Ilmenau in Th ringen ãEr durchstrich langsam T ler und BergeÒ · Hoffnung, in der gesunden Luft...

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Literarische Exkursionen ©www.deutsch-digital.de Die Grundlage der Beschreibung bildet eine Facharbeit von Jana Mischke. Betreuung: Eckehart Weiß Goethewanderweg Ilmenau in Thüringen „Er durchstrich langsam Täler und Berge...“ Der Stützerbacher Grund (gezeichnet im August 1776) An Lavater Dem Schicksal Was weiß ich was mir hier gefällt In dieser kleinen engen Welt Mit leisem Zauberband mich hält! Mein Carl und ich vergessen hier Wie seltsam uns ein tiefes Schicksal leitet Und, ach ich fühlst, im Stillen werden wir Zu neuen Szenen vorbereitet Er durchstrich langsam Täler und Berge mit der Empfindung des größten Vergnügens. Überhangene Felsen, rauschende Wasserbäche, bewachsene Wände, tiefe Gründe sah er hier zum ersten Mal, und doch hatten seine frühesten Jugendträume schon in solchen Gegenden geschwebt. Er fühlte sich bei diesem Anblick wieder ver- jüngt; alle erduldeten Schmerzen waren aus seiner Seele weggewaschen, und mit völliger Heiterkeit sagte er sich Stellen aus verschiedenen Gedichten, besonders aus dem "Pastor fido", vor, die an diesen einsamen Plät- zen scharenweise seinem Gedächtnis zuflossen. Auch erinnerte er sich mancher Stellen aus seinen eigenen Lie- dern, die er mit einer besonderen Zufriedenheit rezitierte. Er belebte die Welt, die vor ihm lag, mit allen Ges- talten der Vergangenheit, und jeder Schritt in die Zukunft war ihm voll Ahnung wichtiger Handlungen und merkwürdiger Begebenheiten. Aus „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ So wie sich Goethes Held Wilhelm Meister beim Anblick des Gebirges fühlte, so mag es dem Dich- ter selbst ergangen sein, als er am 3. Mai 1776 zum ersten Mal dem Amt Ilmenau in dienstlicher Angelegenheit entgegen ritt. Einerseits regten ihn die Naturschönheiten·des Thüringer Waldes zum Dichten an, andererseits wurde er von der Vorahnung neuer Aufgaben seiner Wirkungsstätte im Amtsbezirk Ilmenau ergriffen. Insgesamt achtundzwanzig mal - rund 220 Tage - kam Johann Wolfgang Goethe in die kleine, am Nordabhang des Thüringer Waldes zu beiden Seiten der Ilm gelegenen, Enklave des Herzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach. Der Wanderweg Bei seinem ersten Besuch schrieb er an Herzog Karl August:

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Literarische Exkursionen

©www.deutsch-digital.de Die Grundlage der Beschreibung bildet eine Facharbeit von Jana Mischke. Betreuung: Eckehart Weiß

Goethewanderweg Ilmenau in Thüringen

„Er durchstrich langsam Täler und Berge...“

Der Stützerbacher Grund (gezeichnet im August 1776)

An Lavater Dem Schicksal Was weiß ich was mir hier gefällt In dieser kleinen engen Welt Mit leisem Zauberband mich hält! Mein Carl und ich vergessen hier Wie seltsam uns ein tiefes Schicksal leitet Und, ach ich fühlst, im Stillen werden wir Zu neuen Szenen vorbereitet Er durchstrich langsam Täler und Berge mit der Empfindung des größten Vergnügens. Überhangene Felsen, rauschende Wasserbäche, bewachsene Wände, tiefe Gründe sah er hier zum ersten Mal, und doch hatten seine frühesten Jugendträume schon in solchen Gegenden geschwebt. Er fühlte sich bei diesem Anblick wieder ver-jüngt; alle erduldeten Schmerzen waren aus seiner Seele weggewaschen, und mit völliger Heiterkeit sagte er sich Stellen aus verschiedenen Gedichten, besonders aus dem "Pastor fido", vor, die an diesen einsamen Plät-zen scharenweise seinem Gedächtnis zuflossen. Auch erinnerte er sich mancher Stellen aus seinen eigenen Lie-dern, die er mit einer besonderen Zufriedenheit rezitierte. Er belebte die Welt, die vor ihm lag, mit allen Ges-talten der Vergangenheit, und jeder Schritt in die Zukunft war ihm voll Ahnung wichtiger Handlungen und merkwürdiger Begebenheiten. Aus „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ So wie sich Goethes Held Wilhelm Meister beim Anblick des Gebirges fühlte, so mag es dem Dich-ter selbst ergangen sein, als er am 3. Mai 1776 zum ersten Mal dem Amt Ilmenau in dienstlicher Angelegenheit entgegen ritt. Einerseits regten ihn die Naturschönheiten·des Thüringer Waldes zum Dichten an, andererseits wurde er von der Vorahnung neuer Aufgaben seiner Wirkungsstätte im Amtsbezirk Ilmenau ergriffen. Insgesamt achtundzwanzig mal - rund 220 Tage - kam Johann Wolfgang Goethe in die kleine, am Nordabhang des Thüringer Waldes zu beiden Seiten der Ilm gelegenen, Enklave des Herzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach.

