichtigung der Definitiondes Abstands zweier Punkte im Raum, hier r1 und r, aus Gl. (1.27),

Ex(r) = − ∂

∂xPC(r) = − q1

4πǫ0

(

− 1|r − r1|2

)

︸ ︷︷ ︸

äußere Ableitung

12

1|r − r1|

︸ ︷︷ ︸

∂|r−r1|/∂x

2(x− x1)︸ ︷︷ ︸

∂(x−x1)2/∂x

=q1

4πǫ0

x− x1

|r − r1|3(1.41)

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20 1 Erste Schritte zur Theorie der Chemie

(und entsprechendes für die partiellen Ableitungen nach y und z), so dass sichder Gradient schreiben läßt als

E(r) = −∇ PC(r) =

∂PC(r)/∂x

∂PC(r)/∂y

∂PC(r)/∂z

=q1

4πǫ0

1|r− r1|3

x− x1

y− y1

z− z1

= − q1

4πǫ0

r1 − r

|r1 − r|3 (1.42)

Die hier angegebenen Feldstärken sind gegeben für ein kartesisches Koordi-natensystem, also für einen Raum aufgespannt von den Koordinaten x, y undz. Die beiden betrachteten Kräfte, Gravitationskraft und Coulomb-Kraft, hän-gen jedoch nur vom Abstand zweier Probegrößen (Massen oder Ladungen)ab. Die Gleichungen werden daher oft vereinfacht, wenn man sogenannte pro-

blemangepaßte Koordinaten verwendet, wie wir z.B. später bei der Diskussiondes Wasserstoffatoms noch sehen werden. Die oben angegebenen Potentiale,Gl. (1.35), nennt man auch Zentralfeldpotentiale, weil sie nur von einem skala-ren Abstand abhängen, einer relativen Koordinate, die wir r nennen wollen,also r ≡ |r − r1|.

1.1.4.7 Kugelkoordinaten

Die potentielle elektrostatische Energie hängt nur vom Abstand der beidenwechselwirkenden Ladungen ab und nicht von ihrer Orientierung zueinan-der. Die Orientierung läßt sich durch zwei Winkel, ϑ und ϕ, exakt angeben.Mit den neuen Koordinaten (r, ϑ, ϕ), die man Polar-, Kugel- oder sphärischeKoordinaten nennt, kann man dann jeden Punkt im Raum ansprechen, derauch in dem kartesischen Koordinatensystem durch x, y und z adressierbarist: r mißt dabei den Abstand vom Ursprung und die Winkel ϑ und ϕ definie-ren die Richtung, in die die (radiale) Länge r abgetragen wird. Diese Situationist in Abb. 1.2 dargestellt. Die Koordinate r heißt auch Radialkoordinate oderradialer Abstand.

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1.1 Begriffsbildung und Naturgesetze 21

y

x

z

r

ϕ

ϑ x = r sin ϑ cos ϕ (1.43)

y = r sin ϑ sin ϕ (1.44)

z = r cos ϑ (1.45)

Abbildung 1.2 Graphische Darstellung der Polarkoordinaten und Variablentransformations-gleichungen von Polarkoordinaten zu kartesischen Koordinaten. Die trigonometrischen Funk-tionen kann man räumlich interpretieren, wenn man bedenkt, dass der Radius eines Kreisesmultipliziert mit dem Sinus des abgetragenen Winkels gleich der Länge der Gegenkathete ist,während der Radius multipliziert mit dem Cosinus die Länge der Ankathete gibt. Die Kathe-ten beziehen sich auf das Dreieck, das bei Projektion des Radius bzw. seiner Projektion in diexy-Ebene auf die Koordinatenachsen entsteht.

Wenn wir die felderzeugende Ladung q1 in den Koordinatenursprung set-zen, also r1 ≡ 0, dann lassen sich die elektrostatische Energie, die elektrischeFeldstärke und die Coulomb-Kraft in diesen neuen Koordinaten schreiben als

Epot(r) =1

4πǫ0

q1

rund Er(r) =

14πǫ0

q1

r2 und Fr(r) =1

4πǫ0

q1q2

r2 (1.46)

wobei der vektorielle Charakter der letzten beiden Größen verlorengeht, weilwir uns nur auf den radialen Abstand r beschränken. In anderen Worten, beieinem vorgegebenen Abstand r zweier Ladungen kann man die eine um dieandere beliebig drehen, ohne daß sich die Anziehungs- oder Abstoßungskraftändert (ob die Ladungen sich anziehen oder abstoßen hängt nur vom Vor-zeichen der beiden Ladungen ab: zwei positive oder zwei negative Ladungenergeben ein positives Vorzeichen, so dass sich die beiden Ladungen abstoßen).

1.1.5Einheiten

Charakteristisch für alle bisher eingeführten mechanischen Größen ist, dassalle Gleichungen gleichzeitig auch zur Messung dieser Größen verwendetwerden können. So kann man die Geschwindigkeit messen, indem man inmöglichst kleinen Zeitintervallen die zurückgelegte Strecke mißt und Gl. (1.1)folgend dann die Geschwindigkeit berechnet. Um das aber tun zu können,muß man sich auf Maßeinheiten einigen, in denen Weg und Zeit gemessenwerden.

Im sogenannten MKS-System, wobei M für das Meter [m], K für das Ki-logramm [kg] (also tausend Gramm) und S für die Sekunde [s] stehen, wirddie Strecke in Metern und das Zeitinterval in Sekunden gemessen. Die Mas-

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22 1 Erste Schritte zur Theorie der Chemie

se wird in Kilogramm angegeben werden. Ein anderes Einheitensystem istdas cgs-System, wobei c für Zentimeter [cm] (also hundertstel Meter), g fürGramm [g] und s für Sekunde |s] stehen. Das MKS-System wird heute imallgemeinen verwendet. Welches Einheitensystem man verwendet hängt al-lerdings auch davon ab, welchen Aspekt der Natur man beschreibt. Ein fah-rendes Auto ist gut im MKS-System zu beschreiben. Die Bewegung von Ato-men, die extrem kleine Objekte sind, läuft jedoch auf sehr kleinen Zeit- undOrtsskalen ab. Man hat dann zwei Möglichkeiten: Wenn man weiterhin dasMKS-System verwendet, dann muß man mit sehr kleinen Zahlen, kompaktgeschrieben als Zehnerpotenzen, leben oder man führt neue Einheiten ein,die der Systemgröße angepaßt sind (ein Beispiel sind die sogenannten atoma-ren Hartree-Einheiten, in denen Ladungen als Vielfache der Elementarladunge und Massen als Vielfache der Elektronenmasse me angegeben werden).

Um im MKS-System einfacher mit sehr großen oder sehr kleinen Zahlen-werten arbeiten zu können, werden einbuchstabige Abkürzungen eingeführt.Diese Notation haben wir in zwei Beispielen bereits verwendet: 1000 g sind 1kg und 1/100 m ist 1 cm. Tabelle 1.1 gibt eine Übersicht über die für Einheitengebräuchlichen Präfixe.

Tabelle 1.1 Liste häufig verwendeter Präfixe vor Einheiten.

Name Abk. Faktor Name Abk. Faktor

hekto h 102 dezi d 10−1

kilo k 103 zenti c 10−2

mega M 106 milli m 10−3

giga G 109 mikro µ 10−6

tera T 1012 nano n 10−9

peta P 1015 piko p 10−12

femto f 10−15

atto a 10−18

Aus den elementaren Einheiten lassen sich leicht zusammengesetzte Ein-heiten für zusammengesetzte physikalische Größen ableiten, die oft mit eige-nem Namen belegt werden, wenn die betreffende Größe hinreichend wichtigist. Dies soll im folgenden an zwei Beispielen demonstriert werden. Die Kraftwird in Newton [N] gemessen, eine Einheit, die entsprechend Gl. (1.10) direktaus MKS-Einheiten zusammengesetzt wird und sich auch in cgs-Einheitenschreiben läßt,

1[N] = 1[kg][m

s2

]

= (1000[g])

[100cm

s2

]

= 105[g][cm

s2

]

(1.47)

Die Präfixe lassen sich also genauso verrechnen wie die Messwerte. Man sagt,die Kraft hat die Dimension einer Masse multipliziert mit einer Beschleuni-

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1.1 Begriffsbildung und Naturgesetze 23

gung und die Einheit [kg m/s2]. Als zweites Beispiel betrachten wir den me-chanischen Druck. Diese Größe läßt sich elementar abstrahieren. Offensicht-lich kann man den Druck p verstehen als eine Kraft, die auf eine bestimmteFläche A wirkt,

p =F

A(1.48)

(p darf hier nicht mit dem Betrag des Impulses verwechselt werden). Die Ein-heit des Drucks erhält man daher zu

1[

Nm2

]

= 1[

kg ms2 m2

]

= 1[

kgs2 m

]

≡ 1[Pa] (1.49)

was zur Definition des Pascals [Pa] dient.Viele Größen sind direkt auf mechanische Einheiten zurückzuführen. Ar-

beit und Energie haben entsprechend der bisherigen Diskussion dieselbenEinheiten. Da die Arbeit aus der Kraft multipliziert mit dem Weg berech-net wird, ist die Einheit von Arbeit und Energie [N m]. Diese zusammen-gesetzte Einheit wird aber auch 1 Joule [J] genannt. Manche Einheiten sindnicht (oder nicht notwendigerweise) auf mechanische Einheiten zurückzufüh-ren. Beispiele hierfür sind die Temperatur, die in Kelvin [K] gemessen wird,oder die elektrische Ladung, die in Coulomb [C] gemessen wird. All die-se Einheiten sind zusammengefaßt worden in einem empfohlenen Standard-Einheitensystem, dem sogenannten SI-System.

Das SI-System enthält nicht nur vernünftige Einheiten. Es gibt für elektro-statische Einheiten ein anderes System, das so gewählt wurde, dass der Pro-portionalitätsfaktor im Coulomb-Gesetz zu Eins wird; dies sind die sogenann-ten Gauß-Einheiten. Anders gesagt, im Gauß-Einheitensystem nimmt die Di-elektrizitätskonstante des Vakuums den Kehrwert von 4π an, ǫ0 = 1/4π, sodass 1/4πǫ0 = 1 wird.

Manche Größen wurden früh eingeführt, ohne dass ihre Bedeutung voll-ständig klar war. Unter solchen Bedingungen entstehen Einheiten, die dannspäter einer besseren Einheitenwahl weichen müssen. Die Einheiten der Tem-peratur sind hierfür ein Beispiel. Die Celsius-Skala, gemessen in Graden [◦C],ist eine typisch anthropogene Einheit, weil sie willkürlich den Nullpunkt derGradskala auf den Gefrierpunkt reinen Wassers und dann die Markierung bei100 ◦C dem Siedepunkt reinen Wassers zuweist, weil Wasser in unserem Le-ben eine große Rolle spielt. Erst später hat man festgestellt, dass es einenabsoluten Nullpunkt der Termperatur gibt, der bei −273,15 ◦C erreicht wird.Es ist daher vernünftig eine neue Skala zu definieren, die bei Null startet undkeine negativen Temperaturen zuläßt. Diese Skala ist die Kelvin-Skala [K]. DieSchrittweiten sind dabei gleich denen der Celsius-Skala, d.h. eine Temperatur-differenz von 1 ◦C entspricht ebenfall 1 K.

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24 1 Erste Schritte zur Theorie der Chemie

1.1.6Ein klassisches Modell der chemischen Bindung?

Wir haben nun sämtliche mechanische Begriffe eingeführt, die es uns erlau-ben, einen ersten theoretischen Vorstoß zum Verständnis von Molekülen auf-gebaut aus Atomen vorzunehmen. Die zentralen Fragen, die eine Theorie derchemischen Bindung erklären können muß, sind: was hält Atome zu einemMolekül zusammen und warum bilden nicht zwei Moleküle sofort wieder einneues, ein Supramolekül? Leider werden wir dabei feststellen, dass die klas-sische Mechanik eine nicht befriedigende Antwort liefert, obschon sie sich fürbestimmte Probleme (zum Beispiel in der Praxis der Biochemie) als sehr nütz-lich erweist.

Nach Dalton verbinden sich Atome zu Molekülen. Dies ist zunächst ei-ne Idee, die es erlaubt, eine Vielzahl experimenteller Daten in einem einzi-gen Konzept zusammenzufassen. Es stellt sich jedoch die Frage, wie diese‘Bindung’ der Atome physikalisch realisiert wird. Angenommen die Atomewürden durch massive “Stäbe” auf konstanter Distanz gehalten, dann könn-ten wir zwar fixe Bindungslängen angeben, doch könnten wir nicht erklä-ren, was die materielle Realisierung dieser “Stäbe” sein soll — und aus wel-chem elementareren Material könnten schon die Stäbe gemacht sein, wenn siedie unteilbaren Bestandteile, die Atome, zusammenhalten sollen. Sie könnenschließlich nicht auch aus Atomen bestehen, weil dies die Definition des Mo-lekülbegriffs verletzen würde (ein Wasser-Molekül besteht genau aus einemSauerstoffatom und zwei Wasserstoffatome und eben nicht aus weiteren Ato-men). Ein weiteres Argument verbietet uns, die Stäbe aus Atomen aufgebautzu denken: wenn es Atome wären, dann müßten wir erklären können, wiesoes spezielle Atome gäbe, die andere Atome zusammenhalten.

Dennoch erlaubt uns das ‘Stabbild’ ein mechanisches Modell der Molekülezu konstruieren. Wir sprechen hier von Modell statt von Theorie, weil a priori

klar ist, dass es sich um keinen ernsthaften Ansatz zur Erklärung des Ver-bunds von Atomen in einem Molekül handelt, denn genau diese Tatsachewird in das Modell hineingesteckt. Allerdings sind feste Stäbe eine zu star-ke Einschränkung. Man hat festgestellt — und wir werden dies später disku-tieren, wenn wir uns der richtigen theoretischen Beschreibung der Molekülein Kapitel 2 zuwenden —, dass sich Atome um ihre Gleichgewichtslagen imMolekül bewegen, also schwingen.

Die Vorstellung, dass Atome in Molekülen um ihre Gleichgewichtslagenschwingen, erfordert, die starren Stäbe zwischen den Atomen durch flexiblemechanische Federn zu ersetzen. Wie stark die Schwingung der Atome ist,hängt dann von der spezifischen Materialkonstante der Feder, der sogenann-ten Kraftkonstanten k, ab. Die Feder kann dann ausgelenkt werden, schwingtzurück und beschreibt so das Schwingungsverhalten der Atome im Molekül.Die Kraft F, die für die Auslenkung notwendig ist, sei proportional zur Aus-

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1.1 Begriffsbildung und Naturgesetze 25

lenkung (x− x0) (die Schwingung wird unter diesen Bedingungen harmonisch

genannt),

F = k(x− x0) (1.50)

wobei k zur Proportionalitätskonstanten wird und x0 die Gleichgewichtslängeder Feder beschreibt. Der Einfachheit halber wählen wir unser Koordinaten-system so, dass die Auslenkung der Feder in x-Richtung erfolgt, was uns eineetwas kompliziertere, dreidimensionale Betrachtung unter Verwendung vonVektoren erspart. Die zur Dehnung der Feder aufgewendete Arbeit W ergibtsich per Integration zu

W =∫ x

x0

dx k(x− x0) = k

[12

(x− x0)2]x

x0

=12

k(x− x0)2 (1.51)

und entspricht der potentiellen Energie, die der Feder durch Wirken derKraft zugeführt wird. Die potentielle Energie hat also die Form einer Para-bel, weil sie quadratisch mit der Auslenkung anwächst. Die Feder selbst hatdie Tendenz, in die Gleichgewichtslage zurückzukehren. Die Kraft dazu er-hält man wiederum als negativen Gradienten der potentiellen Energie, also als−k(x − x0). Das negative Vorzeichen stellt dabei sicher, dass diese Rückstell-kraft genau in die zur auslenkenden Kraft entgegengesetzte Richtung zeigt.

Natürlich erklärt dieses Federmodell eines Moleküls aufgebaut aus Atomennicht die Bindung der Atome, nicht nur, weil wir nicht sagen können, aus wasdenn die Federn bestehen sollen, sondern auch, weil es Parameter enthält,die wir geschickt wählen müssen, die das Modell selbst aber nicht erklärt. Wirmüssen also einen Wert für die Kraftkonstante k für jede Schwingung von Ato-men wählen, bevor wir das Schwingungsverhalten des Federmodells studie-ren können. Da verschiedene Atome unterschiedlich miteinander schwingen,sind verschiedene Kraftkonstanten für alle möglichen Schwingungstypen zuwählen. All diese offenen Probleme zeigen bereits, dass ein Molekülmodellauf Atombasis schlecht funktionieren kann. Es ist notwendig, den Aufbau derAtome selbst zu studieren, um so letztendlich zu verstehen, warum und wieAtome chemische Bindungen zur Bildung von Molekülen ausbilden.

Nichtsdestotrotz spielen diese klassischen Federmodelle in ausgereiftererForm eine bedeutende Rolle in der Theorie der Chemie und speziell in derPolymerchemie und in der Biochemie. Hier sind die Modelle unter dem Na-men Kraftfeldmodelle bekannt und erlauben das Studium von Federmodellenmit mehr als 100.000 Atomen, der typischen Größenordnung eines Proteins.Solche Simulationen können nur auf Computern durchgeführt werden, wieeine schnelle Abschätzung der Zahl der zu berücksichtigenden Federn zeigt.Wenn wir zwischen N Atomen paarweise Federn annehmen (ohne doppeltzu zählen und natürlich ohne Selbstwechselwirkungen von Atomen zuzulas-

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26 1 Erste Schritte zur Theorie der Chemie

sen), dann kommen wir auf (N2−N)/2 Federn, was bei hunderttausend (105)Atomen etwa 5×109, also 5 Milliarden Federn ergibt.

In Kraftfeldsimulationen verzichtet man bewußt auf ein tieferes Verständnisder chemischen Bindung zu Gunsten einer einfachen ‘Modellierbarkeit’. Dasgeht genau dann gut, wenn die Moleküle, die betrachtet werden sollen, zumeinen sehr ähnlich sind und sich zum anderen durch eine geringe Zahl ver-schiedener chemischer Bindungen klassifizieren lassen (sonst ist die Zahl derzu bestimmenden Kraftkonstanten zu groß — die Zahl der Federn reduziertsich dadurch natürlich nicht). Es ist auch klar, dass chemische Reaktionen mitdiesen Modellen nicht leicht beschrieben werden können, weil dazu die Federbrechen müßte. Dieser Fall wird bei harmonischen Schwingungen nicht ein-treten, weil die Rückstellkraft mit zunehmender Auslenkung ins unendlichewächst.

1.2Schlüsselexperimente

Unser modernes Bild des elementaren Aufbaus der Materie wurde entschei-dend in den Jahren von etwa 1800 bis 1920 geprägt und danach maßgeblicherweitert. Wir konzentrieren uns zunächst auf die erste Periode, die einenZeitraum von etwa hundert Jahren umfaßt. Die vielen experimentellen undtheoretischen Arbeiten in dieser Periode werden oft auf einige Schlüsselexpe-rimente reduziert. Dabei tritt der kollektive Charakter der wissenschaftlichenErkenntnis in den Hintergrund und man übersieht die vielen Diskussionenund Beiträge unzähliger Forscher, die letztlich das moderne Bild der Physikund Chemie geprägt haben. Bemerkenswert ist auch die rasante Geschwin-digkeit, mit der die wissenschaftlichen Erkenntnisse schon im 19. Jahrhundertgewonnen werden konnten.

Der detaillierte historische Ablauf kann hier kaum in hinreichender Tiefenachvollzogen werden. Lehrbücher wählen daher oft eine pseudo-historischeAuflistung von wichtigen Experimenten, die dann heute akzeptierte Faktenüber die Elementarteilchen zementieren. Diese Art der Darstellung impliziert,dass es nur einen beschränkten Satz von elementaren Teilchen gibt, der diegesamte materielle Welt aufbaut. Aber auch diese Annahme muß natürlich ex-perimentell verifiziert werden. Eine riesige Zahl an Experimenten bestätigtdiese Annahme, so dass es vernünftig ist, zu glauben, dass auch ein noch nichtdurchgeführtes Experiment diese Annahme nicht widerlegen wird. Beweisbarist eine solche Annahme natürlich nicht.

Hier soll ein etwas anderer Weg beschritten werden. Zwar streifen wir eben-falls die wichtigen historischen Stationen, dies aber auf einem Weg, dessenRichtung wir selbst durch Gedankenexperimente bestimmen. Auf diese Artund Weise sollte es möglich sein, nicht nur das zu denken, was sich letztlich

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1.2 Schlüsselexperimente 27

als richtig erwiesen hat, sondern auch die Fragen zu stellen, die sonst der ka-nonischen Darstellung zum Opfer fallen.

Die Experimente, die wir diskutieren werden, kann man zum Beispiel in derPhysik-Abteilung des Deutschen Museums in München ansehen und sogarselbst durchführen.

1.2.1Präparation des Untersuchungsobjekts

Sowohl in der Physik, als auch in der Chemie führt man Experimente so aus,dass das Untersuchungsziel ‘ungestört’ erreicht werden kann. In der Chemiebedeutet das, dass man Chemikalien nicht verwendet, die verunreinigt sind.Dasselbe gilt für physikalische Experimente, in denen man z.B. Legierungennur gezielt an Stelle reiner Metalle verwendet.

In der Chemie hat sich daraus ein Klassifizierungssystem entwickelt, dasaber nur beschränkt belastbar ist. Es soll hier dennoch kurz vorgestellt wer-den, weil es mit den experimentellen Ursprüngen der Chemie eng verwobenist. Zunächst unterteilt man alle Substanzen in Mischungen und in reine Stoffe.Reine Stoffe erhält man aus den Mischungen durch physikalische Methoden.Dies sind Methoden, die die chemische Zusammensetzung auf molekularerEbene nicht ändern. Mischungen kann man weiter unterteilen in homogene

und heterogene Phasen, eine Unterteilung die nur beschränkt trägt (wenn manan Milch oder Nebel denkt), weil sie offensichtlich damit zu tun hat, wie feinaufgelöst man die Mischung betrachten kann. Homogene Phasen können fest,flüssig oder gasförmig sein. Und selbst auf die Eindeutigkeit dieser Klassifi-zierung kann man sich nicht verlassen, weil zum Beispiel stäbchenförmigeMoleküle einen Zustand zwischen flüssig und fest einnehmen können (wiez.B. Flüssigkristalle in Anzeigen von Armbanduhren).

Reine Stoffe bestehen aus einer Ansammlung von einer Molekül- oderAtomsorte. Diese kann man mit chemischen Methoden (Reaktionen) weiterzerlegen. Zur Umwandlung oder Zerlegung von Molekülen ohne weitere Re-aktanten reichen oft auch rein physikalische Methoden wie das starke Erhit-zen oder die Bestrahlung mit Licht. Im Grenzfall erhält man bei allen Zerle-gungsverfahren dann die Atome.

1.2.2Kathodenstrahlen und das Elektron

Im 19. Jahrhundert führten viele Forscher und Gelehrte Experimente zur Elek-trizität durch — unter ihnen ist besonders Michael Faraday hervorzuheben,dessen Experimente Mitte des 19. Jahrhunderts James Clerk Maxwell zu sei-ner Theorie des (klassischen) Elektromagnetismus, also der Vereinigung allerelektrischen und magnetischen Phänomene zu einer klassischen, d.h. auf die

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28 1 Erste Schritte zur Theorie der Chemie

makroskopische Welt anwendbaren Theorie, führten. Maxwells Theorie lie-fert dadurch auch die erste Erklärung für das Phänomen ‘Licht’, wovon späternoch die Rede sein wird.

Mitte des 19. Jahrhunderts untersuchten verschiedene Forscher die soge-nannten Kathodenstrahlen, die man beobachten kann, wenn man eine Glüh-kathode und eine Anode mit einer Durchtrittsöffnung in eine evakuierbareGlasröhre einschmilzt (wie bei den alten Röhrenfernsehern). Für die entspre-chenden Versuchsskizzen sei hier und im folgenden auf Ihre Vorlesungs-mitschrift verwiesen! Liegt nun eine Spannung, d.h. ein elektrisches Feld E

an, so kann man auf einem der Durchtrittsöffnung gegenüberliegenden, in dieGlasröhre eingeschmolzenen Fluoreszenzschirm ein Aufleuchten beobachten.Da der Fluoreszenzschirm einen stetig leuchtenden Fleck zeigt, werden of-fensichtlich Strahlen aus den Elektroden gelöst. Weil sie aus der Kathode tre-ten und durch die elektrische Spannung zur Anode hin beschleunigt werden,nennt man sie Kathodenstrahlen. Per Konvention bezeichnen wir die Kathodeals negativ geladen und die Anode als positiv geladen. Folglich sind die Ka-thodenstrahlen elektrisch negativ geladen.

Um zu untersuchen, ob es sich um einen kontinuierlichen Ladungsstrahlhandelt, dimmen wir seine Intensität, indem wir die an die aufgeheizte Katho-de anliegende elektrische Spannung reduzieren und auch die Kathodentem-peratur zu kontrollieren versuchen. Wäre der Ladungsstrahl kontinuierlich,so würde der Lichtfleck auf dem Fluoreszenzschirm stetig immer schwächerwerden. Dies beobachten wir jedoch nicht. Stattdessen bemerken wir ab einerbestimmten Intensität ein Flackern. Weiteres Dimmen erniedrigt die Intensi-tät des aufleuchtenden Flecks nicht, sondern sorgt lediglich dafür, dass dasZeitinterval bis zum nächsten Aufleuchten sich verlängert. Daraus schließenwir, dass Kathodenstrahlen nicht kontinuierlich, sondern körnig sind und ebenaus kleinen Partikeln bestehen. Diese Partikel müssen auch die negative elek-trische Ladung tragen und werden Elektronen genannt.

Um nun zu untersuchen, ob verschiedene Metalle dieselbe Art Ladungsträ-ger enthalten, schmelzen wir in Glasröhren verschiedene Metalle als Katho-denmaterial ein. Eine Wiederholung des Experiments zeigt exakt dieselbenResultate, was auch für alle noch folgenden Kathodenstrahlexperimente gilt.Lediglich die genaue Einstellung von Spannung und Erwärmung der Katho-de ist anders im Dimmexperiment, was auf besondere Materialeigenschaftender Metalle deutet, die als Kathodenmaterial dienen.

Bevor wir unser Experiment weiter modifizieren, ist noch eine weitere Fest-stellung wichtig: Da wir den Versuch auf der Erde durchführen, können wirdie Erdanziehungskraft nicht abschalten. Wenn wir den Elektrodenstrahl be-obachten, so können wir praktisch keinen Höhenunterschied zwischen demLoch in der Anode und dem Leuchtfleck auf dem Fluoreszenzschirm fest-stellen. Die Gravitation, die den Kathodenstrahl nach unten, d.h. in Richtung

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1.2 Schlüsselexperimente 29

Erdmittelpunkt ablenken sollte, hat keinen nennenswerten Effekt. Nun könn-te man daraus schließen, dass Elektronen keine Masse besitzen und deshalbnicht auf eine Gravitationsanziehung reagieren. Soweit wollen wir aber nichtgehen und nehmen daher nur an, dass die Masse eines Elektrons sehr kleinist. Denn wenn die Elektronenmasse sehr klein ist, dann ist die Ablenkungnicht notwendigerweise beobachtbar, weil die Präzision der Höhenmessungdes Flecks vielleicht nicht ausreichte.

1.2.2.1 Anwendung elektrischer und magnetischer Feldern

Die aus der Kathode heraustretenden Elektronen können durch Anwendungelektrischer und magnetischer Felder beeinflußt werden, um so quantitativeMeßdaten über die elektrischen Eigenschaften der Elektronen zu erhalten. Wirentwerfen daher ein weiteres Experiment, für das wir in die Glasröhre zweiKondensatorplatten, sowie eine Spule einschmelzen.

Zunächst legen wir nur eine Spannung an den Plattenkondensator an. Wirsehen, dass der Kathodenstrahl nach unten abgelenkt wird, weil der Leucht-fleck auf dem Fluoreszenzschirm nach unten auswandert. Wenn y die Bewe-gungsrichtung der Elektronen und die negative z-Richtung die Auslenkungs-richtung, also auch die Richtung, in der das elektrische Feld E wirkt, ist, dannkönnen wir die Kraft berechnen, die auf jedes einzelne Elektron wirkt

F = qeE = −e

00Ez

=

00−e Ez

=

00Fz

(1.52)

dessen Ladung wir als qe = −e ansetzen, wobei wir die Elementarladung e

noch zu bestimmen haben. Man beachte, dass die Kraft keine Beiträge in x-und y-Richtung hat, weil wir den Versuch entsprechend fahren. Ferner mußbetont werden, dass wir die Stärke des elektrischen Feldes in z-Richtung, Ez,durch Anlegen einer elektrischen Spannung an den Kondensator kontrollie-ren und daher einstellen können.

Wenn dagegen die Spule stromdurchflossen wird, während der Konden-sator nicht unter Spannung steht, wirkt auf die Elekronen eine magnetischeKraft, die auch von der Geschwindigkeit der Elektronen ve abhängt undLorentz-Kraft FL genannt wird,

FL = qe ve × B = −e

0ve,y

0

×

Bx

00

=

00

e ve,y Bx

(1.53)

wobei ‘×’ ein Vektorprodukt (Kreuzprodukt) bezeichnet und B die sogenann-te magnetische Kraftflußdichte ist, die im Magnetismus die Rolle einer Feld-stärke spielt — analog dem E in der Elektrostatik. Die nichtverschwinden-

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30 1 Erste Schritte zur Theorie der Chemie

den Einträge in den Vektoren sind wiederum durch den Versuchsaufbau be-stimmt. Man beachte, dass die Struktur der Gleichungen stets gewahrt bleibenmuß: Die Kraft ist eine vektorielle Größe und daher muß auch auf der rechtenSeite ein Vektor enstehen (hier garantiert durch das Vektorprodukt).