Der Wanderweg Bei seinem ersten Besuch schrieb er an Herzog Karl August:

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„...die Gegend ist herrlich, herrlich“, und bei seinem letzen Aufenthalt im Jahre 1831 auf dem Gipfel des Kickelhahns soll er dieselben Worte ausgerufen haben. Auf dem mit dem goetheschen „G“ markierten Wanderweg lassen sich diese Empfindungen nacherleben, dem Wanderer werden Geist und Denken Goethes gegenwärtig. Der 18 km lange Weg führt vom Amtshaus in Ilmenau zum Goethehaus in Stützerbach und bietet eine Vielzahl von landschaftlich reizvollen Stellen und historischen Gebäuden, die in Verbindung mit Goethe stehen. Beginnend vom kleinen Marktplatz der Stadt aus, gelangt man über den Friedhof mit dem Grab Corona Schröters zur ehemaligen Por-zellanfabrik Graf von Henneberg, in dessen Entfernung von nur 400m an der Straße nach Erfurt die Halde des Schachtes „Neuer Johannes“ liegt. Vorbei am Zechenhaus, die Sturmheide hinauf erreicht der Wanderer den Mittleren Berggraben, der einst das im Bergbau nötige Aufschlagwasser für den Antrieb der Entwässerungsräder der Schächte lieferte. Der jetzt zum Wanderweg aufgefüllte Graben führt bei weiterem Verlauf in die Nähe des Schwalbensteins, dessen Schutzhäuschen durch einen steilen Aufstieg erreichbar ist. Dem Waldweg folgend, vorbei am Schöffenhaus, eröffnet sich beim Heraustreten aus dem Hochwald auf die große Bornwiese, dort wo die Marienquelle ent-springt, ein herrlicher Ausblick auf den an der anderen Talseite der Ilm gelegenen Kickelhahn. Weiter auf einem schmalen Pfad bergab den Emmasteinfelsen streifend liegen bald die Wiesen vor dem kleinen Dorf Manebach. Vorbei an der Helenenruh geht der Weg hinauf zum Kamm des Ge-birges zum Großen Hermannstein, dessen Höhle Goethe oft als Herberge diente und zum Kickel-hahn, der mit seiner kleinen Holzhütte, dem Goethehäuschen, das die Inschrift der Verse „Über allen Gipfeln...“ trägt. Auf dem bergabwärts gehenden bequemen Wanderpfad nach Stützerbach liegen auch das Jagdhaus Gabelbach, welches zu Goethes Zeiten als Unterkunft für die herzoglichen Jagdgesellschaften diente, und der Gasthof „Zum Auerhahn“. Schließlich endet der Weg nach dem Besuch des vor allem mit den stürmischen Jugenderinnerungen Goethes verbundenen Glaserschen Hauses am Goethehaus in Stützerbach.

Literarische Bezüge Die Stadt Ilmenau selbst, die eine lebendige Verbindung zu Goethes Romanfragment „Wilhelm Meisters theatralische Sendung“ bzw. zum Bildungsroman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ vermit-telt. Der Schwalbenstein, auf dem Goethe den 4. Akt der „Iphigenie auf Tauris“ schrieb. Der Hermannstein, der ein Licht auf die Beziehung Goethes zu Charlotte von Stein wirft, aber auch eine Kernszene aus Faust I inszeniert, sowie das Goethehäuschen auf dem Kickelhahn, wo Goethes berühmtes „Wanderers Nachtlied“ entstanden ist.

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Ilmenau "...ein heiteres Landstädtchen" Neben allen amtlichen Belastungen, die besonders die Leitung der Ilmenauer Bergwerkskommission mit sich brachte, vermochte Goethe große Teile des fünften und sechsten Buches seines Romans „Wilhelm Meisters theatralische Sendung“ in Ilmenau zu schreiben. Am 11. November 1785 geht an Charlotte von Stein ein Brief mit der Nachricht: „Heute hab' ich endlich das sechste Buch geendigt“. Der einleitend zitierte Auszug beschreibt in ergreifender Form die Begegnung Wilhelms mit den Naturschönheiten - wie z. B „Überhangene Felsen und tiefe Gründe“, die auch heute noch beim Durchstreifen der Wälder um Ilmenau herum genauso wie zu Goethes Zeiten zu bewundern sind. Ebenso haben Forscher in Ilmenau das „am Fuße des Gebirges..., an einem sanften Fluße, im Sonnenscheine liegende heitere(s) Landstädtchen“ erkannt, auf dessen Marktplatz Wilhelm Meis-ter den Zurüstungen der Arbeiter für die Kunststücke der Seiltänzer beobachtet. Dort stehen auch die beiden Gasthäuser, von denen das eine der Hauptheld und das andere die kokettierende Philine bewohnt. Außer ihr lernt Wilhelm in seiner Herberge beim Hinaufsteigen der Treppe auch Mignon kennen, wie sie als ein junges Geschöpf ihm entgegen sprang. Diese angesprochene architektoni-sche Besonderheit, der Marktplatz mit den zwei sich gegenüberliegenden Wirtshäusern „Zur Son-ne“ und „Zum Adler“ bildet noch heute das Zentrum Ilmenaus, obwohl diese schon seit langem zu Wohnhäusern umgebaut wurden. Auch die alte Eiche an der Grenze des Stadtgebietes, wo die wun-derlich geputzte Landmiliz Melina und seine Geliebte erwartete, existierte noch bis in dieses Jahr-hundert hinein an der Straße nach Martinroda. Dass Goethe sie selbst kannte, geht aus einem Ta-gebucheintrag aus dem Jahre 1831 hervor: „Wir fuhren über Martinroda zurück; begrüßten unter-wegs die dicke Eiche, die ich nun schon bald sechzig Jahre kenne.“ In der „Theatralischen Sen-dung“ befindet sich sogar ein weitere Erwähnung des Baumes, die seine Wirkung auf Wilhelm und damit auf Goethe bezeugt. So heißt es: „Die Eiche welche bei ‚ihm’ solche poetischen Gefühle erregte, war eigentlich ein Grenzbaum. Neben dem Stadttor, an dem eine neugierige Menge das verhaftete Paar zu begaffen hofft, dem Garten, durch den die Liebenden zum Verhör geführt werden, lässt sich ebenso das Amtshaus selbst, in dem die Befragung anschließend vonstatten geht, in Ilmenau lokalisieren.“