Wenn wir nun die beiden Experimente mit dem elektrischen und dem ma-gnetischen Feld vergleichen, stellen wir fest, dass beide ein Elektron in z-Richtung auslenken, aber in entgegengesetzte Richtung. Das bedeutet, dass wirbeide Felder von außen so einstellen können durch Wahl von Ez und Bx, dasssie sich exakt kompensieren und die Elektronen auf ihrer Flugbahn nicht ab-lenken, was wir leicht durch die Position des Leuchtflecks kontrollieren kön-nen. Mathematisch können wir für diesen Fall dann schreiben,

Fgesamt = 0 ⇒ Fz!= 0 = −e E

eqz + e ve,yB

eqx (1.54)

wobei wir die spezielle Wahl der Feldstärkenkomponenten mit einem hoch-gestellten Index ‘eq’ gekennzeichnet haben. Aus diesem Kräftegleichgewichterhalten wir so eine Gleichung zur Berechnung der Geschwindigkeit der Elek-tronen auf ihrer Bahn zum Fluoreszenzschirm,

e Eeqz = e ve,yB

eqx ⇒ ve,y =

Eeqz

Beqx

(1.55)

beziehungsweise

ve =

0ve,y

0

=

0E

eqz /B

eqx

0

(1.56)

Es stellt sich als nächstes die Frage, ob wir durch geschickte Wahl der Feldernicht auch die Elementarladung e bestimmen können. Dazu legen wir wieder-um nur das elektrische Feld Ez an. Die dadurch wirkende Kraft erzeugt nachNewton eine Beschleunigung,

Fz = meaz!= qeEz ⇒ az

qe=−e= − eEz

me(1.57)

Die Ablenkung des Lichtflecks auf dem Fluoreszenzschirm, der sich unmit-telbar hinter dem Plattenkondensator befinden muß, um diese Berechnungzu erlauben, berechnet sich leicht aus Gl. (1.16), die hier direkt für den Fallvz,start = 0 verwendet werden kann,

∆z =12

azt2 (1.57)= − eEz

2met2 (1.58)

Die Flugszeit t durch den Kondensator errechnet sich leicht aus der konstan-ten Geschwindigkeit in y-Richtung,

t =l

ve,y(1.59)

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1.2 Schlüsselexperimente 31

wobei die Länge des Kondensators l genannt wurde. Damit erhalten wir fürdie Ablenkung in z-Richtung,

∆z = − eEz

2me

l2

v2e,y

(1.60)

Diese Gleichung enthält nun nur noch meßbare Größen, so dass wir nach denMaterialkonstanten eines Elektrons auflösen können,

qe

me=−e

me= −

2v2e,y∆z

Ezl2 = −1, 75882012(15) · 1011 Ckg

(1.61)

Wir können also Ladung und Masse des Elektrons nicht unabhängig vonein-ander messen und müssen uns ein weiteres Experiment überlegen, dass unsentweder e oder me liefert — die jeweils andere Naturkonstante kann dannaus Gl. (1.61) berechnet werden.

1.2.3Der Millikan-Versuch

Um 1910 fand der Amerikaner Millikan einen Weg, um die Elementarladung e

experimentell zu bestimmen. Dieser als Millikanscher Öltröpfchenversuch be-kannt gewordene Versuch wird wie folgt durchgeführt: In einen Plattenkon-densator werden Öltröpfchen eingespritzt, die dann aufgrund der Schwer-kraft langsam nach unten (Richtung Erdmittelpunkt) sinken. Dieses Sinkendes Tröpfchen im Ölnebel zwischen den Kondensatorplatten kann man miteinem Mikroskop beobachten. Bei dem schnellen Zerstäuben des Öls kannes schon zu einer elektrischen Aufladung der Teilchen gekommen sein. Mankann dieses Laden der Tröpfchen aber auch durch Röntgenstrahlung indu-zieren. Wenn nun der Plattenkondensator geladen wird, also ein elektrischesFeld wirkt, steigen die Öltröpfchen wieder nach oben, wenn die elektrischeKraft die Erdanziehung übersteigt. Wenn sie betragsmäßig gleich sind, waswir durch ein Schweben der Tröpfchen feststellen, können wir wieder von ei-nem Kräftegleichgewicht profitieren

qT Ez = mT g (1.62)

wobei wir die Sinkrichtung als z-Richtung definiert haben und alle Tröpf-cheneigenschaften mit dem Index ‘T’ versehen haben. Auf der rechten Seitewurde für Newtons Ausdruck für die Kraft direkt die Erdbeschleunigung g

eingesetzt. Diese so aufgestellte Gleichung kann uns nun zur Messung derTröpfchenladung qT dienen,

qT =mT g

Ez(1.63)

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32 1 Erste Schritte zur Theorie der Chemie

Dazu benötigen wir allerdings die Masse mT des Tröpfchens, das wir durchdas Mikroskop gerade betrachten. Wenn wir die Dichte ρ des Öls kennen,könnten wir versuchen den Durchmesser des Tröpfchens im Mikroskop zuvermessen, daraus das Volumen dieses Tröpfchens berechnen und dann perρ = mT/VT die Masse erhalten. Man kann die Massenmessung allerdings ge-nauer vornehmen.

Die feldfrei sinkenden Tröpfchen nehmen nach einiger Zeit eine maxima-le Geschwindigkeit an, die durch weitere Erdanziehung nicht erhöht werdenkann. Der Grund hierfür ist die Reibung der Tröpfchen bei ihrer Bewegugdurch die Luft zwischen den Kondensatorplatten. Dieser Bremswirkung kannman eine Kraft zuordnen, die Reibungskraft FR = f vmax, die proportionalzur Geschwindigkeit ist, wobei die Proportionalitätskonstante f Reibungsko-effizient genannt wird. Aus dem Kräftegleichgewicht des feldfreien Sinkenserhalten wir dann

mT g = f vmax ⇒ mT =f vmax

g(1.64)

wobei f für Luft und g bekannt sind, während vmax durch Beobachtung derOrtsänderung im Mikroskop oder durch das sogenannte Stokesssche Rei-bungsgesetz FS = −6π η vr erhalten werden kann (die Stokes Formel bein-haltet die Viskosität der Luft η und die charakteristische Größe für die Formder Teilchen (Kugeln), nämlich ihren Radius r).

Wenn man nun die Messung von qT an sehr vielen Tröpfchen durchführtfindet man folgendes allgemeines Ergebnis:

qT = n (−e) mit n ∈ N (1.65)

Die Ladung der negativ geladenen Tröpfchen ist also ein ganzzahliges Vielfa-ches (n) einer elementaren Ladung e. Aus vielen Messung von qT unterschied-licher Tröpfchen können wir auf e extrapolieren und erhalten diese zu

e = 1, 602177 · 10−19C (1.66)

(wobei dies der Wert ist mit einer Genauigkeit, die uns heute aus anderen Ex-perimenten zugänglich ist). Da wir aus dem Kathodenstrahlexperiment schoneinen Wert für den Quotienten e/me erhalten haben, ergibt sich so die Elektro-nenmasse zu

me = 9, 10939 · 10−31kg (1.67)

1.2.4Kanalstrahlen

Bisher haben wir uns nur mit negativen Ladungsträgern beschäftigt und alselementares Teilchen das Elektron identifiziert. Weil Materie nach außen elek-

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1.2 Schlüsselexperimente 33

trisch neutral ist, muß es also zur Kompensation der negativen Ladung positi-ve Ladungsträger geben. Die kleinsten dieser positiven Ladungesträger wur-den in sogenannten Kanalstrahlen entdeckt. Kanalstrahlen können ebenfallsin einer Glasröhre gefüllt mit Wasserstoffgas mit zwei Elektroden beobach-tet werden, wenn die Kathode ebenfalls ein Loch, den Kanal, enthält. Auf dienegativ geladene Kathode werden dann positive Ladungsträger beschleunigt,die man als Kerne von Wasserstoffatomen identifiziert hat und die man Proto-

nen nennt. Die Kathodenstrahlen ionisieren das Diwasserstoffgas und produ-zieren dabei diese positiv geladene Wasserstoffatome, die man ebenfalls mitelektrischen und magnetischen Felden untersuchen kann, wie zuvor bespro-chen für die Elektronen. Aus Elektroneutralitätsgründen ist die Ladung einesProtons umgekehrt zu der eines Elektrons, also qp = +e (ein Wasserstoffatommuß ungeladen sein, weil es nicht durch elektrische Felder beeinflußt wird).

1.2.5Das Rutherfordsche Streuexperiment

In einem klassischen Experiment zeigte Rutherford in den Jahren 1911–1913,dass Materie aus Atomkernen besteht, in denen die positive Ladung einesAtoms konzentriert ist. Die Atomkerne werden von den sich bewegendenElektronen umgeben, die wir im Kathodenstrahlexperiment aus ihrem Ver-bund durch Energiezuführung herausgelöst haben.

Der Rutherford-Versuch ist ein sogenanntes Streuexperiment, bei dem einStrahl auf das Untersuchungsobjekt gelenkt und von diesem abgelenkt wird.Die winkelaufgelöste Ablenkung des Strahls wird dann untersucht und mußvon einer theoretischen Modellierung korrekt reproduziert werden. Die Strah-len, die hier verwendet worden, nennt man α-Strahlen. Sie werden von ver-schiedenen Metallen emittiert, beispielsweise von Polonium, und könnenPhotoplatten durch Abscheidung elementaren Silbers aus Silbersalz in diesenPlatten schwärzen. Sie sind elektrisch positiv geladen und können daher Ex-perimenten zur Untersuchung ihrer Eigenschaften unterworfen werden, diewir schon am Beispiel der Kathodenstrahlen diskutiert haben. Man hat spätererkannt, dass es sich bei ihnen um Heliumatomkerne handelt. Im Rutherford-Versuch ist das Untersuchungsobjekt dünn ausgewalzte Goldfolie, die etwa0,004 mm dick ist und daher nur aus einigen 1000 Atomlagen besteht. Manverwendet Goldfolie, weil sich diese sehr dünn auswalzen läßt, so dass die aufsie treffenden Strahlen prinzipiell durch sie durchtreten können (ein massiverGold-Metallblock ist nicht durchdringbar).

Im Streuexperiment beobachtet man nun, dass ein Großteil der α-Strahlendurch die Folie treten und detektiert werden können (durch Photopapier zumBeispiel). Ein Teil der Strahlen wird aber auch abgelenkt und sogar direktzurückgeworfen. Diese streuwinkelabhängige Intensitätsverteilung (Schwär-

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34 1 Erste Schritte zur Theorie der Chemie

zungsverteilung) muß nun durch eine Theorie beschrieben werden. Dabeimuß die Streutheorie zum Erkenntnisgewinn alle denkbaren Fälle behandeln.Einer dieser Fälle ist die Gleichverteilung von Elektronen und positiven La-dungsträgern im Goldmetall. Ein anderer ist die Konzentration der positivenLadung in Teilchen, die man Atomkerne nennt. Rutherford fand nun, dass dasStreuergebnis nur unter Annahme von positiv geladenen Atomkernen rich-tig beschrieben werden kann. Wegen der Stärke der elektrischen Kraft ist dieStreuung der α-Strahlen ein Prozeß, der allein auf der elektrostatischen Absto-ßung der beteiligten Teilchen beruht. Der Rückstoß erweist sich dabei als ver-nachlässigbar, was darauf hindeutet, dass sämtliche Masse eines Gold-Atomsebenfalls im Atomkern konzentriert ist. Aufgrund der Elektroneutralität einesGold-Atoms müssen 79 positive Elementarladungen im Atomkern zu findensein. Da sie Vielfache der Elementarladung sind, gehen wir davon aus, dasses sich um 79 Protonen handelt.

Man beachte im besonderen, dass die α-Teilchen nicht durch direkten Stoßan den Atomkernen gestreut werden, was aufgrund der kleinen Größe derAtomkerne zu unwahrscheinlich wäre und die Intensität an zurückgestreu-ten Teilchen nicht erklären könnte, sondern am elektrischen Potential der Gold-atomkerne. Daher nennt man diese Rutherford-Streuung auch Potentialstreu-

ung. Die α-Teilchen werden aufgrund der abstoßenden elektrischen Kräf-te schon in großer Entfernung vom Atomkern abgelenkt. Interessanterwei-se reicht es für die qualitativ richtige Beschreibung des Streuergebnisses aus,den Atomkern sogar nur als punktförmig anzunehmen. Das bedeutet, dassnahezu der gesamte Raum, den ein Atom einnimmt, von den Elektronen be-ansprucht wird. Die anziehende elektrische Wechselwirkung von Elektronender Goldfolie und den α-Teilchen kann vernachlässigt werden.

Es stellt sich nun noch die Frage, wieso positiv geladene Atomkerne räum-lich so klar von den sie umgebenden Elektronen in Molekülen und Festkör-pern getrennt sind (warum bewegen sich Elektronen und Atomkerne nichtwillkürlich durcheinander?). Auch diese Beobachtung muß (und wird) durchdie zu entwickelnde Theorie des Aufbaus der Materie erklärt werden.

1.2.6Neutronen

Eine genaue experimentelle Untersuchung der Massen der Atomkerne zeigt,dass die Masse nicht allein durch Vielfache der Protonenmasse erklärt wer-den kann. Analog zu den bisher besprochenen Experimenten können wir inelektrischen Feldern Wasserstoffatomkerne H+ und Helium-Atomkerne He2+

hinsichtlich ihrer Masse vermessen. Dabei findet man

mH+ = 1, 67 · 10−27kg (1.68)

mHe2+ = 6, 645 · 10−27kg (1.69)

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1.2 Schlüsselexperimente 35

Wenn also die Masse des H+ der Protonenmasse entspricht, stellen wir fest,dass die He2+-Masse nicht das doppelte der Protonenmasse ist, wie wir auf-grund der Elektroneutralität von He-Atomen vermuten würden, sondern eherdas vierfache ist. Dies führte Rutherford 1920 zum Postulat eines weiterenElementarteilchens, das natürlich elektrisch ungeladen sein mußte, weil manes sonst schon eher entdeckt hätte, und daher Neutron genannt wird. Erst1932 gelang es Chadwick das Neutron (indirekt) durch die Ionisierung vonGasatomen nachzuweisen. Der oben betrachtete He-Kern enthält demnachzwei Neutronen zusätzlich zu den zwei Protonen, was man im Elementsym-bol ausdrückt als 4

2He2+, oder allgemein AZ ELadung, wobei E das Elementsym-

bol ist, Z die Ordnungszahl, die gleich der Zahl der Protonen im Atomkernist, und A die Massenzahl ist, also die Summe an Protonen und Neutronen imKern.

Bei genauerer Untersuchung hat man dann festgestellt, dass die Atomsor-ten eines Elements keineswegs gleich sein müssen, obwohl sie sich chemischim wesentlichen gleich verhalten. Im Falle des Heliums hat man einen wei-teren Atomkern entdeckt, der nur ein Neutron statt zwei besitzt und daherals 3

2He2+ bezeichnet wird. Verschiedene Sorten von Atomkernen nennt manIsotope.

1.2.7Licht

Mitte des 19. Jahrhunderts gelang es James Clerk Maxwell, die Beobachtun-gen der Elektrizitätslehre und des Magnetismus in einer gemeinsamen Theo-rie zu vereinigen, die seitdem Elektromagnetismus genannt wird. Maxwell fanddadurch heraus, dass Elektrizität und Magnetismus nicht zwei verschiedeneErscheinungen sind, sondern dass beide auf der ruhenden und bewegten elek-trischen Ladung beruhen. Dazu formulierte er vier Grundgleichungen für dieFeldstärken E und B, sowie für zwei weitere Größen, die diese Felder charak-terisieren. Aus diesen vier Grundgleichungen konnte Maxwell zwei Wellen-gleichungen (s. Anhang) für die Feldstärken ableiten

∂2E

∂t2 =1

µ0ǫ0

[∂2E

∂x2 +∂2E

∂y2 +∂2E

∂z2

]

≡ 1µ0ǫ0

∆E (1.70)

∂2B

∂t2 =1

µ0ǫ0

[∂2B

∂x2 +∂2B

∂y2 +∂2B

∂z2

]

≡ 1µ0ǫ0

∆B (1.71)

wobei µ0 die magnetische Feldkonstante des Vakuums ist, die auch Permeabi-lität genannt wird. Auf der rechten Seite haben wir den sogenannten Laplace-Operator eingeführt,

∆ ≡ ∂2

∂x2 +∂2

∂y2 +∂2

∂z2 (1.72)

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36 1 Erste Schritte zur Theorie der Chemie

der es uns gestattet die Wellengleichungen sehr kompakt zu schreiben undder als Skalarprodukt zweier Nabla-Operatoren verstanden werden kann

∆ = ∇T · ∇ = ∇2 (1.73)

Diese Schwingungsgleichungen erlaubten es, elektromagnetische Schwin-gungsphänomene zu beschreiben, im speziellen z.B. von Antennen ausge-sendete Radiowellen. Die Ausbreitungsgeschwindigkeit v dieser elektroma-gnetischen Wellen kann in einer Wellengleichung dem Vorfaktor des Laplace-Operators entnommen werden, denn dieser ist gleich v2 = v2. Für die Aus-breitungsgeschwindigkeit der elektromagnetischen Wellen erhalten wir also

c2 =1

µ0ǫ0⇒ c =

1µ0ǫ0

(1.74)

wobei wir den für elektromagnetischen Wellen gebräuchlichen Buchstaben c

verwendet haben. Setzt man nun die bekannten Meßwerte für µ0 und ǫ0 ein,dann stellt man fest, dass sich die Lichtgeschwindigkeit des Vakuums ergibt.Maxwells Theorie des Elektromagnetismus liefert so eine Interpretation vonLicht als sich ausbreitende elektromagnetische Welle!

1.2.7.1 Beugung und Interferenz

Der Wellencharakter des Lichts wird eindrücklich in Experimenten zur Beu-gung von Licht am Spalt und zur Interferenz am Doppelspalt deutlich (s. Abb.1.3). Wenn Licht durch einen Spalt in einer Wand hinreichend kleiner Breitetritt, dann kann man das Licht nicht nur in Strahlrichtung, sondern auch da-von abweichend detektieren, wo es eigentlich nicht zu finden sein sollte, wennes sich nur geradlinig ausbreiten würde. Auch bei Wasserwellen kann manderartige Beugungseffekte beobachten und so geht man nach Huygens davonaus, dass der Spalt sich so verhält wie eine Lichtquelle, von der sich das Lichtals elektromagnetische Welle in alle Richtungen ausbreitet. Dabei wird jederPunkt im Spalt zu einer Quelle und man kann immer zwei Punkte paarwei-se gruppieren, deren Licht dann konstruktiv oder destruktiv, abhängig vomBeobachtungswinkel zur Strahlrichtung, interferiert, sich also verstärkt oderauslöscht, je nachdem ob Wellenberge beziehungsweise Wellentäler am De-tektor aufeinandertreffen (die Lichtintensität ist proportional zum Quadratder elektrischen Feldstärke). Der Interferenzeffekt wird besonders deutlich,wenn man zwei Lichtquellen hat, deren Licht in einer festen Phasenbeziehungsteht, man sagt kohärent ist. Während man heute solches Licht durch Laser er-zeugt, konnte man es früher durch zwei Spalte in der Wand erzeugen.

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1.2 Schlüsselexperimente 37

A C

d > λ

Intensität

d < λ

Intensität

B

d < λ

Quelle

Spalt Detektor

Intensität

Intensität

Abbildung 1.3 Licht das auf einen Spalt in einer Wand fällt kann hinter dem Spalt mit ab-nehmender Intensität auch dort detektiert werden, wo es eigentlich nicht zu finden sein sollte,wenn es geradlinig durch den Spalt treten würde. Das Licht wird gebeugt und die gemesse-ne Beugungsfigur kann erklärt werden, wenn man sich vorstellt, dass der Spalt selbst zu ei-ner Lichtquelle wird, von der aus eine Kugelwelle ausgeht (A). Unter bestimmten Umständenbeobachtet man in der Beugungsfigur kleine Maxima an Lichtintensität neben dem Haupt-maximum (B). Diese Struktur in der Beugungsfigur wird verstärkt, wenn das Licht auf zweiSpalte gleichzeitig scheint (C), so dass ein ausgeprägtes Interferenzmuster entsteht. MaxwellsTheorie des Elektromagnetismus beschreibt Licht als elektromagnetische Wellen, die sichkonstruktiv und destruktiv überlagern können (wenn in Phase, also wenn kohärent, was durchdie Spalte garantiert wird).

1.2.7.2 Quantennatur von Licht und der Welle–Teilchen-Dualismus

Wenn die elektromagnetische Theorie des Lichts richtig ist, dann kann mandie Intensität des Lichts kontinuierlich auf Null dimmen. Experimentell kannman das durch immer stärker werdende Filtersysteme erreichen. Allerdingswird die Intensität dann so schwach, dass dies experimentell nicht mehr leichtbeobachtbar ist. Mit modernen Methoden kann man aber auch noch sehrschwaches Licht detektieren und verwendet dazu einen speziellen Detektor(eine sogenannte CCD-Kamera, wobei CCD für charge-coupled device steht),die eintreffendes Licht verstärken kann. Studiert man nun mit diesem Detek-tor das immer weiter abgeschwächte Licht, dann stellt man genau nicht fest,was Maxwells Theorie voraussagt: Statt eines immer schwächer werdendenSignals wird ab einem bestimmten Abschwächungsgrad eine konstante In-tensität beobachtet, die aber zu flackern beginnt. Dimmt man das Licht nochweiter, so flackern die vom Detektor aufgezeichneten Signale immer langsa-mer — aber bei konstanter Intensität.

Das Dimm-Experiment zeigt klar, dass Licht keine elek-tromagnetische Welle sein kann. Man ist gezwungen Lichtals ‘körnig’ zu betrachten, als quantisiert, wie man sagt.Licht besteht also tatsächlich aus einzelnen Teilchen, dieman Photonen nennt.

An dieser Stelle sind wir nun also auf ein Paradox gestoßen: Zuerst habenwir Licht als Welle (elektromagnetischer Felder) interpretiert und nun stellen

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38 1 Erste Schritte zur Theorie der Chemie

wir fest, dass es partikulär ist und eben aus Lichtteilchen besteht. Diese pa-radoxe Situation trägt den Namen Welle–Teilchen-Dualismus. Landläufig willman damit festhalten, dass sich Licht mal so (Welle) oder mal so (Teilchen)verhält. Das ist aber zu naiv gedacht und die Natur der Dinge nicht wirklichdurchdrungen, wie wir noch zu diskutieren haben, denn Licht verhält sich im-mer wie Licht und nicht wie etwas, das wir hineininterpretieren müssen. ImFalle des Lichts hat der Welle–Teilchen-Dualismus noch einen gewissen Char-me, weil wir zuvor sogar eine Wellengleichung schreiben konnten, die be-schreibt, welche orts- und zeitveränderlichen elektrischen und magnetischenFelder von sehr vielen Photonen erzeugt werden. Das wird später schwieriger,wenn wir dieselbe Frage für Elektronen untersuchen.

Was geschieht nun, wenn wir das Doppelspaltexperiment mit einzelnenPhotonen (also mit stark abgeschwächtem Licht) durchführen? Natürlich de-tektiert die CCD-Kamera dann nur einzelne Photonen und es blitzt also hinterdem Doppelspalt nur kurz auf. Wenn dieses Experiment nun viele Male wie-derholt wird und wir die Signale an der CCD-Kamera akkumulieren, dannwuerde man erwarten, zwei überlagerte Beugungsfiguren zu sehen. Schließ-lich haben wir zwei Spalte und jeder Spalt wird das Licht (die Photonen) beu-gen, so dass pro Spalt eine Beugungsfigur wie in Abb. 1.3(A) gezeigt ent-steht — schliesslich muss das Photon auf dem Weg zur CCD-Kamera ent-weder durch den einen oder durch den anderen Spalt geflogen sein. Wegender räumlichen Trennung der beiden Spalte sind die beiden Beugungsfigu-ren etwas versetzt und sollten sich einfach zu einem Doppelmaximumbildder Intensität überlagern. Dies wird jedoch nicht beobachtet! Tatsächlich beob-achtet man das Interferenzbild aus Abb. 1.3(C). Dieser Befund ist nun deshalbso schwer zu erklären, weil wir Interferenz nach der Welleninterpretation nurverstehen können, wenn Licht durch beide Spalte gleichzeitig tritt. Das aber ge-nau würden wir aufgrund unseres Experiments eigentlich ausschließen wol-len, weil wir ja wissen, dass nur einzelne Photonen auf dem Weg von Licht-quelle durch Spalt zum Detektor sind.

Wir untersuchen also nacheinander einzelne Teilchen (Photonen) und stel-len fest, dass sie sich in der zeitlichen Summe verhalten wie intensives Licht,das gleichzeitig die zwei Spalte durchtreten hat. Wir messen ein (aufsummier-tes) Interferenzbild für einzelne Teilchen, obwohl wir gerade diese Eigen-schaft einem Wellencharakter der Materie entsprechend des Welle–Teilchen-Dualismus zuordnen wollten. Die Konsequenz ist nun nicht, dass man demWelle–Teilchen-Dualismus einen tieferen mythischen Charakter zuschreibenmuß, sondern, dass man ihn aufgeben muß. Man erkennt hier ganz klar, dassder Welle–Teilchen-Dualismus ein anthropogenes Konzept ist, das sich im we-sentlichen nur aufgrund historisch gefaßter und heute obsolet gewordenerAnnahmen und Bilder begründen läßt. Es ist der elementaren Materie schlichtgleichgültig, welches Bild wir uns von ihr machen. Wir müssen lernen, dass

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1.2 Schlüsselexperimente 39

wir Theorien finden müssen, die uns erklären, was wir messen (werden) unddabei müssen wir uns davon verabschieden, erkennen zu wollen, was einPhoton (oder Materie allgemein) ist. Diese Erkenntnis tut dem Projekt ‘Na-turwissenschaft’ aber keinen Abbruch, weil es eine großartige Erkenntnis ist,zu wissen, was die elementaren Objekte sind, die alle Materie aufbauen, undwie sie sich bewegen und miteinander wechselwirken. Eine Theorie, die diesleistet, haben wir aber offensichtlich noch nicht kennengelernt. Dies leistet erstdie im Kapitel 2 einzuführende (moderne) Quantenmechanik, für deren Ent-wicklung es entscheidend war, sich darauf zu konzentrieren, nur das zu be-schreiben, was tatsächlich meßbar ist.

Mit diesen Einsichten sehen wir das Interferenzbild des Doppelspaltexperi-ments, das die Beschreibung des Lichts als elektromagnetische Welle zunächstzementierte, von einer neuen Perspektive: Wenn wir das Detektorsignal, daseinzelne Photonen, die durch den Doppelspalt treten, auslösen, über die Zeitsummieren, sehen wir ein Interferenzbild. Das bedeutet doch, dass wir dasInterferenzbild auch sehen werden, wenn wir viele Photonen auf den Dop-pelspalt treffen lassen. Wir müssen nur nicht mehr solange warten, bis hin-reichend viele Einzelsignale akkumuliert wurden. Wenn nun sehr, sehr vielePhotonen unterwegs sind, wird offensichtlich die Interferenzfigur instantanentstehen. Und so erhalten wir also das Interferenzbild zwanglos aufgebautaus den Einzelsignalen der einzelnen Photonen — elektromagnetische Wellenwerden nicht mehr benötigt. Natürlich haben wir erst dann einen vollwerti-gen Ersatz für Maxwells Theorie, wenn wir eine Theorie des Bewegungsver-haltens der Photonen aufstellen können.

Hier zeigt sich also ein interessanter Aspekt der Theoriebildung. Maxwellselektromagnetische Theorie erklärt Licht nur auf der makroskopischen Ebene,wenn elektromagnetische Effekte sehr vieler Photonen beobachtet werden. Siebricht zusammen, wenn es um einzelne Lichtteilchen geht. Es muß also einegrundlegendere Theorie geben, die es uns gestattet einzelne Photonen zu be-schreiben und die beim Studium sehr vieler Photonen in die Theorie von Max-well übergeht, denn diese ist experimentell sehr gut bestätigt. Die Entdeckungder Quantenmechanik für Elektronen und Kernteilchen in den 1920er Jah-ren legte den Grundstein für diese allgemeinere Theorie. Sie zu formulierengelang jedoch erst 1949. Ihr Name ist Quantenelektrodynamik (QED) und sieist die fundamentale Theorie der Chemie, wenn man (zu Recht) annimmt,dass sämtliche chemischen Prozesse dominiert sind durch ausschließlich elek-tromagnetische Wechselwirkungen. Die QED beschreibt die quantenmecha-nische Bewegung und Wechselwirkung von Elektronen und Photonen. Manhat festgestellt, dass die elektromagnetische Wechselwirkung der Elektronendurch Photonen vermittelt wird, eine Erkenntnis, die schon durch MaxwellsArbeiten nahegelegt wurde, weil Elektronen elektromagnetische Kräfte auf-einander ausüben. Leider ist der Theorie-Apparat der QED sehr kompliziert.

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40 1 Erste Schritte zur Theorie der Chemie

Glücklicherweise kommt die Theorie der Chemie im wesentlichen ohne dieQED aus. Es reicht die in den 1920er Jahren entwickelte Quantenmechanik,die im Kapitel 2 eingeführt wird, aus. Zum einen hat man festgestellt, dassdie klassische Beschreibung des Lichts als elektromagnetisches Feld auf mole-kularer Ebene hinreichend ist, obwohl diese der Natur des Lichts nicht gerechtwird. Zudem wird Licht von Materie entweder gestreut, absorbiert oder emit-tiert. D.h. die Wechselwirkung des Lichts mit Materie ist sehr schnell und fürdie Chemie ist oft nur wichtig, was der Zustand der Materie vor und nach derWechselwirkung mit Licht war beziehungsweise ist. Und genau dafür reichtdie Quantenmechanik der 1920er Jahre aus.