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Das Musenkind Corona Schröter (gez. Am 17.Juni 1777)

Corona Schröter Vom Amtshaus führt die Obertorstraße direkt zum Friedhof. Durch einen Seiteneingang gegenüber der Porzellanfabrik gelangt man in das Innere des Friedhofs, dessen alter Teil durch zeitgenössi-sche Grabdenkmäler aus Sandstein der Goethezeit geprägt ist. Hier liegt Corona Schröter unter einem bronzenen Grabdeckel von dem Gold- und Silberschmied Häcker mit der Aufschrift: „Hier ruht Corona Schröter, Gest. 23. August 1802.“ Corona Elisabeth Wilhelmine Schröter war das älteste Kind des Regimentsobristen Johann Fried-rich Schröter und dessen Gattin Regine, und wurde am 14. Januar 1751 im polnischen Guben gebo-ren. Im Jahre 1754 übersiedelte die Familie nach Warschau, 1763 nach Leipzig. Bei der Familie Schröter herrschte Frohsinn, und es wurde viel musiziert. Kein Wunder, daß auch sie sich, zumal sie eine schöne Stimme besaß, der Musik widmete. Bei einem Freund des Vaters, dem Komponisten und Musikschriftsteller Johann Adam Hiller, der damals in Leipzig das „Große Konzert“, die späte-ren Wandhauskonzerte, leitete, erhielt sie ihre Gesangsausbildung und durfte vierzehnjährig zum ersten Male öffentlich in einem Singspiel auftreten. Corona war auf der Bühne als Schauspielerin wie als Sängerin gleich bedeutend. Sie komponierte, spielte Gitarre und Klavier und beschäftigte sich neben der Musik auch mit der Poesie und Malerei. Ihre Bilder, teils Pastell, teils in Öl gemalt, darunter ihr Selbstportrait als Iphigenie, fanden Aner-kennung vor den Augen der Kenner. Neben ihrer Muttersprache beherrschte sie das Französische, Englische und Italienische. Als Leipziger Student lernte der l6jährige Goethe die l4-jährige Corona kennen. Bereits damals verehrte und bewunderte er sie. Goethe brannte danach, die Künstlerin, die inzwischen zu voller Schönheit erblüht und auf die Höhe ihrer Entwicklung gelangt war, nach Weimar zu bringen. Am 16. November 1776 trifft Corona mit ihrer treuesten Gefährtin Wilhel-mine Probst, in deren elterlichen Haus in Leipzig sie wohnte, in Weimar ein. Durch Goethes Ver-mittlung wurde dann auf Wunsch der Herzogin-Mutter Anna Amalia Corona im Herbst 1776 als Kammersängerin angestellt. Bald war sie der Mittelpunkt und die künstlerische Hauptstütze des kleinen um das Theater bemühten Kreises in Weimar. Wegen der künstlerischen Arbeit schien es schier unvermeidbar, daß sich die Wege von Goethe und Corona fast täglich kreuzten. Die künstle-rische Beziehung weitete sich bald zu Spaziergängen im Mondschein, zu Schlittschuhläufen auf dem

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Schwansee und zu häuslichen Besuchen aus. Coronas größter Ruhm ist es, die erste Darstellerin der Iphigenie gewesen zu sein, in jener denkwürdigen Aufführung der ersten Prosafassung vom 6. April 1779, in der Goethe selbst den Orest gespielt hat. Karl Ludwig von Knebel, der als Professor am Gymnasium unterrichtete, spielte Thoas und Prinz Konstantin, der Bruder von Herzog Karl Au-gust, stellte Pylades dar. Bei der zweiten Aufführung des Stückes übernahm der Herzog persönlich die Rolle von Pylades, da die darstellerische Leistung von seinem Bruder miserabel war. Corona schien prädestiniert für die Darstellung der Iphigenie - sie stellte Iphigenie nicht nur dar, sie war Iphigenie. Goethes eigene Aufzeichnungen verraten deutlich, welche leidenschaftliche Neigung er zu dem entzückenden Mäd-chen verspürte. Corona Schröter war in Weimar heiß begehrt, sogar der Herzog selbst gehörte zu den vermeintlichen Verehrern. Die vielumworbene Frau zeichnete sich durch Zurückhaltung aus und schlug alle Anträge ab - sie galt als unnahbar. Bis zum Jahre 1781 währte das Verhältnis zwi-schen Corona und Goethe mit kurzen Schwankungen und Unterbrechungen, doch dann gewann die Liebe zu Frau von Stein in Goethe endgültig die Oberhand. Ein weiterer Höhepunkt in der künstlerischen Tätigkeit von Corona Schröter war die Vertonung des Erlkönigs. Am 23. Juli 1782, bei der Uraufführung des Goetheschen Wald und Wasserdramas von der „Fischerin“ im Tiefurter Naturtheater, lernte das Publikum seinen vergötterten Liebling nicht nur als Schauspielerin und Sängerin, sondern überdies als Komponistin kennen. Sie gefiel durch ihre anmutige, etwas verschleierte Stimme. Später war Corona mit dem Kammerherrn von Einsiedel, der sich als komponierender Dilettant an den Singspielaufführungen des Liebhabertheaters beteiligt hatte, heimlich verheiratet gewesen. Nach der Abreise der Herzogin Amalia von Weimar im Jahre 1788 zog sich Corona aus den Hof-kreisen zurück. Sie lebte weiter in ihren künstlerischen Neigungen und widmete sich hier und da der Ausbildung junger Talente. Ende 1790 übersiedelte sie wegen eines Brustübels nach Ilmenau, in der Hoffnung, in der gesunden Luft des Thüringer Waldes wieder zu genesen. Vom Amtshaus entlang der Marktstraße trifft man an der Ecke der rechts einbiegenden Karl-Zink Straße auf das wuchtige Gebäude der Hypo-Bank. Das Gebäude nannte sich zu Coronas' Zeiten „Sächsischer Hof“, in dem sie damals wohnte. Corona erkrankte an der Schwindsucht und starb am 23. August 1802 nach vierzehnjährigem Leiden fast völlig vereinsamt. Coronas einsamer Tod erschüttert nur wenige. Goethe widmete ihr aus Verehrung ein Gedicht, wohnte aber bei ihrem Begräbnis selbst nicht bei. Goethes Gedicht zu Ehren von Corona Schröter: Ihr Freunde, Platz! Weicht einen kleinen Schritt! Geht, wer da kommt und festlich näher tritt! Sie ist es selbst - die Gute fehlt uns nie Wir sind erhört, die Musen senden sie. Ihr kennt sie wohl; sie ist's, die stets gefällt: Als eine Blume zeigt sie sich der Welt, Zum Muster wuchs das schöne Bild empor, Vollendet nun, sie ist's und stellt es vor. Es gönnten ihr die Musen jede Gunst. Und die Natur erschuf in ihr die Kunst. So häuft sie willig jeden Reiz auf sich,

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Und selbst dein Name ziert, Corona, dich.

In der Zeit des Bayerischen Erbfolgekrieges musste Goethe als Vorsitzender der Kriegskommission die Oberaufsicht

bei der Rekrutenaushebung übernehmen. (gez. März 1779)

"...kein höher Geschenk als einen ruhigen Freund." Als Goethe, der als jugendlicher Stürmer und Dränger 1775 das kleinstädtische Weimar des Her-zogs Karl August betritt und dort unter anderem Zugang zu den höfisch- literarischen Kreisen fin-det, eröffnet sich eine völlig neue Welt. Goethe entwickelt seine frühklassische Persönlichkeits- und Humanitätsidee, die in das Drama Iphigenie eingeht. Dem bereits seit einigen Tagen in Ilmenau weilenden Goethe gelingt es, für einen Nachmittag der Last unliebsamer Rekrutenaushebungen und anstrengender Straßenbesichtigungen zu entfliehen, um die in ihm zur Gestaltung herangereifte Iphigenie möglichst zu beenden. Dass er dieses Ziel nicht erreichte, scheint angesichts dessen, was er am 19. März 1879 in der friedlich stillen Hütte auf dem Schwalbenstein inmitten der ruhenden Waldhänge des Ilmtales zu Papier brachte, unwichtig. Goethe schrieb hier den 4. Akt seines Dramas, dessen Grundgedanken ihm, glaubt man dem Bericht des Rentamtmannes Mahr (zu Goethes letztem Geburtstag in Ilmenau), bereits drei Jahre früher ebenfalls auf dem einsamen Schwalbenstein bei Manebach kamen. Das ist durchaus glaubhaft, da Goethe schon 1776 nachweisbar bei Besuchen in Ilmenau auf dem Schwalbenstein verweilte.

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„Sereno die quieta mente - an heiterem Tage, beruhigten Geistes - schrieb ich, nach einer Wahl von drei Jahren den 4. Akt meiner Iphigenie an einem Tage.“ So soll er dankerfüllt darüber, dass es ihm vergönnt war, ein so großes zusammenhängendes Stück in der stillen Bergwelt Ilmenaus zu schreiben, seinem langjährigen Sekretär Riemer notiert haben lassen. Goethe selbst trägt in sein Tagebuch nur eine sehr kurze Mitteilung ein: „Der 4.. Akt der Iph(igenie) geschrieben“. Er beginnt mit den Worten, die zur Erinnerung auch auf einer Bronzeta-fel am Felsen des Schwalbensteins - jedoch in der Prosafassung - angebracht sind:

„Wem die himmlischen viel Verwirrung zugedacht haben,

wem sie den erschütternden schnellen Wechsel von Freude und Schmerz bereiten,

dem geben sie kein höher Geschenk als einen ruhigen Freund“. In diesem orakelhaften Anfangsmonolog glaubt Iphigenie den ruhigen Freund in dem klugen Pyla-des gefunden zu haben, der durch einen listigen Plan Orest, Iphigenie und sich selbst retten möch-te. Doch von Zweifeln gepeinigt kann Iphigenie dieses Vorhaben nicht unterstützen. Es wider-strebt ihr, König Thoas zu hintergehen und durch den Raub, die ihr anvertraute Dianenstatue zu entweihen. Im 5. Akt setzt Iphigenie mit ihrer unerhörten Tat alles aufs Spiel, gesteht König Thoas die Wahrheit und erkennt in ihm den eigentlichen Freund, der Iphigenie aufgrund ihres be-wiesenen Vertrauens seine Freundschaft schenkt. Wie Iphigenie, ihren Bruder Orest im Arm haltend, dazu beiträgt seinen Wahnsinn zu mildern und schließlich als Folge aus ihrer unerhörten Tat seine völlige Heilung erreicht, lenkt und führt Char-

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lotte von Stein Goethe zu einer Zeit, da er in psychisch angespanntem Zustand - innerlich noch ganz der rastlose Stürmer und Dränger - plötzlich nach Weimar kommt.

Gedichte Johann Wolfgang von Goethe: Gefunden

Ich ging im Walde So für mich hin, Und nichts zu suchen, Das war mein Sinn. Im Schatten sah ich Ein Blümchen stehn, Wie Sterne leuchtend, Wie Äuglein schön. Ich wollt es brechen, Da sagt' es fein:

Soll ich zum Welken Gebrochen sein? Ich grub's mit allen Den Würzlein aus, Zum Garten trug ich's Am hübschen Haus. Und pflanzt' es wieder Am stillen Ort; Nun zweigt es immer Und blüht so fort.

Mailied

Wie herrlich leuchtet Mir die Natur! Wie glänzt die Sonne! Wie lacht die Flur! Es dringen Blüten Aus jedem Zweig Und tausend Stimmen Aus dem Gesträuch Und Freud und Wonne Aus jeder Brust. O Erd', o Sonne O Glück, o Lust, O Lieb', o Liebe, So golden schön Wie Morgenwolken Auf jenen Höhn,

Du segnest herrlich Das frische Feld, Im Blütendampfe Die volle Welt! O Mädchen, Mädchen, Wie lieb' ich dich! Wie blinkt dein Auge, Wie liebst du mich! So liebt die Lerche Gesang und Luft, Und Morgenblumen Den Himmelsduft, Wie ich dich liebe Mit warmem Blut, Die du mir Jugend Und Freud' und Mut Zu neuen Liedern Und Tänzen gibst. Sei ewig glücklich, Wie du mich liebst.

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"Wald und Höhle" "Drum stieg Amor herab..."

Charlotte von Stein (gez.1777)

Ach, du warst in abgelebten Zeiten Meine Schwester oder meine Frau

In Ilmenau hat die Liebe zu Charlotte in der Zeit des ersten stürmischen Werbens um sie den zar-testen und zugleich glühendsten Ausdruck gefunden. Die Höhle unterm Hermannstein lässt die Er-innerung eines hier gemeinsam verbrachten Tages lebendig werden. Es ist Goethes geliebter Auf-enthalt, wo „er möcht wohnen und bleiben“. Von dieser Höhle geht so mancher Zettel oder klei-ne Zeichnung an die geliebte Frau. „Wenn du nur einmal hier sein könntest...“ schreibt Goethe ihr in einem Brief, und als dieser Wunsch am 6. August 1776 in Erfüllung geht, wird der Große Her-mannstein für ihn zum erwählten Fels. Zusammen wanderten sie den Weg zur Höhle hinauf, in deren Kühle das Paar den Nachmittag verbrachte, und Charlotte, von Goethe im Arm gehalten, mit dem Finger ein Zeichen in den Sand malte. Welch große Sehnsucht sich dabei in Goethe erfüllt haben muss, bezeugt die Tatsache, dass er bereits zwei Tage später mit Hammer, Meißel und Skiz-zenbuch beladen, die Höhle erneut aufsuchte. Zum Andenken an die für ihn so wichtigen Stunden hält Goethe auf einem Blatt Papier diesen Ort zeichnerisch fest und schlägt in die Felswand ein Symbol. „Heut will ich auf den Hermannstein, und womöglich die Höhle zeichnen, hab auch Meißel und Hammer die Inschrift zu machen, die sehr mystisch werden wird“, berichtet er an Charlotte. Es ist ein großes "S", der Anfangsbuchstabe des Wortes Sonne, dessen astronomisches Zeichen Goethe auch in den Briefen an sie für ihren Namen verwandte. Vier Jahre später kehrte er an diesen Ort zurück, fand es ganz frisch, küsste es immer wieder, damit der Felsen ihm auf seine Art wenigstens antworten könne. 1784, Goethe weilte gerade in Eisenach, übermannte ihn die Erinnerung an jenen Tag; am 24. Juni sandte er Charlotte folgende Verse, die er der Höhle unterm Hermannstein zugedacht hatte. Eindrucksvoll bezeugen sie die Intensität mit der Goethe die kühle, verblühende Frau geliebt haben muss.