1.2.7.3 Elementarteilchen am Doppelspalt und die De Brogliesche Ma teriewelle

Interessanterweise kann man das Doppelspaltexperiment auch mit den ande-ren bekannten Elementarteilchen durchführen. Wir haben schon am Beispielder Kathodenstrahlen gesehen, dass wir den Strahl aus einzelnen Elektronenaufgebaut verstanden wollen. Wenn wir nun diesen gedimmten Elektronen-strahl auf einen Doppelspalt richten, dann werden wir exakt dieselben qua-litativen Phänomene wie für einzelne Photonen beobachten und im beson-deren ein Interferenzmuster! Ebenso ergeht es anderen elementaren Teilchenund sogar Molekülen. Beugung und Interferenz sind also Erscheinungen, zudenen alle Materie fähig ist. Allein weil dieses Konzept heute immer noch ver-wendet wird, kehren wir nochmals zu dem ‘Wellenbild’ zurück. Die Tatsache,dass auch elementare Materie wie Elektronen, die lediglich historisch zuerstals Teilchen angesehen wurden, in der Lage ist, typische Welleneigenarten (In-terferenzmuster) zu zeigen, führte Louis De Broglie 1924 (zwei Jahre vor derFormulierung der modernen Quantenmechanik) zur Postulierung der Mate-

riewelle. De Broglie ordnet dadurch einem Teilchen eine Wellenlänge λ zu,

λ =h

mv(1.75)

die von der Masse m und der Geschwindigkeit v des jeweiligen Teilchens,sowie von der Naturkonstanten h, der Planck-Konstante, abhängt. Über denSinn des Welle–Teilchen-Dualismus wurde bereits einiges gesagt. An dieserStellen kann man leicht durch weiteres Fragen den Dualisten den Teppich un-ter den Füßen wegziehen: Was schwingt denn da im Falle des Elektrons? Wiesieht die zugehörige Wellengleichung aus (NB: die Schrödinger-Gleichungder Quantenmechanik aus Kapitel 2 ist keine Wellengleichung, weil sie kei-ne zweiten Ableitung der Zeit enthält)?

Es sollte vielleicht noch erwähnt werden, dass De Broglie den Schluß aufdie Welleneigenschaften der als Teilchen gedachten Materie aufgrund von an-deren Experimenten zog, die hier nicht besprochen werden, weil der Doppel-spaltversuch alle relevanten Effekte in einem Experiment vereint. Heute ar-

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1.2 Schlüsselexperimente 41

gumentiert man oft noch mit De Broglie-Wellenlängen, weil sie letztlich einecharakteristische Länge für materielle Objekte liefert, mit der sich qualitativleicht diskutieren läßt. Diese Laxheit in der Begriffsprägung findet sich oft inden Naturwissenschaften, wenn die richtige Beschreibung zu weitschweifendwürde.

Das Doppelspaltexperiment mit einzelnen Teilchen kennt noch einen weite-ren Dreh. Man könnte sich natürlich fragen, was man beobachtet, wenn maneinen Weg findet, herauszubekommen, durch welchen der Spalte die einzel-nen Teilchen geflogen sind. Wird man dann auch ein Interferenzbild sehen?Angenommen wir können experimentell nachschauen, durch welchen Spaltdas Photon fliegt — beide Spalte sind offen, aber wir messen direkt hinter denSpalten ob ein Teilchen durchfliegt; eine Meßanordnung, die für andere Ele-mentarteilchen leichter zu realisieren ist, weil man dann mit Licht beobachtenkann —, dann findet man akkumuliert nicht mehr das Interferenzmuster, son-dern nur noch die Summe zweier etwas versetzter Beugungsfiguren wie ausAbb. 1.3(A). Diese Beobachtung hat manche dazu veranlaßt zu erklären, dass,nur wenn man nicht nachschaut, welcher Spalt passiert wurde, ein Photondurch zwei Spalte gleichzeitig fliegen und mit sich selbst interferieren kann.Aber auch diese Interpretation enthält schon zuviel Imagination: Wir mes-sen in einer gewissen Entfernung vom Doppelspalt und imaginieren, was aufdem Weg zum Detektor passiert ist. Genau das verbietet uns aber die ‘neue’,noch zu entwerfende Physik. Die moderne Physik sagt nur, was wir an einembestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit messen werden. Wenn wir nichtmessen, werden wir nicht wissen, was passiert ist. Speziell macht es keinenSinn — wie das einfache Doppelspaltexperiment elegant zeigt — zu imagi-nieren, was wohl vor der Messung der Fall war. Denn genau in dem Moment,in dem wir feststellen wollen, durch welchen Spalt das Teilchen denn nunwirklich geflogen ist (ein Experiment, das wir natürlich durchführen können,aber dann messen wir eben an einem anderen Ort und nicht erst in größererEntfernung mit der CCD-Kamera), verlieren wir die Interferenzinformationund sehen das zu erwartende Beugungsbild eines einzelnen Spalts. Genau sohaben wir das Experiment dann aufgebaut, so dass garantiert ist, dass dasPhoton nur einen Spalt durchfliegt. Wir dürfen dann aber nicht darauf schlie-ßen, was das Photon macht, wenn wir an den Spalten den Durchtritt nicht ex-perimentell bestimmen und später das Interferenzmuster akkumulieren. Wirdürfen nicht sagen, dass das Photon durch beide Spalte gleichzeitig geflogenist, weil wir das genau nicht gemessen haben. Wollen wir die Informationüber den Durchtrittsort, verlieren wir das Interferenzmuster. Wir müssen unsalso ‘bescheiden’ mit einer Theorie, die es uns erlaubt, das Meßergebnis fürden jeweiligen Versuchsaufbau vorherzusagen — und genau das leistet dieQuantenmechanik.

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42 1 Erste Schritte zur Theorie der Chemie

1.2.7.4 Der photoelektrische Effekt

Im 19. Jahrhundert war ein Detektor, der so empfindlich ist wie die CCD-Kamera, nicht bekannt. Dennoch deuteten Physiker ab 1900 Licht als ausPhotonen aufgebaut. Den Grundstein für diese Theorie legte Max Planck,als er versuchte, die sogenannte Schwarzkörperstrahlung mathematisch zubeschreiben. Wenn man einen Körper aufheizt, fängt er ab einer bestimm-ten Temperatur an zu glühen, sendet also Licht aus (man denke nur an rot-bis weisglühendes Eisen unter dem Hammer eines Schmieds). Die spektra-le Verteilung des Lichts, das ein heißer Körper aussendet, wurde sehr genauvermessen und natürlich hat man nach einer Theorie gesucht, die diese In-tensitätsverteilung als Funktion der Wellenlänge (oder Frequenz) des Lichtsbeschreibt. Alle Ansätze scheiterten jedoch, was mit dem Namen Ultravio-lettkatastrophe belegt wurde, weil der Theoriefehler im Vergleich zum Expe-riment bei kurzen Wellenlängen umso größer wurde. Planck erkannte dann1900, dass er durch einen Trick die experimentellen Intensitätskurven genaureproduzieren konnte. Er nahm an, dass die Energie des Lichts in kleinen ‘Pa-keten’, den Energiequanten, von der heißen Materie ausgesendet wird. Im be-sonderen mußte er annehmen, dass die kleinste mögliche Energiemenge desLichts einer gegebenen Frequenz ν gegeben ist durch

E = hν (1.76)

wobei die Proportionalitätskonstante uns heute bekannt ist als das Planck-sche Wirkungsquantum h = 6.62606896(33) · 10−34 [Js]. Dass die PlanckscheKonstante die Einheit einer Wirkung, [J s], hat, ergibt sich direkt aus den Di-mensionen der beteiligten Grö]ßen; E in [J] und ν in [1/s]. Die Energie von n

Photonen ist dementsprechend nhν.Erst Einstein nahm Plancks Vorschlag 1905 auf und machte ihn zu einem ge-

nerellen Prinzip (von Einstein im Titel seiner Arbeit aber noch ‘heuristischerGesichtspunkt’ genannt). Unter Verwendung der Planckschen Idee konnteEinstein den sogenannten photoelektrischen Effekt erklären, der heute die Basisder Photoelektronenspektroskopie darstellt. Für diese Arbeit erhielt Einstein1921 den Nobelpreis für Physik — hauptsächlich wohl, weil die Arbeiten zurspeziellen Relativitätstheorie aus demselben Jahr 1905 und gerade die spätereallgemeine Relativitätstheorie von 1915/1916 die Physik so sehr revolutionier-ten und gleichzeitig in Experimenten damals nicht leicht nachweisbar waren,dass das Nobel-Kommitee hier sicher Sorge hatte, einem Fehler aufzusitzen).

Beim Bestrahlen von Metalloberflächen mit Licht hat man folgende Beob-achtungen gemacht:

1. Unterhalb einer bestimmten Frequenz νW beobachtet man keinen Aus-tritt von Elektronen. Im besonderen ist diese Beobachtung unabhängigvon der Intensität des Lichts, d.h. eine Erhöhung der Intensität von Licht

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1.2 Schlüsselexperimente 43

mit einer Frequenz ν < νW führt nicht zum Herauslösen von Elektronenaus der Metalloberfläche.

2. Oberhalb von νW beobachtet man die Freisetzung von Elektronen. Nunhängt aber die Stromstärke, also die Menge der herausgelösten Elektro-nen, von der Intensität des Lichts ab: je intensiver das Licht, desto mehrElektronen werden freigesetzt.

3. Erhöht man nun die Frequenz des eingestrahlten Lichts weiter, dann er-höht sich die kinetische Energie Ekin der Elektronen.

Einstein konnte nun diese Beobachtungen erklären, indem er Licht als ausPhotonen bestehend betrachtete, wobei jedes Photon eine Energie hν übertra-gen kann zum Herauslösen von Elektronen, was einer Austrittsarbeit W be-darf, wobei überschüssige Energie in Bewegungsenergie des herausgelöstenElektrons umgewandelt wird. Die Energiebilanz lautet dann

hν = W + Ekin (1.77)

Die erhöhte Intensität des Lichts wird interpertiert als eine Erhöhung derMenge an Photonen, die eingestrahlt werden. Da nur eine bestimmte Fre-quenz νW ein Herauslösen von Elektronen bewirkt,

νW =W

h(1.78)

nennen wir die Austrittsarbeit (oder die Bindungsenergie der Elektronen imMetall) gequantelt oder quantisiert.

1.2.8Fraunhofersche Linien und das Bohrsche Atommodell

Fraunhofer beobachtete im Licht, das von der Sonne auf die Erde fällt, charak-teristische schwarze Linien, die wir heute der Absorption von Licht derjenigenWellenlänge, die offensichtlich im Sonnenspektrum fehlt, durch Wasserstoffa-tome zuschreiben. Wenn man Wasserstoffatome stark erhitzt, senden sie Lichtaus, das spektral zerlegt (zum Beispiel durch ein Prisma oder durch ein an-deres dispersives Element) genau dort scharfe Linien zeigt, wo im Sonnen-spektrum die schwarzen Fraunhofersche Linien zu finden sind. Da diesmaldas Licht ausgesendet wurde, spricht man vom Emissionsspektrum des Was-serstoffs.

Für diejenigen Fraunhoferschen Linien, die in dem für das menschliche Au-ge sichtbaren Bereich des Lichtspektrums liegen, fand Balmer 1885 Regelmäs-sigkeiten, die er in folgender Gleichung für die Wellenzahl ν des absorbiertenLichts zusammenfasste

ν = RH

(

122 −

1n2

1

)

(1.79)

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44 1 Erste Schritte zur Theorie der Chemie

mit der Rydberg-Konstante für Wasserstoff RH = 109677, 576 cm−1 undn1 ≥ 3. Der Satz Fraunhoferscher Linien, der dieser Gleichung gehorcht,wird Blamer-Serie genannt. Als die nötigen optischen Instrumente entwickeltwaren, mit denen man auch die Bereiche des Sonnenspektrums untersuchenkonnte, die vom menschlichen Auge nicht wahrgenommen werden, fand manweitere Linien, die allgemein der Gleichung

ν = RH

(

1n2

2

− 1n2

1

)

(1.80)

gehorchen. Nach ihren Entdeckern nennt man die Serie für n2 = 1 im ul-travioletten Teil des Spektrums Lyman-Serie (1916), diejenige für n2 = 3 imnahen Infrarot Paschen-Serie (1908), diejenige für n2 = 4 im mittleren InfrarotBrackett-Serie (1922), und schließlich diejenige für n2 = 5 im fernen InfrarotPfund-Serie (1924).

Bohr formulierte 1913 zur Beschreibung dieser Beobachtungen ein ad hoc

Atommodell, mit dem er die experimentellen Beobachtungen wiedergeben,aber nicht erklären konnte (wegen der willkürlichen Annahmen, die im Wi-derspruch zur klassischen Physik selbst stehen). Die Idee dabei ist, dass ab-sorbiertes oder emittiertes Licht die Energie des Elektrons im Wasserstoffatomändert. Dabei wechselt das Elektron die Umlaufbahn um den Atomkern. Dazumußte er annehmen, dass Elektronen sich auf Kreisbahnen mit festem Radi-us r um den Atomkern bewegen. Nicht alle Radien sind dabei erlaubt. DieseAnnahme ist, wie wir noch sehen werden, äquivalent mit der Forderung, dassder Betrag des Bahndrehimpulses l = |r × p| = r me v nur bestimmte Werteannehmen kann,

l = nh n ∈ N (1.81)

also gequantelt ist (die fixen Radien folgen dann daraus). Für die Quantisie-rungsbedingung haben wir die reduzierte Planck-Konstante ‘h-quer’ verwen-det, h = h/2π.

Weil das Elektron seine Bahn nicht verläßt gilt Kräftegleichgewicht: Zentri-petalkraft=Zentrifugalkraft,

14πǫ0

Ze e

r2 = mev2

r(1.82)

Die Zentripetalkraft ist in diesem Fall natürlich die Coulomb-Anziehung undder Atomkern liegt im Ursprung des Koordinatensystems, wie im Zusam-menhang mit Gl. (1.46) besprochen. Aus dieser Gleichung können wir eineGleichung für den Radius der Kreisbahn ableiten,

r =1

4πǫ0

Ze2

mev2 (1.83)

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1.2 Schlüsselexperimente 45

beziehungsweise

mev2 =1

4πǫ0

Ze2

r(1.84)

Aus der Drehimpulsquantelung erhalten wir einen Ausdruck für die Ge-schwindigkeit

l = r me v = nh ⇒ v =nh

mer(1.85)

so dass wir den Radius scheiben können als

r =1

4πǫ0

Ze2

me

(nh

mer

)2 =1

4πǫ0

Ze2r2me

n2 h2

⇒ r =4πǫ0n2h2

Ze2me(1.86)

Für Z = 1 und n = 1 ergibt sich der sogenannte Bohr-Radius a0,

a0 ≡4πǫ0h2

e2me(1.87)

Die Energie des Elektrons auf der Kreisbahn erhalten wir durch Addition vonkinetischer und potentieller Energie,

Egesamt = Ekin + Epot =12

mev2 − 14πǫ0

Ze2

r

(1.84)=

12

14πǫ0

Ze2

r− 1

4πǫ0

Ze2

r= −1

21

4πǫ0

Ze2

r

(1.86)= −1

21

(4πǫ0)2Z2e4me

n2 h2 (1.88)

Die Energie ist also proportional zu 1/n2, woraus wir schließlich die Glei-chung von Balmer erhalten, wenn wir zwei Energien für zwei Bahnen, zwi-schen denen wir mit Licht schalten, voneinander abziehen.

Abgesehen von der willkürlichen Annahme der Drehimpulsquantelung,die Bohr in sein Modell hineinstecken mußte, sind Konsequenzen des Atom-modells aus weiteren Gründen nicht konsistent mit der klassischen Physik.Ein um den Kern umlaufendes Elektron ändert stetig seine Bewegungsrich-tung zum Kern hin aufgrund der Coulomb-Anziehungskraft. Es wird alsostetig zum Kern hin beschleunigt. Beschleuingte Ladungen strahlen aber lautMaxwells Elektrodynamik elektromagnetische Wellen ab. Dieses Licht wirdaber nicht beobachtet. Falls es Licht abstrahlen würde, müßte das Elektron

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46 1 Erste Schritte zur Theorie der Chemie

seine Umlaufbahn langsam verlassen und würde in den Kern stürzen, wasebenfalls nicht beobachtet wird.

1.3Radioaktivität und Kernstruktur

Vieles ist über Atomkerne heute experimentell bekannt, doch eine vollum-fänglich befriedigende Theorie konnte noch nicht aufgestellt werden. Für dieChemie wissen wir aber, dass das experimentelle Wissen hinreichend ist. Wirwerden bei der Diskussion der Quantenmechanik sehen, dass die Chemie mitausreichender Genauigkeit beschrieben wird, wenn man annimmt, dass diepositive Ladung eines Atoms allein in einem ausdehnungslosen Punkt kon-zentriert wird.

Einige Prozesse, die im Atomkern ablaufen, müssen jedoch etwas ausführ-licher diskutiert werden. Im Jahre 1938 entdeckten nach langen VorarbeitenHahn, Straßmann und Meitner die Spaltung (Fission) von Atomkernen. Die-se läuft bei schweren Atomkernen unter Freisetzung von Energie ab, die inAtomreaktoren zur Erzeugung von elektrischem Strom durch Produktion vonWasserdampf für Generatoren benutzt wird. Leichte Kerne dagegen könnenunter Energiefreisetzung verschmolzen werden (Fusion), ein Prozess, der inunserer Sonne abläuft und die Erde mit Energie, dem Sonnenlicht, versorgt.Es ist klar, dass bei mittleren Kerngrößen besonders stabile Atomkerne zu er-warten sind, weil kleine unter Energiefreisetzung fusionieren, während sehrgrosse unter Energiefreisetzung gespalten werden können. Dies gilt zum Bei-spiel für Eisen, das daher auch als Endprodukt des Fusionsprozesses in denKernen von Planeten und Sternen (Sonnen) vorkommt.

1.3.1Zerfallsprozesse

Radioaktive Prozesse setzen verschiedene Sorten Teilchen frei. Deren Naturläßt sich wieder studieren bei Eintritt in elektrische Felder, so wie wir es be-reits am einfachen Experiment der Kathodenstrahlen gesehen haben . MancheStrahlen (γ-Strahlen) werden durch diese Felder nicht beeinflußt, sind alsonicht geladen, während andere zum elektrischen Pluspol (also negative gela-den sind, β−-Zerfall) oder zum elektrischen Minuspol (also positiv geladensind, α-Strahlen) abgelenkt werden.

An den Bezeichnungen ist bereits zu erkennen, dass man die in ihrer Zu-sammensetzung zunächst unbekannten Strahlen einfach entsprechend demgriechischen Alphabet durchbuchstabierte:

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1.3 Radioaktivität und Kernstruktur 47

1.3.1.1 α-Strahlen

Viele Atomkerne zerfallen unter Freisetzung besonders stabiler 42He2+-Kerne,

die in Form von α-Strahlen freigesetzt werden (s.a. Rutherfordscher Streuver-such).

1.3.1.2 β-Strahlen

Andere Atomkerne sind in der Lage Elektronen aus dem Atomkern zu emit-tieren. Aus Gründen der Ladungserhaltung bleibt ein Proton im Kern zurück,wodurch ein anderes Element mit einfach erhöhter Kernladung entsteht. DieEnergie des emittierten Elektrons kan dabei kontinuierliche Werte annehmen.Aus Gründen der Energieerhaltung muß daher noch ein weiteres Teilchen ent-stehen, das Antineutrino.

1.3.1.3 γ-Strahlen

Angeregte Atomkerne, die etwa in einer Zerfallskette nach vorausgehendemα-Zerfall entstehen können, gehen in einen energetisch niedrigsten Zustandüber, dem sogenannten Grundzustand des Atomkerns. Dabei wird Energie inForm von hochenergetischem Licht, der γ-Strahlung, freigesetzt. Die Energiedieses Lichts ist größer als die der Röntgenstrahlen. Dieses hochenergetischeLicht trägt keine elektrische Ladung passiert daher Kondensatoren unbeein-flußt.

1.3.2Kinetik radioaktiver Zerfälle

Die chemische Kinetik beschäftigt sich mit der Veränderung von Konzentra-tionen oder Stoffmengen mit der Zeit. Die Änderung einer Stoffmenge mit derZeit wird allgemein Reaktionsgeschwindigkeit oder auch Reaktionsrate genannt.Das entsprechende Geschwindigkeitsgesetz für Konzentrationen ergibt sichdurch konsistentes Wichten mit dem Volumen auf das die Stoffmenge zu be-ziehen ist, um so die Konzentration zu erhalten. Am Beispiel der Radioak-tivität können wir eine der einfachsten Kinetiken studieren, die sogenannteKinetik erster Ordnung.

Der radioaktive Zerfall ist ein von außen nicht beeinflußbarer Prozeß, denwir daher nur statistisch beschreiben können: Wir können nicht wissen, wannein einzelner Atomkern zerfallen wird, sondern können nur angeben, wel-cher Anteil an Atomkernen in einer großen Stoffmenge statistisch in einemZeitintervall zerfallen wird. Aus dieser Überlegung folgt, dass die Zerfalls-geschwindigkeit, also die Verringerung der Anzahl der Atomkerne N durchZerfall mit der Zeit, dN/dt, nur von der Anzahl N(t) am Meßzeitpunkt t der

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48 1 Erste Schritte zur Theorie der Chemie

Messung abhängen kann, also proportional zur ihr ist

−dN(t)

dt∝ N(t) (1.89)

Das Minuszeichen deutet die Abnahme der Atomkernmenge an. Wenn wirnun eine Proportionalitätskonstante, die sogenannte Geschwindigkeits- oderRaten-Konstante k einführen, dann können wir schreiben

dN(t)

dt= −kN(t) (1.90)

Diese Gleichung für die Zerfallsgeschwindigkeit bezeichnet man auch als (dif-ferentielles) Geschwindigkeitsgesetz des radioaktiven Zerfalls. Mathematischgesehen ist das Geschwindigkeitsgesetz eine Differentialgleichung erster Ord-nung, weil sie (maximal) erste Ableitungen nach der Variablen, der Zeit, ent-hält. Weil die Stoffmenge N(t) nur linear in dieses Gesetz eingeht auf der rech-ten Seite, nennt man diese Kinetik eine Kinetik erster Ordnung.

Das Geschwindigkeitsgesetz ist offensichtlich ein differentielles Gesetz, dasnur infinitesimale Stoffmengenänderungen in infinitesimal kleinen Zeitinter-vallen beschreibt. Um daraus eine für makroskopische Zeitintervalle gültigeGleichung zu erhalten, müssen wir es integrieren. Die Integration dieser Dif-ferentialgleichung erfolgt durch das Rezept der Variablentrennung, weil Stoff-mengen und Zeiten auf die beiden Seiten der Gleichung separiert werden kön-nen, wenn wir uns erlauben, den Differentialquotienten wie einen gewöhnli-chen Bruch zu behandeln

dN(t)

N(t)= −kdt (1.91)

Diese Gleichung integrieren wir nun unbestimmt

∫ dN(t)

N(t)=∫

d[ln N(t)] =∫

−kdt = −k∫

dt (1.92)

und erhalten

ln N(t) = −kt + C′ (1.93)

mit C′ als Integrationskonstante (die beim Ableiten wieder wegfallen würde).Durch Erheben der beiden Seiten der Gleichung zu Exponenten in der Expo-nentialfunktion können wir diese Gleichung nach der Lösungsfunktion derDifferentialgleichung erster Ordnung auflösen,

eln N(t) = e−kt+C′ = e−kt eC′ (1.94)

⇒ N(t) = C e−kt (1.95)

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1.3 Radioaktivität und Kernstruktur 49

wobei wir C ≡ exp (C′) eingeführt haben. Die Anzahl radioaktiver Atom-kerne nimmt also exponentiell schnell mit der Zeit ab, wobei die genaue Ab-nahme durch die Materialkonstante k bestimmt wird, die für jede Atomkern-sorte spezifisch ist. Die modifizierte Integrationskonstante C hängt von derAnfangskonzentration an Atomkernen ab, wie man leicht durch bestimmteIntegration nachweisen kann.

In unserer statistischen Betrachtung des radioaktiven Zerfalls klingt dieAtomkernanzahl exponentiell ab. Zu seiner Charakterisierung würden wirgerne charakteristische Zerfallszeiten definieren, die uns erlauben, festzuhal-ten, ob ein Zerfall langsam oder schnell ist. Gebräuchlich sind zwei solcherZeiten: die Halbwertszeit τ (oft auch durch einen Index 1/2 gekennzeichnet)gibt an, nach welcher Zeit die Hälfte der Atomkerne zerfallen ist, währenddie Lebenszeit τ′ angibt, wieviel Zeit verstreicht, bis die Menge auf 1/e abge-fallen ist,

τ =ln 2

kund τ′ =

1k

(1.96)

1.3.3Nukleare Kettenreaktion

Kernspaltungsreaktionen lassen sich auch induzieren. Uran-Kerne spaltenunter Freisetzung von Neutronen, die mit nicht zu hohen kinetischen Ener-gien auf andere Atomkerne treffen können und diese spalten. Im Gegensatzzu den α-Strahlen des Rutherfordschen Streuversuchs werden die elektrischungeladenen Neutronen nicht von der Coulomb-Barriere des Atomkerns ab-gestoßen oder abgelenkt. Die durch die Neutronen gespaltenen Kerne setzenweitere Neutronen frei, die wiederum andere Kerne spalten. Da sich die Zahlder Neutronen bei jeder Generation vervielfacht, kommt eine Kettenreaktionzu Stande, die ungebremst in einer Atomexplosion abläuft, während sie inAtomreaktoren durch Graphit-Stäbe moderiert wird, die dafür sorgen, dassdie Kettenreaktion kontrolliert werden kann.

Da der Kernzerfall von Neutronen induziert wird, ändert sich das oben auf-gestellte Geschwindigkeitsgesetz. Der Kern hat nun einen Reaktionspartner(das Neutron) und sämtliche Gleichungen des vorstehenden Abschnitts kön-nen nicht mehr angewendet werden, weil die Voraussetzung — nämlich dassder Kern ohne äußeren Einfluß zerfällt — nicht mehr gültig ist.

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Allgemeine Chemie.Copyright © Prof. Dr. Markus Reiher, ETH Zürich, HS 2008

51

2Einführung in die Quantenmechanik

2.1Postulate

Durch die bisherige Diskussion experimenteller Ergebnisse haben wir gese-hen, dass sämtliche Materie aus räumlich wohl getrennten Objekten aufge-baut ist. Klumpen positiver Ladung, aufgebaut aus Protonen und Neutronenmit einer Ausdehnung von einem bis einigen Femtometern (also ein Million-stel eines Millardstel Meters), werden umgeben von deutlich leichteren, um-gekehrt geladenen Teilchen, den Elektronen. Es sind also fast ausschließlichdie Elektronen, die sich in dem Volumen bewegen, das wir einem Molekülzuschreiben wollen.

Wir benötigen nun eine Theorie, die uns erklärt, wie Atome aufgebaut, wasihre Eigenschaften sind (warum wir beispielsweise Fraunhofersche Linien be-obachten können) und wie sie sich verbinden und so Moleküle bilden. Was istder Klebstoff der Atome im Molekül? Nach den experimentellen Ergebnissenist klar, dass die Klärung dieser Fragen nur folgende Ingredientien verwendendarf: Atomkerne, Elektronen, elektromagnetische Wechselwirkungen. Dahermuß die Theorie eine mechanische Theorie sein. Sie muß uns erlauben, dasBewegungs- und Wechselwirkungsverhalten dieser elementaren Bestandtei-le zu beschreiben. Die neue Theorie muß auch das erklären, was die klassi-sche Mechanik eingangs nicht vermochte, nämlich warum es überhaupt ein-zelne Atome gibt und warum einzelne Moleküle. Warum gibt es nicht ein-fach nur Makromoleküle oder sogar ‘makroskopische’ Moleküle wie zumBeispiel einen mit bloßem Auge beobachtbaren, kubischen Natriumchlorid-Einkristall.

Die Theorie, die all dies leistet und die durch sämtliche chemische Phänome-ne grandios bestätigt wurde, ist die Quantenmechanik, die Mitte der 1920erJahre von Schrödinger, Heisenberg und anderen entdeckt wurde. Man kannsie nicht ableiten und die Entdecker der Theorie konnten sich nur durch Ana-logien und durch ihre Erfahrung mit physikalischen Theorien und mathema-tischen Gleichungen leiten lassen. Daher gehen wir hier nun genauso vor, wiebei der Einführung der klassischen Mechanik durch Postulieren der Netwon-schen Axiome: Wir formulieren eine möglichst geringe Anzahl von Postula-

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52 2 Einführung in die Quantenmechanik

ten, aus denen sich die gesamte Chemie dann ableiten läßt. Insgesamt werdenes sechs Postulate sein, von denen wir die Postulate 0 bis 4 im folgenden ein-führen, während das letzte Postulat, Postulat 5, erst im Rahmen von Vielelek-tronensystemen benötigt und dort eingeführt wird.

2.1.1Postulat 0: Elementarteilchen in der Chemie

Die Physik kennt, wie wir gesehen haben, einen ganzen Zoo an Elementarteil-chen. Die Komplexität der Chemie mit all ihren Molekülen und Reaktionenresultiert dagegen nur aus einer sehr geringen Zahl an Elementarteilchen, ne-ben den Elektronen sind dies etwas mehr als 100 Typen von Atomkernen, diesich durch ihre Protonenzahl unterscheiden. Wir formulieren daher ein nulltesPostulat, das die Objekte der Theorie definiert:

Postulat 0: Die Theorie der Chemie erfordert eine quanten-mechanische Beschreibung des Bewegungs- und Wechsel-wirkungsverhaltens von Elektronen und Atomkernen. Fürdie Chemie ist ausschließlich ihre Interaktion durch elek-trostatische Kräfte von Bedeutung.