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Felsen sollten nicht Felsen und Wüsten Wüsten nicht bleiben, Drum stieg Amor herab, sieh' und es lebte die Welt. Auch belebt er mir die Höhle mit himmlischem Lichte, Zwar der Hoffnung nur, doch ward die Hoffnung erfüllt. Diese Zeilen sprechen selbst bei einer vorsichtigen Interpretation dafür, dass Charlotte an jenem Tag nicht bloß die freundliche Gefährtin blieb, sondern seine Geliebte wurde. Die am Höhlenein-gang befindliche Eisengussplatte mit dieser Inschrift brachte man erst nachträglich 1901 an. Die Verszeilen auf der gegenüberliegenden Seite bestimmte Goethe nicht ausdrücklich für die Höhle, aber wegen ihres sichtbaren Bezugs auf diesen Ort wurden auch sie - bereits 1876 - an der Felswand befestigt. Beim abschließenden Versuch, die Beziehung zwischen Goethe und Charlotte noch ein-mal kurz zu beschreiben, geht es uns wie Goethe selbst: „dein Verhältnis zu mir ist so heilig son-derbar (...) es kann nicht mit Worten ausgedrückt werden, Menschen könnens nicht sehen.“ "Dann führst du mich zur sichern Höhle .. " ,. Außer der Erinnerung an die Beziehung zu Charlotte von Stein ruft die Höhle unterm Großen Her-mannstein eine weitere Assoziation hervor. An diesem Ort könnte Goethe seinen Doktor Faust und Mephisto in der Szene „Wald und Höhle“ gedanklich plaziert haben. Betrachtet man den Ent-stehungszeitpunkt dieser Szene innerhalb des Faust-Stückes näher, erhärtet sich diese Vermutung. Sie wurde erst später bei der Umarbeitung des Urfaustes während oder kurz nach dem Italienaufent-halt eingeschoben. Die Fassung des Urfaust, wie sie heute noch nachzulesen ist, dürfte zeitlich auf den Winter 1775/76 datiert werden. Goethe war zu diesem Zeitpunkt zwar bereits in Weimar, aber die Ilmenauer Gegend und somit auch die Höhle sah er erst im März 1776. Diese Erstfassung aus Goethes Sturm und Drang Zeit stellt noch keinen dramatisch ausgearbeiteten Handlungszusam-menhang dar; ausschließlich Einzelbilder werden aneinander gereiht. Die einheitliche Entsprechung im Ganzen fehlt. In Italien (28.9.1786 bis 23.5.1788) greift Goethe das alte Faustthema wieder auf, das ihn nun bis zu seinem Tode beschäftigen sollte. Er komponiert das Drama klar und bewusst durch, jetzt erst findet sich auch die Wald und Höhle-Szene, die etwa in der Arbeitsperiode von 1787 bis 1789 entstanden ist. Da er die Höhle unterm Hermannstein mittlerweile gut kannte, nimmt er sie sinnbildlich in Wald und Höhle auf, einerseits als Symbol für die seelische Offenheit in der Natur und andererseits für das Bild des Bergenden und Umfassenden. Die Szene unterbricht eine Reihe von Gretchenszenen, wobei der Blick von der Person des Mädchens auf Faust gelenkt wird. Er steht ganz alleine, scheint innerlich gewandelt. Einer seiner großen Monologe folgt, der ein Bild des Seelenzustandes, ein Selbstportrait des Ruhe- und Maßlosen gibt.

Literarische Exkursionen

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FAUST. Erhabner Geist, du gabst mir, gabst mir alles, Worum ich bat. Du hast mir nicht umsonst Dein Angesicht im Feuer zugewendet. Gabst mir die herrliche Natur zum Königreich, Kraft, sie zu fühlen, zu genießen. Nicht Kalt staunenden Besuch erlaubst du nur, Vergönnest mir, in ihre Brust, Wie in den Busen eines Freundes, zu schauen. Du führst die Reihe der Lebendigen Vor mir vorbei, und lehrst mich meine Brüder Im stillen Busch, in Luft und Wasser kennen. Und wenn der Sturm im Walde braust und knarrt, Die Riesenfichte stürzend Nachbaräste Und Nachbarstämme quetschend niederstreift, Und ihrem Fall dumpf hohl der Hügel donnert, Dann führst du mich zur sichern Höhle, zeigst Mich dann mir selbst, und meiner eignen Brust Geheime tiefe Wunder öffnen sich. Und steigt vor meinem Blick der reine Mond Besänftigend herüber, schweben mir Von Felsenwänden, aus dem feuchten Busch Der Vorwelt silberne Gestalten auf Und lindern der Betrachtung strenge Lust. O dass dem Menschen nichts Vollkommnes wird, Empfind ich nun.... Dieser Monolog beschreibt das beglückende Erfassen der Natur des Unendlichen im Endlichen. Faust scheint das Rätsel der Schöpfung in der Natur gefunden zu haben. Dieses Gefühl, mit der Natur in völ-ligem Einklang zu sein, erlebt der Wanderer heute noch inmitten der Geborgenheit der Höhle. Der Blick talabwärts auf den Buchenwald, die Ruhe und Kühle des Felsens um sich, lässt die Erkenntnis reifen, dass der Mensch als Teil der Natur sich über diese Vollkommenheit des Ganzen nicht erheben sollte, da er selbst für sich allein nur unvollkommen ist. Dort oben in der Höhle vergeht das Bedürfnis, alles rational durchdringen zu wollen. Nicht Fragen nach dem Wie und Warum zählen, sondern allein die Freude und die Dankbarkeit, sich an den Wundern der Schöpfung erfreuen zu dürfen und das Dasein auf dieser Welt als ein unschätzbares Glück zu empfinden, ist gegenwärtig. Auch Goethe wird diese Gefühle in sich gespürt haben, die ihn eine so großartige Naturschilderung zu Papier bringen ließen. Fausts innerliche Wandlung trügt im weiteren Verlauf der Szene, sein übergroßer Erkenntnisdrang treibt ihn weiter. Durch Mephisto wird Faust, der sich innerlich schon von Gretchen entfernt hat, abermals zur Rückkehr bewogen.

zu "erkennen, ...was die Welt im Innersten zusammenhält,..." So wie Faust den Wunsch tief in sich spürt zu „erkennen, ...was die Welt im Innersten zusammen-hält,...“ ist Goethe von einem unbändigen Forscherdrang ergriffen. Die Beschäftigung mit der Natur, zuerst aus praktischem Bedürfnis, später aus wissenschaftlichem Erkenntnisstreben findet in Ilmenau durch den Bergbau ihren Grundstein. Goethe interessierte sich für die erdgeschichtliche Formung der Gegend und trieb in dieser Hinsicht eifrige Forschungen. Besonders angeregt durch das einzigartige geologische Gepräge der Ilmenauer Bergwelt, sammelte Goethe hier mit Akribie seltene Gesteinsarten, Kristalle, sowie versteinerte Pflanzenabdrücke in der Hoffnung, den Steinen das Geheimnis der Schöp-fung zu entlocken. „Wir sind auf die hohen Gipfel gestiegen und in die Tiefen der Erde eingekrochen, und möchten gar zu gern der großen formenden Hand nächste Spuren entdecken. Es kommt gewiss noch ein Mensch der darüber klar sieht (...) Jetzt leb ich mit Leib und Seel in Stein und Bergen, und bin sehr vergnügt über die weiten Aussichten, die sich mir auf tun,...“. Goethes Liebe zur Mineralogie und Geologie lässt sich durch eine Vielzahl von Beispielen belegen. In Ilmenau erprobt er in freien Minuten den Silbergehalt eines gefundenen Erzes, nutzt jede Gelegenheit,

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sich vom Ilmenauer Bergrat Voigt in mineralogischen Angelegenheiten belehren zu lassen oder befuhr höchstpersönlich die Tiefen der Erde - die Bergbauschächte..

Mundloch des Kammbergstollens bei Ilmenau (gez. am 22.Juli 1776)

Am 18.Juli 1776 begleitete Goethe den Herzog nach Ilmenau, um die Wiederbelebung des dortigen Bergbaus vo-ranzutreiben.

"Über allen Gipfeln ist Ruh,..." Den Höhepunkt, dort wo die Person Goethes und der Geist seiner Werke in der stärksten Kraft spürbar ist, bildet unbestreitbar der nur eine Viertelstunde vom Hermannstein entfernte Kickelhahn mit seiner kleinen Schutzhütte und den über der Tür angebrachten kleinen Verse des

Wanderers Nachtlied:

Über allen Gipfeln

Ist Ruh' In allen Wipfeln

Spürest du Kaum einen Hauch;

Die Vögelein schweigen im Walde. Warte nur,

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Balde Ruhest du auch. Goethe reiste am 5. September 1780 in das Amt Ilmenau, um dort über Vorkommnisse der Verwaltung und der Not der Bevölkerung unterrichtet zu werden. „Am nächsten Tag gegen Abend stieg er hinauf zum Hermannstein und zum Kickelhahn, den höchsten Berg des Reviers (...), um dem Wuste des Städ-gens, den Klagen, den Verlangen, der Unverbesserlichen Verworrenheit der Menschen auszuweichen. Die Sonne ging unter, die Vögel verstummten, und er fand die Gegend friedvoll und still. Ehe Goethe sich im oberen Raum der Waldaufseherhütte zur Ruhe legte, schrieb er mit Bleistift an die Bretterwand jenes Gedicht, von dem man zu recht behauptet, dass es den vollkommensten Ausdruck für die Land-schaftsstimmung, die Goethe dort gefunden haben muss, in sich trägt. Der Wanderer, der jetzt hinauf

zum Kickelhahn steigt, wird dieses Erlebnis beim Anblick der Landschaft in der Abenddämmerung si-cherlich nachfühlen und davon überzeugt sein, dass an keinem schöneren Ort der Welt diese Verse entstanden sein könnten. Goethe verleiht der Zustandsbeschreibung einer abendlichen Landschaft auf eine ganz besondere Weise einen idyllischen und getragenen Charakter, durch zwei unterschiedliche Reimschemata, den Kreuzreim bzw. den geschlossenen Reim und durch die Zeilensprünge innerhalb eines Gedankens wird beides - Form und Inhalt - zu einer untrennbaren Einheit verbunden. In einer klaren Gedankenabfolge beschreibt Goethe die Welt der Steine, der Pflanzen, der Tiere und zum Schluss des Menschen. Die Rhythmusänderung im letzten Vers klingt wie eine Dissonanz; das ganze Gedicht scheint auf diesen Punkt zuzulaufen. Es ist der Moment, in dem man innehält, um entgegen dem eigentlichen Sprachgefühl statt „Ruhest auch du“, „Ruhest du auch“ zu sagen. Dieser Augenblick gibt Gelegenheit, über die Natur als ewigen Kreislauf nachzudenken, in den auch der Mensch eingebun-den ist. Nicht wehmütig, eher tröstlich erscheint die Erkenntnis, dass jeder Mensch eines Tages Ruhe und Frieden findet.