Einige ergänzende Eläuterungen sind noch der Vollständigkeit halber nötig.(1) Das Postulat 0 spricht von elektrostatischen Kräften zwischen den (che-mischen) Elementarteilchen und läßt magnetische Wechselwirkungen außenvor. Die sich bewegenden Elektronen erzeugen natürlich, wie alle bewegtenLadungen, magnetische Felder. Man hat diese magnetischen Felder, die unterdem Namen Breit-Wechselwirkung in der Quantenmechanik bekannt sind,untersucht und festgestellt, dass ihr Beitrag zur potentiellen Energie gegen-über der rein elektrostatischen Coulomb-Wechselwirkung in der Regel ver-nachlässigbar ist. Zudem ist es so, dass magnetische Felder eng mit Einsteinsspezieller Relativitätstheorie verknüpft sind und in einer nichtrelativistischenTheorie, wie der Newtonschen Mechanik, nicht vorkommen. Eine nichtrelati-vistische Formulierung erlaubt einen umgehenden (d.h. sofortigen oder in-stantanen) Austausch von Wechselwirkungen. Tatsächlich breitet sich aberdie Wechselwirkung elektrischer Ladungen mit Lichtgeschwindigkeit c (ebenmit der Geschwindigkeit der die Wechselwirkung vermittelnden Photonen)aus. Nun tragen aber magnetische Felder zur Wechselwirkungsenergie im-mer mit einem Vorfaktor 1/c im Vergleich zu der elektrostatischen Coulomb-Wechselwirkung bei. Weil c sehr groß (in einer nichtrelativistichen Theorie un-endlich groß) ist, kann man die magnetischen Wechselwirkungen erst einmalvernachlässigen.

Allerdings gilt das Vorstehende nicht uneingeschränkt. Drehbewegungenvon Elementarteilchen erzeugen magnetische Felder, die mit anderen magne-

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2.1 Postulate 53

tischen Feldern wechselwirken können, wie wir gerade im Zusammenhangmit dem Spin von Elektronen und Atomkernen noch sehen werden.

(2) Alle Elementarteilchen werden beschrieben als Punktteilchen. D.h. dasswir jedem Elementarteilchen innerhalb der Theorie eine Position im Raum, r,zuweisen. Diese Position ist nicht zu verstehen als eine Art mittlere Positioneines ausgedehnten Objekts (wie es etwa ein Ladungs- oder Massenschwer-punkt wäre). Wir werden also das Bewegungsverhalten von punktförmigenTeilchen in unserer neuen Mechanik beschreiben. Denkt man an die im Ver-gleich zu den Atomkernen drei bis vier Größenordnungen kleinere Masse desElektrons, dann akzeptiert man leicht, dass ein Elektron als Punktteilchen be-handelt werden kann (tatsächlich sucht man noch heute experimentell nachdem elektrischen Dipolmoment des Elektrons, um so einen Nachweis für eineräumliche Ausdehnung der Ladung des Elektrons zu finden).

Dagegen ist experimentell bekannt, dass die Größe der Atomkerne im Fem-tometerbereich liegt. Das bedeutet, dass ihre positive Ladung nicht in einemPunkt konzentriert sein wird. Nun ist aber nur wichtig zu wissen, ob die Formdes Atomkerns überhaupt einen Unterschied machen wird, wenn man dieelektrostatische Coulomb-Wechselwirkung zweier Atomkerne oder von Elek-tronen und Atomkernen in der Quantenmechanik studiert. In der klassischenMechanik und Elektrodynamik macht es einen Unterschied, ob eine Ladungs-verteilung punktförmig oder ausgedehnt ist — selbst wenn der Raum derAusdehnung sehr, sehr klein ist. In der Quantenmechanik erhält man dannauch unterschiedliche Energien, jedoch sind die Unterschiede der Energienfür punktförmige wenn verglichen mit ausgedehnten Atomkernen für che-mische Fragestellungen fast immer vernachlässigbar. Daher wählen wir dieeinfachste Darstellung, nämlich die der Punktkerne. Die Wahl des einfach-sten Weges, wenn er begründet zum (nahezu) selben Ergebnis führt, wirdin der Naturphilosophie auch die Anwendung des Ockhamschen Rasiermessers

genannt, mit dem man unnötigen Balast abschneidet.Man könnte nun einwenden, dass ein punktförmiger Atomkerne doch ei-

gentlich einen Nachteil birgt, nämlich die Singularität in der Wechselwir-kungsenergie, die man bei sehr kleinen Abständen findet — schließlich istdiese Energie in der radialen Abstandsvariablen r proportional zu −1/r [Gl.(1.46)], strebt also gegen minus Unendlich für r → 0. Andererseits erforderteine endliche Ausdehnung die Wahl einer Ladungsverteilungsfunktion, wo-für aber nur Modellfunktionen zur Verfügung stehen, weil die Ladungsvertei-lung zur Zeit weder experimentell noch theoretisch eindeutig bestimmt wer-den kann. Solange die Punktkernsingularität zu keinem ernsten mathemati-schen Problem führt, ist das Punktkernmodell die bessere Wahl.

An dieser Stelle ist ein Vorgriff nötig, um spätere Verwirrung zu vermei-den: Zwar weisen wir jedem Elementarteilchen einen Punkt im Raum zu, diesheißt aber nicht, dass dieser Ort dieselbe Funktion hat wie in der klassischen

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54 2 Einführung in die Quantenmechanik

Mechanik. Diese Orte der Punktteilchen sind nicht die Positionen, an denenwir den Aufenthaltsort der Teilchen messen können. Das liegt daran, dass dieQuantenmechanik einen speziellen Mechanismus zur Messung von beobacht-baren Größen vorschreibt. Wenn wir die Position eines Elektrons im Raummessen wollen, können wir nicht einfach r verwenden, sondern müssen einegenaue Vorschrift der Quantenmechanik zur Ortsmessung beachten, die wirnoch einzuführen haben (s. Postulat 3).

(3) Nachdem wir die Frage der Ausdehnung der ‘chemischen’ Elementar-teilchen erörtert haben, können wir auch gleich das Problem der Isotope be-handeln: Atomkerne mit gleicher Protonen aber unterschiedlicher Neutronen-zahl unterscheiden sich einzig und allein durch ihre Massen, weil wir sämtli-che Atomkerne als Punktteilchen behandeln. Dies ist natürlich eine Näherung,die aber in der Regel für die Chemie ausreichend ist. In anderen Worten, Re-aktionsenergien oder Bindungslängen sind durch diese Näherung fast nichtnachweisbar betroffen. Es gibt einige spezielle experimentelle Bedingungenunter denen man Isotopeneffekte beobachten kann. Natürlich ist dies möglichin hochauflösenden spektroskopischen Experimenten, es gibt aber auch Effek-te auf Reaktionskinetiken (Geschwindigkeitskonstanten), die sich bei leichtenAtomen über die Masse der schwingenden Atom(kern)e und bei schwerenAtomen über die unterschiedliche Ausdehnung der Atomkerne verschiede-ner Isotope, über die sich die positive Kernladung dann verteilt, auswirken.

2.1.2Postulat 1: Zustandsfunktion

Die Struktur der Quantenmechanik ist völlig anders als die der klassischenMechanik, was die eigentlich Hürde dieser Theorie darstellt. Während eineGleichung der klassischen Mechanik direkt anzeigt, wie man einen experi-mentellen Aufbau zu entwerfen und Meßwerte einzusetzen hat — man erin-nere sich nur an die Definition der Geschwindigkeit, deren Meßwert sich di-rekt errechnet aus dem zurückgelegten Weg geteilt durch die dafür benötigteZeit —, funktioniert die Quantenmechanik völlig anders. Wir postulieren:

Postulat 1: Es existiert für jedes System von Elementarteil-chen eine Zustandsfunktion Ψ, die sämtliche Informatio-nen kodiert, die wir in einem Experiment prinzipiell in Er-fahrung bringen können.

Diese Zustandsfunktion wird aus historischen Gründen oft Wellenfunktion

genannt. Der Name ist allerdings äußerst verwirren, weil die Wellenfunktionnicht die de Brogliesche Materiewelle beschreibt. Die Wellenfunktion erfülltnicht einmal eine Wellengleichung, wie wir bei Postulat 2 sehen werden.

Unter ‘System’ soll im folgenden eine Ansammlung von Elementarteilchenverstanden werden. In der Praxis trifft der Mensch die Wahl, was zum Sy-

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2.1 Postulate 55

stem zählt und was nicht. Im Prinzip ist das System der Quantenmechanik dasUniversum, ganz entsprechend dem universalistischen Anspruch der Quan-tenmechanik. Eine sinnvolle Wahl zum Studium molekularer Objekte wirdbestimmt durch das Wissen um eine möglichst schwache Wechselwirkungmit einer etwaigen Umgebung. Hier können ChemikerInnen von ihrem brei-ten experimentellen Wissen profitieren. Die Chemie hat einen experimentellenZugang zur Formulierung ‘sinnvoller’ Moleküle gefunden und genau diesesWissen erlaubt es ChemikerInnen ein sinnvolles molekulares System zu defi-nieren. Natürlich braucht es dieses Wissen im Prinzip nicht, aber es wäre äu-ßerst mühselig verschiedene Systemgrößen theoretisch zu untersuchen, umdann sinnvolle Systemgrößen festzustellen. Wenn man allerdings so vorgeht,wird man in der Regel nach der quantenmechanischen Analyse den intuiti-ven Vorschlag der ChemikerInnen bestätigt finden. (Dies hat damit zu tun,dass eine chemisch sinnvolle Lewis-Struktur etwas mit dem Raten von Wel-lenfunktionen zu tun hat — eine Wellenfunktion, die ein System in einem un-günstigen Energiezustand beschreibt, gehört, etwas salopp gesagt, zu einerunvernünftigen Lewis-Struktur.)

2.1.3Postulat 2: Bewegungungsgleichung

Durch Postulat 1 haben wir die Existenz einer Funktion gefordert, die der Trä-ger der physikalischen Information für unser System ist. Natürlich entwickeltsich ein System mit der Zeit und damit verändert sich auch unser Informati-onsträger. Die Frage ist wie. Wie für jede gute mechanische Theorie gilt es alsonoch eine Bewegungsgleichung zu postulieren — so wie wir in der klassischenMechanik die Newtonsche Bewegungsgleichung, Gl. (1.10), postulierten:

Postulat 2: Die Zustandsfunktion Ψ verändert sich mit derZeit, was durch die zeitabhängige Schrödinger-Gleichungbeschrieben wird

ih∂

∂tΨ = HΨ (2.1)

wobei H der sogenannte Hamilton-Operator ist.

Natürlich hilft uns diese Gleichung noch nicht weiter, solange nicht postu-liert wird, wie der Hamilton-Operator aussieht. Dies ist allerdings nicht soleicht, weil die Form von H vom System abhängt. Wir haben schon in frühre-ren Abschnitten Operatoren kennengelernt. Auch der Hamilton-Operator isteine Abkürzung für eine Anzahl an Rechenvorschriften, die auf die Wellen-funktion angewendet werden müssen. Der Name deutet schon an, dass die-ser Operator das quantenmechanische Analogon zur Hamilton-Funktion —

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56 2 Einführung in die Quantenmechanik

also zur Gesamtenergie — der klassischen Mechanik ist, die wir in Gl. (1.34)kennengelernt haben.

Schrödinger hat gefunden, dass der Hamilton-Operator für ein Elementar-teilchen, das keinen Wechselwirkungen unterliegt, sich wie folgt schreibenläßt

H = − h2

2m∆ (2.2)

wobei ∆ der schon bekannte Laplace-Operator und m die Masse des Teilchensist. Die klassische Mechanik, die unsere tägliche Erfahrungswelt so gut be-schreibt, muß von der Quantenmechanik, deren Gültigkeitsanspruch univer-sell ist, umschlossen werden. Das bedeutet, dass es einen Bezug zur klassi-schen Mechanik geben sollte/muß. Dieser wird hergestellt durch das soge-nannte Korrespondenzprinzip.

Korrespondenzprinzip: Das Finden eines mathemati-schen Ausdrucks für einen Operator kann sich an denAusdrücken der klassischen Physik orientieren. D.h. dieForm des Hamilton-Operators ist gleich der Form derHamilton-Funktion.

Das bedeutet, das obiger Hamilton-Operator für ein freies Teilchen diesel-be Form haben muß, wie die Hamilton-Funktion für ein freies Teilchen. DieHamilton-Funktion ist in diesem Fall nichts anderes als die kinetische Energiedes Teilchens,

H =p2

2m⇒ H =

p2

2m(2.3)

wobei wir den klassischen Impuls p durch einen entsprechenden Operator p

ersetzt haben. Natürlich stellt sich jetzt die Frage, wie denn der Impulsopera-tor genau aussieht. Dies läßt sich durch Vergleich mit Gl. (2.2) direkt ableiten:

p ≡ −ih∇ ⇒ p2 = pp = (−ih∇) (−ih∇) = i2 h2∇2 = −h2∆ (2.4)

Oft werden Randbedingungen an die Wellenfunktion formuliert, zum Bei-spiel, dass eine Wellenfunktion zweimal differenzierbar (und ergo auch ste-tig) sein muss, weil sonst die Wirkung des Laplace-Operators im Hamilton-Operator nicht definiert wäre. Wir können uns hier aber auf einen rein phy-sikalischen an Stelle des mathematischen Standpunktes zurückziehen: Ei-ne Funktion, die nicht zweimal differenziert werden kann, ist sicher keineSchrödinger-Wellenfunktion, die ein physikalisches System beschreibt.

Wenn wir das Korrespondenzprinzip nun auf zwei sich bewegende undwechselwirkende Ladungen 1 und 2 anwenden, so ergibt sich analog

H =p2

12m1

+p2

22m2

+1

4πǫ0

q1q2

|r1 − r2|(2.5)

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2.1 Postulate 57

Das Korrespondenzprinzip verlangt natürlich, dass alle Variablen der klas-sischen Mechanik zu Operatoren promoviert werden, nicht nur der Impuls.Auch die Ortsvektoren ri werden zu Operatoren ri. Der Kürze wegen nehmenwir hier aber vorweg, dass Ortsoperatoren ri gleich den Ortsvektoren ri sindund kommen erst im Zusammenhang mit Postulat 4 wieder darauf zurück.Das Konstruktionsprinzip des Hamilton-Operators ist also stets: Summierealle Operatoren für die kinetische Energie, p2

i /2mi, der einzelnen Elementar-teilchen i und addiere dann noch alle Wechselwirkungsenergie-Operatoren.Man beachte, dass wir für alle doch so verschiedenen Hamilton-Operatorenstets dasselbe Symbol, H, verwenden.

Da die Impulsoperatoren in dieser Form — man nennt sie Ortsdarstellung— nur von den Ortsvektoren der Teilchen im System abhängen, hängt derHamilton-Operator nur von den Ortskoordinaten dieser Teilchen ab. Dement-sprechen hängt die Wellenfunktion nur von diesen Koordinaten ab, Ψ =Ψ({ri}, t), wobei die Koordinaten aller Teilchen durch die Mengenklammernsymbolisiert wurden.

2.1.4Postulat 3: Meßwerte

Postulat 3: Jeder physikalischen Observablen wird einOperator zugewiesen. Zu diesem Operator gibt es quan-tenmechanische Zustandsfunktionen Ψi, aus denen beiAnwendung des Operators, AΨi, der Meßwert Ai extra-hiert wird, was sich mathematisch schreiben läßt als

AΨi = Ai Ψi (2.6)

Eine Gleichung von so einem Typ wird in der Mathematik Eigenwertglei-

chung genannt. Die Funktion Ψi heißt dann Eigenfunktion und die Zahl Ai heißtEigenwert. Weil die Quantenmechanik von Zuständen spricht, nennt man dieEigenfunktion auch Eigenzustand. In der Regel erfüllt mehr als ein Eigenpaar(Ψi, Ai) eine solche Gleichung und der Index i trägt dem Rechnung. Die ver-schiedenen Lösungspaare werden durch den Laufindex i unterschieden. Eshat sich eingebürgert, einen solchen Index Quantenzahl zu nennen. In man-chen Fällen — wie zum Beispiel bei dem noch zu besprechenden Wasserstoff-Atom — hängt der Eigenwert sogar direkt von der Quantenzahl ab, was dazugeführt hat, dass den Quantenzahlen eine Rolle zugewiesen wird, die ihre Be-deutung übertreibt, da sie letztlich nur die Rolle eines Zählindex’ haben. FürMoleküle beliebiger Struktur hängen auch die Eigenwerte nicht mehr von die-sem Zählindex ab.

Die Eigenwertgleichung drückt also aus, dass der Operator, der in derQuantenmechanik einer physikalischen Observablen zugeordnet ist, auf eine

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58 2 Einführung in die Quantenmechanik

bestimmte Funktion, die Eigenfunktion, angewendet, eine reelle Zahl, Ai ∈ R,multipliziert mit der Funktion selbst ergibt. Der Operator ist also so etwaswie die theoretische Formulierung der Messung: Ein System sei durch dieZustandsfunktion Ψ beschrieben, die sämtliche Information über das Systemträgt, dann ermitteln wir die Information (zum Beispiel die Energie des Sy-stems), indem wir eine Messung durchführen, hier ausgedrückt durch die An-wendung des Operators.

Das Postulat 3 ist ein unglaublich starkes Postulat, was besonders deutlichwird durch seine Invertierung: Eine reelle Zahl, die nicht Eigenwert einer Ob-servablen ist, kann nicht gemessen werden! Natürlich stellt sich die Frage, wieman die Operatoren zu den Observablen kennen kann. Hier hilft bei vielenObservablen das oben schon eingeführte Korrespondenzprinzip weiter undwir werden später weitere Beispiele wie den Drehimpuls-Operator kennen-lernen.

Wenn wir die Energie eines Systems messen wollen, müssen wir den Ener-gieoperator auf die Zustandsfunktion wirken lassen. Der Energieoperator istder Hamilton-Operator und daher können wir eine Eigenwertgleichung fürdie Energie wie folgt formulieren

HΨi = EiΨi (2.7)

Diese Gleichung bestimmt, was die erlaubten Energien eines Systems sind,denn nur die Energien Ei können gemessen werden. Wenn wir die Energie-Eigenwertgleichung lösen, was später in diesem Kapitel für Modellsystemedurchgeführt wird, erhalten wir sämtliche Energien, die unser System einneh-men kann. Das bedeutet auch, das wir in der Lage sein sollten, die Lage derFraunhoferschen Linien im Spektrum zu erklären, weil wir deren Lage alsdie Energie verstehen, die nötig für den Wechsel zwischen zwei durch dieQuantenmechanik berechenbaren Energien — wir könne jetzt sagen: Energie-Eigenzuständen — ist. Diese Situation ist in Abb. 2.1 dargestellt. Auf dieseWeise kann die Quantenmechanik durch die Energie-Eigenwerte die experi-mentell in der Atomspektroskopie beobachteten Termschemata erklären. Da-her wird die Menge der Energie-Eigenwerte auch Spektrum genannt.

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2.1 Postulate 59

h ν

Ε0

Ε1

Ε2

Ε3

Satz der Energie−Eigenwerteeines Systems:

mit Licht kann manzwischen den Energie−

zuständen schalten

Abbildung 2.1 Fundamentale Darstellung jeder Spektroskopie-Technik, bei der ein Wechselzwischen Energiezuständen (Energie-Eigenwerten) eines Systems durch Licht induziert wird.Da emittiertes Licht das System verläßt und absorbiertes Licht im System nicht als einzel-nes Photon vorkommt (lediglich die Energie der Elementarteilchen des Systems ändert sich),kommt dieser Prozeß völlig ohne eine Beschreibung des austretenden/einfallenden Lichtsselbst aus — zumindest solange wir nicht an einer Intensitätstheorie interessiert sind, die ba-sierend auf den Eigenschaften des Lichtes einem Übergang zwischen verschiedenen Energie-zuständen eine Wahrscheinlichkeit zuordnet.

Eine solche Überlegung gilt selbstverständlich für jede Art Spektroskopie,bei der Licht dazu benutzt wird, um zwischen zwei energetischen Zuständeneines Systems zu schalten. Interessanterweise ist nach der Absorption oderEmission von Licht das Licht als physikalisches Objekt (Photon) nicht mehrvorhanden. So brauchen wir tatsächlich nur die möglichen Energien des Sy-stems kennen und müssen nicht die Eigenschaften des Lichts berücksichtigen.Man beachte aber, dass wir so nur die Lage spektroskopischer Banden, nichtaber die Intensität einer Bande vorhersagen können. Für letzteres benötigtes eine Intensitätstheorie, die der jeweiligen Spektroskopie-Art angepaßt seinmuß und die auch die Eigenschaften elektromagnetischer Wellen in Form vonzusätzlichen Wechselwirkungsoperatoren im Hamilton-Operator berücksich-tigt. Interessanterweise benötigt die molekulare Spektroskopie keine Theorieeinzelner Photonen, sondern kann mit der Kontinuumsvorstellung von Licht,nämlich der klassischen elektromagnetischen Welle, sehr gut arbeiten. Einesolche Theorie heißt auch semi-klassische Theorie, weil Photonen als Quan-tenobjekte nicht auftreten.

Die Energie-Eigenwertgleichung, Gl. (2.7), wird auch stationäre Schrödinger-

Gleichung genannt, wobei ‘stationär’ nur ein anderes Wort für ‘zeitunab-hängig’ ist. Dieser Name deutet an, dass es eine Beziehung zu der in Po-

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60 2 Einführung in die Quantenmechanik

stulat 2 geforderten Bewegungsgleichung, der zeitabhängigen Schrödinger-Gleichung geben muß. Zwar sieht man sofort, dass rechte und linke Seitebeider Gleichungen ähnlich sind (der Hamilton-Operator wirkt auf einen all-gemeinen quantenmechanischen Zustand im einen Fall und auf eine Energie-Eigenfunktion im anderen), aber diese Beziehung kann man rigoros ableiten.Für das weitere Vorgehen ist diese Ableitung eigentlich nicht sehr wichtig,sie zeigt aber einen mathematischen Trick, den wir doch öfter noch benöti-gen werden. Für viele Fälle ist die Bedingung der Zeitunabhängigkeit desHamilton-Operators erfüllt, wie wir beispielhaft an Gl. (2.5) sehen können.Der Hamilton-Operator eines Systems, das von der Umgebung isoliert unddaher ungestört ist, hängt nicht von der Zeit ab. Man beachte, dass auch dieOrtskoordinaten ri in dem Operator nicht von der Zeit abhängen, denn daswürde einem klassischen Trajektorienbild entsprechen, das wir experimentellwegen der Heisenbergschen Unschärferelation ausschließen müssen.

Der Operator auf der linken Seite von Gl. (2.1) hängt nur von der Zeit undnicht von Ortskoordinaten ab. Wenn der Hamilton-Operator H nicht von derZeit abhängt, dann hängt die rechte Seite von Gl. (2.1) nur von Ortskoordina-ten ab (auch der Impuls-Operator ist ein Operator der durch Ortskoordina-ten definiert ist, was einen wichtigen Unterschied zur klassischen Mechanikdarstellt). Unter solchen Bedingungen getrennter Variablen bietet sich ein Se-parationsansatz für die Wellenfunktion an, der, wie der Name schon sagt, dieVariablen Zeit und Ort trennt und zwei voneinander unabhängige Funktio-nen einführt, von denen die eine nur von der Zeit, die andere nur von denOrtskoordinaten der Teilchen abhängt, während ihr Produkt exakt die Zu-standsfunktion liefert. Die Ableitung wird daher in Schema 2.2 vorgeführt.

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2.1 Postulate 61

Schema 2.2 Separationsansatz für die Bewegungsgleichung: Zur Lösung der zeitabhän-gigen Schrödinger-Gleichung, Gl. (2.1), kann man als ersten Schritt die Zeit-Abhängigkeitabtrennen, wenn der Hamilton-Operator nicht selbst von der Zeit abhängt.

Wir separieren Orts- und Zeitkoordinaten durch Trennung in einem Produktansatz für die Zu-standsfunktion:

Ψ(r, t) = φ(t)ψ(r) (2.8)

Der Einfachheit halber ist symbolisch nur ein Orstvektor r eingezeichnet, unabhängig davon, auswievielen Elementarteilchen das System, das von Ψ beschrieben wird, wirklich besteht. DiesenAnsatz können wir nun in die Bewegungsgleichung, Gl. (2.1) einsetzen und erhalten

ih∂

∂t

(φ(t)ψ(r)

)= H

(φ(t)ψ(r)

)(2.9)

In einer Übungsaufgabe zur Vorlesung wurde nun unter Ignorieren der Nullstellen der Funk-tionen durch den Produktansatz geteilt. Hier beschreiten wir einen eleganteren Weg, der ohnediese Annahme auskommt. Dieser Weg beginnt mit zwei Schritten, der Multiplikation mit derkomplex-konjugierten Wellenfunktion, Ψ⋆ = φ⋆(t)ψ⋆(r), von links und der Integration über alleVariablen auf beiden Seiten der Gleichung. Wegen der Operatoren, die immer nach rechts wirken,ist es nötig, genau anzugeben, von welcher Seite — links oder rechts — man jede der beiden Seiteneiner Gleichung manipuliert, so dass die Gleichheit beider Seiten gewahrt bleibt. Wir schreibenalso nach Multiplikation mit φ⋆(t)ψ⋆(r)· und Integration

ih∫

dt∫

dr φ⋆(t)ψ⋆(r)∂

∂tφ(t)ψ(r) =

dt∫

dr φ⋆(t)ψ⋆(r)Hφ(t)ψ(r) (2.10)

Die geschachtelten Integrationen darf man in Produkte aus Integralen trennen, weil die Variablennicht voneinander abhängen:

ih∫

dr ψ⋆(r)ψ(r)∫

dt φ⋆(t)∂

∂tφ(t) =

dt φ⋆(t)φ(t)∫

dr ψ⋆(r)Hψ(r) (2.11)

Nun sortieren wir die Variablen indem wir durch die Integrale, die ja nichts anderes als Zahlensind, teilen

ih

∫dt φ⋆(t) ∂

∂t φ(t)∫

dt φ⋆(t)φ(t)=

∫dr ψ⋆(r)Hψ(r)∫

dr ψ⋆(r)ψ(r)≡ E (2.12)

Man könnte hier einwenden, wie garantiert werden kann, dass die Zahlen endlich und nicht ‘un-vernünftig’ sind. In einer formalen Einführung in die Quantenmechanik, die wir hier bewußtnicht machen, sondern nur konzeptionell vorgehen, würde man dies garantieren durch Rand-bedingungen an die Wellenfunktion (vornehmlich dadurch, dass man fordert, dass eine Wellen-funktion natürlich normierbar sein muß, also ein endliches Integral besitzen muß).Die Gleichungen, die wir nun erhalten haben, sagt aus, dass zwei Zahlen, berechnet aus je zweiQuotienten zweier Integrale, einander gleich sein sollen. Diese Zahl haben wir oben als E einge-führt. Wir können also zwei separate Gleichungen formulieren

ih∫

dt φ⋆(t)∂

∂tφ(t) = E

dt φ⋆(t)φ(t) and∫

dr ψ⋆(r)Hψ(r) = E∫

dr ψ⋆(r)ψ(r) (2.13)

die sich nach Aufhebung der Integration und Rückgängigmachen der Multiplikation mit denkomplex-konjugierten Funktionen schreiben läßt als

ih∂

∂tφ(t) = Eφ(t) and Hψ(r) = Eψ(r) (2.14)

was uns die Energie-Eigenwertgleichung liefert. Die Separationskonstante E ist also die Energie.Die zeitabhängige Differentialgleichung läßt sich leicht durch Variablenseparation integrieren,wie wir es schon beim radioaktiven Zerfall vorgeführt haben. Dadurch läßt sich die Wellenfunk-tion schreiben als

Ψ(r, t) = e−iEt/h ψ(r) (2.15)

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62 2 Einführung in die Quantenmechanik

2.1.4.1 Ortsmessung, Wahrscheinlichkeitsinterpretation und Nor mierung

Wenn wir den Aufenthaltsort eines Elementarteilchens, zum Beispiel einesElektrons, bestimmen möchten, dann müssen wir entsprechend des bisher Ge-sagten, den Ortsoperator auf den quantenmechanischen Zustand anwendenund die Ortsmessung durch die Eigenfunktionen des Ortsoperators verste-hen. Diese Eigenfunktionen sind allerdings recht ungewöhnlich, so dass wireinen anderen Weg beschreiten, der völlig analog ist.

Diese alternative Darstellungsweise der Ortsmessung wurde von Born ge-geben und heißt Bornsche Interpretation. Nach Born ergibt sich eine Aufent-haltswahrscheinlichkeitsverteilung eines Elementarteilchens aus seiner Zu-standsfunktion, indem man mit der komplex-konjugierten Zustandsfunktionmultipliziert

ρ(r) = Ψ⋆(r)Ψ(r) = |Ψ((r)|2 (2.16)

(ist die Zustandsfunktion reell-wertig, kann natürlich das Komplex-Konjugie-ren entfallen; da die Wellenfunktion im Prinzip komplex-wertig sein kann,stellt man durch Komplex-Konjugieren lediglich sicher, dass die entstehendeWahrscheinlichkeitsverteilung ρ reell-wertig ist; diese Art der Multiplikationkomplexer Funktionen läßt sich auch als Betragsquadrat schreiben, wie in derGleichung angegeben).

Die Aufenthaltswahrscheinlichkeitsverteilung ρ(r) ist eine Dichtevertei-lung, weil sie eine Wahrscheinlichkeit pro Volumen angibt (ergo ist auch dieDimension der Wellenfunktion eines Teilchens [1/

√Volumen]). Wenn ρ die

Verteilung eines Elektrons im Raum beschreibt, dann kann man sie mit Ei-genschaften des Elektrons wichten und erhält so bei Multiplikation mit derLadung (−e) die Ladungsdichteverteilung und bei Multiplikations mit derMasse me die Massenverteilung.