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Mit diesem Gedicht einher geht auch die kleine Anekdote, die von Goethes letztem Besuch anlässlich seines 82.Geburtstages in Ilmenau spricht. Am Vortag der Feierlichkeiten bittet Goethe den Rentamt-mann Mahr hinauf zum Kickelhahn zu fahren; er wünschte das kleine Häuschen dort oben zu besichti-gen. Rüstig zu Fuß, steigt Goethe die steile Treppe der Hütte empor und vergegenwärtigt sich noch ein letztesmal die Verse, die er vor 51 Jahren hier anbrachte. „Auf einem einsamen Bretterhäuschen des höchsten Gipfels der Tannenwälder recognoscirte ich die Inschrift (...) > Über allen Gipfeln ist Ruh pp. <“ Schenkt man dem Bericht Mahrs Glauben, so soll Goethe zu Tränen gerührt den letzten Vers in Vorahnung des eigenen Lebensendes wiederholt haben. Wie ein philologischer Herausgeber seiner Werke ließ Goethe sich das Entstehungsdatum notieren, welches durch die lange Zeit bereits unleser-lich, von Mahr als 7.9.1783 entziffert wurde. Bei späteren Nachforschungen ergab sich jedoch, dass Goethe sich zu dieser Zeit auf einer Reise in den Harz befand und das Datum des 6.9.1780 durch einen an jenem Tag verfassten Brief an Charlotte von Stein viel glaubwürdiger wurde. Der von Goethe zu verschiedenen Tageszeiten geschriebene Brief gibt folgenden Wortlaut wieder: „Es ist ein ganz reiner Himmel und ich gehe des Sonnen Untergangs mich zu freuen. Die Aussicht ist groß aber einfach. Die Sonne ist unter: Es ist eben die Gegend von der ich Ihnen die aufsteigenden Nebels zeichnete ist sie so rein und ruhig, und so uninteressant (d h. so gelöst) als eine große schöne Seele wenn sie sich am wohlsten befindet.“

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Was nun wirklich an die Wand geschrieben wurde, ist uns heute leider nicht mehr zugänglich, da die Holzhütte durch unachtsame Beerensammler im Jahre 1870 abbrannte. Das einzige, was von ihr noch übrig blieb, ist eine Holztür, die zur damaligen Zeit gerade in Reparatur, als Erinnerungsstück im Jagd-haus Gabelbach aufbewahrt wird, ebenso wie eine Photographie des Gedichtes von 1869. Schon vor dem durch Goethe autorisierten Erstdruck im zweiten Band der Cotta Ausgabe von 1815 wurde das Gedicht durch Besucher der Hütte, durch unzählige Abschriften und durch die Vertonung von Goethes Altersfreund Zelter (1814) in die Welt hinausgetragen. In einem englischen Magazin taucht das Ge-dicht bereits 1801 auf. Diese Verse dürfen heute in keiner Anthologie deutscher Lyrik fehlen. Für vie-le ist es zum Inbegriff dessen geworden, was man unter Lyrik verstanden wissen möchte. Mittlerweile ist der Umgang mit Wanderers Nachtlied nicht mehr überschaubar:1957 zählte man allein 107 Verto-nungen, Übersetzungen finden sich in fast allen Kultursprachen, einzelne Zeilen wurden immer wieder als geflügelte Worte aufgenommen, zitiert und parodiert. Einige der skurrilsten "Bearbeitungen" sollen ein Beispiel geben, inwieweit sich Goethes Nachtlied kulturgeschichtlich fast zum Gebrauchsgegenstand - zum locus communis - entwickelt hat. Bei dem bayrischen Dichter Franz Ringseis findet sich das Gedicht in folgender Version wieder: Üba olle Gipfen iss staad In olle Wipfen waht nur a Lüftal, so weich Koa Vogal rührt si im Woid Wart nur, boid bist aar a Leich. Goethes Original, das in seiner Dichtung so vielschichtig ist, sei es als Naturlyrik, als Ruhelied oder als Liebesgedicht verstanden, wird durch die Mundartfassung zu einer Eindeutigkeit geführt, die beim Le-ser, der beide Fassungen kennt, eine äußerst belustigende Wirkung hervorruft. Selbst für sexuelle An-spielungen muss das Gedicht herhalten. Der Schriftsteller Arno Schmidt, ein Liebhaber von Zitaten, greift Goethes Nachtlied in Zettels Traum in einer nicht gerade schmeichelhaften Form auf.

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"Die schweine Vögeln im Walde (W entrüstet/und Er, still): > Warte nur; balde- < Die Schönheit Goethes Orginals ist für Schmidt einfach zu provozierend, als dass er nicht die Absicht hegen könnte, es in solcher Art und Weise zu verwenden. Neben Schmidt, greift auch ein Karl Kraus in seinen Letzten Tagen der Menschheit, oder Bertold Brecht in der Liturgie vom Hauch das Gedicht als eine Art politisches Agitationsmittel auf. Die Werbebranche scheut ebenfalls nicht, das Gedicht für ihre Zwecke umzufunktionieren. Wie eine Schablone werden die Popularität und der Wortlaut des Nachtliedes zum Beispiel dazu benutzt, Zigaretten oder Waschmaschinen anzupreisen. Auf den Inhalt oder die Stimmung des Orginals wird hierbei keinerlei Rücksicht genommen. Von der eigentlichen Schönheit des Gedichtes ist kaum noch etwas spürbar.

Sind dies die Wege? Sind dies die Wege? Und du darfst sie gehen

Ist das nicht großes, unnennbares Glück? Und fühlst du nicht, wie dieser Lüfte Wehen

In jene ferne Zeit dich trägt zurück?'