Weil ρ(r) eine Dichteverteilung ist, also etwas pro Volumen angibt, kannman aus ihr nicht direkt die Aufenthaltswahrscheinlichkeit am Ort r ablesen.Stattdessen muß man ein Volumen definieren, in dem man die Wahrschein-lichkeit angeben möchte. Um der Wahrscheinlichkeit an einem Ort möglichstnahe zu kommen, wählt man vernünftigerweise ein infinitesimal kleines Vo-lumen um diesen Punkt, das wir schreiben wollen als dx dy dz ≡ d3r. DieWahrscheinlichkeit ist dann einfach gegeben als ρ(r)d3r. Wenn wir das Volu-men nun immer größer machen, bis der gesamte Raum umschlossen ist, dannwürden wir fordern, das Teilchen mit Gewissheit zu finden. Die Wahrschein-lichkeit muß dann gleich Eins sein. Nun können wir aber nicht einfach ρ(r)mit dem Volumen des gesamten Raums multiplizieren, weil ρ eine Funktiondes Ortes r ist und sich eben mit dem Ort verändert. Aber genau für eine sol-che Situation ist das Riemannsche Integral erfunden worden: Wir können dengesamten Raum zerlegen in unendlich viele kleine Würfel d3r, deren Wahr-

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2.1 Postulate 63

scheinlichkeiten wir aufsummieren, d.h. aufintegrieren,

∫ +∞

−∞d3r ρ(r)

!= 1 (2.17)

Um die Gleichung nicht unnötig kompliziert zu schreiben, begnügen wir unsmit einerm Integrationssymbol statt mit dreien für die drei Raumrichtungen.Das Ausrufungszeichen bedeutet, dass wir aus physikalischen Gründen for-dern, dass die Wahrscheinlichkeit, das Teilchen irgendwo zu finden, gleichEins sein muss. Wenn wir die Aufenthaltswahrscheinlichkeit W in einem end-lich großen Volumen V = (x2 − x1)(y2 − y1)(z2 − z1) wissen wollen, müssenwir lediglich über dieses Volumen integrieren,

W =∫ x2

x1

∫ y2

y1

∫ z2

z1

d3r ρ(r) (2.18)

Aus Gl. (2.17) folgt mit der Definition von ρ in Gl. (2.16) sofort für das Be-tragsquadrat der Wellenfunktion

∫ +∞

−∞d3r Ψ⋆(r)Ψ(r) = 1 (2.19)

Bisher haben wir eine solche Forderung nicht an die quantenmechanische Zu-standsfunktion gestellt. Um die obige Gleichung zu erfüllen, muß man dieZustandsfunktion mit einem sogenannten Normierungsfaktor N multiplizie-ren,

Ψ −→ NΨ (2.20)

Diese Multiplikation ist erlaubt, weil sie die Physik des Systems nicht ändert,wie man sowohl an der Bewegungsgleichung, Gl. (2.1), als auch an der Ei-genwertgleichung, Gl. (2.26), sehen kann. Beide Gleichung ändern sich nicht,wenn man jeweils beide Seiten der Gleichung mit einer Zahl multipliziert.Dies entspricht einfach der Einführung einer neuen, mit N skalierten Zu-standsfunktion Ψ ≡ NΨ. Weder das dynamische Verhalten des Zustandsnoch die Eigenwertspektren werden dadurch verändert.

Wir benötigen nun noch eine Vorschrift, die es uns erlaubt, den Normie-rungsfaktor N so zu bestimmen, dass Gl. (2.19) erfüllt werden kann. Wirschreiben dafür

∫ +∞

−∞d3r Ψ⋆(r)Ψ(r) = N 2

∫ +∞

−∞d3r Ψ⋆(r)Ψ(r) = 1

=⇒ N = +

1∫ +∞

−∞d3r Ψ⋆(r)Ψ(r)

(2.21)

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64 2 Einführung in die Quantenmechanik

wobei wir das Vorzeichen der Wurzel willkürlich auf (+) festlegen. Dies istreine Konvention.

Um die Diskussion der Aufenthaltswahrscheinlichkeit und Normierung ab-zuschliessen, müssen wir uns noch mit einer Verallgemeinerung der bisheri-gen Gleichungen beschäftigen. Eine Aufenthaltswahrscheinlichkeitsdichte ρ

hängt offensichtlich nur von einem Ort ab, ρ = ρ(r). Die Wellenfunktion hängtdagegen von allen Koordinaten der Elementarteilchen ab. Das Betragsquadrateiner Wellenfunktion für ein System mit mehr als einem Elementarteilchen istdann natürlich nicht mehr gleich der Aufenthaltswahrscheinlichkeitsdichte,weil schon die Variablenabhängigkeiten inkompatibel sind:

|Ψ(r1, r2, . . . , rN)|2 inkompatibel←→ ρ(r) (2.22)

Entsprechend der Bornschen Interpretation errechnet sich aus dem Betrags-quadrat eine Wahrscheinlichkeit W, Elementarteilchen 1 in Volumne d3r1, Ele-mentarteilchen 2 in Volumne d3r2, und so weiter zu finden, durch Multiplika-tion mit diesen infinitesimal kleinen Volumina,

W = |Ψ(r1, r2, . . . , rN)|2d3r1 d3r2 · · · d3rN (2.23)

In der Regel wird uns eine solche Wahrscheinlichkeit nicht interessieren. Wirsind eher daran interessiert zu fragen, was der Anteil an Elementarteilchen ineinem vorgegebenen Raum d3r ist, wobei die Elementarteilchen in ihren phy-sikalischen Eigenschaften (Ladung, Masse) ununterscheidbar sind. In einemSystem gleicher Elementarteilchen, einer Ansammlung Elektronen beispiels-weise, sind die einzelnen Elektronen daher nicht unterscheidbar. Daher inte-grieren wir N − 1 beliebige elektronische Variablen aus und erhalten so eineAufenthaltswahrscheinlichkeitsdichte für unser System aus N Elementarteil-chen,

ρ(r1) ≡ N∫ +∞

−∞d3r2 · · ·

∫ +∞

−∞d3rN |Ψ(r1, r2, . . . , rN)|2 (2.24)

wobei wir willkürlich die Koordinaten des ersten Elektrons ausgewählt ha-ben, über die wir nicht integriert haben (wir hätten wegen der Ununterscheid-barkeit auch jede andere elektronische Koordinate wählen können). Man be-achte auch, dass diese Elektronenverteilungsdichte ρ eine Funktion des Or-tes — aber nicht des Ortes eines bestimmten Elektrons — ist. Aus all diesenGründen sollte man bei der Angabe der funktionalen Abhängigkeiten, demOrt keinen weiteren Index geben ρ(r1)→ ρ(r).

Wenn wir nun noch diese letzte Koordinate über den gesamten Raum aus-integrieren, müssen wir wieder die Zahl der Teilchen finden∫ +∞

−∞d3r1 ρ(r1) = N

∫ +∞

−∞d3r1 . . .

∫ +∞

−∞d3rN |Ψ(r1, r2, . . . , rN)|2

︸ ︷︷ ︸

≡1

= N (2.25)

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2.1 Postulate 65

weshalb wir oben explizit die Teilchenzahl N in die Definition eingeführt ha-ben. All diese Verallgemeinerungen sind kompatibel mit dem eingangs be-sprochenen Fall von nur einem Teilchen, N = 1, bei dem natürlich sämtlicheIntegrationen über d3r2 und weitere Variablen wegfallen, weil es sie einfachnicht gibt. Ferner gibt es eine enge Beziehung mit der Normierungsbedingungfür eine Wellenfunktion für ein System mit mehr als einem Teilchen, wie in dervorstehenden Gleichung durch die geschweifte Klammer angedeutet wurde.

2.1.4.2 Erwartungswerte

Erwartungswerte: Der Mittelwert A (oft auch 〈A〉 geschrie-ben) vieler Messungen einer Observablen A an identischpräparierten Systemen wird auch Erwartungswert genanntund berechnet sich nach

A =

r1· · ·∫

rNΦ⋆ AΦ d3r1 · · ·d3rN

r1· · ·∫

rNΦ⋆Φ d3r1 · · ·d3rN

(2.26)

Die Integrationen sind über den gesamten Variablenbereich (also den ge-samten Raum) druchzuführen. Wenn der quantenmechanische Zustand Φ

normiert ist, so entfällt die Division, weil das Integral im Nenner dann gleichEins ist. Bewußt wurde hier die Zustandsfunktion Ψ, die Eigenfunktion desHamilton-Operators sei, durch eine allgemeine Funktion Φ ersetzt, da wir voreiner Messung keine Annahme über den Zustand eines Systems machen kön-nen (erst nach der Messung liegt der Zustand als Eigenfunktion zu einem vorder Messung nicht festliegenden Eigenwert der beobachteten Größe vor). DerZustand Φ kann geschrieben werden als Superposition der Eigenzustände derObservablen. Die Integration über die Variablen, von denen der quantenme-chanische Zustand abhängt, ist notwendig, da ein Mittelwert eine Zahl undselbst keine Funktion ist. Wir müssen hier also ein Mittel finden, dass es unserlaubt, die funkionelle Abhängigkeit zu eliminieren, und das ist genau dieIntegration über diese Variablen.

Das Komplex-Konjugieren der Funktion Φ links vom Operator A ist not-wendig, damit garantiert werden kann, dass alle Mittelwerte reelle Zahlensind. Im Prinzip ist eine quantenmechanische Zustandsfunktion komplex-wertig (vgl. den imaginären Phasenfaktor der bei der Abseparation der Zeit-abhängigkeit entstand). Komplexe Zahlen können aber keine Meßwerte sein.Um garantiert stets reelle Zahlen als Mittelwerte zu erhalten, muß man einekomplexe Funktion mit ihrer komplex-konjugierten Funktion multiplizieren.Auf diese Weise wird garantiert, dass die Zahl, die das Ergebnis der Integrati-on ist, nicht komplex-wertig, sondern reell ist, also A ∈ R. Wer nun etwas wei-ter überlegt, wird fragen, wie wir denn garantieren können, dass überhauptdie Eigenwerte stets reelle Zahlen sind, denn offensichtlich multiplizieren wir

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66 2 Einführung in die Quantenmechanik

in den Eigenwertgleichungen oben nicht mit der komplex-konjugierten Ei-genfunktion. Man kann zeigen, dass die Operatoren, die den physikalischenObservablen zugeordnet werden, eine besondere mathematische Eigenschaft,die Hermitizität, besitzen, die garantiert, dass ihre Eigenwerte stets reelle Zah-len sind. Es würde in dieser Einführung aber zu weit führen, tiefer in die ma-thematischen Grundlagen des quantenmechanischen Formelapparats vorzu-dringen.

Eine Frage stellt sich nun aber doch noch: wie kommt man auf einen aufden ersten Blick so ungewohnt aussehenden Ausdruck für den Mittelwert?Zunächst stellen wir fest, dass wir den Eigenwert Ai erhalten wenn Φ in allenMessungen stets der Eigenzustand Ψi des Operators A war,

AΦ→Ψi=

r1· · ·∫

rNΨ⋆

i AΨi d3r1 · · ·d3rN∫

r1· · ·∫

rNΨ⋆

i Ψi d3r1 · · ·d3rN

(2.26)=

r1· · ·∫

rNΨ⋆

i AiΨi d3r1 · · ·d3rN∫

r1· · ·∫

rNΨ⋆

i Ψi d3r1 · · ·d3rN

= Ai

r1· · ·∫

rNΨ⋆

i Ψi d3r1 · · ·d3rN∫

r1· · ·∫

rNΨ⋆

i Ψi d3r1 · · ·d3rN︸ ︷︷ ︸

=1

= Ai (2.27)

Die Definition des Erwartungswert ist in dieser Hinsicht also konsistent mitPostulat 3, das besagt, dass man stets den Eigenwert zur Eigenfunktion mes-sen wird, wenn das System sich in diesem Eigenzustand befindet. Wenn A einOperator ist, der keine Ableitungsoperatoren wie den Nabla-Operator oderden Laplace-Operator enthält, also bestenfalls von den Ortsoperatoren ab-hängt, ein sogenannter multiplikativer Operator ist, der nur an die Zustands-funktion anmultipliziert wird, dann können wir die Kommutativität reellerZahlen und die Defintion der Wahrscheinlichkeitsverteilung ausnutzen

r1

· · ·∫

rN

Φ⋆ AΦ d3r1 · · ·d3rN =∫

r1

· · ·∫

rN

AΦ⋆Φ d3r1 · · ·d3rN

(2.24)=

r1

Aρ(r1)d3r1 (2.28)

für einen normierten Zustand Φ. Im Falle eines multiplikativen Operatorshängt also der Mittelwert der Meßergebnisse von der Wahrscheinlichkeits-dichteverteilung ρ ab. Dies läßt sich verallgemeinern auf nicht-multiplikativeOperatoren, erfordert aber dann die Einführung von Dichtematrizen, was hierzu weit führen würde.

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2.1 Postulate 67

2.1.5Postulat 4: Kommutatorbeziehungen

Das vorletzte Postulat implementiert die Heisenbergsche Unschärferelation indie Grundmauern der Quantenmechanik. Diese besagt, dass es uns prinzipiell

nicht möglich sein wird, bestimmte Observablen beliebig genau gleichzeitig zumessen. Weil Meßgenauigkeit in der Theorie durch ein eigenes Operatorkon-strukt definiert werden müßte, fordern wir eine Form des Unbestimmtheits-prinzips, das die ‘elementaren’ Operatoren für Ort und Impuls direkt verwen-det.

Wie bereits erläutert bedeutet die Anwendung eines Operators A auf dieZustandsfunktion Ψ die Messung dieser Observablen. Wenn wir danach ei-ne andere Observable B messen wollen, wenden wir den Operator B auf dasErgebnis der ersten Messung also auf [AΨ] an. Das Ergebnis ist BAΨ. Wenndieser elementare Prozeß des Messens von zwei Observablen in der Quanten-mechanik stets unabhängig voneinander sein soll, dann muß der umgekehrteProzeß — also die Messung von B vor A, ABΨ — dasselbe Ergebnis liefern.Wenn wir die Meßergebnisse beider Messungen voneinander abziehen, sollteNull das Ergebnis sein:

BAΨ− ABΨ =(

BA− AB)

Ψ = 0 (2.29)

Diese Beziehung läßt sich auch nur als Operatorgleichung schreiben für zweiOperatoren, die unabhängig voneinander meßbare Observablen repräsentie-ren,

BA− AB = 0 =⇒ BA = AB (2.30)

Die Frage nach der unabhängigen Meßbarkeit reduziert sich also auf die Fra-ge, ob die beiden Operatoren kommutieren, weswegen der zusammengesetzteOperator auf der linken Seite Kommutator genannt und durch ein eigenes Sym-bol abgekürzt,

[B, A

] ≡ BA− AB (2.31)

Wenn der Kommutator also verschwindet, werden die beiden Observablenunabhängig voneinander meßbar sein. Umgekehrt kann die Unschärferelati-on nur greifen, wenn genau dies nicht gilt. Folglich müssen wir für zwei Ob-servablen C und D, die nicht unabhängig voneinander meßbar sind, fordern,dass ihr Kommutator nicht gleich Null ist,

[C, D

]6= 0 (2.32)

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68 2 Einführung in die Quantenmechanik

Postulat 4: Die Komponenten der Orts- und Impulsopera-toren erfüllen folgende Kommutatorbeziehungen:

pirj − rj pi = 0 ∀i 6= j (2.33)

und

pirj − rj pi = −ih ∀i = j (2.34)

wobei i, j ∈ {x, y, z}, also die Komponenten der vektoriel-len Operatoren bezeichnen.

Dieses Postulat läßt sich elegant in einer Gleichung schreiben,

[pi, rj

]= −ih δij (2.35)

(mit i, j ∈ {x, y, z}) wenn wir das sogenannte Kronecker-Delta definieren

δij =

{0 , wenn i 6= j

1 , wenn i = j(2.36)

Ferner gilt offensichtlich

[ri, pj

]= − [ pi, rj

]= ih δij (2.37)

Abschließend muß noch betont werden, dass auch im Zusammenhang mitder Heisenbergschen Unschärferelation auf eine genaue Formulierung geach-tet werden muß. Oft wird zu salopp gesagt, dass die Heisenbergsche Unschär-ferelation besagt, dass man Ort und Impuls nicht beliebig genau messen kann(gelegentlich wird sogar der Zusatz ‘beliebig genau’ weggelassen, was einevöllig unsinnige Aussage ergibt). Das ist falsch, weil man sehr wohl den Ort ineiner Richtung und den Impuls in eine andere Richtung beliebig genau mes-sen können wird, weil diese Messungen voneinander unabhängig sind. Erstwenn man diese beiden Größen versucht in ein und derselben Richtung beliebig

genau zu messen, wird dies nicht möglich sein, weil die Messung beider Grö-ßen in derselben Richtung per Postulat nicht unabhängig voneinander seinkann.

Die Forderung, dass manche Operatoren nicht kommutieren dürfen, bedeu-tet natürlich eine starke Forderung an die explizite Form der Operatoren. Re-elle Zahlen kommutieren. Daher werden auch Funktionen reeller Zahlen, wiezum Beispiel die Komponenten des Ortsoperators, kommutieren. Um die po-stulierten Kommutatorbeziehungen zu erfüllen muß wenigstens einer der bei-den Operatoren ein Differentialoperator sein, so dass Kraft der Produktregelnicht verschwindende Terme entstehen können. Ferner muß es sich um parti-elle Differentialoperatoren handeln, damit eine Ableitung in x-Richtung den

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2.2 Quantenmechanische Drehbewegung und Spin 69

Ortsoperator in x-Richtung betrifft, während die anderen Richtungen und da-her die anderen Komponenten des Ortsoperators Konstanten bezüglich derDifferentiation nach x sind. Im Zusammenhang mit Postulat 2 haben wir dieexplizite Form der Orts- und Impulsoperatoren bereits eingeführt. Man kannnun leicht verifizieren, dass ihre Komponenten tatsächlich die hier geforder-ten Kommutator-Relationen erfüllen.

Es sei nochmals erwähnt, dass man diese Wahl der Orts- und Impulsope-ratoren Ortsdarstellung nennt. Eine völlig äquivalente Darstellung der Opera-toren entsteht, wenn die Impulsoperatorkomponenten multiplikativ gewähltwerden, während dann die Ortsoperatorkomponenten partielle Ableitungennach den Impulsvariablen sein müssen. Diese Darstellung nennt man Impuls-

darstellung, sie spielt aber in der Molekülchemie eine eher untergeordnete Rol-le und soll daher hier nicht weiter verfolgt werden.

2.2Quantenmechanische Drehbewegung und Spin

2.2.1Drehimpulse in der Quantenmechanik

Dem Korrespondenzprinzip folgend führen wir einen Operator für den Dreh-impuls analog der Form des klassischen Ausdrucks ein

l = r × pK.p.−→ l = r× p (2.38)

Da wir explizite Ausdrücke für die Operatoren von Ort und Impuls, r undp, bereits kennen, können wir durch Auswerten des Vektorprodukts l kom-ponentenweise berechnen. Soweit soll unsere Diskussion aber nicht gehen.Vielmehr sollen uns nur die zugehörigen Eigenwertgleichungen interessie-ren. Wenn man das Kommutationsverhalten der Komponenten lx, ly und lz

untersucht, so stellt man fest, dass Eigenfunktionen einer dieser Komponentenicht Eigenfunktionen der anderen sind. Daher kann man für Drehimpulsenur zwei Eigenwertgleichungen mit gemeinsamen Eigenfunktionen formu-lieren, eine für eine der Komponenten — und wir wählen willkürlich die z-Komponente, zumal wir das Koordinatensystem stets beliebig drehen können—,

lz Ylm = m h Ylm (2.39)

sowie eine für das skalare Drehimpulsoperatorquadrat

l2

Ylm = l(l + 1) h2 Ylm (2.40)

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70 2 Einführung in die Quantenmechanik

Ein solches Paar von Eigenwertgleichungen mit gemeinsamer Eigenfunktionläßt sich für jeden quantenmechanischen Drehimpulsoperator schreiben. DieZahlen m und l sind ganzzahlig (oder unter bestimmten Bedingungen auchhalbzahlig) und werden magnetische Quantenzahl beziehungsweise Drehim-

pulsquantenzahl genannt. Während für eine Bahndrehimpulsquantenzahl giltl ∈ N0, also l = 0, 1, 2, 3, . . . , hängt m von l ab, nämlich stets als m =−l,−l + 1,−l + 2, . . . , +l. Da eine Eigenfunktion in zwei Eigenwertgleichun-gen zu den zwei Quantenzahlen m und l auftritt, wurden beide Quantenzah-len als Index verwendet, um die Eigenfunktionen voneinander zu unterschei-den. Zu einem gegebenen Wert von l kann man offensichtlich (2l + 1) ver-

schiedene m-Werte erhalten, die aber alle denselben Eigenwert von l2

besit-zen, nämlich l(l + 1)h2. Man sagt, dass dieser Eigenwert daher (2l + 1)-fachentartet ist. Die Entartung gibt an, wieviele Eigenfunktionen zum gleichen Ei-genwert gefunden werden können.

Die explizite Form der Ylm folgt aus der Lösung der Eigenwertgleichungen,für die man die Drehimpulsoperatoren explizit entsprechend dem Korrespon-denzprinzip berechnen muß. Weil dabei die Komponenten des Impulsope-rators verwendet werden, entstehen notwendigerweise Differentialgleichun-gen, deren Lösungsfunktionen die Ylm sind. Sie werden Kugelflächenfunktionen

genannt. Ihre explizite Form ist aber nicht weiter wichtig. Wir müssen ledig-lich wissen, dass sie obige Eigenwertgleichungen erfüllen, wenn wir das Was-serstoffatom studieren wollen, bei dem sich ein Elektron um ein Proton dreht.

2.2.2Der Stern-Gerlach-Versuch

An der Lösung der Schrödinger-Gleichung für das Wasserstoffatom wird mansehen (s.u.), dass ein solches Atom im Grundzustand der Energie keinen Dre-himpuls besitzt: Weil die Drehimpulsquantenzahl l = 0, verschwindet auchder Drehimpuls l(l + 1) h2 = 0. Dementsprechend kann kein magnetischesMoment erzeugt werden, dass mit einem externen magnetischen Feld wech-selwirken könnte.

Diese Annahme kann man versuchen zu bestätigen, indem man einenStrahl von Wasserstoffatomen präpariert und in ein Magnetfeld einstrahlt.Entsprechend unseren bisherigen Betrachtungen müßte der Strahl unverän-dert das Feld passieren. Das wird allerdings nicht beobachtet. Tatsächlich hatdas Magnetfeld einen Einfluß, der den Strahl in zwei Teile aufspaltet. AmDetektor sehen wir nicht einen Fleck, sondern zwei.

Dementsprechend müssen die Wasserstoffatome doch ein magnetischesMoment besitzen, dass mit dem Magnetfeld wechselwirkt. Dieses magne-tische Moment kann aber nicht von der Rotationsbewegung des Elektronsstammen, weil wir schon gesehen haben, dass das Elektron im Grundzustand

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2.2 Quantenmechanische Drehbewegung und Spin 71

des Wasserstoffatoms keinen Bahndrehimpuls besitzt. Mangels Alternativeschlugen Goudsmit und Uhlenbeck vor, dass Elektronen einen weiteren Dre-himpuls besitzen, den man klassisch nicht erklären kann. Dieser quantenme-chanische Drehimpuls wird Spin genannt.

Das gerade beschriebene Experiment wurde Ende der 1920er Jahre mit ei-nem Wasserstoffatomstrahl durchgeführt. Zu der Zeit war der Spin als in derklassischen Welt nicht vorkommende Observable bereits vorgeschlagen undakzeptiert. Der Vorschlag des Spins von Goudsmit und Uhlenbeck ging aufein Experiment von Stern und Gerlach von 1924 zurück, die einen Strahl vonSilberatomen verwendeten. Silberatome eignen sich für das Experiment be-sonders, weil man sie beim Auftreffen auf einen Schirm durch die mit dembloßen Auge sichtbare Schwärzung direkt sehen kann. Sie haben aber auchden Nachteil, dass jedes Silberatom aus sehr vielen Elektronen besteht, dieTheorie von Vielelektronensystemen an dieser Stelle jedoch noch gar nichtentwickelt ist. Es ist a priori gar nicht klar, warum sich die 47 Elektronen ineinem Silberatom im Magnetfeld genau so verhalten sollten wie ein einzel-nes Elektron im Wasserstoffatom. Erst die Theorie von Vielelektronensyste-men kann zeigen, dass sich die Spins der Elektronen im Silberatom paarweisezu einem Spin von Null koppeln lassen, so dass der Gesamtspin eines Silbe-ratoms durch ein ungepaartes Elektron bestimmt wird.

2.2.3Spin als quantenmechanischer Drehimpuls

Die im Stern–Gerlach-Versuch gemachten Beobachtungen kann man quanten-mechanisch durch einen Drehimpuls beschreiben, der Eigenschaft einiger Ele-mentarteilchen ist und in der klassischen Physik so nicht vorkommt. Es han-delt sich um einen Eigendrehimpuls, der Spin genannt wird. Man kann sichdiesen Eigendrehimpuls allerdings nicht als eine Drehung des Teilchens umsich selbst im klassisch-physikalischen Sinne vorstellen.

Wichtig ist nur, dass Spin als beobachtbare Eigenschaft eines Teilchens einenzugeordneten Operator s besitzt, der Vektorcharakter hat — also drei Kompo-nenten sx , sy und sz besitzt — und die Eigenwertgleichungen eines quanten-mechanischen Drehimpulses erfüllt, die wir schreiben wollen als

s2 σsms = s(s + 1) h2 σsms (2.41)

sz σsms = ms h σsms (2.42)

wobei σsms die gemeinsame Eigenfunktion ist mit den Spinquantenzahlen s

und ms als Indices. Während s je nach Elementarteilchen ganz- oder halbzah-lig sein kann, gilt für ms jedoch stets ms = −s,−s + 1, . . . , +s.

Für Elektronen gilt s = 1/2 und daher ms = −1/2, +1/2. Die beiden Spin-zustände zu den ms-Quantenzahlen werden β-Spin beziehungsweise α-Spin

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72 2 Einführung in die Quantenmechanik

genannt. Elementarteilchen mit halbzahligen Spinquantenzahlen s heißen Fer-

mionen, während diejenigen mit ganzzahligem Spin Bosonen genannt werden.

2.3Einfache quantenmechanische Modellsysteme

2.3.1Das Teilchen im Kasten

Das Modellproblem des Teilchens im Kasten wird zeigen, wie in der Quan-tenmechanik die Quantelung einer Observablen, hier der Energie, entstehenkann. Die quantenmechanische Beschreibung der Bewegung eines freien Teil-chens zeitigt Energieeigenwerte, die kontinuierlich sind. Ein freies Teilchenkann also jede beliebige kinetische Energie annehmen. Um eine Quantelungder Energie beobachten zu können, müssen wir die Bewegung des Teilchenseinschränken. Dies kann durch Einführung eines Operators für die potentielleEnergie in den Hamilton-Operator erfolgen. Das einfachste Potential, das dieBewegung in einer Richtung x einschränkt, ist das von zwei Wänden. EineBewegung in die beiden anderen Raumrichtungen lassen wir der Einfachheithalber nicht zu.

Die Energieeigenwertgleichung, die diese Situation beschreibt, lautet dann[

− h2

2m

d2

dx2 + V(x)

]

Ψn(x) = En Ψn(x) (2.43)

mit

V(x) =

{0 für 0 ≤ x ≤ L

+∞ sonst(2.44)

so dass unendlich hohe (Potential-)Wände bei x=0 und x=L hochgezogen wer-den. Innerhalb des Kastens, wenn 0 ≤ x ≤ L, vereinfacht sich die Differenti-algleichung zu

− h2

2m

d2

dx2 Ψn(x) = En Ψn(x) (2.45)

wobei wir nur noch fordern müssen, dass die Wellenfunktion nicht in der un-endlich hohen Wand “leben”, beziehungsweise sich das Teilchen dort nichtaufenthalten kann. Die Wellenfunktion muß daher Null werden, sobald diePotentialwand beginnt, also Ψn(0) = Ψn(L) = 0. Die obige Eigenwertglei-chung ist vom Typ einer homogenen Differentialgleichung zweiter Ordnung

d2

dx2 Ψn(x) = −2mEn

h2 Ψn(x) (2.46)

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2.3 Einfache quantenmechanische Modellsysteme 73

deren Lösungen bekannt sind (s. Anhang) und stets geschrieben werden kön-nen als

Ψn(x) = A sin

(√

2mEn

h2 x

)

+ B cos

(√

2mEn

h2 x

)

(2.47)

wobei A und B die beiden Integrationskonstanten sind. Wenn wir nun diebeiden Randbedingungen an die Wellenfunktion auswerten, zeigt sich, dassB = 0 sein muß, weil

Ψn(0) = A sin (0)︸ ︷︷ ︸

=0

+B cos (0)︸ ︷︷ ︸

=1

!= 0 (2.48)

Dann erhalten wir für die zweite Randbedingung

Ψn(L) = A sin

(√

2mEn

h2 L

)

!= 0 (2.49)

Diese Gleichung kann nur erfüllt werden, wenn das Argument der Sinus-Funktion ein ganzzahliges Vielfaches von π ist,√

2mEn

h2 L = n π ∀n ∈ N0 (2.50)

Für n = 0 erhalten wir aber Ψn(x)=A=constant, was einer physikalisch nichtrelevanten Lösung entspricht. Daher gilt für den Index n, der die Eigen-zustände eines Teilchens in einem eindimensionalen Potentialkasten zählt:n ∈ N.

Aus Gl. (2.50), die einzig und allein aus der Randbedingung des Operatorsder potentiellen Energie an die Wellenfunktion folgt, erhalten wir bereits dieEnergieeigenwerte,

2mEn

h2 L2 = n2 π2 ⇒ En =n2π2 h2

2mL2 =n2h2

8mL2 (2.51)

die sich als gequantelt herausstellen: Nicht jeder Energiewert ist erlaubt.

2.3.2Der harmonische Oszillator

Das nächst komplexere Modellproblem ist eine eindimensionale Schwingung,wie wir sie schon in Abschnitt 1.1.6 in der klassischen Physik kennengelernthaben. Dieses Modellproblem ist zentral für die quantenmechanische Deu-tung molekularer Schwingungen. Wir nehmen wiederum an, dass die Aus-lenkungskraft proportional zur Auslenkung x, also harmonisch ist (wobei der

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74 2 Einführung in die Quantenmechanik

Gleichgewichtsabstand als Ursprung gewählt wurde, so dass x direkt die Aus-lenkung mißt). Aus dem Korrespondenzprinzip erhalten wir dann direkt denOperator für die potentielle Energie aus der klassischen potentiellen Energiedieses harmonischen Oszillators,

V(x) =12

kx2 K.p.−→ V(x) =12

kx2 (2.52)

Damit lautet die Schrödinger-Gleichung für dieses eindimensionale Problem[

− h2

2m

d2

dx2 +12

kx2

]

Ψn(x) = En Ψn(x) (2.53)

Die Lösung dieser Differentialgleichung ist nicht ganz einfach. Man erhält alsEigenwert

En = hν

(

n +12

)

∀n ∈ N0 (2.54)

Die Energien des quantenmechanischen Oszillators sind also gequantelt mitder Schwingungsquantenzahl n. Die Schwingungsfrequenz ν berechnet sichaus den Materialkonstanten, nämlich aus der Masse des schwingenden Teil-chens und der Kraftkonstante des Federpotentials,

ν =1

k

m(2.55)

2.3.3Das Wasserstoff-Atom

Wir wenden uns nun der quantenmechanischen Behandlung des Wasserstoff-Atoms zu. Bei der Diskussion der Schlüsselexperimente in Kapitel 1 habenwir die Fraunhoferschen Linien kennengelernt, die den Energiedifferenzenzwischen zwei elektronischen Zuständen im Wasserstoff-Atom entsprechen.Bohr versuchte diesen Sachverhalt in seinem Modell abzubilden, verwende-te dazu aber ad hoc Annahmen, die zwar die Fraunhoferschen Linien schließ-lich erklären, aber ansonsten zu Widersprüchen innerhalb des Modells führen.Die Quantenmechanik muß dieses Problem nun lösen können. Weil wir anEnergiedifferenzen interessiert sind, muß die Quantenmechanik als Eigenwer-te dieselben Energien liefern, die Bohr als Energien der Bahnen festen Radiusableitete, aber ohne irgenwelche zusätzlichen Annahmen zu machen (außerden allgemeingültigen Postulaten der Quantenmechanik).

Daher starten wir mit der Energie-Eigenwertgleichung, in der wir für denHamilton-Operator des Wasserstoff-Atoms, der die kinetische Energie von

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2.3 Einfache quantenmechanische Modellsysteme 75

Proton p und Elektron e, sowie deren potentielle Energie umfaßt, zu beschrei-ben haben:

HH−Atom = − h2

2mp∆p −

h2

2me∆e −

14πǫ0

e2

|re − rp|(2.56)

Offensichtlich hängt dieser Operator dann aber bereits von sechs Koordi-naten ab, (xe, ye, ze) und (xp, yp, zp), während wir bisher nur Schrödinger-Gleichungen behandelt haben, die von nur einer Koordinate, x, abhingen. Umdas Problem zu vereinfachen, nutzen wir die Tatsache aus, dass ein Proton fast2000 mal schwerer ist als ein Elektron. Wenn wir die Protonenmasse unend-lich groß wählen, verschwindet der Operator für die kinetische Energie desProtons wegen limmp→∞(1/mp) = 0, so dass der Hamilton-Operator sich ver-einfacht zu

HH−Atom = − h2

2me∆e −

14πǫ0

e2

|re − rp|(2.57)

Nun haben wir drei Protonenkoordinaten in dem kinetischen Energieoperatoreliminiert, allerdings verbleiben sie noch in der Coulomb-Wechselwirkung.Diese können wir aber leicht löschen, indem wir einfach den Ort des sich nichtmehr bewegenden Protons (mp = ∞) als Koordinatenursprung wählen, rp →0. Dann definieren wir den Abstand des Elektrons vom Ursprung als r ≡ |re−0| = |re| und erhalten

HH−Atom = − h2

2me∆e −

14πǫ0

Ze2

r(2.58)

Man beachte, dass wir hier die Kernladungszahl Z explizit ausgeschriebenhaben, weil dann alles im folgenden Gesagte nicht nur für das Wasserstoff-Atom, sondern für alle wasserstoffähnlichen Atome gilt, also für alle Atomemit nur einem Elektron, wie zum Beispiel He+ oder Hg79+.

Die Näherung der unendlich großen Masse ist eine spezielle Form der soge-nannten Born–Oppenheimer-Näherung, die wir im Kapitel 3 genauer ansehenwerden. Man muß diese Näherung allerdings nicht machen, weil man dreiKoordinaten rigoros abtrennen kann durch eine Koordinatentransformation,die die Translation des Massenschwerpunkts von der internen Bewegung desElektrons relativ zum Proton abtrennt. Bei dieser Koordinatentransformation,die neue Schwerpunktskoordinaten und Relativkoordinaten einführt, entstehtder Abstand zwischen Proton und Elektron, der für den Coulomb-Operatorbenötigt wird, in natürlicher Art und Weise. Man erhält dann fast denselbenHamilton-Operator wie im Rahmen der Born–Oppenheimer-Näherung, oh-ne aber eine Näherung eingeführt zu haben. Der einzige Unterschied ist dieMasse: Statt der Elektronenmasse me entsteht die reduzierte Masse µ,

µ =me mp

me + mp

(

offensichtlich gilt limmp→∞

µ = limmp→∞

[me

me/mp + 1

]

= me

)

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76 2 Einführung in die Quantenmechanik

(2.59)

so dass der exakte Hamilton-Operator lautet

HH−Atom = − h2

2µ∆e −

14πǫ0

Ze2

r(2.60)

Wir können also mit dem Operator in Born–Oppenheimer-Näherung fortfah-ren, weil wir die exakte Lösung des Wasserstoff-atoms stets erhalten, wennwir statt me µ schreiben.

Bevor wir uns nun die Eigenwertgleichung für diesen Operator ansehen,sollten wir noch in ein dem Problem angepaßtes Koordinatensystem wech-seln. Wir beschreiben die Bewegung eines Teilchens (des Elektrons) um einruhendes Teilchen (das Proton), mit dem es wechselwirkt. Es handelt sich alsoum ein Zentralfeldproblem von der Art, wie wir es schon in Abschnitt 1.1.4.7kennengelernt haben. Daher bietet sich eine Transformation von kartesischenzu sphärischen Koordinaten an: (x, y, z) → (r, ϑ, ϕ). Tatsächlich verwendenwir bereits problemangepaßte Koordinaten für den Coulomb-Operator, da-durch dass wir den (radialen) Abstand r von Elektron und Proton einführten.Für diesen Wechselwirkungsoperator ist die Orientierung von Elektron undProton zueinander nicht wichtig und daher spielen die Winkel ϑ und ϕ keineRolle. Dies ist nicht mehr der Fall beim Operator für die kinetische Energie,für den wir einen Ausdruck finden müssen

∆e = ∆(x, y, z) −→ ∆(r, ϑ, ϕ) =? (2.61)

wobei wir den Index e zur Kennzeichnung der Koordinaten des Elektrons fal-lengelassen haben, weil die Protonenkoordinaten, von denen man unterschei-den möchte, nun nicht mehr auftreten. Einen Ausdruck für ∆(r, ϑ, ϕ) kannman durch mühsames Anwenden der Kettenregel unter Verwendung der Zu-sammenhänge zwischen den beiden Koordinatensystemen, die in Abb. 1.2 ge-geben wurden, finden (zum Beispiel wird diese Rechnung im Anhang desBuchs von Wedler [4] explizit vorgeführt; eine allgemeine Behandlung vonKoordinatensystemswechseln, die alle denkbaren Fälle abdeckt, geben Mar-genau und Murphy [7]). Diesen mühsamen Weg gehen wir allerdings hiernicht, sondern benutzen wieder das Korrespondenzprinzip.

Schon in der klassischen Physik stellt sich die Frage, wie man die kineti-sche Energie eines rotierenden Teilchens aus Gl. (1.23) ausdrücken kann durchintuitivere (also problemangepaßte) Ausdrücke, nämlich durch die Rotations-

energie Trot und durch einen kinetischen Beitrag in radialer Richtung Tr

T(x, y, z) =p2

2m−→ T(r, ϑ, ϕ) =

l2

2mr2︸ ︷︷ ︸

≡Trot

+p2

r

2m︸︷︷︸

≡Tr

(2.62)

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2.3 Einfache quantenmechanische Modellsysteme 77

Der Impuls läßt sich also in Kugelkoordinaten schreiben als

p2 = p2r +

l2

r2 (2.63)

mit dem Drehimpuls l = l(ϑ, ϕ) = r× p. Oft führt man noch das Trägheitsmo-

ment I ≡ mr2 ein, um im Nenner einen Ausdruck für die Drehmasse zu haben,so dass die Struktur der Rotationsenergie derjenigen der kinetischen Energieaus Gl. (1.23) entspricht (‘Impulsquadrat geteilt durch die doppelte Masse’).

Wenn wir nun das Korrespondenzprinzip anwenden, erhalten wir direktfür den Operator der kinetischen Energie des Elektrons

p2

2me= − h2

2me∆e =

p2r

2me+

l2

2mer2 (2.64)

mit dem Drehimpulsoperator l2, dessen explizite Form wir nach wie vor nicht

benötigen werden, und dem Operator für den Radialimpuls

pr = −ih(

∂r+

1r

)

= −ih1r

(

r∂

∂r+ 1)

= −ih1r

(∂

∂rr

)

(2.65)

Für das Quadrat des Radialimpulsoperators gilt dann

p2r = pr pr = (−ih)2 1

r

∂rr

1r

∂rr = −h2 1

r

∂2

∂r2 r (2.66)

Damit können wir nun den Hamilton-Operator für das Wasserstoff-Atomschreiben als,

HH−Atom = − h2

2me

1r

∂2

∂r2 r +l2

2mer2 −1

4πǫ0

Ze2

r(2.67)

und erhalten die zugehörige Schrödinger-Gleichung als[

− h2

2me

1r

∂2

∂r2 r +l2

2mer2 −1

4πǫ0

Ze2

r

]

Ψi(r, ϑ, ϕ) = EiΨi(r, ϑ, ϕ) (2.68)

Dies ist eine partielle Differentialgleichung zweiter Ordnung, die wir so nichtlösen können, weil sie von drei Koordinaten (r, ϑ, ϕ) abhängt. Die Form desHamilton-Operators in radialen Koordinaten erlaubt es uns aber, einen An-satz für die Wellenfunktion Ψi zu wählen, der die radiale Koordinate von denWinkelkoordinaten trennt,

Ψi(r, ϑ, ϕ) = Ni Ri(r) Yi(ϑ, ϕ) (2.69)

mit Ni als Normierungsfaktor. Während wir die Funktion, die nur von der ra-dialen Koordinate r abhängt, die sogenannte Radialfunktion Ri(r), nicht ken-nen, sei die Winkelfunktion Yi(ϑ, ϕ) identisch zu den Eigenfunktionen des

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78 2 Einführung in die Quantenmechanik

Drehimpulsoperatorquadrats l2, also den Kugelflächenfunktionen Ylm(ϑ, ϕ)

aus Gl. (2.40), gewählt. Diese Wahl für die winkelabhängigen Funktionen bie-

tet sich an, weil in obiger Gleichung nur noch l2

von den Winkeln abhängt.Sie erlaubt uns schließlich beide Winkelabhängigkeiten aus der Gleichungzu eliminieren, so dass eine gewöhnliche Differentialgleichung in r entsteht,die exakt lösbar ist (s. Anhang). Um dies zu sehen, multiplizieren wir dieSchrödinger-Gleichung für das H-Atom von links mit Y⋆

lm(ϑ, ϕ) und integrie-ren die Winkelabhängigkeit aus,

− h2

2me

1r

∂2

∂r2 rRi(r)∫ π

0sin ϑ dϑ

∫ 2π

0dϕY⋆

lmYlm

︸ ︷︷ ︸

=1

+1

2mer2 Ri(r)∫ π

0sin ϑ dϑ

∫ 2π

0dϕY⋆

lm l2Ylm

︸ ︷︷ ︸

=l(l+1)h2

− 14πǫ0

Ze2

rRi(r)

∫ π

0sin ϑ dϑ

∫ 2π

0dϕY⋆

lmYlm

︸ ︷︷ ︸

=1

= EiRi(r)∫ π

0sin ϑ dϑ

∫ 2π

0dϕY⋆

lmYlm

︸ ︷︷ ︸

=1

(2.70)

(man beachte, dass alle radialen Abhängigkeiten als Konstanten bei der In-tegration behandelt und daher vor das Integral gezogen werden können).Glücklicherweise müssen wir keines der Integrale wirklich berechnen, weilwir wissen, dass die meisten Integrale ergeben einfach Eins wegen der Nor-mierung der Kugelflächenfunktionen,

∫ π

0sin ϑ dϑ

∫ 2π

0dϕ Y⋆

lm(ϑ, ϕ) Ylm(ϑ, ϕ)!= 1 (2.71)

während wir im Falle des Erwartungswertes über das Quadrat des Drehim-pulsoperators sofort mit Gl. (2.40) schreiben können,

∫ π

0sin ϑ dϑ

∫ 2π

0dϕY⋆

lm l2Ylm

(2.40)=

∫ π

0sin ϑ dϑ

∫ 2π

0dϕY⋆

lm

(

l(l + 1)h2 Ylm

)

= l(l + 1)h2∫ π

0sin ϑ dϑ

∫ 2π

0dϕY⋆

lmYlm(2.71)= l(l + 1)h2 (2.72)

Nachdem wir so die Winkel vollständig ausintegriert haben, verbleibt die Ra-dialgleichung

− h2

2me

1r

d2

dr2 rRi(r) +l(l + 1)h2

2mer2 Ri(r)− 14πǫ0

Ze2

rRi(r) = EiRi(r) (2.73)

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2.3 Einfache quantenmechanische Modellsysteme 79

die als gewöhnliche Differentialgleichung nur noch von r abhängt, weshalbwir nun explizit gewöhnliche an Stelle der partiellen Ableitungen schreibenkönnen. Der zweite Term auf der linken Seite heißt auch Zentrifugalpotential.Wenn wir diese Gleichung mit r multiplizieren erhalten wir

− h2

2me

d2

dr2 rRi(r) +l(l + 1)h2

2mer2 rRi(r)− 14πǫ0

Ze2

rrRi(r) = EirRi(r) (2.74)

so dass es sich anbietet, eine neue Radialfunktion zu definieren als Pi(r) ≡rRi(r) mit der wir schließlich erhalten

− h2

2me

d2

dr2 Pi(r) +l(l + 1)h2

2mer2 Pi(r)− 14πǫ0

Ze2

rPi(r) = EiPi(r) (2.75)

Die neue Radialfunktion Pi bietet sich auch an bei der Berechnung von Erwar-tungswerten, weil zum Beispiel für das Normierungsintegral gilt

∫ +∞

−∞d3r Ψ⋆

i (r)Ψi(r)(2.69)=

∫ ∞

0r2drR2

i (r)∫ π

0sin ϑ dϑ

∫ 2π

0dϕY⋆

lmYlm

=∫ ∞

0drP2

i (r) (2.76)

(hier wurde ohne Beschränkung der Allgemeinheit angenommen, dass dieRadialfunktionen reell sind). Man nennt das Quadrat von Pi auch radiale Elek-

tronendichte

ρi(r) = r2R2i (r) = P2

i (r) (2.77)

des i-ten Zustands des Elektrons im Wasserstoff-Atom.Obige gewöhnliche Differentialgleichung, Gl. (2.75), kann durch einen Po-

tenzreihenansatz für Pi(r) (s. Anhang) exakt gelöst werden. Der dabei er-haltene analytische Ausdruck für Pi(r) (beziehungsweise Ri(r)) hängt vonder Bahndrehimpulsquantenzahl l und einer weiteren Quantenzahl n zurNummerierung der Zustände, die auch Hauptquantenzahl genannt wird, ab:Pi(r) → Pnili

(r), wobei wir im folgenden der Einfachheit halber den Index i

fallenlassen, wenn wir die Quantenzahlen n, l und m angeben. Entsprechendder historisch älteren Notation für die Energiezustände im Wasserstoff-Atomnennt man die Zustände ohne Bahndrehimpuls (l=0) auch s-Zustände für s ≡sharp, diejenigen mit Bahndrehimpuls l=1 p-Zustände für p ≡ principal, die-jenigen mit Bahndrehimpuls l=2 d-Zustände für d ≡ diffuse, diejenigen mitBahndrehimpuls l=3 f -Zustände für f ≡ fundamental,, und alle höheren Dre-himpulsezustände werden ab dann alphabetisch benannt g für l=4, h für l=5und so weiter. Also sagt man für R10 auch 1s-Zustand, für R20 2s-Zustand, fürR21 2p-Zustand, für R30 3s-Zustand, für R31 3p-Zustand, für R32 3d-Zustand,etc.

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80 2 Einführung in die Quantenmechanik

Bei der Lösung der Differentialgleichung muß die Normierbarkeit der Ra-dialfunktion gewährleistet sein und man erhält dann automatisch einen Aus-druck für den Energieeigenwert (hier nicht vorgeführt)

Ei → Enlm = En = − 1(4πǫ0)2

mee4

2h2Z2

n2 (2.78)

der nur noch von der Hauptquantenzahl n abhängt. Dies bedeutet, dass dieEnergie nicht von den Bahndrehimpulsquantenzahlen abhängt, sondern nurvon der Hauptquantenzahl. Daher sind im Wasserstoff-Atom zum Beispieldie 3s-, 3p- und 3d-Schalen energieentartet, was man auch zufällige Entartung

nennt. Diese Entartung wird erst in Vielelektronenatomen durch die Elektron–Elektron-Wechselwirkung aufgehoben (vgl. Kapitel 3).

Mit Gl. (2.78) haben wir unser Ziel erreicht: die Ableitung des BohrschenEnergieausdrucks, mit dem wir die Balmer-Serie und die anderen Serien derAtomspektroskopie erklären können, aus der modernen Quantenmechanik,also ohne willkürliche zusätzliche Annahmen.

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Allgemeine Chemie.Copyright © Prof. Dr. Markus Reiher, ETH Zürich, HS 2008

81

3Die chemische Bindung

3.1Quantenmechanik für viele Teilchen

Während Kapitel 1 die Grundlagen für die Theorieentwicklung in der Chemiegelegt und auf die Quantenmechanik vorbereitet hat, führte Kapitel 2 schließ-lich in diese Theorie ein. Wie die Quantenmechanik funktioniert, wurde imKapitel 2 an einfachen Beispielen gezeigt. All diesen Beispielen ist gemein,dass sie nur ein einziges Teilchen betrachten und daher für die Beschreibungvon Molekülen nicht ausreichend sind. Nur das einfachste, chemisch relevan-te System, das Wasserstoff-Atom, konnte beschrieben werden — und auchnur, weil sich dieses Zweiteilchensystem (Elektron und Proton) auf ein Einteil-chensystem reduzieren ließ. Dieser Abschnitt beschäftigt sich nun mit der Ein-führung in die Quantenmechanik von Vielteilchensystemen, die aus N Elek-tronen und M Atomkernen bestehen.

3.1.1Energieoperatoren für Vielelektronensysteme

Um zu verstehen, wie man die Operatoren für ein Vielteilchensystem, alsofür ein Atom oder Molekül, erhält, können wir uns des Korrespondenzprin-zips bedienen. In der klassischen Physik berechnet man die Gesamtenergieeines Vielteilchensystems als Summe der kinetischen Energien der Einzelteil-chen und addiert dazu, wenn es sich um Punktteilchen handelt, die poten-tiellen Energien aller wechselwirkenden Paare. Dem Korrespondenzprinzipentsprechend werden diese einzelnen Terme nun zu Operatoren promoviertund bilden den Hamilton-Operator H für das Vielteilchensystem

H =N

∑i=1

ti︸︷︷︸

Ekin Elek. i

+M

∑I=1

tI︸︷︷︸

Ekin Kern I

+N

∑i=1

M

∑I=1

14πǫ0

qeqI

|ri − RI |︸ ︷︷ ︸

Epot Kern I/Elektron i

+N

∑i=1

N

∑j=i+1

14πǫ0

qeqe

|ri − r j|︸ ︷︷ ︸

Epot Elektron i/Elektron j

+M

∑I=1

N

∑J=I+1

14πǫ0

qIqJ

|RI − RJ|︸ ︷︷ ︸

Epot Kern I/Kern J

(3.1)

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82 3 Die chemische Bindung

wobei sich die einzelnen Terme für die Bewegungs- und Lageenergieoperato-ren entsprechend der Ausführungen im Kapitel 2 auflösen lassen zu

H =N

∑i=1

− h2

2me∆i +

M

∑I=1− h2

2mI∆I −

N

∑i=1

M

∑I=1

14πǫ0

ZIe2

|ri − RI |

+N

∑i=1

N

∑j=i+1

14πǫ0

e2

|ri − r j|+

M

∑I=1

N

∑J=I+1

14πǫ0

ZI ZJe2

|RI − RJ|(3.2)

wobei für die Bewegungsenergieoperatoren ti = p2/2mi = −h2∆i/2mi undfür die Ladungen qe = −e und qI = ZI e eingesetzt wurde. Hierbei ist ∆i wiezuvor der Laplace-Operator für die Koordinaten des i-ten Teilchens,

∆i =∂2

∂x2i

+∂2

∂y2i

+∂2

∂z2i

(3.3)

(Ein Kommentar zur Konsistenz von Gleichungen: Ein Index der links auf-tritt, muß natürlich auch rechts vom Gleichheitszeichen eine Größe indizie-ren — hier die Orstkoordinaten des Teilchens i.) Entsprechend der bisherigenNotation wurden zur besseren Lesbarkeit für Atomkerne großbuchstabige In-dices verwendet, während elektronische Operatoren kleinbuchstabige Indicestragen.

Wie man sieht, hängt der Hamilton-Operator hier nur von den Ortsvaria-blen (Koordinaten) der Elementarteilchen des Systems ab (nicht auch nochvon ihren Impulsvariablen, wie in der klassischen Mechanik). Der Operatorist also in Ortsdarstellung angegeben (die Impulsdarstellung wird in der Che-mie selten benötigt). Formal können wir diese Abhängigkeiten des Hamilton-Operators schreiben als H = H({ri}, {RI}). Dementsprechend muß die Viel-teilchenwellenfunktion nun von all diesen Koordinaten abhängen, also Ψ =Ψ({ri}, {RI}). Diese Zustandsfunktion, die wir durch Lösen der Schrödinger-Gleichung erhalten müssen, um molekulare Systeme beschreiben zu können,stellt sich also als sehr komplizierte mathematische Funktion heraus, die von(3M + 3N) Variablen abhängt. Sie ist also umso komplizierter, je mehr Elek-tronen und Atomkerne das zu studierende Molekül aufbauen.

3.1.2Postulat 5: Das Pauli-Prinzip

Die Quantenmechanik der Vielteilchensysteme erfordert zunächst noch dieEinführung eines Sysmmetrieprinzip. Dieses Symmetrieprinzip wurde vonWolfgang Pauli im Rahmen einer grundlegenderen Theorie abgeleitet. Diesegrundlegendere Theorie ist die Quantenelektrodynamik, die auch die Photo-nen explizit als Quanten und nicht als elektromagnetische Felder beschreibt —also im Gegensatz zu der hier vorgestellten Quantentheorie (man denke an die

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3.1 Quantenmechanik für viele Teilchen 83

Coulomb-Operatoren für die Wechselwirkung der geladenen Elementarteil-chen, die der klassischen Elektrodynamik nach Maxwell entlehnt sind (Kor-respondenzprinzip) und natürlich nicht den expliziten Austausch von Pho-tonen als Überträger der Coulomb-Kraft beschreiben). In unserer Darstellungder Quantentheorie bleibt uns daher nur, die von Pauli gefundene Symmetriezu fordern:

Postulat 5: Bei einer Vertauschung (Permutation) der dy-namischen Variablen (räumliche Koordinaten und Spin)von zwei beliebigen Elementarteilchen in einer Vielteil-chenwellenfunktion, muß diese das Vorzeichen wechseln,wenn es sich um zwei Fermionen handelt. Werden die Ko-ordinaten von zwei Bosonen (z.B. zwei 4

2He2+-Kerne) ver-tauscht, so muß ohne Vorzeichenwechsel dieselbe Wellen-funktion erhalten werden.

Die Wellenfunktion eines Systems von N Elektronen (also Fermionen), Ψ =Ψ(r1, . . . , rN) muß daher folgende Eigenschaft besitzen, wenn man die Koor-dinaten zweier beliebiger Elektronen i und j vertauscht, wobei diese Vertau-schungsoperation durch den Operator Pij ausgedrückt wird:

PijΨ(r1, . . . , ri, . . . , r j, . . . , rN) = Ψ(r1, . . . , r j, . . . , ri, . . . , rN)

!= −Ψ(r1, . . . , ri, . . . , r j, . . . , rN) (3.4)

Hier definiert das erste Gleichheitszeichen die Wirkungsweise des Vertau-schungsoperators Pij, während das zweite Gleichheitszeichen die Forderungnach der Erfüllung des Pauli-Prinzips widerspiegelt.

3.1.3Trennung der Elektronen- und Kernbewegung

Wie im Fall des Wasserstoffatoms, müssen wir nun versuchen, die Zustands-funktion für ein molekulares System, Ψ = Ψ({ri}, {RI}), bestehend aus N

Elektronen und M Atomkernen berechnen. Wie bereits erwähnt, ist zu erwar-ten, dass dies eine sehr komplizierte Funktion ist wegen der großen Zahl anVariablen. In Kapitel 2 haben wir schon einen mathematischen Trick kennen-gelernt, um einfache Funktionsansätze zu erhalten: den Produktansatz zurTrennung der Variablen. Dazu würde man zunächst gerne die zwei Typen anKoordinaten trennen, die der Kerne von denen der Elektronen:

Ψ({ri}, {RI}) ≈ Ψel({ri}) ·ΨKerne({RI}) (3.5)

Diese Trennung der beiden Koordinatensätze ist aber mathematisch nichterlaubt, weil im Hamilton-Operator H die Koordinaten der beiden Sor-ten Teilchen durch die Operatoren der elektrostatischen Wechselwirkung,

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84 3 Die chemische Bindung

−(4πǫ0)−1 ZIe2/|ri − RI |, aneinander gekoppelt sind. Den obigen Produkt-

ansatz dennoch zu machen bedeutet also, eine Näherung einzuführen. Mannennt diese die Born–Oppenheimer-Näherung zur Separation der Elektronen-von der Kernbewegung.

Für die beiden Teilwellenfunktionen, Ψel und ΨKerne, lassen sich zweiSchrödinger-Gleichungen mit entsprechenden Hamilton-Operatoren herlei-ten. Eine von ihnen ist die sogenannte Kern-Schrödingergleichung, die dasquantenmechanische Bewegungsverhalten der Atomkerne beschreibt. DieBewegung der Atomkerne erweist sich beim Studium dieser Gleichung alskollektiv. D.h. es ist sinnvoll (und mathematisch möglich) nicht die Bewe-gung einzelner Atomkerne zu betrachten, sondern kollektive Bewegungsmo-den zu finden, so dass Translationen und Rotationen des Kerngerüsts einesMoleküls, sowie interne Bewegungen unter Erhalt des Schwerpunkts, alsoSchwingungen, eingeführt werden können. Tatsächlich stellt der bereits inKapitel 2 angesprochene harmonische Oszillator die einfachste Form einerKern-Schrödingergleichung dar und ist daher das Modellquantensystem zumStudium von molekularen Schwingungen.

Die zweite Schrödinger-Gleichung ist die elektronische Schrödingerglei-chung, die Ψel zur Lösung hat und das dynamische Bewegungsverhalten derElektronen im Molekül beschreibt. Sie ist die zentrale quantenmechanischeGleichung für die Chemie, da aus ihr die Erklärung der chemischen Bindung,sowie das Reaktionsverhalten der Moleküle folgt.

3.1.4Slater-Determinante und Orbitale

Es stellt sich als nächstes die Frage, wie die elektronische WellenfunktionΨel = Ψel({ri}) berechnet werden kann. Obwohl die Atomkernkoordinatenin ihr nicht mehr als Variablen vorkommen, hängt sie noch von 3N elektroni-schen Positionsvariablen ab. Daher müssen wir uns nun der Frage zuwenden,ob wir die Koordinaten der einzelnen Teilchen je einer Funktion zuordnenkönnen, etwa in der Form ψi(ri), aus deren Produkt dann die elektronischeZustandsfunktion Ψel entsteht,

Ψel({ri}) ?= ψ1(r1)ψ2(r2) · · ·ψN(rN) (3.6)

Auch hier wissen wir entsprechend der im letzten Abschnitt geführten Dis-kussion, dass diese Trennung der einzelnen Elektronenkoordinaten nicht er-laubt sein wird, weil im Hamilton-Operator die Koordinaten paarweise ge-

koppelt auftreten, nämlich in den Elektron-Elektron-Abstoßungsoperatoren,(4πǫ0)

−1 e2/|ri − r j|. Ergo wäre ein Produktansatz wie in Gl. (3.6) zwangs-läufig eine Näherung. Die Funktionen, die in dieser Näherung auftreten, sindreine Hilfsfunktionen; man nennt sie Orbitale.

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3.1 Quantenmechanik für viele Teilchen 85

Weil dieser Ansatz nur für Teilchen gilt, die nicht miteinander wechselwir-ken, heißt er auch das Modell unabhängiger Teilchen (auf Englisch: indepen-dent particle model), weil genau die Wechselwirkung der Teilchen im Ansatzfür die Wellenfunktion nicht berücksichtigt wird. Der Ansatz wäre nur exakt,wenn die Elektronen nicht wechselwirken würden, wovon in einem realenSystem natürlich nicht die Rede sein kann. Es ist aber unbedingt darauf zuachten, dass die Wahl eines Modells unabhängiger Teilchen zur Näherungder exakten quantenmechanischen Zustandsfunktion eine Wahl unsererseitsist. Sie führt dazu, dass diese oft “Orbitalmodell” genannte Wahl zu Unstim-migkeiten und Unklarheiten führt, die aber der exakten Wellenfunktion völligabgehen.

Die Tatsache, dass für Atome und Moleküle mit nur einem Elektron, dasOrbital exakt gleich der elektronischen Wellenfunktion ist, dann also keineNäherung darstellt, hat in der Chemie zu einer undenkbar großen Verwirrunggeführt.

Man kann allerdings zeigen, dass eine elektronische Wellenfunktion vomobigen Produkttyp eine Elektronendichte ρel hat, die sich aus den Betragsqua-draten der Orbitale berechnen läßt

ρel(r)(2.24)= N

d3r2 · · ·∫

d3rN |Ψel(r, r2, . . . rN)|2

(3.6)−→ |ψ1(r)|2 + |ψ2(r)|2 + + . . . |ψN(r)|2 =N

∑i=1

|ψi(r)|2 (3.7)

Die Elektronendichte beschreibt auch in diesem Fall die räumliche Verteilungder Elektronen, wie bereits in Kapitel 2 diskutiert, und kann also im Rahmendes Modells unabhängiger Teilchen aus den Orbitalquadraten berechnet wer-den.

Wenn wir uns nun auf das “Orbitalmodell”, also auf den Ansatz unabhän-giger Teilchen als Modellfunktion für die exakte elektronische Wellenfunkti-on, einlassen, dann müssen wir fordern, dass sich mit diesem Funktionsan-satz in jedem Fall die Postulate der Quantenmechanik erfüllen lassen. Dochhier macht genau Postulat 5 Schwierigkeiten, wie wir leicht am Beispiel einesZweielektronensystems (ob Atom oder Molekül ist dabei gleichgültig) sehenkönnen.

Für zwei Elektronen, die sich im elektrischen Feld von Atomkernen bewe-gen, nähern wir die elektronische Zustandsfunktion durch einen Produktan-satz

Ψel(r1, r2) ≈ ψ1(r1)ψ2(r2) (3.8)

entsprechend des Modells unabhängiger Teilchen. Nun fordert das Pauli-Prinzip, dass dieser Ansatz das Vorzeichen wechselt, wenn man die beiden

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86 3 Die chemische Bindung

Koordinaten vertauscht, was wir leicht untersuchen können:

P12 [ψ1(r1)ψ2(r2)] = [ψ1(r2)ψ2(r1)] 6= −[ψ1(r1)ψ2(r2)] (3.9)

Das Pauli-Prinzip wird also klar nicht erfüllt. Um aber den einfachen Pro-duktansatz für die Wellenfunktion zu retten, implementieren wir das Pauli-Prinzip in den Ansatz und ziehen das koordinatenvertauschte Produkt vomAusgangsprodukt ab:

Ψel(r1, r2) ≈ [ψ1(r1)ψ2(r2)− ψ1(r2)ψ2(r1)] (3.10)

Für diesen Ansatz kann man nun leicht zeigen, dass er das Pauli-Prinzip er-füllt

P12 [ψ1(r1)ψ2(r2)− ψ1(r2)ψ2(r1)] = [ψ1(r2)ψ2(r1)− ψ1(r1)ψ2(r2)]

= −[ψ1(r1)ψ2(r2)− ψ1(r2)ψ2(r1)] (3.11)

Man beachte, dass man den Ansatz in Gl. (3.10) als Determinante schreibenkann,

[ψ1(r1)ψ2(r2)− ψ1(r2)ψ2(r1)] =

∣∣∣∣

ψ1(r1) ψ2(r1)ψ1(r2) ψ2(r2)

∣∣∣∣

(3.12)

Wenn wir nun diese Ideen verallgemeinern für ein N-Elektronensystem, wennwir also alle ungeradzahligen Paarvertauschungen mit negativem Vorzeichenvom Ausgangsprodukt abziehen, während wir alle geradzahligen hinzu ad-dieren, dann kann man auch diese Pauli-Prinzip-konsistente Näherung unab-hängiger Teilchen als Determinante schreiben,

Ψel(r1, r2, . . . , rN) ≈

∣∣∣∣∣∣∣∣∣

ψ1(r1) ψ2(r1) · · · ψN(r1)ψ1(r2) ψ2(r2) · · · ψN(r2)

......

. . ....

ψ1(rN) ψ2(rN) · · · ψN(rN)

∣∣∣∣∣∣∣∣∣

(3.13)

die daher einen eigenen Namen bekommt. Man nennt sie Slater-Determinante.Orbitale sind also Einelektronenfunktionen, die in der Slater-Determinante vorkom-

men. Gebräuchlicher als der Begriff Slater-Determinante ist oft der Begriff Elek-

tronenkonfiguration. Diejenigen Orbitale, die in der Slater-Determinanten vor-kommen, stellen die Elektronenkonfiguration des Atoms oder Moleküls dar.

Der Slater-Determinantenansatz zur Näherung der elektronischen Wellen-funktion ist der einfachste, den machen kann. Interessanterweise führt alsodie Erfüllung des Pauli-Prinzips dazu, dass jedes Elektron (durch seine Koordi-

nate) in jedem Orbital vorkommt. In der Chemie spricht man oft von “Elektronenin Orbitalen”, meint aber eigentlich die Orbitale selbst, die keineswegs als eineArt Container für Elektronen zu verstehen sind.

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3.1 Quantenmechanik für viele Teilchen 87

3.1.5Mehrelektronenatome

Man übersieht oft, dass schon das Helium-Atom ein Zweielektronensystemist, für das die elektronische Wellenfunktion nicht so aussieht, wie die desWasserstoffatoms, sondern für das man mindestens einen Ansatz der Form inGl. (3.13) machen muß (für N = 2 natürlich, also wie in Gl. (3.12)). Wegen derradialen Symmetrie der Atome, kann man aber ebenso wie im Fall des Wasser-stoffatoms jedes einzelne Orbital in ein Produkt aus Radialteil und Winkelteilaufspalten,

ψi(r) ≡ ψnilimims(i)(r) = Rnili

(r) Ylimi(ϑ, ϕ) σsims(i)

(3.14)

(der Einfachheit halber wurde der Normierungsfaktor weggelassen). Es istaber zu beachten, dass diese Aufteilung die Kugelsymmetrie eines Atoms vor-aussetzt, weil sonst eine Klassifizierung nach Drehimpulsquantenzahlen nichtmöglich wäre. Man beachte ferner die explizite Berücksichtigung des Spinsdes Elektron in Form der Spinfunktion σsms (mit s = 1/2 und ms = ±1/2), dieeine der beiden Spineigenfunktionen sein muß, also σsims(i)

→ σ1/2,+1/2 = α

oder σsims(i)→ σ1/2,−1/2 = β. Tatsächlich tragen die Orbitale in der Slater-

Determinanten also auch Spininformation und werden daher auch Spinorbita-

le genannt.In diesem Ansatz sind die Kugelflächenfunktionen Ylimi

(ϑ, ϕ) bekannt,während die Radialfunktionen zunächst unbekannt sind (es läßt sich für sienämlich keine radiale Differentialgleichung ableiten, die analytisch (also ge-schlossen) lösbar wäre — ganz im Gegensatz zum Wasserstoffatom, für dasim Kapitel 2 eine solche Gleichung abgeleitet angegeben wurde).

Wir haben bisher eine recht einfache Indizierung für die Orbitale in derSlater-Determinante verwendet. Oft versucht man diesen Indices mehr In-formation über die Orbitale und schließlich auch über die Gesamtzustands-funktion Ψel aufzuprägen. Diese Information wird bestimmten Eigenschaften(Symmetrien) der Orbitale entnommen. Die dabei gewählten Mehrfachindiceswerden auch Quantenzahlen genannt. Sie spielen primär aber nur eine Rollebei der Nummerierung der Orbitale und sekundär bei der Bestimmung vonSymmetrieinformation für den gesamten Zustand, also für das gesamte N-Elektronensystem. Tatsächlich haben wir für das Atomorbital in Gl. (3.14) be-reits eine solche symmetrietragende Mehrfachindizierung benutzt. An Stelledes zusammengesetzten Index i verwenden wir wegen der Struktur des Pro-duktansatze die Drehimpulsindices (li, mi), sowie den Spinindex ms(i) undden einfachen Laufindex ni, der in Analogie zum Wasserstoffatom auch hierHauptquantenzahl genannt wird.

Im atomaren Fall können wir also eine Slater-Determinante als Näherung fürdie elektronische Wellenfunktion finden, die aus Atomorbitalen aufgebaut ist

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88 3 Die chemische Bindung

und deren Indices die Quantenzahlen (ni, li, mi, ms(i)) sind,

ΨAtomel ≈

∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣

ψn1,l1,m1,ms(1)(r1) ψn2,l2,m2,ms(2)

(r1) · · · ψnN ,lN,mN ,ms(N)(r1)

ψn1,l1,m1,ms(1)(r2) ψn2,l2,m2,ms(2)

(r2) · · · ψnN ,lN,mN ,ms(N)(r2)

......

. . ....

ψn1,l1,m1,ms(1)(rN) ψn2,l2,m2,ms(2)

(rN) · · · ψnN ,lN,mN ,ms(N)(rN)

∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣

(3.15)

Man beachte aber, dass für diese Funktionen — im Gegensatz zum Wasser-stoffatom — keine analytischen Aussrücke bekannt sind, weil eben die Radial-funktionen nicht analytisch durch Lösen einer Differentialgleichung bestimmtwerden können (dies geht nur approximativ und benötigt computergestützteLösungsverfahren).

3.1.5.1 Spezielle Form des Pauli-Prinzip

Basierend auf den bisherigen Ausführungen können wir uns nun einer Versi-on des Pauli-Prinzips widmen, die in der Chemie große Verbreitung gefundenhat. Diese “Variante” besagt, dass sich zwei Elektronen in mindestens einer von

vier Quantenzahlen, (ni, li, mi, ms(i)), unterscheiden müssen. Durch den Bezug aufdie Quantenzahlen eines Atoms ist sofort offensichtlich, dass dies keine allge-

meine Formulierung des Pauli-Prinzips sein kann. Moleküle haben keine Ro-tationssymmetrie und folglich lassen sich die Elektronen in Molekülen nichtmehr nach der Drehimpulsquantenzahl l klassifizieren. Man sagt dann, dassl keine gute Quantenzahl ist, und meint damit, dass die elektronische Wel-lenfunktion des Moleküls keine Eigenfunktion des Quadrats des Drehimpuls-operators mehr ist. Sie ist nur noch Eigenfunktion vom Quadrat des Spinope-rators. Wenn man also von diesen vier Quantenzahlen spricht, bezieht mansich zwangsläufig nur auf Atome.

Um nun zu verstehen, woher die Variante des Pauli-Prinzips kommt,schauen wir uns die elektronische Wellenfunktion in Slater-Determinanten-Näherung an, Gl. (3.16), und studieren den gegenteiligen Fall, nämlich dasAuftreten von zwei gleichen Sätzen an Quantenzahlen, (nk, lk, mk, ms(k)) und(nk, lk, mk, ms(k)), wobei wir der kompakten Schreibweise wegen, nur den Ge-samtindex k schreiben:

ΨAtomel ≈

∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣

ψ1(r1) · · · ψk(r1) ψk(r1) · · · ψN(r1)...

.... . .

...ψ1(rk−1) · · · ψk(rk−1) ψk(rk−1) · · · ψN(rk−1)

ψ1(rk) · · · ψk(rk) ψk(rk) · · · ψN(rk)...

.... . .

...ψ1(rN) · · · ψk(rN) ψk(rN) · · · ψN(rN)

∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣

= 0 (3.16)

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3.1 Quantenmechanik für viele Teilchen 89

Die Determinante enthält dann zwei gleiche Spalten und verschwindet ent-sprechend der Rechenregeln für Determinanten. Das Pauli-Prinzip war derGrund für die Einführung einer Determinante an Stelle eines gewöhnlichenProdukts aus Orbitalen zur Näherung der Wellenfunktion. Nun erkennen wir,dass wir nicht zweimal dasselbe Spinorbital in der Determinante verwendenkönnen, weil diese sonst zu Null wird und dann natürlich keine physikalischsinnvolle Näherung an die elektronische Wellenfunktion darstellt. Weil wirdie Orbitale durch ihre Indizierung unterscheiden und im Atomfall diese Indi-ces durch die Quantenzahlen ersetzt werden, hat sich die in diesem Abschnittangegebene Form des Pauli-Prinzips festgesetzt. Da es sich aber nicht um dieallgemeine Formulierung des Prinzips, die in Postulat 5 gegeben wurde, han-delt, sondern nur um eine Folgerung, die auch nur für den speziellen Fall derAtome gilt, ist die Formulierung von Postulat 5 zu bevorzugen.

3.1.5.2 Termsymbole

Im Fall eines Mehrelektronenatoms haben wir im vorstehenden Abschnitt ge-sehen, dass die Atomorbitale mit den gleichen Quantenzahlen klassifiziertwerden können, die schon beim Wasserstoffatom zur Bezeichnung eines Zu-stands verwendet wurden. Während die Hauptquantenzahl n lediglich Zu-stände entsprechend der aufsteigenden Gesamtenergie nummeriert und da-her als Symmetrielabel nicht interessant ist, sagen li und si etwas über dieDrehimpulssymmetrien des Atomorbital i aus, weil die Atomorbitale Eigen-

funktionen der Operatoren l2

und s2 sind.Es stellt sich dann die Frage, was der Gesamtdrehimpuls und der Gesamt-

spin von vielen Elektronen in einem Atom ist. Hier können wir uns wiederdes Korrespondenzprinzips bedienen. In der klassischen Physik ist der Ge-samtdrehimpuls L gleich der vektoriellen Addition der Drehimpulsvektorender Einzelteilchen, li,

L =N

∑i=1

l i (3.17)

weshalb wie für die entsprechenden Bahndrehimpulsoperatoren in der Quan-tenmechanik schreiben

L =N

∑i=1

l i (3.18)

und für den (nichtklassischen) Spin der Elektronen

S =N

∑i=1

si (3.19)

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90 3 Die chemische Bindung

Weil die elektronische Gesamtwellenfunktion Ψel eines Atoms alle physika-lische und daher auch die Drehimpuls-Information trägt, muß sie die Eigen-wertgleichungen dieser Drehimpulsoperatoren erfüllen,

L2Ψel = L(L + 1)h2 Ψel und LzΨel = ML h Ψel (3.20)

S2Ψel = S(S + 1)h2 Ψel und SzΨel = MS h Ψel (3.21)

wobei die Quantenzahlen des Gesamtzustands folgende Werte annehmenkönnen: L = 0, 1, 2, . . . , sowie S = 0, 0.5, 1, 1.5, 2, 2.5, . . . , und ML = −L,−L +1, . . . , +L, sowie MS = −S,−S + 1, . . . , +S in völliger Analogie zum Einelek-tronenatom, das im Kapitel 2 besprochen wurde.

Wenn wir den elektronischen Zustand eines Atoms durch eine Slaterdeter-minante nähern, dann muß natürlich auch die Slaterdeterminante diese Dre-himpulssymmetrien efüllen, d.h. Eigenfunktion der Gesamtdrehimpulsopera-toren sein. Wenn nun die Atomorbitale in der Determinante die Drehimpuls-symmetrien der einzelnen Elektronen beschreiben, dann sollte deren Kopp-lung die Gesamtdrehimpulssymmetrien ergeben. In der Quantenmechanikkann das aber nicht wie in der klassischen Physik, Gl. (3.17), erfolgen, weil dieEigenfunktionen die Information tragen. Drehimpulskopplung in der Quan-tenmechanik bedeutet also, dass man eine Eigenfunktion zu den Operatoren,L und S finden muß, so dass Gln. (3.20) und (3.21) erfüllt sind. Diese Eigen-funktionen sind aus den Einteilchenfunktionen, den Orbitalen, zu konstruie-ren. Für dieses Programm der quantenmechanischen Drehimpulskopplung gibtes eine rezeptartige Vorgehensweise, deren Diskussion an dieser Stelle jedochzu weit führen würde.

Hier ist vielmehr wichtig, dass der elektronische Gesamtzustand entspre-chend der Gesamtbahndrehimpuls- und der Gesamtspinquantenzahlen, L,ML, S und MS, klassifiziert werden kann. Für jeden elektronischen Eigen-zustand einer Anzahl Elektronen in einem Atom kann man für diese Zah-len einen Wert angeben, um einen Eigenzustand von dem anderen zu un-terscheiden. Wenn man nun beachtet, dass man mit Licht zwischen diesenEigenzuständen wechseln kann, also Spektroskopie betreiben kann, so ver-wundert es nicht, dass eine Klassifizierung der Zustände schon vor der Ent-wicklung der Quantenmechanik in die Atomspektroskopie eingeführt wurde.Diese Klassifizierung verwendet die Gesamtzustandsquantenzahlen zur Spe-zifizierung eines Zustands. An Stelle der Wellenfunktion wird dann ein soge-nanntes Termsymbol angegeben,

Ψel −→ (2S+1)LJ (3.22)

das aus den Quantenzahlen L und S zusammengesetzt wird. Drehimpuls undSpin kann man noch zu einem Gesamtdrehimpuls koppeln, der denselben Re-geln, wie soeben besprochen, folgt und mit einer Quantenzahl J belegt wird.

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3.2 Molekülorbitaltheorie 91

Die Zahl (2S + 1) wird Multiplizität genannt, weil sie angibt, in wieviele ver-schiedene Linien eine Linie im Spektrum aufspaltet, wenn man ein magneti-sches Feld anlegt (Stern–Gerlach-Versuch). Dieser Beobachtung entspricht einim feldfreien Raum entarteter quantenmechanischer Zustand, der in (2S + 1)energetisch verschiedene Zustände aufspaltet, wenn ein magnetisches Feldangelegt wird (Zeeman-Effekt).

Für die Gesamtbahndrehimpulszahl gibt man nicht eine Zahl, sonderneinen Buchstaben an, der sich an der für Einelektronenatome bereits einge-führten Notation s, p, d, etc. orientiert. Da es sich aber nun um Gesamtsym-metrien handelt, werden Großbuchstaben verwendet, wie in Tab. 3.1 gezeigt.Auch die Multiplizität (2S + 1) wird mit einer besonderen Notation belegt, diean Stelle des numerischen Werts tritt. Die Zuordnung dieser Namen orientiertsich an der Zahl der Linien nach Aufspaltung in einem magnetischen Feldund ist ebenfalls in Tab. 3.1 gezeigt. Die Verwendung von Termsymbolen seian zwei Beispielen illustriert: Der Grundzustand des Helium-Atoms hat eineS = 0 Spin- und eine L = 0 Bahndrehimpulssymmetrie. Das Termsymbol fürden Grundzustand ist daher 1S0 (sprich: ‘Singulett-S’). Der Grundzustand desKohlenstoffatoms ist entsprechend Experiment und quantenmechanischer Be-handlung dreifach spinentartet, (2S + 1) = 3 also S = 1, und hat einen eben-falls nicht verschwindenden Bahndrehimpuls, L = 1; das zugeordnete Term-symbol ist also 3P (sprich: ‘Triplett-P’), wobei wir den Gesamtdrehimpuls J

nicht angegeben haben.

Tabelle 3.1 Zur Benennung der Termsymbole.

L Symbol S (2S + 1) Name

0 S 0 1 Singulett1 P 0.5 2 Doublett2 D 1 3 Triplett3 F 1.5 4 Quartett4 G 2 5 Quintett

3.2Molekülorbitaltheorie

3.2.1Quantenmechanische Gleichungen für Orbitale

Wir haben nun Orbitale als Bestandteile der Slater-Determinante eingeführt,jedoch mit keinem Wort erwähnt, wie wir diese Funktionen erhalten können.Entsprechend unserer Diskussion des Wasserstoffatoms würde man erwarten,

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92 3 Die chemische Bindung

dass sich eine Differentialgleichung formulieren läßt, deren Lösungsfunktio-nen die Orbitale sind. Im Fall eines Einelektronenatoms muß diese Gleichungexakt in die Schrödingerggleichung für H-ähnliche Atome übergehen! In derTat kann man eine solche Gleichung allgemein ableiten (eine Ableitung, diewir an dieser Stelle überspringen, um die Prinzipien in den Vordergrund zustellen statt technischer Details):[t + Vnuc + vee

]ψi = ǫiψi (3.23)

Diese Gleichung gilt exakt für Einelektronenzustände, wie Dirac zeigte (dieDiracsche Gleichung ist zwar von dieser Form, weicht aber ansonsten essen-tiell von der Schrödingerschen Gleichung ab, die aber der Grenzfall jener fürunendlich große Lichtgeschwindigkeit ist).

Einige Operatoren in der Gleichung haben ihre übliche Bedeutung: t be-zeichnet den kinetische Energieoperator für ein Elektron, während Vnuc derOperator für die Anziehung eines Elektrons von allen Kernen im System ist.Lediglich der Operator vee besitzt eine äußerst komplizierte Form, die eigent-lich auf Arbeiten von Breit zurückgeht und in modernen computerchemischenVerfahren auf vielfältige Art und Weise angenähert wird. Die energetischeGröße ǫi wird Orbitalenergie genannt. Der gesamte Operator heißt auch Fock-Operator und läßt sich explizit schreiben als

f ≡ − h2

2me∆−

M

∑I=1

14πǫ0

ZIe2

|r− RI |+ vee (3.24)

Für uns ist hier nur wichtig, dass die zugeordnete zeitabhängige Gleichungim Prinzip exakt ist, dass der Operator für die kinetische Energie wegen desin ihm vorkommenden Laplace-Operators die Gleichung zu einer partiellenDifferentialgleichung zweiter Ordnung macht (genau wie im Fall des Wasser-stoffatoms) und dass der Operator vee zu kompliziert ist, als dass wir ihn mitPapier und Bleistift annähern könnten. Kurz gesagt, Gl. (3.23) ist viel zu kom-pliziert, als dass wir uns ihrer Lösung ohne entsprechendes Handwerkszeugzuwenden könnten. Leider setzt uns das auch enge Grenzen für das Verständ-nis der chemischen Bindung. Während die exakte Lösung obiger Gleichungdie beliebig genaue Beschreibung der chemischen Bindung erlaubt, was al-lerdings nur mittels spezieller Computerprogramme möglich ist, suchen wirein approximatives Verfahren, das uns erlaubt, die ‘Essenz’ der chemischenBindung zu erfassen.

3.2.2Linearkombination von Atomorbitalen

Glücklicherweise können wir einen Trick verwenden, den wir bereits im vo-rigen Kapitel eingesetzt hatten. Der Schlüssel dabei ist die Einführung von

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3.2 Molekülorbitaltheorie 93

Funktionen, die man bereits kennt, um so die unbekannten Funktionen, dieMolekülorbitale, anzunähern. Wir nehmen an, wir kennen die Orbitale φµ al-ler Atome im Molekül — keine triviale Annahme, da wir obige Gleichungauch für Atome mit mehr als einem Elektron erst einmal lösen müßten — undkonstruieren die Orbitale ψi des Moleküls durch Überlagerung dieser Ato-morbitale

ψi(r) = ∑µ

ciµφµ(r) (3.25)

Nun sind die Unbekannten, die das Wesen des i-ten Molekülorbitals bestim-men, die Entwicklungsparameter ciµ, die man Molekülorbitalkoeffizientenoder kurz MO-Koeffizienten nennt. Die Menge aller Entwicklungsparametereines Orbitals können wir in einem Vektor zusammenfassen, ci ≡ {ciµ}. DieEntwicklung selbst heißt LCAO-Entwicklung nach linear combination of atomic

orbitals.

3.2.3Die Roothaan-Gleichung

Um die MO-Koeffizienten zu bestimmen, verwenden wir Gl. (3.23), die vondem LCAO-Ansatz in Gl. (3.25) erfüllt werden muß,[t + Vnuc + vee

]

∑µ

ciµφµ(r) = ǫi ∑µ

ciµφµ(r) (3.26)

Um aus dieser Gleichung eine Bestimmungsgleichung für die Koeffizientenzu machen, gehen wir vor wie schon bei der Lösung des Wasserstoffatoms inKapitel 2. Dazu multiplizieren wir Gl. (3.26) von links mit einem komplex-konjugierten Atomorbital φ⋆

ν(r) und integrieren über die Koordinaten r,

∫ +∞

−∞d3r φ⋆

ν(r)[t + Vnuc + vee

]

∑µ

ciµφµ(r) =∫ +∞

−∞d3r φ⋆

ν(r)ǫi ∑µ

ciµφµ(r)

(3.27)

und schreiben die erhaltene Gleichung durch Vertauschen von Summationund Integration um

∑µ

ciµ

∫ +∞

−∞d3r φ⋆

ν(r)[t + Vnuc + vee

]φµ(r) = ǫi ∑

µ

ciµ

∫ +∞

−∞d3r φ⋆

ν(r)φµ(r)

(3.28)

Die Integrale könnten wir nur berechnen, wenn wir die explizite analytischeForm der Atomorbitale kennen würden. Heutzutage kann man sie mit Com-putern berechnen. In den 1930-1950er Jahren war dies noch nicht möglich.

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94 3 Die chemische Bindung

Um dennoch dem Verständnis der chemischen Bindung näher zu kommen,hat man sich eines Tricks bedient. Zwar können wir die Integrale nicht aufeinem Blatt Papier berechnen, wir wissen aber, dass es reelle Zahlen sind, diewir wie folgt abkürzen wollen,

fνµ ≡∫ +∞

−∞d3r φ⋆

ν(r)[t + Vnuc + vee

]φµ(r) (3.29)

Sνµ ≡∫ +∞

−∞d3r φ⋆

µ(r)φν(r) (3.30)

so dass wir Gl. (3.28) kompakt schreiben können als

∑µ

fνµciµ = ǫi ∑µ

Sνµciµ (3.31)

Die Summation kann man als Skalarprodukt zweier Vektoren f ν ≡ { fνµ} undci beziehungsweise Sν ≡ {Sνµ} und ci schreiben,

f ν · ci = ǫi Sν · ci (3.32)

Eine solche Gleichung können wir nun für jedes beliebige Atomorbital φν er-halten. Wenn wir daher alle so gewonnenen Vektoren f ν und Sν als Zeilen-vektoren in Matrizen f = { fνµ} und S = {Sνµ} auffassen, können alle dieseMöglichkeiten in Form einer Matrix-Gleichung geschrieben werden, die manRoothaan-Gleichung nennt,

f · ci = ǫi S · ci (3.33)

Die nichttriviale Lösung dieser Gleichung erhält man durch Nullsetzen derDeterminante

[ f − ǫiS] · ci = 0 =⇒ det [ f − ǫiS]!= 0 (3.34)

wobei wir an Stelle der senkrechten Striche zur Kennzeichnung der Deter-minanten diesmal explizit ‘det’ geschrieben haben (die triviale Lösung wäreci = 0, was aber natürlich keine chemisch relevante Lösung ist, weil dann dasMolekülorbital ψi(r) entsprechend Gl. (3.25) überall im Raum Null wäre).

3.2.4Die chemische Bindung im Diwasserstoff

Die Lösung der Roothaan-Gleichung führt man am besten am Beispiel des ein-fachsten chemischen Moleküls vor, also für das Wasserstoffmolekül. Für dieLCAO-Entwicklung in Gl. (3.25) verwenden wir zwei 1s-Atomorbitale, 1s1(r)und 1s2(r), wobei die Indices 1 und 2 die beiden Wasserstoffatome bezeich-nen, H(1)–H(2). Die zu lösende Gl. (3.34) lautet dann

det [ f − ǫiS]!= 0 =⇒

∣∣∣∣

f11 − ǫiS11 f12 − ǫiS12

f21 − ǫiS21 f22 − ǫiS22

∣∣∣∣

!= 0 (3.35)

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3.2 Molekülorbitaltheorie 95

wobei i ∈ {1, 2}. Aus Symmetriegründen muß gelten f11 = f22 und f12 = f21,sowie analog S11 = S22 und S12 = S21 — die beiden Wasserstoffatome sindsymmetrieäquivalent, d.h. sie können vertauscht werden, ohne dass sich dieChemie des H2-Moleküls ändert. Der Einfachheit halber führen wir noch einf ≡ f11 = f22 und S ≡ S12 und nehmen an, dass die Atomorbitale normiertseien, S11 = S22 = 1. Damit können wir die zu lösende Gleichung schreibenals∣∣∣∣

f − ǫi f12 − ǫiS

f12 − ǫiS f − ǫi

∣∣∣∣

!= 0 (3.36)

Die Auflösung der 2×2-Determinante ergibt

( f − ǫi)2 − ( f12 − ǫiS)2 = 0 (3.37)

⇔ ( f − ǫi)2 = ( f12 − ǫiS)2 ⇒ f − ǫi = ±( f12 − ǫiS) (3.38)

was wir nach der gesuchten Orbitalenergie ǫi auflösen und so zwei möglicheLösungen für zwei Molekülorbitale erhalten

ǫ∓ =f ∓ f12

1∓ S=

f

1∓ S∓ f12

1∓ S(3.39)

Wenn der Überlapp S bei großen Abständen der Wasserstoffatomkerne gegenNull geht, erhalten wir

ǫ∓ = f ∓ f12 (3.40)

Orbitalenergien hängen also von der molekularen Struktur ab und ändernsich daher auch bei chemischen Reaktionen! Entsprechendes gilt für die Mo-lekülorbitale selbst.

Bei sehr großen Abständen entstehen aus H2 zwei einzelne Wasserstoffato-me. Aufgrund der dann verschwindenden Wechselwirkung der beiden Pro-tonen, der beiden Elektronen, sowie eines Elektrons eines H-Atoms mit demProton des anderen erkennen wir,

f =∫ +∞

−∞d3r φ1s(r)

[

− h2

2me∆−

2

∑I=1

14πǫ0

ZIe2

|r − RI |+ vee

]

φ1s(r)

≈∫ +∞

−∞d3r φ1s(r)

[

− h2

2me∆− 1

4πǫ0

e2

|r− R1|

]

φ1s(r) = E1s (3.41)

Dementsprechend kann f durch den Eigenwert des Wasserstoffatomgrund-zustands genähert werden. Wenn wir nun beachten, dass der Überlapp vonzwei 1s-Orbitalen S stets positiv ist, so gilt für die Aufspaltung um den Ener-gieschwerpunkt E1s: ∆ǫ− > ∆ǫ+. Das Molekülorbital ψ+ wird dann in der

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96 3 Die chemische Bindung

Energie abgesenkt gegenüber den Atomorbitalenergien E1s, währen ψ− ener-getisch angehoben wird. Ersteres nennt man deshalb ein bindendes Molekülor-bital und letzteres ein antibindendes Molekülorbital. Die Ausbildung der che-mischen Bindung ist demnach energetisch begünstigt und die Reaktionsener-gie kann genähert werden durch

∆Eel = 2ǫ+ − 2E1s (3.42)

Die erhaltenen Lösungen kann man in ein Diagramm, in das sogenannteMO-Diagramm, einzeichnen (s. Abb. 3.1), dem man sofort entnehmen kann,dass die Bildung einer chemischen Bindung zwischen zwei Wasserstoffato-men zu einer Energieerniedrigung und damit zu einem stabileren Zustandführt. Es ist an dieser Stelle wichtig zu betonen, dass man MO-Diagrammenicht raten kann, wie oft der Eindruck in Lehrbüchern der Allgemeinen Che-mie erweckt wird, sondern immer durch Lösen einer Roothaan-artigen Glei-chung berechnen muß. Offensichtlich wird dieses Lösen immer schwieriger, jemehr Atomorbitale berücksichtigt werden müssen, also je größer und zahlrei-cher die Atome im Molekül sind. Schon für die homonuklearen zweiatomigenMoleküle der zweiten Periode (also z.B. O2, N2 und F2) ist schon eine aufwen-dige Berechnung nötig, die auch nur noch mit Computern ausgeführt werdenkann, wenn man die Integrale fνµ und Sνµ explizit berechnen will/muß.

E1s

ε i

H2H H

ε

ε+

Abbildung 3.1 Molekülorbitaldiagramm zur Bildung von H2 aus zwei H-Atomen. In die Mit-te zeichnet man die Orbitalenergien des bindenden und des antibindenden Molekülorbitals,sowie links und rechts davon die Atomorbitalenergien.

Aus der Lösung der Roothaan-Gl. (3.33) erhält man auch die MO-Koeffi-zienten, mit deren Hilfe wir schließlich die MOs graphisch darstellen können.Das MO zur niedrigsten Energie wird bindendes MO genannt, während dasMO mit einer Energie höher als dem Energieschwerpunkt — der hier iden-tisch ist mit der Energie der AOs — antibindendes MO genannt wird, weil

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3.2 Molekülorbitaltheorie 97

eine “Besetzung” dieses MO die Bindung schwächen würde. Wenn die Ener-gie eines Molekülorbitals dagegen gleich dem Energieschwerpunkt sein wird,dann nennt man dieses MO nichtbindend.

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99

4Chemische Konzepte

Mit der Quantenmechanik haben wir die Theorie in den Händen, mit der wirdas dynamische Verhalten der Elektronen und Atomkerne beschreiben kön-nen. Mit ihr können wir sämtliche Eigenschaften von Molekülen, molekularenAggregaten, Festkörpern etc. vorhersagen und beschreiben. Offensichtlich istdie Theorie aber recht kompliziert und erlaubt ohne vorherige Berechnungkaum Aussagen, was die “Alltagstauglichkeit” der Theorie sehr einschränkt.Kurz, die Theorie ist nicht handlich und wir benötigen in der Chemie weite-re, zwangsläufig approximative Werkzeuge, die es uns gestatten, soweit wiemöglich konsistent mit den Prinzipien der Quantenmechanik eine Begrifflich-keit zu schaffen, die flexibel und ad hoc anwendbar ist. Die chemischen Konzepte

erfüllen diese Aufgabe und das erste zu besprechende Konzept ist das der Par-tialladungen. Für das qualitative Verständnis molekularer Prozesse und Re-aktionen sind diese Konzepte unverzichtbar. Sobald chemische Zusammen-hänge in groben Zügen (qualitativ) verstanden sind, kommen dann genauere,quantitative Berechnungen basierend auf der Quantenmechanik, sogenanntequantenchemische Berechnungen, zum Einsatz.

4.1Ladungsverteilung und Partialladungen

Sehr viele in der Chemie geführte deskriptiv-qualitative Diskussionen überMoleküle und ihr chemisches Verhalten werden mit rein elektrostatischen Be-griffen geführt. Daher ist die zentrale physikalische Größe in all diesen Dis-kussionen die Ladungsverteilung der Elektronen im Molekül. Diese Größehaben wir bereits in Kapitel 2 eingeführt. Es ist die LadungsdichteverteilungρC(r) ≡ qeρ(r) = −eρ(r), also die elementarladungsgewichtete Elektronen-dichteverteilung aus Gl. (2.24).

Um allgemein mit ‘elektrostatischer Anziehung’ oder ‘elektrostatischer Ab-stoßung’ argumentieren zu können wird es nötig sein, zu bestimmen, an wel-chen Orten im Raum ein Ladungsunterschuß beziehungsweise -überschuß zufinden ist. Es wird sicherlich nicht einfach sein, derartige Informationen zuerhalten, weil man eine Referenzladungsverteilung definieren müßte, bezüg-

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100 4 Chemische Konzepte

lich derer dann eine Ladungserniedrigung oder -erhöhung angegeben werdenkann.

Auf den ersten Blick vereinfacht sich diese Situation, wenn wir die Ladungder Atome in einem Molekül bestimmen könnten und mit der Ladung einesisolierten, elektrisch neutralen Atoms vergleichen, also das Konzept der Par-

tialladungen einführen. Bei genauerer Betrachtung erweist sich dies aber alsschwierig, weil wir in der Quantenmechanik der Moleküle gar nicht über Ato-me in Molekülen sprechen, sondern über Elektronen und Atomkerne. Atomekamen in der Molekülbeschreibung in den Kapiteln 2 und 3 nicht vor, ergowird es schwierig sein, Atome in Molekülen zu definieren. Diese Situationläßt sich durch ein sehr einfaches Gedankenexperiment verdeutlichen: Ange-nommen wir wandern durch die Elektronendichte ρA−B(r) von einem Atom-kern A zu einem anderen Atomkern B in einem Molekül A− B, dann werdenwir nicht an einem Grenzposten vorbeikommen, der uns sagen würde, dassnun Atom A aufhört und Atom B beginnt, so dass wir ρA−B(r) auf die beidenAtomen eindeutig aufteilen könnten

ρA−B(r) = ρA(r) + ρB(r) (4.1)

Aus genau so einer Aufteilung könnten wir aber leicht die Zahl der Elektronendurch Integration der Einzeldichten berechnen

N =∫ +∞

−∞d3r ρA−B(r) =

∫ +∞

−∞d3r ρA(r) +

∫ +∞

−∞d3r ρB(r)

=∫

Atom Ad3r ρA(r)

︸ ︷︷ ︸

≡NA

+∫

Atom Bd3r ρB(r)

︸ ︷︷ ︸

≡NB

= NA + NB (4.2)

die wir den Atomen zuordnen wollen, also NA und NB. Mit diesen Elektro-nenzahlen können wir Partialladungen der Atome, qA und qB , durch Diffe-renzbildung mit der Elektronenzahl der neutralen, isolierten Atome, die wiraus den Kernladungszahlen berechnen können, erhalten

qA ≡ (ZA − NA)e (4.3)

qB ≡ (ZB − NB)e (4.4)

Der Schlüssel zu diesen Größen liegt aber, wie bereits eingangs gesagt, in derDefinition des Raumbereichs, der von einem Atom im Molekül eingenommenwird. Es wurden verschiedene Definitionen vorgeschlagen, um Atome in Mo-lekülen wieder zu finden. Die Wahl ist anthropogen und daher kann keineDefinition von Partialladungen eindeutig sein. Anders gesagt: verschiedeneProtkolle zur Berechnung von Partialladungen wurden vorgeschlagen, die al-le nützlich sind, aber auf keinen Fall vermischt werden dürfen.

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4.1 Ladungsverteilung und Partialladungen 101

Paulings Einführung des Begriffs der Elektronegativität versucht das Pro-blem der Definition eines Raumbereichs für ein Atom in einem Molekül zurBerechnung von Partialladungen durch Verwendung und Mittelung beob-achtbarer Größen zu umgehen. Zunächst definiert er Elektronegativität alsdie Fähigkeit eines Atoms in einem Molekül, Elektronen an sich zu ziehen.Dadurch versucht er anzugeben, wo im Molekül negative Ladung angehäuftwerden kann, während an anderen Orten im Molekül entsprechend Elektro-nendichte fehlt, also eine positive Partialladung zurückbleibt. Die Elektrone-gativität muß aus Meßgrößen berechnet werden. Auch hier hat man viele Op-tionen, die sämtlich zu verschiedenen, miteinander nicht kompatiblem Elek-tronegativitätsdefinitionen geführt haben. Pauling verwendete thermodyna-mische Daten, namentlich Bindungsenergien von Molekülen, hauptsächlichweil diese damals in ausreichender Menge zur Verfügung standen. Konzep-tionell wäre es offensichtlicher gewesen, Energien zu verwenden, die mit demEntfernen und dem Hinzufügen eines Elektrons verknüpft sind, also mit Ioni-sierungsenergien und Elektronenaffinitäten. Gemessene Elektronenaffinitätenhatte Pauling damals aber nicht zur Verfügung.

Atome in Molekülen wieder zu finden ist also nicht so leicht, wie man diesvielleicht erwartet hätte. Das bedeutet aber natürlich nicht, dass es keine Ato-me gibt. Wir können leicht Reaktionen definieren, bei dem zwei Atome einMolekül bilden oder ein Molekül in ein Atom und ein weiteres Fragmententfällt. Ferner enthalten Moleküle die Zentren der Atome, die Atomkerne.Lediglich die Vorstellung eines Atoms, das einen wohl definierten Raumbe-reich einnimmt, führt zu Schwierigkeiten, wenn man dies in einem Molekülversucht. Für isolierte Atome, das heißt für Atome, die hinreichend weit vonanderen Atomen oder Molekülen entfernt sind, ist dies einfacher, weil sie ku-gelsymmetrisch sind und die atomare Elektronendichte exponentiell abfällt(folgend dem exponentiellen Abfall der Wellenfunktion und der Orbitale ausdenen sie berechnet wird).

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Anhang

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103

ARechenregeln

Im folgenden seien einige oft benötigte Rechenregeln zusammengefaßt. Dabeiwird der Kürze halber recht wenig Wert auf mathematische Präzision undRigorosität gelegt.

A.1Infinitesimalrechnung

A.1.1Totale und partielle Ableitung

Eine partielle Ableitung wird genauso gebildet wie die totale, nur werden alleVariablen bis auf diejenige, nach der abgeleitet wird, als konstant angesehen.Um diese beiden Ableitungen zu unterscheiden, wird das Differential dx dertotalen Ableitungen zu einem ∂x für die partielle Ableitung. Wenn wir alsozum Beispiel eine Funktion von zwei Variablen x und y

f (x, y) = yx2 + y (A.1)

studieren, dann ergibt sich die partielle Ableitung nach x (also unter Kon-stanthalten der Variablen y ausgedrückt durch den Index an der Klammer)als(

∂ f (x, y)

∂x

)

y

= 2yx (A.2)

Eine totale Ableitung, die die Annahme nicht macht, dass y bezüglich derAbleitung konstant zu halten ist, wird dagegen allgemein geschrieben als

d f (x, y)

dx=

(∂ f (x, y)

∂x

)

y

dx

dx︸︷︷︸

=1

+

(∂ f (x, y)

∂y

)

x

dy

dx(A.3)

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104 A Rechenregeln

wenn die Funktion f nur von zwei Variablen abhängt. Diese Ableitung erhältman aus dem sogenannten totalen Differential d f der Funktion,

d f (x, y) =

(∂ f (x, y)

∂x

)

y

dx +

(∂ f (x, y)

∂y

)

x

dy (A.4)

Totale Differentiale spielen eine entscheidende Rolle in der Thermodynamikund können auch geometrisch interpretiert werden.

Für das spezielle Beispiel in Gl. (A.1) erhalten wir dann

d f (x, y)

dx= (2yx) + (x2 + 1)

dy

dx(A.5)

A.1.2Kettenregel

Bei vielen Ableitungen physikalischer Größen muß man beachten, dass Ablei-tungen Schritt für Schritt vorzunehmen sind. Allgemein kann man schreiben

d f [g(x)]

dx=

d f

dg

dg

dx(A.6)

(wobei diese Regel für totale und partielle Ableitungen gleichermaßen gilt).Man beachte als Merkregel, dass die Ableitung auf der linken Seite entsteht,wenn man rechts dg ‘kürzt’.

Als Beispiel leiten wir die Funktion f (x) = (1/√

x)2 ab, wobei offensicht-lich g =

√x zu wählen ist

d f (x)

dx= −2

(√x)−3

︸ ︷︷ ︸

d f /dg

12

x−1/2

︸ ︷︷ ︸

dg/dx

= −x−4/2 = − 1x2 (A.7)

was sicherlich richtig ist, da wir die Funktion auch hätten vereinfachen kön-nen zu f (x) = (1/

√x)2 = 1/x, so dass sich direkt die Ableitung nach x zu

f ′(x) = −1/x2 ergibt.

A.1.3Produkt- und Quotientenregel

Leitet man ein Produkt von zwei Funktionen u und v, die je nur von einerVariablen abängen sollen, ab, dann muß man die sogenannte Produktregel be-achten:

(uv)′ = u′ v + v′ u (A.8)

Mit dieser Regel läßt sich auch sofort der Quotient zweier Funkionen ableitenals(u

v

)′=

(

u1v

)′= u′

1v

+

(1v

)′u =

u′

v+

(

− v′

v2

)

u (A.9)

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A.2 Differentialgleichungen 105

wobei die Kettenregel bei der Ableitung von 1/v zu beachten ist, da v selbstnoch von der Variablen abhängt, nach der man ableitet. Die rechte Seite läßtsich kompakt auf einen Hauptnenner bringen

(u

v

)′=

u′v− v′uv2 (A.10)

und ergibt einen Ausdruck der Quotientenregel genannt wird.

A.1.4Partielle Integration

Bei der Integration von einem Produkt zweier Funktionen ist die ‘umgekehrteProduktregel’ zu beachten. Wenn wir also die Ableitungen in Gl. (A.8) inte-grieren, so ergibt sich∫

(uv)′ =∫

u′ v +∫

v′ u (A.11)

was wir schreiben können als

[uv] =∫

u′ v +∫

v′ u (A.12)

wobei die Grenzen der Stammfunktion, [uv], auf der linken Seite weggelassenwurden. Obige Gleichung ist in der Form∫

u′ v = [uv]−∫

v′ u (A.13)

als partielle Integration bekannt.

A.2Differentialgleichungen

In der Chemie und Physik kommen Differentialgleichungen ubiquitär vor(beispielsweise in der Kinetik oder in der Quantenmechanik). Beim Lösen ei-ner Differentialgleichung wird die Lösungsfunktion bestimmt.

A.2.1Gewöhnliche Differentialgleichungen

Hängt die Lösungsfunktion nur von einer Variablen ab, so spricht man voneiner gewöhnlichen Differentialgleichung. Die mathematische Theorie gewöhn-licher Differentialgleichungen ist abgeschlossen. Das bedeutet, dass jede ge-wöhnlich Differentialgleichung gelöst werden kann.

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106 A Rechenregeln

Die Lösung kann auf zwei Arten erfolgen. Zum einen existiert ein ganzerSatz von Regeln, die auf bestimmte Typen von Differentialgleichungen ange-wendet werden können. Ein Beispiel haben wir kennengelernt beim radioak-tiven Zerfall, bei dem wir die Differentialgleichung, die die Veränderung derStoffmenge beschreibt, durch Variablenseparation lösen konnten. Eine guteÜbersicht über alle diese “Lösungsrezepte” bieter Kreyszig [8].

Es gibt allerdings ein Rezept, das bei jeder gewöhnlichen Differentialglei-chung zum Ziel führt. Dies ist ein Potenzreihenansatz für die Lösungsfunkti-on,

y(x) =∞

∑k=0

ak xk (A.14)

Die Entwicklungskoeffizienten ak werden bestimmt, indem man den Ansatzin die entsprechende Differentialgleichung einsetzt und versucht, eine Rekur-sionsbeziehung für die Koeffizienten zu finden, so dass alle Koeffizienten be-kannt sind, wenn man erst einmal den ersten festgelegt hat.

A.3Eine Herleitung der Wellengleichung

Im folgenden soll die sogenannte Wellengleichung zur Beschreibung desräumlichen und zeitlichen Verhaltens einer Auslenkung u = u(x, t) herge-leitet werden. Die präsentierte Ableitung stellt eine mögliche Ableitung dar,andere sind denkbar. Der Einfachheit halber betrachten wir die Ausbreitungdieser Auslenkung nur in einer Raumrichtung (in x-Richtung). Die Auslen-kung u kann zum Beispiel die Auslenkung einer Saite sein; s. Abb. 1. Um dieSaite auszulenken, muß Arbeit verrichtet werden, was die potentielle Energieerhöht.

xi−1

xi

xN x

u

t

Propagation in x mit der Zeit t

x x1 2

ui−1ui

Abb. 1: Ausbreitung einer Auslenkung in Zeit und Raum.

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A.3 Eine Herleitung der Wellengleichung 107

Schreiben wir die potentielle Energie als Produkt aus auslenkender KraftF mal Dehnung der Saite exemplarisch für den in Abb. 1 eingezeichnetenschwarzen Bogen, so erhalten wir

Epot = F · ∆l (A.15)

wobei ∆l die Verlängerung der elastischen Saite im dargestellten Bogen ist,also den Unterschied zwischen neuer Länge des Bogens lneu und der zugehö-rigen relaxierten Bogenlänge lalt angibt. Wenn wir die Strecke in x-Richtung,über die sich der Bogen der ausgelenkten Saite ausdehnt, in N Abschnitte glei-cher Breite ∆x unterteilen (markiert durch die grünen xi in Abb. 1), so ergibtsich die relaxierte Länge der Saite in dem betrachteten Bogen zu

lalt = N · ∆x (A.16)

In jedem Intervall xi−1 bis xi kann nun die Länge der Saite nach dem Satz vonPythagoras berechnet werden als,

l(xi)− l(xi−1) =√

(xi − xi−1)2 + (ui − ui−1)2 =√

∆x2 + (ui − ui−1)2 (A.17)

wobei ui = u(xi) und ui−1 = u(xi−1).Die (Gesamt-)Längenänderung der Saite in dem betrachteten Bogen ergibt

sich nun durch Aufsummation der einzelnen Teillängen zu

∆l =N

∑i=1

[l(xi)− l(xi−1)]− l(A.17)=

N

∑i=1

∆x2 + (ui − ui−1)2 − l

(A.16)= ∆x

N

∑i=1

1 +

(ui − ui−1

∆x

)2

− N

= ∆xN

∑i=1

1 +

(ui − ui−1

∆x

)2

− 1

(A.18)

Damit läßt sich die potentielle Energie aus Gl. (A.15) schreiben als

Epot = F · ∆xN

∑i=1

1 +

(ui − ui−1

∆x

)2

− 1

(A.19)

Für kleine Auslenkungen gilt für die Steigung ui − ui−1∆x

< 1, so dass die Wur-zel in eine Taylor-Reihe entwickelt werden kann,

Epot = F · ∆xN

∑i=1

{[

1 +12

(ui − ui−1

∆x

)2

+ · · ·]

− 1

}

(A.20)

≈ 12

F · ∆xN

∑i=1

(ui − ui−1

∆x

)2

(A.21)

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108 A Rechenregeln

Wir betrachten nun ein Stück der Saite im Bogen an einem Ort xi. Bei derAuslenkung wirkt eine Kraft senkrecht zur x-Richtung,

Fi = −∂Epot

∂ui(A.22)

Mit Gl. (A.21) können wir die partielle Ableitung per Kettenregel auswerten,

∂Epot

∂ui=

12

F · ∆x1

(∆x)2 [2(ui − ui−1)− 2(ui+1− ui)] (A.23)

wobei man beachten muß, dass ein ui in zwei Summanden von Gl. (A.21)auftritt (weil bei der partiellen Differentiation alle uj 6= ui als Konstanten zubehandeln sind, fallen alle Summanden, die nicht ui enthalten, als Konstantenweg und die Summe kollabiert zu zwei Termen). So erhalten wir für die KraftFi, die auf das i-te Saitenstück wirkt, nach Gl. (A.22),

Fi = −F · ∆x1

(∆x)2 [2ui − ui−1− ui+1] (A.24)

Die rechte Seite dieser Gleichungen können wir umschreiben unter Verwen-dung der Taylor-Entwicklungen,

ui±1 = u(xi ± ∆x) = u(xi)± u′(xi)∆x +12

u′′(xi)(∆x)2 + · · · (A.25)

die sich kombinieren lassen zu

2ui − ui−1 − ui+1 = −(∆x)2u′′(xi) +O[

(∆x)3]

≈ −(∆x)2u′′(xi) (A.26)

Damit erhalten wir für die Kraft in Gl. (A.24),

Fi = F · ∆xu′′(xi) (A.27)

Nun kann aber Fi nach Newton geschrieben werden als

Fi = mai = md2ui

dt2 = ρ · ∆xd2ui

dt2 (A.28)

wobei m die Masse des Saitenstücks am Orte xi ist, die wir ausdrücken könnendurch eine (eindimensionale) Dichte ρ (mit Einheit Masse pro Länge) als m =ρ · ∆x.

Setzen wir Gln. (A.27) und (A.28) gleich, so erhalten wir eine Differential-gleichung für ui,

ρ · ∆xd2ui

dt2 = F · ∆x u′′(xi) (A.29)

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A.3 Eine Herleitung der Wellengleichung 109

Diese Gleichung können wir auf beiden Seiten durch ∆x teilen. Ferner bemer-ken wir, dass die Gleichung für jeden beliebigen Ort xi gilt, so dass wir denIndex i fallenlassen können. Hier zeigt sich nun auch, warum es egal ist, wel-chen Bogen der Welle wir für unsere Betrachtungen auswählen. Es ergibt sicheine partielle Differentialgleichung zweiter Ordnung,

ρd2u

dt2 = Fu′′(x) (A.30)

Wenn wir die Parameter F und ρ auf eine Seite bringen, bemerken wir, dassder Quotient F/ρ von der Dimension her einem Geschwindigkeitsquadratentspricht. Mit der Defintition der Ausbreitungsgeschwindigkeit v ≡

√F/ρ

erhalten wir schließlich

d2u(x, t)

dt2 = v2 d2u(x, t)

dx2 (A.31)

die Wellengleichung, die uns die Veränderung der Auslenkung u mit dem Ortund der Zeit beschreibt.

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110 Literatur

Literatur

1 Peter W. Atkins, Julio De Paula. Physikali-sche Chemie. Wiley-VCH, Weinheim, 4. ed.,2006.

2 Donald A. McQuarrie, John D. Simon.3 R. Stephen Berry, Stuart A. Rice, John

Ross. Physical Chemistry. Oxford Universi-ty Press, Oxford, 2. ed., 2000.

4 Gerd Wedler. Lehrbuch der PhysikalischenChemie. Wiley-VCH, Weinheim, 5. ed.,2004.

5 Paul A. Tipler, Gene Mosca. Physik: FürWissenschaftler und Ingenieure. Spektrum

Akademischer Verlag, Weinheim, 2. ed.,2006.

6 Robert Bruce Lindsay, Henry Margenau.Foundations of Physics. Ox Bow Press,Woodbridge, 1981.

7 Henry Margenau, George Moseley Mur-phy. Die Mathematik für Physik und ChemieI. Verlag Harri Deutsch, Frankfurt, 1965.

8 Erwin Kreyszig. Advanced Engineering Ma-thematics. John Wiley & Sons, New York,7. ed., 1993.

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Allgemeine Chemie.Copyright © Prof. Dr. Markus Reiher, ETH Zürich, HS 2008

111

Index

α-Strahlen 47α-Teilchen 33β-Strahlen 47γ-Strahlen 47Öltröpfchenversuch 31

Ableitung– partiell, 18, 103– total, 18, 103Absorption 43actio 10antibindendes Molekülorbital 97Arbeit 11Atom 1Atomkern 33Aufenthaltswahrscheinlichkeit 62

Balmer-Serie 43Beschleunigung 8Bewegungsbahn 9Bewegungsenergie 11bindendes Molekülorbital 97Bohr– Atommodell, 43– Radius, 45Born Interpretation 62Born–Oppenheimer-Näherung

75, 84Bosonen 72Brackett-Serie 44

Coulomb-Kraft 16

Dalton 1Dichte– Aufenthaltswahrscheinlichkeit,

62– Ladung, 99– radial, 79Differentialgleichung 105– 1. Ordnung, 48diffuse 79Dimension 22Drehimpuls– Definition, 69– Quantenzahl, 70Druck 23

Effekt– photoelektrischer, 42Eigenfunktion 57Eigenwert 57Eigenwertgleichung 57Einheiten 21Elektromagnetismus 35Elektron 28Elektronegativität 101Elektronendichte 99– radial, 79Elektronenkonfiguration 86Elektrostatik 16Elementare Abstraktion 8Emission 43Energie 11

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112 Index

– gesamt, 16– kinetische, 11– klassische Mechanik, 16– potentielle, 14Energiequanten 42Entartung 70– zufällige, 80Erwartungswert 65

Feder 24Feldstärke 18Fermionen 72Fock-Operator 92Fraunhofersche Linien 43fundamental 79

Gesamtenergie 16Geschwindigkeit 6Geschwindigkeitsgesetz 48Geschwindigkeitskonstante 48gewöhnliche Differentialglei-

chung 105Gravitationsgesetz 15Grenzwert 7

Halbwertszeit 49Hamilton– Funktion, 17– Operator, 55harmonische Schwingung 25harmonischer Oszillator 73Hauptquantenzahl 79Heisenberg– Unschärfe, 67

Impulsdarstellung 69Infinitesimalrechnung 103Isotop 34Isotopeneffekte 54

Kanalstrahlen 32Kathodenstrahlen 28Kernzerfall 46

Kettenregel 19, 104Kinetik 47– 1. Ordnung, 48kinetische Energie 11klassische Mechanik 6Kommutator 67Konzepte 99Korrespondenzprinzip 56Kraft 9Kraftfeld 24Kraftflußdichte 29Kraftkonstante 24Kronecker-Delta 68Kugelflächenfunktionen 70, 78Kugelkoordinaten 20

Ladungsdichte 99Lageenergie 14Laplace-Operator 35LCAO 93Lebenszeit 49Licht 35Lichtgeschwindigkeit 35Limes 7Linearkombination– Atomorbitale, 93Lorentz-Kraft 29Lyman-Serie 44

Masse– reduzierte, 75Massenzahl 34Materiewelle 40Maxwell 35Mechanik– klassische, 6Millikan 31Mischungen 27Mittelwert 65MO-Diagramm 96MO-Koeffizienten 93Molekülorbital

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Index 113

– antibindend, 96, 97– bindend, 96, 97– nichtbindend, 97Molekülorbitalkoeffizienten 93Multiplizität 91

Neutron 34Newton 16– Axiome, 9– Bewegungsgleichung, 9– Gravitationsgesetz, 15

Ockhamsches Rasiermesser 53Operator 19– Hamilton, 55Orbitale 84Orbitalenergie 92Ordnungszahl 34Ortsdarstellung 57, 69, 82

Partialladung 100partielle Ableitung 18, 103partielle Integration 105Paschen-Serie 44Pauli-Prinzip 83, 88Pauling, Linus 101Permeabilität 35Pfund-Serie 44photoelektrischer Effekt 42Photon 37Polarkoordinaten 20Potential 18potentielle Energie 14Potenzreihe 13, 106principal 79Produktregel 104Proton 32

Quantelung 43Quanten 42quantenchemische Berechnungen

99Quantenzahl 57, 87

– Drehimpuls, 70– Haupt-, 79– magnetische, 70– Schwingungs-, 74– Spin, 71Quotientenregel 105

radiale Dichte 79Radialfunktion 77Ratenkonstante 48reactio 10Reaktionsgeschwindigkeit 47Reaktionsrate 47reduzierte Masse 75Reibungsgesetz 32Reinstoffe 27Roothaan-Gleichung 94Rotationsenergie 76Rutherford 33

Schrödinger-Gleichung 55– stationär, 59Schwingung– harmonische, 25Separationsansatz 60– zeitabhängige Schrödinger-

Gleichung, 61sharp 79Slater-Determinante 86Spin 71Spinorbitale 87Stokes 32Streuexperiment 33

Taylor-Reihe 13Teilchen– im Kasten, 72Teilchendichte 64Teilchenverteilung 64Termschema 58Termsymbol 89, 90totale Ableitung 18, 103

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114 Index

Trägheitsmoment 77Trajektorie 9

Ultraviolettkatastrophe 42Unschärfe-Relation 67

Variablentrennung 48

Wasserstoff-Atom 74

Welle–Teilchen-Dualismus 38Wellenfunktion 54

Zentrifugalpotential 79Zerfallsprozesse 46zufällige Entartung 80Zustandsfunktion 54